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Schicksalssommer in der Heide Seit zehn Jahren meidet Kati ihre alte Heimat. Seit zehn Jahren quälen sie schmerzhafte Erinnerungen. Jetzt hat erneut eine Tragödie ihre Familie heimgesucht. Der Vater liegt im Koma, und die Großmutter kann den kleinen Gasthof nicht allein führen, den die Weidemanns seit Generationen mitten in der Lüneburger Heide betreiben. Und die Saison hat gerade erst begonnen. Schweren Herzens beschließt Kati, ihren Hamburger Agentur-Job aufzugeben und für einige Zeit auf dem «Heidehof» auszuhelfen. Überraschend stellt sie fest, wie sehr sie die Stille und Schönheit der Heidelandschaft vermisst hat: Kati blüht auf, ihre Wunden beginnen endlich zu heilen. Bis auf einmal der Mann vor ihr steht, dessen Schicksal mit ihrem für immer verbunden ist und den sie niemals wiedersehen wollte …
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Seitenzahl: 477
Sofie Cramer
Der Himmel über der Heide
Roman
Ihr Verlagsname
Schicksalssommer in der Heide
Seit zehn Jahren meidet Kati ihre alte Heimat. Seit zehn Jahren quälen sie schmerzhafte Erinnerungen. Jetzt hat erneut eine Tragödie ihre Familie heimgesucht. Der Vater liegt im Koma, und die Großmutter kann den kleinen Gasthof nicht allein führen, den die Weidemanns seit Generationen mitten in der Lüneburger Heide betreiben. Und die Saison hat gerade erst begonnen.
Schweren Herzens beschließt Kati, ihren Hamburger Agentur-Job aufzugeben und für einige Zeit auf dem «Heidehof» auszuhelfen. Überraschend stellt sie fest, wie sehr sie die Stille und Schönheit der Heidelandschaft vermisst hat: Kati blüht auf, ihre Wunden beginnen endlich zu heilen. Bis auf einmal der Mann vor ihr steht, dessen Schicksal mit ihrem für immer verbunden ist und den sie niemals wiedersehen wollte …
Sofie Cramer stammt aus der Lüneburger Heide, geboren wurde sie 1974 in Soltau. Zum Studium der Germanistik und Politik ging sie zunächst nach Bonn, später nach Hannover. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Drehbuchautorin in Hamburg.
Sofie Cramer schreibt unter Pseudonym – auch weil sie in ihre Geschichten teilweise eigene Erfahrungen miteinbringt.
Weitere Veröffentlichungen:
SMS für dich
Was ich dir noch sagen will
Herz an Herz (mit Sven Ulrich)
Für meine Mutter, ohne die diese Geschichte niemals geschrieben worden wäre
In sanften Wellen bewegt sich das Meer aus lila Blüten bis zum Horizont. Dort, wo der Himmel über der Heide in pastellfarbenes Licht gehüllt ist, ziehen ein paar Wolken in wilden Formationen vorüber. Ihre Bewegungen sind fließend und nur von einem geduldigen Auge zu erkennen. Die untergehende Spätsommersonne verheißt einen schönen neuen Morgen. So schön, dass zahlreiche Schwalben hoch oben durch die Lüfte tanzen und den neuen Tag willkommen heißen werden.
Eindringliche Stille liegt über dem weiten Land. Vereinzelt werfen Kiefern, Birken und Wacholderbüsche ihre langen Schatten. Sie stehen vollkommen still und trotzen der Zeit. Doch im Osten kündigen die ersten Nebelschwaden bereits den Herbst an. Langsam erobern sie das Land. Wie weißer Rauch, der ein lange gehütetes Geheimnis umschließt, breiten sie sich jedes Jahr von neuem aus und wecken beim Betrachter Erinnerungen an ein tragisches Ereignis, das vor langer Zeit die Idylle erschütterte. Es sind schmerzvolle Bilder, die seit jener Oktobernacht immer wieder ihren Weg ins Bewusstsein der Beteiligten suchen: Flammen, die sich wie blutrote Zungen erbarmungslos durch die Ritzen der Mauern fressen und an den trockenen Gräsern und Büschen lecken. Und mitten in der roten Feuersglut steht eine junge Frau. Sie schreit, doch niemand kann sie hören – nicht einmal ihre Schwester, die seit der Geburt untrennbar mit ihr verbunden war. Seit jener schicksalhaften Nacht ist alles anders. Seit jener Nacht scheint der Himmel über der Heide wie mit einem Mantel des Schweigens verhüllt. Denn wie ein unerbittlicher Fluch lastet die Tragödie auf den Herzen der Betroffenen. Er nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Und den Mut zur Liebe …
Das grelle Licht des Nachmittags blendete Kati. Sie rauschte in ihrem alten Golf über die Elbbrücken Richtung Süden, klappte die Sonnenblende nach unten und drückte weiter aufs Gaspedal, obwohl sie hier nur 80 Kilometer pro Stunde fahren durfte. Ein silberfarbener Mercedes kroch auf der linken Spur. Sie überholte rechts.
Ihr Herz raste, und die Sorge um ihren Vater schnürte ihr die Kehle zu. Noch nie hatte sie es so eilig gehabt, in ihre alte Heimat, die Lüneburger Heide, zu kommen. Die Stimme der Großmutter am Telefon hatte sofort verraten, dass etwas wirklich Schlimmes passiert sein musste. Noch immer kreisten die Worte in ihrem Kopf: Zusammenbruch … Krankenhaus … Intensivstation … Koma …
Kati wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Niemandem wäre geholfen, wenn sie sich jetzt in die Rolle eines kleinen Mädchens hineinsteigern würde. Sicher war ihr Vater schon wieder bei Bewusstsein, wenn sie gleich im Krankenhaus ankäme. Sie versuchte, sich selbst Mut zu machen. Wie schlimm konnte ein Magendurchbruch sein? Schwebte ihr Vater wirklich in Lebensgefahr? Vielleicht hatte Elli in ihrer Angst übertrieben. Vielleicht war alles halb so schlimm. Die Großmutter sorgte sich verständlicherweise um ihren Sohn, aber wahrscheinlich hatte sie die Ärzte nicht richtig verstanden. Ein Magendurchbruch war schließlich kein Herzinfarkt, oder? Je schneller ein Patient versorgt wurde, desto größer war doch die Chance einer vollständigen Genesung.
