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"Der Hausierer, nach den Hornissen Peter Handkes zweiter Roman, erschienen im Jahr 1967, ist ein Kriminalroman nach allen Regeln dieses Genres, eine ›Mordgeschichte‹, die alle möglichen Mordgeschichten zusammenfaßt. Jeder Satz ist eine Geschichte. Der Held ist der ›Hausierer‹; er beobachtet alles, er registriert die kleinsten Ereignisse, er ist der Zeuge, der überall dabei ist."
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Seitenzahl: 198
Peter Handke
Der Hausierer
Roman
Suhrkamp Verlag
»Es gibt nichts, was leerer aussieht als ein leeres Schwimmbecken.«
Raymond Chandler
Die Mordgeschichte beginnt, wie alle Geschichten, als die Fortsetzung einer andern Geschichte. Die Personen und Dinge, die beschrieben werden, sind schon bekannt aus der andern Geschichte, die nicht geschrieben, sondern nur stillschweigend vorausgesetzt ist. Wie jede Geschichte gibt sich auch die Mordgeschichte als die Fortsetzung einer nichtvorhandenen Geschichte.
Das zeigt sich daran, daß Namen für Personen und Dinge auf einmal mit einem Artikel versehen und dadurch die Namen von einmaligen Personen und Dingen einer Geschichte werden. Ein Mann tritt auf die Straße. Der Zigarettenstummel rollt über den Gehsteig.
Der Anfang der Geschichte ist also kein Anfang, sondern eine Fortsetzung. Er berücksichtigt in den Artikeln die Zeit, die vorher war. Er macht durch die Artikel die Wörter zu Bezeichnungen von besonderen Gegenständen. Er ist nur insofern ein Anfang, als durch ihn die allgemeine Zeit zur Zeit einer besonderen Geschichte wird. Die Artikel geben den von ihnen bestimmten Dingen und Personen eine Vergangenheit. Indem sie Dinge und Personen als besondere bestimmen und sie dadurch unter anderen, nicht bestimmten, vereinzeln, machen sie aus Wörtern eine besondere Geschichte.
Wie alle andern Geschichten beginnt auch die Mordgeschichte mit den bestimmenden Artikeln. Im Gegensatz aber zu den andern Geschichten spielt sie mit den nun bestimmten Dingen und Personen; denn sie bestimmt ihre Gegenstände so, daß deren Verhältnis zueinander unbekannt und rätselhaft bleiben muß. Die Mordgeschichte verschweigt die wahre Beziehung der beschriebenen Gegenstände zueinander. Sie besteht in einem Spiel mit möglichen Beziehungen der Gegenstände zueinander. Sie besteht in einem Versteckspiel der Sätze. Die Mordgeschichte beschreibt von Anfang an jeden Gegenstand für sich allein.
Ihr Standpunkt der Beschreibung ist zu diesem Zweck der einer Person, die die Verhältnisse nicht kennt, einer Person, die jedesmal einen Schritt zu spät kommt, wenn Beziehungen aufgedeckt werden. Ihr Standpunkt der Beschreibung ist der eines Fremden.
Die Geschichte geht von einer Person aus, die immer nur dazukommt und nie dazugehört. Der Dazukommende sieht die Dinge an dem Ort der Handlung zum ersten Mal. Er muß sie alle erst wahrnehmen. Er, weil von ihm aus beschrieben wird, kann weder der künftige Mörder noch der zu Ermordende sein.
In der Regel ist er in einer Bewegung, die durch die Geschichte, in die er mit dem ersten Satz gerät, abgelenkt wird. Er bewegt sich von einem Ort zu dem Ort, an dem es geschehen wird. Er kommt dazu und bleibt, bildlich, stehen.