Kati dachte an ihren Heimatort. Uhlendorf lag abseits der großen Verbindungsstraßen, und es musste eine halbe Ewigkeit gedauert haben, bis der Krankenwagen den langen Weg von Soltau aus geschafft hatte. Schließlich lag Uhlendorf inmitten des Naturschutzgebietes. Doch immerhin war die Großmutter sofort zur Stelle gewesen, als Katis Vater in der Küche des Landgasthofs unter Schmerzen zusammengebrochen war und beinahe das Bewusstsein verloren hatte. Sie hatte angeblich sofort den Notdienst gerufen. Kati malte sich aus, wie ihre Großmutter außer sich vor Sorge am Telefon um Hilfe gefleht hatte. Das Warten musste schlimm gewesen sein. Oder hatte es der Notarzt doch viel schneller geschafft?
Kati fiel ein, dass vor ein paar Jahren eine Rettungswache im Nachbardorf eingerichtet worden war. Der Notarzt wird also rechtzeitig da gewesen sein, mutmaßte sie. Sicher wussten auch die Ärzte im Krankenhaus genau, was sie taten.
Als Kati an diesem drückenden Julinachmittag endlich von der Autobahn abfuhr und auf die Hauptstraße nach Soltau einbog, die früher auch ihr Schulweg gewesen war, wurde sie etwas ruhiger. Irgendwie schien ihr die vertraute Heimat ein wenig Trost und Zuversicht zu spenden.
Eine Viertelstunde später erreichte sie den Parkplatz des Krankenhauses. Kati stieg aus, orientierte sich kurz und ging dann schnellen Schritts auf den Haupteingang zu.
Eine sympathisch aussehende Frau an der Informationstheke lächelte sie an und erklärte ihr den Weg zur Intensivstation. Kati hatte nicht die Ruhe, auf den Aufzug zu warten. Sie lief die Treppen hinauf bis in den ersten Stock und bog in den langen Flur der Intensivstation. Schon von weitem sah sie den weißen Haarschopf ihrer Großmutter. Neben Elli entdeckte Kati auch den rötlichen von ihrer Stiefmutter. Beide Frauen saßen angespannt auf den Wartestühlen und blickten, als sie Schritte hörten, gleichzeitig in Katis Richtung. Während Dorothee sitzen blieb, erhob sich Elli sofort und ging ihrer Enkelin ein Stück entgegen. Kati warf sich in ihre Arme und fragte: «Wie geht es ihm? Ist er wach?»
Mit sorgenvollem Blick nahm Elli das Gesicht ihrer Enkeltochter zwischen beide Hände und sprach beruhigend auf sie ein: «Es wird sicher alles wieder gut, mein Liebes.»
Kati glaubte ihrer Großmutter kein Wort. Ungeduldig wechselte sie einen besorgten Blick mit Dorothee. «Was sagen die Ärzte?»
Dorothee hatte ihre rotblonden Haare zu einem Zopf geflochten. Ihre grünen Augen sahen so aus, als hätte sie geweint. Sie bemühte sich um ein Lächeln und sagte: «Dr. Steindamm ist gerade bei ihm. Wir müssen die Untersuchungsergebnisse abwarten.»
Normalerweise hatte ihre Stimme einen leicht überheblichen Klang, den Kati nicht ausstehen konnte, weil es sich zu sehr nach Dozieren anhörte. Doch heute war es anders. Der nüchterne Ton ihrer Stiefmutter hatte seltsamerweise etwas Beruhigendes.
Kati nickte und ließ sich auf einen der freien Stühle sinken. So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, und doch war sie zu aufgewühlt, um Worte über die Lippen zu bringen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr Vater hier irgendwo lag, an Schläuche und Geräte angeschlossen, die über sein weiteres Schicksal entschieden. So ein starker, lebenshungriger Mann wie er konnte doch nicht einfach aus dem Leben gerissen werden. Nein, nicht ihr Vater! Ihn konnte so schnell nichts aus der Fassung bringen. Außer vielleicht ein packendes Fußballspiel. Unwillkürlich musste Kati an die Zeit denken, als ihr Vater sie häufiger mit ins Stadion nach Hamburg genommen hatte. Mit all seiner Begeisterung hatte er sogar sie angesteckt. Fußball war seine ganz große Leidenschaft. Im Heidehof zeigte er regelmäßig die wichtigsten Spiele im Gastraum, in dem er public viewing organisierte. Und während einer WM kamen sogar die Fußballfans aus der gesamten Nachbarschaft zusammen. Hinrich Weidemann und sein Gasthof waren ohnehin so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt des Ortes. Und sein Heide-Barbecue war weit über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt.
Zusammen mit ihrem Freund hatte Kati bei der letzten WM das Endspiel in Uhlendorf gesehen. Zwar ergab sich nur selten die Gelegenheit, gemeinsam mit Simon aufs Land zu fahren, aber wenn, dann wurden sie während ihres Besuchs von allen Seiten maßlos verwöhnt.
Wann war sie eigentlich das letzte Mal dort gewesen? Kati fuhr sich durch die Haare. Ihr wurde schwer ums Herz.
«Es sieht nicht besonders gut aus», sagte Dorothee beinahe tonlos und sah Kati mit großen Augen an. «Sie haben ihn notoperiert und in ein künstliches Koma versetzt.»
Kati stockte der Atem. Am liebsten hätte sie Dorothee in die Arme geschlossen und etwas Beruhigendes gesagt. Doch sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Bitte, lieber Gott, flehte sie innerlich, bitte, lass ihn schnell wieder aufwachen!
Ihre Kehle wurde immer enger. Mit glasigen Augen registrierte sie, wie Elli auf den Stuhl neben ihr sank.
«Und was bedeutet das?», hörte Kati sich fragen. «Ich meine, die machen das doch bestimmt, damit sie ihn besser behandeln können, oder?»
Dorothee zuckte mit den Schultern. «Ich kann es dir nicht sagen, Kati.»
Sie wirkte beinahe schroff. Als hätte sie sich inzwischen gesammelt und in Windeseile ihre undurchdringliche Fassade wieder aufgebaut.
«Alles, was ich weiß, ist, dass er sehr viel Blut verloren hat und der Kreislauf sich erst stabilisieren muss.»
Kati hielt einen Moment die Luft an. Sie hing förmlich an Dorothees Lippen. Dann fragte sie: «Wie schlimm ist es wirklich?»
«Ich weiß es nicht.»
Erst nach einer kleinen Pause fügte Dorothee leise einen Satz hinzu, der Kati einen Schauer über den Rücken jagte: «So, wie ich es verstanden habe, stehen seine Überlebenschancen nicht zum Besten.»
Die Vorstellung, dass ihr Vater womöglich nie wieder der souveräne und großzügige Gastwirt sein würde, als den sie ihn zeit ihres Lebens gekannt hatte, war für Kati unerträglich. Doch jetzt sollte sie einfach hier sitzen und warten. Benommen starrte sie vor sich hin. Stumm. Die Angst lähmte sie geradezu, und obwohl sie ihr Herz kräftig schlagen spürte, fiel ihr das Atmen schwer. Nein, ihm durfte nichts geschehen! Das Schicksal war bereits grausam genug mit ihnen umgesprungen. Sie konnte unmöglich erneut einen geliebten Menschen viel zu früh verlieren.
Die nächste Zeit erlebte Kati wie in Trance. Sie hatte die schwache Hoffnung, wenigstens einen kurzen Blick auf ihren Paps werfen zu können. Außerdem wollte sie persönlich mit den Ärzten sprechen. Gleichzeitig fühlte sie sich wie in einen Schleier gehüllt, und sie wagte nicht diesen Schleier wegzuschieben. Zu beängstigend erschien ihr die nackte Wahrheit.
«Liebes …» Erst als ihre Großmutter sie sanft am Arm berührte und ihre Worte wiederholte, wurde sich Kati ihrer Umgebung wieder bewusst. «Wir müssen das Beste hoffen. Es wird bestimmt alles gut.»
Kati vermochte nicht zu sagen, wie lange sie dort gesessen und auf die graugrüne Wand gestarrt hatte. Ob Elli die ganze Zeit schon ihre Hand gehalten hatte? Kati sah die Großmutter liebevoll an. Wie vertraut ihr faltiges, gütiges Gesicht war!
Obwohl man Elli ihre beinahe 83 Jahre durchaus ansehen konnte, war noch immer die schöne Frau zu erahnen, die sie früher gewesen sein musste. Auch wenn sie ihre Arbeit im Heidehof nur selten ruhen ließ und kaum aus dem Dorf herauskam, hatte sie immer sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt. Aber war sie auch immer schon so schmal gewesen? Kati konnte sich nicht erinnern, dass Elli je so zerbrechlich gewirkt hätte. Außer damals vielleicht … Kati schob den Gedanken schnell beiseite und streichelte ihrer Großmutter über die Wange.
«Da kommt Dr. Steindamm.» Dorothee sprang auf und ging dem Mediziner hoffnungsvoll entgegen.
Doch der Chefarzt konnte immer noch nichts Genaues sagen. Er informierte sie lediglich darüber, dass die OP so weit gut verlaufen sei. Als wie schwerwiegend sich aber die eigentlichen Folgen des Magendurchbruchs erweisen würden, musste auch das Ärzteteam abwarten.
Einen Moment war Kati etwas eingeschüchtert von Steindamms großer Statur, seinem weißen Kittel und der randlosen Brille, die ihm zusätzlich Autorität verlieh.
«Können wir zu ihm?», fragte Kati.
Dr. Steindamm legte seine hohe Stirn in Falten und räusperte sich. «Nun, wenn Sie versprechen, ruhig und gefasst zu bleiben, kann ich sie kurz zu dem Patienten lassen. Aber wirklich nur für einen Moment.»
Die drei Frauen erhoben sich und folgten ihm bis vor das Zimmer mit der Nummer 114. Vorsichtig öffnete der Arzt die Tür und ließ sie eintreten.
Der Raum strahlte eine seltsame Atmosphäre aus. Die Wände waren in zartem Hellblau gestrichen und ließen das Zimmer mit all den technischen Geräten, Maschinen und Monitoren irgendwie unmenschlich und zugleich auf eine seltsame Weise auch beruhigend erscheinen. Neben Hinrichs Bett stand noch ein zweites, mit einer durchsichtigen Plastikhülle überzogenes. Es wirkte sehr steril. Offenbar war die Intensivstation nicht ausgelastet.
Leise näherte sich Kati dem Krankenbett. Dort lag ihr Vater scheinbar leblos auf dem Rücken, eine Sauerstoffmaske auf dem blassen Gesicht. Es war ein schrecklicher Anblick, und Kati fühlte sich plötzlich wie ein hilfloses Kind. Sie musste schwer schlucken.
Auch Dorothee war die Beklemmung ins Gesicht geschrieben. Sie trat an das Krankenbett und strich mit dem Zeigefinger behutsam über die Wange ihres Mannes und sein noch recht volles graues Haar. Diese Geste hatte etwas derart Hilfloses, dass Kati schlucken musste. Sie konnte sich nicht erinnern, die beiden jemals so vertraut miteinander erlebt zu haben. Normalerweise war Dorothee eher der geschäftige Typ, der nur wenige Gefühle zeigt. Doch wie sie jetzt dort bei ihrem kranken Mann stand, wirkte sie beinahe genauso schwach wie er.
«Du … Sturkopf», flüsterte Dorothee mit zitternder Stimme, «ich habe es doch gewusst.»
Irritiert sah Kati ihre Großmutter an. Was meinte Dorothee damit? Doch ehe Elli etwas sagen konnte, räusperte sich Dr. Steindamm und gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie den Raum nun wieder verlassen mussten. Kati nickte ihm zu und streifte im Hinausgehen kurz die Decke des Krankenbettes. Sie glaubte, die Beine ihres Vaters gespürt zu haben. Ob er von dieser Geste etwas mitbekam? Kati beobachtete noch, wie Dorothee sich über ihren Vater beugte, um ihn zum Abschied sanft auf die Stirn zu küssen. Dann trat sie hinter ihrer Großmutter auf den Flur.
Dr. Steindamm versicherte ihnen, dass sie im Moment nichts für den Patienten tun konnten.
«Fahren Sie lieber nach Hause und schonen Sie Ihre Kräfte für die nächsten Tage», erklärte er. «Dann wird sich alles Weitere entscheiden. Wir halten Sie natürlich auf dem Laufenden.»
Kati ging das alles viel zu schnell. Wie lautete die genaue Diagnose? Welche Chancen hatte ihr Vater? Wann würde er aufwachen? Doch sie stand noch immer unter Schock. In ihrem Kopf wirbelten die Fragen wie Herbstlaub im Wind umher. Hilflos sah sie ihre Stiefmutter an.
Dorothee schien die Einzige zu sein, die einen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr war offensichtlich bewusst, dass der Arzt recht hatte. Sie drehte sich bereits zum Fahrstuhl um. Da hielt Kati sie an der Schulter fest.