Das Treiben ringsherum muß ihn derart verwundern, daß die Geschichte entsteht: er wird aufmerksam. Er sieht viel, kennt aber niemanden. Er unterscheidet sich von anderen schon durch äußere Merkmale. Sein Gehaben, seine Blicke, sein Auftreten, sein Gang müssen so sein, daß sie geeignet sind, später Verdacht zu erregen. Er muß auffallen, um eine Beschreibung seiner selbst zu rechtfertigen. In der Regel beschreibt er sich selber, wie er sich etwa in einem Spiegel sieht.
Er trägt staubige Schuhe, wenn alle anderen saubere Schuhe tragen. Seine Haare sind zerzaust, wenn alle anderen wohlfrisiert sind. Seine Blicke verraten nichts Gutes, wenn alle anderen Blicke offen sind. Er hinkt, wenn alle anderen vor Munterkeit hüpfen.
Er kommt an einen Ort, an dem jedes Ding oder jede Person ein Gegensatz zu seiner eigenen Erscheinung ist.
Er ist fremd, aber nicht im guten Sinn. Er ist ein heruntergekommener Fremder.
Wenn er redet, redet er nur in der Gegenwart und von der Gegenwart, etwa, indem er etwas zu trinken bestellt oder indem er grüßt. Sein Sprechen ist nur ein Teil seiner Vorwärtsbewegungen.
Sichtlich will er etwas. Er gibt sich wie ein Hausierer. Vielleicht ist er ein Hausierer.
Wenn die Geschichte beginnt, zeigt sich dem Dazukommenden alles, was sich ihm zeigt, in der schönsten und besten Ordnung. Die Ordnung ist so auffallend, daß sie aufgezählt wird. Sie ist die peinlichste Ordnung, die möglich ist.
Es geschieht so wenig Außerordentliches, daß die Rechtfertigung der Geschichte überhaupt nur möglich erscheint dadurch, daß gewiß ist, daß die Ordnung nur deswegen so peinlich beschrieben wird, weil sie im Gegensatz steht zu der Unordnung, die durch den erwarteten Mord geschaffen werden muß.
Die Ordnung wird deswegen vorgeführt, weil gewiß ist: es wird etwas geschehen, etwas wird sich ändern oder geändert werden. Es ist eine Ordnung, die nicht lange ertragen werden kann. Die Ordnung besteht aus dem angehaltenen Atem vor einem Schrei.
Jede besonders beschriebene Ordnung an einem Ding oder an einer Person ist auch besonders verdächtig. Die Beschreibung der Ordentlichkeit eines Hinterkopfes, eines Halses oder einer Fensterscheibe läßt für die künftige Ordnung dieser beschriebenen Gegenstände fürchten. Die Peinlichkeit der jetzt beschriebenen Ordnung steht in der Spannung zu der Peinlichkeit der zu erwartenden Unordnung.
Die gegenwärtige Ordnung erscheint dem Dazukommenden sogar verdeutlicht, indem sie sich als besondere Form einer Ordnung zeigt. Sie ist eine geformte Ordnung, die einem Fremden sofort als geregelt erscheint.
Die Ordnung zeigt sich ihm an besonderen geformten Verhaltensweisen von Personen, an besonderen geformten Handlungen mit Dingen. Die besondere Ordnung zeigt sich dem Dazukommenden in der Form eines Zeremoniells.
Er kommt zu einer Feierstunde dazu. Er kommt zu Spielen dazu. Als er an den Ort kommt, findet ein Fest statt. Als er an den Ort kommt, findet ein Jahrmarkt statt. Als er an den Ort kommt, findet ein Umzug statt.
Die besondere Ordnung äußert sich in Verbeugungen, in einem Tanz, in einem Kniefall, in einem paarweisen Schreiten, in einem gemeinsamen Glasheben, in der Zeremonie einer Mahlzeit, in einem Spiel. Die besondere Ordnung, die durch den Mord gestört werden wird, sieht der Dazukommende am Nacken dessen, der sich gerade verneigt, oder an der Schläfe, an die sich gerade die grüßende Hand hebt, oder an der leichtfüßigen Bewegung der Tanzenden, oder an den Bewegungen der sich versteckenden Kinder im Versteckspiel, oder an der Brust, die sich beim Singen auf und nieder bewegt, oder an dem Mund, den der Tischredner öffnet, oder an dem noch sauberen Muster des Teppichs oder an dem Weiß einer frisch gestärkten Hemdbrust oder an den noch geradefallenden Falten eines Vorhangs oder an dem Duft von Duftstoffen. Es ist ein Fest der Ordnung.