«Was ist mit Paps los? Was meintest du eben?»
Dorothee zuckte mit den Schultern. Ganz eindeutig war ihr die Situation unangenehm.
«Wenn es nach mir gegangen wäre», erklärte sie leise, «hättest du längst etwas erfahren. Aber …» Sie brach ab und warf Elli einen strengen Blick zu. «Aber ich durfte ja nichts sagen.»
Kati verstand gar nichts mehr. Unsicher blickte sie von einer zur anderen. «Was –?»
«Ach, lass gut sein.» Dorothee zog bereits ihre Jacke über. «Ich nehme an, ihr fahrt zusammen zum Heidehof zurück?»
Was eigentlich eine Frage war, klang wie eine Feststellung. Schon wendete sie sich zum Gehen, ohne eine Antwort abzuwarten.
Kati drehte sich zu ihrer Großmutter. «Was durfte sie mir nicht sagen, Elli?» Ihre Stimme war leise, aber eindringlich.
Elli atmete schwer und nestelte an den Knöpfen ihrer Strickjacke. «Jetzt nicht, Liebes», seufzte sie und hakte sich bei Kati unter. «Deine Stiefmutter hat recht: Lass uns erst mal nach Hause fahren!»
Als sie in Uhlendorf auf dem malerisch gelegenen Heidehof ankamen, wunderte sich Kati, wie marode das alte Haupthaus und die kleineren Nebengebäude wirkten. Sie war schon länger nicht mehr da gewesen, und nun kam es ihr vor, als würde der Hof auch schon ein wenig unter Altersschwäche leiden.
Immerhin blickte der Gasthof auf eine über 300-jährige Geschichte zurück. Kati wusste, wie viel Arbeit darin steckte. Nun aber schreckte sie der Zustand der Gebäude. Einzig die von Elli liebevoll gepflegten Blumenbeete vor dem Haupteingang machten den etwas heruntergekommenen Eindruck wett.
Dorothees Wagen stand schon auf dem großen Parkplatz direkt am Haupthaus. Als sie neben dem Rover ihrer Stiefmutter parkte, sah Kati, dass Elli einen Blick auf ihre Armbanduhr warf.
«Normalerweise würden jetzt die ersten Gäste zum Abendessen kommen», erklärte ihre Großmutter verunsichert. «Was sollen wir nur tun?»
Darauf wusste Kati auch keine Antwort. «Ach Elli, irgendwas wird uns schon einfallen», erklärte sie und stieg aus. «Zur Not müssen wir die Leute eben wieder nach Hause schicken.»
Als sie sich dem Eingang näherten, entdeckten sie an der großen Holztür einen weißen Zettel. In Druckbuchstaben stand dort geschrieben:
DER RESTAURANTBETRIEB IST AUS FAMILIÄREN GRÜNDEN BIS AUF WEITERES EINGESTELLT.
D. WEIDEMANN.
«Siehst du, Oma», sagte Kati, «wenigstens das Problem hat sich schon mal geklärt.»
Sie fragte sich allerdings, wie Dorothee sich das mit den Pensionsgästen vorstellte. Zwar dürften es noch nicht so viele Übernachtungsgäste sein, denn die Heideblüte hatte noch nicht begonnen, und die eigentliche Hochsaison würde noch zwei, drei Wochen auf sich warten lassen. Aber sollten die derzeitigen Urlauber das Gasthaus morgens etwa hungrig verlassen? Auf das berühmte Heidehof-Frühstück verzichten müssen? Andererseits: Wer sollte für die Verpflegung sorgen, jetzt wo ihr Paps im Krankenhaus lag? Elli konnte das unmöglich alles alleine stemmen. Dorothee wiederum kannte sich mehr mit Zahlen aus und war eher für Managementaufgaben zuständig.
Ob es die Küchenhilfe noch gab? Kati erinnerte sich an eine nette Frau mit dunkelblonden Haaren. Wie hieß sie noch mal? Silke? Sibylle? Kati war sich nicht sicher. Sie wusste nur eines: In den nächsten Tagen würde jede helfende Hand gebraucht werden.
Als sie das Haus betraten, wollte Elli sich sofort um die Küche kümmern und eilte geschäftig umher. Kati blieb etwas verloren in der großen Diele stehen. Mit einem Mal fühlte sie sich irgendwie fehl am Platz und wusste nicht so recht, wohin mit sich. Der Heidehof war schon lange nicht mehr ihr Zuhause.
Kurzerhand beschloss sie, sich in eine ruhige Ecke zurückzuziehen, um zu telefonieren.
«Ich rufe schnell Simon an», rief sie ihrer Großmutter hinterher und schwenkte wie zur Erklärung ihr Handy in der Luft. «Er weiß ja noch gar nicht, was los ist. Ich komme dann gleich nach und helfe dir.»
Elli nickte ihrer Enkelin zu. «Lass dir Zeit», sagte sie und war auch schon verschwunden.
Kati ging in das Büro ihres Vaters, das im Laufe der Jahre mehr und mehr von Dorothee und ihren Aktenordnern in Beschlag genommen worden war. Nachdem sie ihre Tasche abgestellt hatte, setzte sie sich an den schweren Schreibtisch und wählte Simons Nummer.
Doch es folgte eine Enttäuschung. Sie musste mit seiner Mailbox vorliebnehmen. Wie so oft war er beruflich unterwegs, und Kati hatte vergessen, wo er sich gerade aufhielt. Zu häufig wechselten seine Reiseziele mittlerweile. Anfangs, vor rund drei Jahren, als sie ein Paar wurden, fand sie seinen Beruf überaus spannend: ein Wissenschaftsjournalist unterwegs zu den Brennpunkten der Welt! So war ihr Simon von der gemeinsamen Freundin vorgestellt worden, die an jenem Abend ihren 30. Geburtstag feierte. Angeregt unterhielten sie sich und nahmen die anderen Gäste immer weniger wahr. Kati hatte sich sofort in Simon verliebt. Sie bewunderte seine Weltläufigkeit und seine selbstsichere Ausstrahlung. Als unterbezahlte Graphikdesignerin fühlte sie sich dagegen fast ein wenig minderwertig und langweilig. Während sie den lieben langen Tag in Hamburg vor dem Rechner in der Agentur saß, besuchte Simon Kongresse, Fachtagungen und Pressekonferenzen in London, Rom oder Kyoto. Am Anfang hatten sie noch viel gemeinsam unternommen und waren das, was sich Kati unter einem glücklichen Paar vorstellte. Ihre Beziehung war zwar immer noch recht harmonisch, aber inzwischen empfand Kati die mangelnde Struktur ihrer Partnerschaft und die wenige Zeit, die sie miteinander verbrachten, als aufreibend und beklemmend. Kaum hatte sie sich wieder an einen gemeinsamen Alltag gewöhnt und begonnen, ihn zu genießen, musste Simon wieder auf Geschäftsreise. Ständig wirbelte er ihr Leben durcheinander, und sie sah sich mehr oder weniger gezwungen, sich auf ihn und seine Bedürfnisse einzustellen. Wie oft kam er spätabends in die gemeinsame Wohnung, ohne dass er die Zeit gehabt hätte einzukaufen? Wie oft war er frühmorgens zum Flughafen aufgebrochen, ohne Zeit für einen gemeinsamen Kaffee zu haben? Wie oft verschanzte er sich an den Wochenenden am Schreibtisch, um schnell noch eine Reportage oder einen Bericht fertigzustellen? Stets saßen ihm Deadlines und Fristen im Nacken.
Kati seufzte. Eigentlich hätte in diesem Sommer alles besser werden sollen. Zumindest hatte Simon versprochen, sich auf eine Ressortleiterstelle in Hamburg zu bewerben. Dann müsste er weniger reisen, und sie hätten endlich Aussicht auf ein wirklich gemeinsames Zuhause. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit irgendwann zu heiraten und eine Familie zu gründen. Kati spielte schon länger mit diesem Gedanken. Schließlich war sie 31 Jahre alt. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, das Gespräch behutsam in diese Richtung zu lenken, vertröstete Simon sie. Oder er machte ein paar spöttische Bemerkungen darüber, dass sie bloß mit sich und ihrem Job unzufrieden sei. Ein Kind könne sie aus diesem Dilemma aber nicht befreien.
Sie hatten deshalb schon oft gestritten. Dabei sehnte sich Kati im Grunde vor allem nach mehr gemeinsamem Alltag und gar nicht so bald nach einem Kind. Doch angesichts der allgemeinen Krise war Simon als Freiberufler weiterhin gezwungen, flexibel und mobil zu bleiben. Das verstand Kati auch. Aber nun, da ihr Vater schwer krank war und sie Simon in ihrer Nähe brauchte, war er wieder einmal nicht da.
Stockholm! Nun fiel es Kati wieder ein. Simon war in Schweden auf einem internationalen Kongress für Meeresbiologie und würde erst am Samstag, also in drei Tagen, zurück sein. Es blieb ihr im Moment nichts anderes übrig, als ihm auf die verhasste Mailbox zu sprechen.
Nachdem sie das Handy wieder in der Tasche verstaut hatte, betrat Kati das Wohnstübchen ihrer Großmutter. So nannte Elli den Raum am westlichen Ende des großen Haupthauses. Der Heidehof wurde bereits seit mehreren Generationen von der Familie betrieben, und Großmutter Elli hatte hier ihren eigenen kleinen Wohnbereich.
Wann immer Kati diese Räume betrat, fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückkatapultiert. Der Geruch der antiken Möbel, die allesamt mit selbstgestickten Deckchen und Fotos längst vergangener Tage dekoriert waren, war ihr ebenso vertraut wie das immerwährende Ticken der großen Wanduhr.
Obwohl Ellis Reich, abgesehen von dem noch recht neuen Crosstrainer neben dem Fernsehsessel, eher dunkel und altmodisch eingerichtet war, fühlte sich Kati dort seit jeher zu Hause. Sie mochte die Atmosphäre dieser bescheidenen Einliegerwohnung, die zwar lediglich über zwei Zimmer und eine kleine Küche verfügte, aber insgesamt viel gemütlicher wirkte, als der große Wohn- und Essbereich, den ihr Vater und ihre Stiefmutter am anderen Ende des Hauses nutzten. Der gläserne Anbau hob sich deutlich vom Haupthaus ab, in dem auch die Gästezimmer untergebracht waren. Dorothee hatte zwar viel Sorgfalt in die stetige Modernisierung gesteckt, doch Kati konnte den luxuriösen Geschmack und Dorothees Vorliebe für großgemusterte Teppiche und überdimensionierte Porzellan-Dalmatiner einfach nicht teilen. Bei einem Weihnachtsessen war es sogar zum Streit wegen der Einrichtung gekommen. Katis Vater hatte sich scherzhaft über die «vergoldeten Hundeleinen» an den neuen Küchengardinen geäußert. Und als auch die anderen in den liebevoll gemeinten Spott einfielen, war Dorothee wutentbrannt nach draußen in die Kälte verschwunden. Sie hatte nicht einmal ihren Mantel übergezogen.
Kati kannte diese Anfälle von Wut oder Jähzorn, und sie wusste, dass Dorothee stets wenige Minuten später wie ausgewechselt zurückkam und zur Tagesordnung überging, als wäre nicht das Geringste vorgefallen.
Wie nichtig erschien ihr jetzt dieser Streit um die Vorhangkordeln!
Im Krankenhaus hatte Dorothee außerdem eine ganz neue Seite von sich gezeigt: Wie weich, ja, geradezu verletzlich sie gewirkt hatte! Es musste schrecklich sein, Angst um den geliebten Mann zu haben, mit dem man den Lebensabend verbringen wollte. Kati hatte noch immer Dorothees erschrockene Miene vor Augen, mit der sie ans Krankenbett getreten war.
Katis Vater stand nur wenige Jahre vor der Pensionierung. Er hatte Dorothee in Aussicht gestellt, im Ruhestand hätte all der Stress auf dem Heidehof ein Ende, und sie würden endlich die Reisen nachholen, die sie wegen des aufreibenden Familienbetriebs nicht hatten unternehmen können.
Nach der Rückfahrt hatte sich Dorothee offenbar in ihren Teil des Hofes zurückgezogen. Das war Kati nur recht, denn sie wollte sich ganz ihrer Großmutter widmen. Sie wusste, dass Elli ihre Gefühle und Sorgen stets gut verbarg.
Aus der kleinen Küche, die vom Wohnstübchen abging, drang vertrautes Klappern. Kati legte ihre Tasche auf einen Stuhl und betrat den Raum mit der niedrigen Decke. Trotz der noch immer drückenden Schwüle draußen war es hier angenehm kühl.
Elli hatte bereits Tee gekocht und reichte ihrer Enkelin eine Tasse.
«Hast du Simon erreicht?», fragte sie.