Die Handelnden sind so sorglos, daß sie spielen wollen.
Einer von ihnen wird auf einmal besonders genau beschrieben. Dann wird einer noch genauer beschrieben. Die Personen der Handlung, bis auf die eine, fangen zu spielen an. Alles ist auf seinem Platz. Die Ordnung spitzt sich zu. Sie ist jetzt vollendeter nicht denkbar. In der Mordgeschichte, vor dem Mord, erscheint sie geradezu als Unordnung.
Der Dazugekommene schaut:
Der Hausierer tritt auf das flatternde Papier.
Er fragt nach dem Weg, vergißt dann aber, auf die Antwort zu achten, aus Verwunderung über die Gesten, mit denen ihm der Gefragte den Weg zeigt. Die Fingernägel graben sich in die Handflächen. Es kann nichts geschehen. Er hat Zeit, sich zu wundern. An einem solchen Tag denkt niemand an den Tod. Aus dem Schotterhäuschen schaut der Stiel einer Schaufel. Die Straße ist nicht leer. Der Hausierer erblickt einen Stein von der Größe einer Kinderfaust. Die Kopfhaut zieht sich zusammen. Niemand wischt sich mit dem Taschentuch schnell über das Gesicht. Der Gehsteig liegt ziemlich hoch über der Straße. Der Mantel reicht dem Hausierer bis zu den Knöcheln. Aus dem Spalt unter der Ladentür dringt Seifenschaum. Die Flasche schwimmt fast aufrecht im Wasser. Fenster wechseln mit Türen ab.
Er sieht die Leute deutlicher als sonst. Der Fingernagel kratzt vom Stoff über die Knöpfe. Der Hausierer bewegt die Beine wie selbstverständlich. Die Sitzlehnen im Auto bilden eine mustergültige Linie. Die Straße ist vor kurzem gespritzt worden. Zu seiner Überraschung sieht er die eigenen Knie vor sich. Die Fenster blinken. Ungläubig schüttelt er den Kopf. Nur ein Schuh glänzt, der andere ist noch staubig. Die Gedanken fallen über ihn her. Ein Nagel hat sich beim Einschlagen verbogen!
Der Hausierer klopft mit einem Bleistift gegen die Mauer. Ganz nutzlos, aber unfähig, anderes zu tun, beobachtet er die alte Frau, die auf einem Hocker vor der Haustür sitzt.
Er geht zwischen den Häusern anders als auf dem freien Land. Die Hand, die den Koffer getragen hat, zittert. Die Tür der Telefonzelle ist geschlossen. Es ist ein schöner Morgen. Nachdem er den ersten Schlag der Glocke gehört hat, wartet er atemlos auf den zweiten. Die Schuhspitzen sind aufwärts gebogen!
Er schaut weder nach links noch nach rechts. Die Hände, die auf dem Lenkrad liegen, stecken in ledernen Handschuhen. Er kann sich nicht vorstellen, daß jetzt jemand schreien würde. Die Gegenstände beunruhigen ihn nicht, aber sie lenken ihn auch nicht ab. Das Erdreich, soweit er es sehen kann, ist unversehrt. Er hat nur persönliche Dinge bei sich. Seine Kleidung ist eher für die Dunkelheit geeignet als für den hellen Tag. Die Haare sind zerzaust, obwohl hier Windstille herrscht. Die Entgegenkommenden schauen an ihm auf und nieder. Als das Rinnsal jetzt über die senkrechte Stelle hinabrinnt, wird es dünner.