Kati rollte mit den Augen. «Natürlich nicht.»
«Na, er wird sich bestimmt bald melden.»
Kati war sich da nicht so sicher. «Ach, mich ärgert, dass er einfach nie da ist, wenn man ihn braucht.»
Fragend sah Elli sie an und wartete auf eine ausführlichere Erklärung. Doch Kati winkte ab. «Wenn er Zeit mit mir verbringen will, soll er halt herkommen und mit anpacken, statt …»
Kati bremste sich. Sie wollte ihre Großmutter nicht auch noch mit ihren Beziehungsproblemen belasten oder sich darüber auslassen, dass sich ihr Freund mit dem Zurückrufen häufig reichlich Zeit ließ.
«Er kann doch nichts dafür, wenn er so viel auf Geschäftsreisen muss», sagte Elli verständnisvoll.
Kati biss sich auf die Lippe und ließ sich auf einen der Holzstühle fallen. «Du hast ja recht. Ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann, wenn es drauf ankommt.» Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: «Meistens jedenfalls.»
Schweigend tranken sie ihren Tee. Kati rührte in ihrer Tasse und dachte wieder an ihren Vater im Krankenhaus. Sie hatte ganz andere Sorgen, als sich über Simon zu ärgern.
«Was hat Dorothee im Krankenhaus nun eigentlich gemeint? Wieso macht sie Paps Vorwürfe?»
Elli knetete ihre Hände und seufzte. «Ach weißt du, Liebes … Es ist alles nicht so einfach.»
«Was ist nicht einfach?»
Elli schenkte sich Tee nach und trank einen Schluck. Dann fasste sie sich ein Herz und erklärte: «Nun, dein Vater und ich, wir … wir hielten es für besser, dir nichts davon zu sagen …»
«Wovon nichts zu sagen?», fragte Kati ungeduldig. Sie spürte, wie Angst in ihr aufstieg. Was hatten sie ihr verheimlicht?
«Nun, dir nicht zu sagen, dass er …» Hilflos sah Elli zu Boden. «Dass er ein … ein Geschwür im Magen hat.»
Kati schluckte schwer. Einige bisher nicht zusammenpassende Puzzleteile bildeten in ihrem Kopf mit einem Mal ein etwas vollständigeres Bild.
«Papa hat ein Magengeschwür?», fragte sie bestürzt. «Deswegen hat er in letzter Zeit Tabletten genommen und nicht, weil er Bluthochdruck hat?!»
Elli nickte. «Es waren nur zwei kleine Stellen, die er nicht operieren lassen wollte … Du kennst ihn doch.» Ihre Worte klangen beinahe entschuldigend, als sie noch hinzufügte: «Wir wollten nicht, dass du dir zu viele Sorgen machst.»
Kati schüttelte ungläubig den Kopf. «Aber … das kann doch nicht wahr sein!» Sie fuhr sich durch das halblange Haar und erklärte: «Oma, du hättest es mir sagen müssen! Ich weiß, du meinst es nur gut. Aber zusammen hätten wir ihn bestimmt zur Vernunft gebracht. Und jetzt …»
Kati stockte.
Wie ein prallgefüllter Ball, der sich einfach nicht unter Wasser drücken lässt, sondern immer wieder an die Oberfläche drängt, kam ihr ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn ihr Vater wirklich sterben würde?
«… Und jetzt ist es vielleicht zu spät», sagte sie leise und seufzte schwer. «Warum immer wir? Haben wir nicht schon genug durchgemacht?»
Sie atmete ein paar Mal durch, nippte an dem Tee und blickte anschließend zu ihrer Großmutter, die ebenso nachdenklich aus dem Fenster sah.
«Ach, Liebes …» Elli zog ein säuberlich gefaltetes Stofftaschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke. «So darfst du nicht denken. Deinem Vater ist einfach alles über den Kopf gewachsen.» Sie rückte näher an ihre Enkelin heran und reichte ihr das Taschentuch.
Mit feuchten Augen musterte Kati die Initialen auf dem feinen Stoff und wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Du kennst ja deinen Vater», fügte ihre Großmutter noch hinzu und nahm ihre Hand, «genauso stolz und arbeitswütig wie früher dein Großvater.» Sie bemühte sich um ein Lächeln. «Aber mach dir nicht zu viele Gedanken. Ich passe in Zukunft besser auf ihn auf. Einer muss das ja schließlich machen!»
«Aber Oma, du bist doch nicht alleine mit all den Problemen. Dorothee ist schließlich auch noch da.»
Kati schnäuzte sich und wollte gerade noch etwas Beruhigendes hinzufügen, als Elli mit einer ungeduldigen Bewegung die Tasse von sich schob und verächtlich schnaubte. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte und erhob sich ächzend.
Kati beobachtete ihre Großmutter dabei, wie sie ans Fenster ging und hinausblickte. Es schien, als würde sie der Anblick der Obstwiesen wieder etwas beruhigen.
Auch Kati hing für einen Moment ihren Gedanken nach. Das Verhältnis zwischen Dorothee und Elli war also nach wie vor angespannt. Was würde sie nur dafür geben, wenn die Sticheleien und Auseinandersetzungen endlich aufhören würden! In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Reibereien mit ihrer Stiefmutter gegeben.
Eine Szene auf dem 60. Geburtstag ihres Vaters im vergangenen Sommer kam Kati in den Sinn. Sie und Dorothee waren in Streit geraten, nachdem Kati versehentlich Dorothees elegantes Kostüm beschmutzt hatte. Sie war beim Einschenken angerempelt worden, und ein ordentlicher Schwall von Ellis selbstgemachtem Cassis landete auf Dorothees weißem Revers. Während die anderen Gäste mit ihren Sektgläsern geduldig auf einen Toast des Gastgebers warteten, hatte Dorothee einen Wutanfall bekommen. Das war typisch für sie: Wenn die sonst so kühle und kontrollierte Dorothee plötzlich aufbrauste, konnte sie sehr ungerecht werden. Und ganz offensichtlich litt auch Elli nach wie vor unter Dorothees seltsamen Anwandlungen. Im Alltag konnten sich die beiden Frauen vermutlich nur schwer aus dem Weg gehen, dachte Kati. Im Heidehof arbeiteten alle Hand in Hand, andernfalls wäre der Familienbetrieb nicht aufrechtzuerhalten.
Kati trank ihren Tee aus, erhob sich und trat zu ihrer Großmutter ans Fenster. Aus der Küche hatte man einen traumhaften Blick auf den alten Obstgarten. Die untergehende Sonne überzog die Bäume mit einem goldenen Schimmer.