Der Hausierer horcht auf. Alle Hausecken sind abgerundet. Plötzlich, die Straße vor sich, erfaßt ihn ein Ekel vor jeder Entfernung. Vielleicht hat es dem, der die Glocke betätigt, das Seil aus der Hand gerissen. Warum muß gerade jetzt wieder das Schuhband aufgehen? Eine Plane wird über das Auto gezogen. Es gibt unzählige Richtungen. Die Fingernägel jucken. Zwei alte Frauen sägen einen dicken Stamm entzwei.
Was er jetzt braucht, ist eine Ablenkung. Der auf dem Boden liegende Schlauch wird plötzlich straff. Die Taschen des Mantels sind so tief und breit, daß er die Hände darin nicht fühlen kann. Er torkelt absichtlich. Die Hauswände tragen keinerlei Zeichen oder Zeichnungen. Alles ist auf seinem Platz. Der Hausierer lächelt boshaft. Eine dicke Zeitung ist mit einer Klammer an den Verkaufsstand geheftet. Das Rad lehnt ordentlich an der Mauer. Er gähnt mitten im Gehen. Die Bilder verschieben sich, sooft er einatmet. Der Körper weist alles ab, was die Augen sehen. Die Rundhölzer donnern vom Lastwagen. Er weiß nicht, wo er die Hand lassen soll. Die Frau wischt mit dem Tuch die Türklinke ab. Der erste Knall der Fehlzündung erschreckt ihn. Jedem Wort, das er hört, folgt ein andres.
Er ist so weit gegangen, daß sich beide Schuhbänder gelöst haben. Der Telefonhörer zeigt noch die Schweißspuren einer Hand. Er muß den Gedanken so oft wiederholen, bis er ihn abgetötet hat.
Er atmet aus und ein.
Er beobachtet, wie die Ordnung ringsum zum Spiel wird. Das Klirren der Gläser ist kein gefährliches Geräusch. Sooft er angesprochen wird, antwortet er nur mit Gesten und Mienen. Das Lachen der Frau fügt sich ein in alle anderen Laute. Obwohl der Hausierer meint, daß er hier nie jemanden kennen wird, versucht er sich die Gesichter zu merken. Die Straße ist hier und da rußgeschwärzt. Die Finger, die er geballt glaubte, haben sich gelöst. Vor der Tür steht ein einzelner Stiefel mit umgeknicktem Schaft. Der Mülleimer sieht leer aus. Die Münze ist noch warm.
Daß er so heftig im Glas rührt, ist nur ein Eingeständnis seiner Tatenlosigkeit. Vor Unbehagen weisen die Schuhe in verschiedene Richtungen. Alle haben sich schon an ihre Bewegungen gewöhnt. Die Stille, die entsteht, ist nur die Stille vor der erwarteten Antwort. Sie nehmen schwer verdauliche Speisen zu sich. Die Tür läßt sich ohne Schwierigkeit öffnen. Die Hand, die das Tablett hält, steht hoch über dem Kopf. Der Schaum staut sich vor einem Hindernis. Auf einmal wird ihm das Denken angenehm. Es ist der Knall eines Pfropfens!
Er schüttelt unter dem Tisch die Schuhe aus. »Wenn man Kanonenkugeln über das Wasser feuert, tauchen die Ertrunkenen auf.« Er freut sich über die Ruhe. Die Frau streicht mit einem Holz den Schaum vom Glas.
Sein Kragen ist nicht mehr ganz sauber.
Die Innenfläche der Hand ist fleckig.
Der Schrei ist nur jener Schrei vor dem Lachen, das auf den Witz folgt.