«Wie schön es hier ist.»
Kati umfasste die Schultern ihrer Großmutter, und die beiden Frauen schlossen sich fest in die Arme.
Nachdem sie eine Weile in stiller Umarmung am Fenster gestanden hatten, räusperte sich Elli. «Komm», erklärte sie, «ich bringe dich jetzt nach oben und mache dir schnell dein Bett fertig.»
Nachdem sie ihrer Großmutter wenig später eine gute Nacht gewünscht hatte, schloss Kati die Tür ihres alten Kinderzimmers. Es lag ebenfalls in Richtung des Obstgartens. Von hier oben hatte man einen noch besseren Blick über das weitläufige Naturschutzgebiet.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen. In einigen hundert Metern Entfernung begann der Wald, den Kati nur noch als schwarzen Schatten wahrnehmen konnte. Der Himmel im Westen war in ein dunkles Rosa getaucht und versprach auch für den nächsten Tag sommerliches Wetter. Ein kräftiger Regenguss wäre Kati deutlich lieber gewesen, aber vielleicht würde die Schwüle ja auch ohne reinigendes Gewitter endlich nachlassen.
Sie zog Ballerinas, Jeans und Bluse aus und beschloss, gleich ins Bett zu gehen, das Elli für sie frisch bezogen hatte. Das hatte sie sich trotz heftiger Proteste nicht abnehmen lassen.
Kurz überlegte Kati noch, ob sie sich am nächsten Morgen wohl etwas zum Anziehen leihen könnte. In all der Aufregung war sie nach Ellis Anruf so überstürzt aus der Agentur aufgebrochen, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, irgendetwas einzupacken. Unterwäsche, erinnerte sie sich, musste noch in der kleinen Kommode liegen, die links an der Wand stand. Vielleicht fand sich dort auch noch ein altes T-Shirt oder ein Hemd.
Elli hatte ihr aus dem Schränkchen über dem Waschbecken eine Ersatzzahnbürste und ein Stück Seife gegeben. Auch ein Handtuch hatte sie ihr bereitgelegt. Kati würde also nicht mehr über den dunklen Flur ins Bad laufen müssen.
Sie nahm ihr Handy aus der Handtasche und schaute nach, ob sie einen Rückruf von Simon verpasst hatte. Aber natürlich hatte er sich nicht gemeldet. Enttäuscht legte sie das Telefon auf den Nachttisch, wo sie es jederzeit hören konnte. Dann öffnete sie das Fenster, zog die schwere Gardine zu und legte sich in ihr altes, vertraut duftendes Bett.
Wie jedes Mal, wenn sie sich in ihrem früheren Kinderzimmer aufhielt, war die Vergangenheit sehr präsent. Nicht nur die Wände, auch die Einrichtung und die Bettdecke strömten etwas aus, das sie zum einen als irritierend, zum anderen aber auch als tröstlich empfand. Die dunklen Holzmöbel, die kleinen Sprossenfenster, die ausgeblichene 80er-Jahre-Tapete mit dem pink- und türkisfarbenen Muster – alles schien mit Erinnerungen vollgesogen zu sein, die sich jetzt aus den Schatten lösten.
Kati löschte das große Licht, knipste die Nachttischlampe an und setzte sich aufs Bett. Dann nahm sie das gerahmte Foto ihrer Mutter vom Nachttisch zur Hand und betrachtete es ausgiebig.
Sehr viel wusste Kati nicht über sie. Sie war erst fünf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter starb. Ihr Tod war für alle natürlich ein großer Schlag gewesen, und Kati war sicher, dass sie den plötzlichen Verlust ohne Ellis Unterstützung nicht überstanden hätte. Die Großmutter war sofort für sie da und hatte versucht, so gut wie möglich die Mutter zu ersetzen.
Ein beklemmendes Gefühl beschlich Kati bei dem Gedanken an jene Zeit, die mit den Jahren genauso verblasst war wie das Foto. Sie zwang sich zur Ruhe, atmete gleichmäßig ein und aus. Es brachte schließlich nichts, wenn sie jetzt in die gleiche tiefe und lähmende Traurigkeit wie vor vielen Jahren verfallen würde. Sie musste stattdessen überlegen, wie sie ihrer Großmutter helfen konnte. Ob Kati ein paar Tage frei bekommen könnte? Vielleicht ließ ihr Chef ausnahmsweise mit sich reden. Er regte sich schnell auf und geriet in Panik, wenn nicht alle nach seiner Pfeife tanzten. Aber zur Not würde Kati unbezahlten Urlaub nehmen. Sie konnte ihre Großmutter und auch die Stiefmutter jetzt nicht mit all der Arbeit alleinlassen. Irgendwie musste der Betrieb weiterlaufen. Es gab Hotelgäste, die versorgt werden mussten. Auch wenn der Restaurantbetrieb vorerst eingestellt würde, hatten sie zumindest Anrecht auf ein Frühstück. Außerdem stand die Heideblüte kurz bevor, und damit kamen auch die, wie Kati wusste, dringend notwendigen Feriengäste. In den Sommermonaten musste genügend Geld erwirtschaftet werden, um den Heidehof über den Winter zu bringen. Denn dazu reichten ein paar Weihnachtsfeiern und einzelne Restaurantgäste nicht.
Kati beschloss, gleich am nächsten Morgen ihren Chef in der Agentur anzurufen und sich fürs Erste abzumelden. Auf keinen Fall würde sie sofort nach Hamburg zurückfahren, zuvor mussten ein paar wichtige Dinge geklärt werden. Sie hoffte, dass auch die Aushilfen mehr arbeiten würden, falls es nötig wurde. An Kati sollte es jedenfalls nicht liegen. Auch wenn sie es eigentlich nie lange aushielt in der Heide, wusste sie, dass sie in der nächsten Zeit gebraucht wurde. Diesen Einsatz war sie ihrer Familie schuldig. Auch ihrer Mutter.
Kati schluckte und stellte den Bilderrahmen zurück auf den Nachttisch. Die Angst vor schmerzhaften Erinnerungen, die sie hier einholen würden, legte sich wie ein bleierner Umhang um ihren Brustkorb. Ihr Atem ging schwer. Es gab in der Heide Orte und Dinge, die in Kati tiefes Unbehagen auslösten. Ein altbekanntes Kribbeln machte sich über ihrem Rücken breit und stieg langsam bis zum Hals auf. Schützend zog sie die Schultern hoch, aber das bedrohliche Gefühl kroch weiter, über den Nacken und den Hinterkopf.