Obwohl es nicht heiß ist, beengen ihn die Kleidungsstücke. Die Hausseite hat nur falsche Fenster. Die Straße ist sehr belebt. Der Schweißgeruch zeugt von Gesundheit. Ihr Daumen lüftet die Haare vom Ohr. Er kann sich nicht vorstellen, daß ein Ruf am Tag ein Hilferuf ist. Nur die eine Reibfläche der Streichholzschachtel ist angerissen. Die Worte, die er hört, beziehen sich auf die üblichen Verhältnisse. Die Zitronenscheibe torkelt langsam auf den Boden des Glases. Die Frau stellt den Besen wieder an seinen Platz. Er räuspert sich, ohne dann etwas zu sagen. In dieser fremden Umgebung fallen ihm nicht einmal die Namen der Gegenstände ein. Als sein Gegenüber lachend den Kopf zurückwirft, bietet er ihm offen die Kehle dar.
Aus dem Schotterhäuschen schaut der Zipfel eines Zeitungsblattes!
Der Hausierer lehnt sich zurück und kreuzt die Arme sorglos übereinander. Wie in der Trunkenheit sieht er alles weit von sich entfernt. Durch all das Stimmengewirr in der Nähe hört er, wie still es sonst ist. Das Spiegelbild in der Scheibe bietet ihm keine Überraschung. Zwei Hände legen sich links und rechts auf die fremde Schulter, bleiben aber nicht still dort liegen. Der Draht wimmelt von leeren Wäscheklammern. Der Hausierer bemerkt aus den Augenwinkeln, wie man ihn aus den Augenwinkeln beobachtet. Der Greifer im Musikautomaten wandert auf und nieder, ohne bis jetzt eine Platte zu fassen. Er stellt den Koffer mit einer einzigen Bewegung nieder. Als er an der Kellerluke vorbeigeht, streift ein kalter Luftzug seine Finger. Das Licht ist so grell, daß es fast keine Schatten wirft. Es kommt ihm ungehörig vor, daß er blinzelt, während diese starren Augen ihn anschauen. Der Nebel hat das Haar gekraust. Die Kleider sind frisch gebügelt. Er möchte jetzt von niemandem eine Mitteilung. Er schnuppert den Stärkegeruch. Seine Trägheit ist so groß, daß er die Blicke nur bewegen kann, wenn auch der Körper sich bewegt. An dem gegenüberliegenden Haus sind alle Rolläden heruntergelassen.
Die Geräusche, die er hört, gehören zu dem, was er sieht. Sind die Häuser hier überhaupt unterkellert? Von seinem Platz aus kann er die ganze Straße übersehen. Der Fußboden ist frisch eingelassen worden. Der Hausierer geht mit erhobenem Kinn wie einer, der zu etwas dazukommt. Die Frau breitet ein sauberes Tischtuch aus, so daß er wieder die Arme heben muß. Als der Wind aufhört, ist ihm, als werde er plötzlich fallengelassen.
Er wird sich hier vielleicht nützlich machen können.
Die Gedanken kommen ihm nicht mehr von selber, er muß sie erst mit aller Mühe herbeidenken, so spürbar vergeht die Zeit. Zufällig wirft er einen Blick auf die Uhr. Er sieht, wie zwischen den Lippen die Spitze der Zunge hervorschaut. Eine Speckschwarte liegt in der Pfütze.
Das Blitzlicht trifft die Gesellschaft mitten im Atemanhalten. Der Mann zieht die Flamme in die Zigarette. Die Gegenstände, in der Anordnung, wie sie dastehen, zeigen die allgemeine Ähnlichkeit der Meinungen. Der Hausierer reicht den Geldschein zusammengefaltet hinüber. Der Luftballon ist der Zigarette verlockend nahe. Der Mann reißt lachend den Mund auf.
Dort ahmen die Kinder nach, was die Erwachsenen spielen. Der Bote schwenkt einen Brief über dem Kopf. Der Hausierer tastet unter die Achsel. Er kehrt nicht mehr so zum Tisch zurück, wie er zum Fenster gegangen ist.
Es kränkt sie, daß er ihre Verachtung nicht beachtet. Eine der Schuhspitzen ist dunkler als die andre. Der Goldzahn blinkt. Es ist nicht nur die schon lange Zeit gleichförmige Bewegung, die den sitzenden Hausierer jetzt unruhig macht. Darauf gefaßt, ein trockenes Glas anzufassen, faßt er ein nasses an. Zwei Männer, zueinandergebeugt, führen eine leise Unterhaltung. Der Hausierer zählt vor sich nicht alles auf, was er wahrnimmt. Ein Mann hebt den Arm, um sich bemerkbar zu machen. Es sind nur sorglose Gesichter zu sehen. Er sucht im stillen nach Wörtern, um sich jetzt nicht bewegen zu müssen. Er hat oft in Schotterhäuschen übernachtet. Der Mann hat einen ausladenden Hinterkopf!
Der Hausierer ist froh, daß er kein Wort verstehen muß. Es entsteht das Geräusch, das entsteht, wenn das Messer, das die Frucht zerteilt, plötzlich auf den Kern trifft. Als der Mann sich verbeugt, bietet er seinen Nacken dar. Die Asche an der Zigarette krümmt sich schon. Mit der Zunahme der Ausgelassenheit spielt die Gesellschaft die Wirklichkeit nach.
Der Hausierer bemerkt nichts Neues. Die Handlinien sind feucht und vom Schmutz schwarz gerändert. Eine Semmel schaut aus dem Einkaufsnetz. Während er spricht, sprechen die andern leiser, um ihn zu verstehen. In seinen Achselhöhlen entsteht ein Kribbeln. Sie wenden sehr langsam den Kopf nach ihm.
Der Hausierer steht in der Tür mit dem freundlichsten Lächeln der Welt.
Als die Lippen sich von dem Gegenstand lösen, hört er ein Schmatzen. Jemand lacht höher als die andern. Sie wählen ein Spiel, das ihnen erlaubt zu spielen, worüber sie in der Wirklichkeit nicht zu reden wagen. Der Hausierer hört das Papier zittern. Ein Muskel zuckt an seinem Bein. Der Schaum knistert im Ausguß. Das frisch gestärkte Hemd stößt die Flüssigkeit ab. Die Lippen sind so trocken, daß auf dem Glas kein Abdruck entsteht. Während er die Flamme an die Zigarette hält, mustert er das Gesicht des Gegenübers. Er schätzt die Abstände zwischen den Personen. Der Lampenschirm hängt bewegungslos am Draht. Wenn eine Fliege liegt, so sagt ihr Liegen etwas Eindeutiges.
Die Flecken auf der Straße schrumpfen sichtbar zusammen. Die Schuhe haben keine Stahlkappen. Es ist Bratenduft, was der Hausierer riecht. Die Stiefel sind bis zum Schaft mit Kot überkrustet! Die Teller hängen in gleichmäßigen Abständen voneinander an der Wand. Wie kommt der Maiskolben in den Rinnstein? Der Mann ist unauffällig gekleidet.
Der Hausierer überzeugt sich, daß alle Gegenstände sich noch an den alten Stellen befinden. Jemand in der Menge wirft die Arme empor, aber im Jubel. Er hat zu lange nicht geblinzelt, so daß er gerade den Augenblick versäumt, in dem die Flüssigkeit aus der Flasche fließt. Die Schlagzeile zeigt Namen, die ihm fremd sind.
Man versucht ihn dazu zu bringen, daß er etwas zum Kaufen anbietet, damit man ablehnen kann. Das alte Weib steht schon lange vor dem Rinnstein, außerstande, von der Straße hinauf auf den Gehsteig zu steigen. Der Hausierer sieht nur die Tischplatte vor sich und die Hände darauf. Obwohl alles abläuft wie vorhergesehen, muß es irgendwo schon eine Unregelmäßigkeit gegeben haben. Mit einem Geldstück klopft er an die Glasscheibe. Sein unbeweglicher Kopf hält alles, was er sieht, im Gleichgewicht.
Die Stimmen der Spieler werden zu den Stimmen von Verschwörern. Er hört kein Geräusch, aber er spürt eine winzige Bewegung der Luft über sich. Niemand hat ein Fleckputzmittel bei der Hand. Im nächsten Augenblick hätte das Rinnsal ihre hochhackigen Schuhe erreicht. Bei diesem Lärm werden alle Geräusche ununterscheidbar.
Er setzt sich aufrecht.
Das Klirren muß nicht etwa von einem ruckhaft aufgelegten Telefonhörer stammen.
Niemand beugt sich vornüber, um das Schuhband zuzubinden. Dem Hausierer fällt eine Warze am ersten Glied des Daumens auf. Obwohl es im Raum schon sehr heiß ist, dampft die Flüssigkeit, die hereingetragen wird. Er ist fast sicher, daß es eine zufällige Berührung gewesen ist. Er greift nach der Klinke, aber er faßt sie nicht an. Seine Bewegungslosigkeit ist so vollkommen, daß die Wörter ganz ungestört sind. Man hat ein Spiel gewählt, das die Spieler vereinzelt, entweder ein Versteckspiel oder ein Spiel im Dunkeln. Der Gemüsewagen sieht harmlos aus.
Der Mann hat einen stechenden Blick.
Am anderen Ende meldet sich niemand. Der Hausierer hört das Klappern von leeren Konservendosen. Die Frau legt die Hände in den Nacken. Wer in der Gesellschaft trägt Handschuhe?
In diesem Augenblick kommt ein untersetzter, breitschultriger Mann dazu. »Unrechtmäßig erworbene Geldscheine sind zusammengerollt und zerdrückt.« Der Hausierer zieht die Zeit hin, bevor er den Preis nennt. Ein kantiger Gegenstand buchtet sich in der Decke. Schwere Steine werden auf die Plane gelegt. Die Stühle sind mit Leisten verbunden. Jemand murmelt etwas und geht weiter.
Beide wollen sich zufällig am selben Ort verstecken und streiten, wer von beiden sich ein andres Versteck suchen soll, bis schließlich die Zeit um ist und beide vor dem, der sie sucht, voll Scham sichtbar dastehen.
Der Hausierer tut eine Bewegung, um sich zu prüfen, ob er diese Bewegung gerade schon getan und sie nur inzwischen vergessen hat.
Die Leitung ist nicht frei!
Die niedrige Stirn des Mannes verrät nichts Gutes.
Der Hausierer betrachtet die Spalten in den Rolläden. Es beruhigt ihn, daß einige bewegliche Gegenstände in der Reichweite seiner Hand stehen. Der Knoten der Krawatte ist ein wenig zu dick. Der erste, der vom Spiel zurückkehrt, wischt sich die Finger am Rock ab. Der Hausierer hält plötzlich zwei Teile der Schnur in der Hand. Man entdeckt, daß ein Gegenstand, der gerade noch auf seinem Platz war, jetzt nicht mehr auf seinem Platz ist. Die Frau verzieht bei einem Gedanken das Gesicht. Er hält die Zigarette so, daß auch der Markenaufdruck verbrennen muß. Jede Bewegung, die er sieht, ist seinen Augen angenehm. Das ist ein Überraschungsschrei! Aufmerksam schaut er in das nackte Ohr der Katze.
Die Spieler wählen eine Haltung, die von vornherein das Liegen verlangt. Die eine Faust des Hausierers ist größer als die andre. Er beobachtet, daß die Frau keine Bewegung zu Ende führt, sondern jede Bewegung mit der folgenden überspielt. Die Handtasche schnappt zu.
Er reibt mit dem Finger quer über die trockenen Zähne. Behaglich lehnt er sich gegen die Wand zurück, aber die Wand ist so weit weg von ihm, daß mitten in der Bewegung die Behaglichkeit nachläßt.
Den vermißten Gegenstand kann auch ein Kind genommen haben!
Während sie spielen, werden auch ihre Worte zum Spiel, so daß er ihnen nichts mehr entnehmen kann. Die Bewegungen schließen sich alle zu Kreisen. Es kann keinen Zwischenfall geben. Der Hausierer ist der einzige Außenstehende. Man stellt die anderen Gegenstände so auf, daß die Lücke verdeckt wird. Der Scheitel des Mannes ist tadellos geradegezogen.
Einer nach dem andern kehren die Spieler zurück und werden zu Zuschauern. Das Kind hält die Hand auf dem Rücken, aber nicht versteckt. Die Witzzeichnung zeigt den vorletzten Augenblick, den vor dem Aufprall. Jeder Laut könnte in dieser Umgebung sofort eingeordnet werden. Der Hausierer entdeckt weiße Flecken auf seinen Fingernägeln. Seine Blicke treffen überall auf Widerstand.
Als sich jetzt auch noch die Tür schließt, wird die Ordnung zum Hohn.
Die Straße ist übersichtlich. Das Wort »plötzlich« kann nicht mehr angewendet werden. Der Hausierer atmet endlich gleichmäßig. Alle Bewegungen, die er sieht, verlaufen waagrecht.
Er nimmt eine ungestörte Wirklichkeit wahr.
Die Gedanken gehorchen dem, was er bemerkt.
Nirgendswo gibt es eine Lücke.
Die Frau betrachtet ihre sorgfältig manikürten Hände. Die Katze, die vorbeiläuft, hinterläßt feuchte Spuren auf dem Boden, obwohl weit und breit keine Flüssigkeit zu sehen ist.
Die Beschreibung der Ordnung dient nur der Beschreibung der Unordnung, die durch den ersten Mord entsteht. Schon in der Beschreibung der Ordnung stehen Sätze, die sich zwar scheinbar in die anderen Sätze einordnen, aber nachher ebensogut zu der künftigen Unordnung passen.
Die Ordnung wird zum Zerreißen gespannt. Alle Gegenstände sind in einer derartigen Alltäglichkeit beschrieben, daß von selber die Frage entstehen muß, wie lange wohl die Alltäglichkeit noch anhalten mag. Die alltägliche Wirklichkeit ist so vollkommen, daß es zu einem Knall kommen muß.
Der Mord nun geschieht so, daß er einen Abbruch dieser Wirklichkeit bewirkt. Er geschieht zu einer Zeit und an einem Ort, da alles seinen Lauf zu gehen schien.
Damit die Wirkung des Abbruchs größer ist, maskiert sich die Tat nicht als natürlicher Vorgang, sie ist im gleichen Augenblick, in dem sie geschieht, als unnatürlich, gewaltsam, von außen kommend, vorsätzlich erkennbar.
Der Mord ist erkennbar von Augenzeugen, die gerade noch in die alltägliche Wirklichkeit vertieft waren.
Es wird zwar die Tat erkannt, aber nicht der Täter.
Durch die Tat erst wird die beschriebene Wirklichkeit zu einer Geschichte mit einer besonderen Zeit, mit einem besonderen Ort, mit besonderen Personen. Die Rechtfertigung der schon vorher beschriebenen Gegenstände geschieht erst im nachhinein durch den Mord.
Durch den Mord werden Beziehungen hergestellt, oder es werden ausdrücklich Beziehungen verschwiegen, die im künftigen Hergang der Geschichte aufgedeckt werden sollen. Nur ein Satz fehlt. Um diesen Satz entsteht die Geschichte. Um diesen Satz entsteht der Fall.
Das Ermordungskapitel beginnt in der Regel mit der Beschreibung eines nebensächlichen Gegenstandes, der sich aber am künftigen Tatort befindet. An der Haltung oder Lage dieses Gegenstandes wird das künftige Sterben vorweggenommen.
Erschien im vorhergehenden Kapitel alles bestimmt und bekannt, so erscheint jetzt alles unbestimmt.