Kati wusste genau: Wenn es ihr jetzt nicht sofort gelang, sich zu entspannen, würde der hämmernde Kopfschmerz kommen, und dann wäre sie morgen zu gar nichts zu gebrauchen.
Ganz ruhig, sagte sie sich, ganz ruhig! Wie ein Mantra murmelte sie die beiden Worte immer wieder vor sich hin. Als das nicht half, machte sie einige der Entspannungsübungen, die sie zusammen mit ihrer liebgewonnenen Kollegin Flo bei einem Yoga-Kurs gelernt hatte.
Allmählich fühlte sie, wie die Anspannung nachließ und das Kribbeln abnahm. Sie schenkte dem leicht vergilbten Porträt ihrer Mutter ein winziges Lächeln. Wie hübsch sie war mit ihren gewellten, dunkelbraunen Haaren, dachte Kati. Das Foto musste irgendwann in einem Sommer Ende der 70er gemacht worden sein. Ihre Mutter trug einen Minifaltenrock und eine Bluse, deren Kragen ziemlich breit war. Kati mochte das Foto. Ihre Mutter sah darauf sehr glücklich aus.
Bevor ihre Augen zu brennen begannen, löschte Kati schnell das Licht und starrte noch eine gefühlte Ewigkeit in das bedrückende Halbdunkel. Und doch konnte sie nicht verhindern, dass sich ein paar stumme Tränen den Weg über ihre Wangen bahnten.
Die Gedanken in ihrem Kopf gerieten in einen schwindelerregenden Strudel und vermischten die Bilder der Vergangenheit mit denen ihres Vaters im Krankenhaus. Sie verschwanden auch nicht in der kurzen Spanne zwischen Wachsein und Schlaf, sondern erst als Kati von der Müdigkeit überwältigt wurde.
Schließlich ging ihr Atem so ruhig und gleichmäßig, dass sie nicht einmal den aufkommenden Wind bemerkte, der ein Sommergewitter ankündigte. Schon erleuchteten die ersten Blitze den finsteren Himmel über dem weiten, sanft gewellten Land. Aber selbst der grollende Donner konnte Kati in dieser Nacht nicht aus den Albträumen wecken, die sie seit über zehn Jahren verfolgten.
Am nächsten Morgen lag Katis Vater noch immer im künstlichen Koma. Dr. Steindamm hatte empfohlen, zunächst von weiteren Besuchen abzusehen. Das jedenfalls hatte Dorothee ihnen nach einem Telefonat mit dem Krankenhaus mitgeteilt. Sie war bereits mit ihrem Wagen losgefahren, um etwas zu erledigen. Genaueres wusste Kati nicht.
Elli kümmerte sich zusammen mit der Küchenhilfe um das Frühstück der Gäste. Kati blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Da sie mit den Abläufen nicht vertraut war, hatte sie mehrfach ungeschickt im Weg gestanden und war von ihrer Großmutter schließlich sanft verscheucht worden.
Kurzerhand hatte sich Kati auf ihr Zimmer zurückgezogen und versucht, ihren Chef in der Agentur zu erreichen. Da Gero jedoch meist der Letzte war, der am Morgen das Büro betrat, rief sie zunächst ihre Freundin Flo an.
«Er ist noch immer nicht aufgewacht», erklärte sie, als sich Flo mitfühlend nach ihrem Vater erkundigte.
Kati brachte sie auf den neuesten Stand und klang offenbar so bedrückt, dass Flo besorgt fragte: «Soll ich kommen? Ich meine, ich kann dich doch nicht in der Heide alleine lassen, wenn du mich brauchst.»
«Danke, das ist lieb gemeint, aber ich muss erst mal schauen, wie es überhaupt weitergeht.»
«Weißt du was?», entgegnete Flo kurzerhand. «Wir machen es anders. Was hältst du davon, wenn ich am Wochenende zu dir rauskomme und dir ein bisschen Gesellschaft leiste?»
Katie war gerührt, mochte das Angebot jedoch nicht sofort annehmen. Flo war wirklich die tollste Freundin, die man sich wünschen konnte: immer zur Stelle, wenn es mal schlecht lief. Und Kati wusste, dass Flo ihr, so gut es ging, den Rücken frei halten würde. Tatsächlich versprach sie, sich um das aktuelle Projekt zu kümmern, solange Kati nicht in der Agentur war.
Das verschaffte Kati ein wenig Luft. Nun musste sie nur noch ihren Chef bitten, ihr spontan ein paar Tage Urlaub zu geben. Und da Gero noch immer nicht in der Agentur erschienen war, rief Kati ihn kurzerhand auf dem Handy an.
Wie sie nicht anders erwartet hatte, nahm er nur wenig Anteil am Zustand ihres Vaters. Für Gero zählte allein die Firma. Und als Kati ihr Anliegen vortrug und darum bat, für zwei Tage Urlaub nehmen zu dürfen, willigte er nur zähneknirschend ein. Er beschwerte sich sogar, dass sie ihre Arbeit im Stich ließ, und fügte am Ende mürrisch hinzu, Kati solle endlich ihr Privatleben in den Griff bekommen.
Diese vollkommen unangebrachte Bemerkung machte sie derart wütend, dass sie nach dem Telefonat dringend frische Luft brauchte. So viele Gedanken wollten sortiert werden. Ganz zu schweigen von den angestauten Aggressionen, die sie loswerden musste. Wie konnte Gero so wenig Mitgefühl zeigen? Hatte sie sich nicht schon genug für seine Agentur ins Zeug gelegt? Was war mit den unzähligen unbezahlten Überstunden?
Kati beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen. Im Moment konnte sie im Gasthof ohnehin nichts tun, und auf keinen Fall wollte sie unnötig im Weg stehen.
Sie gab Elli Bescheid, zog sich ihre Jeansjacke über und trat aus dem Haus.
Ohne nachzudenken, ging sie in Richtung des kleinen Spielplatzes, den ihr Vater zusammen mit anderen Dorfbewohnern gebaut hatte. Er lag am Ende des Parkplatzes, kurz vor dem Wald, und war durch eine Hecke vom Heidehof getrennt. Neben einer großen Sandkiste und einem Holzklettergerüst gab es noch immer die alte Schaukel, auf der Kati mit ihrer Schwester früher so viel gespielt hatte. Ein schmales Holzbrett hing an zwei kräftigen Tauen von dem dicken Ast einer Eiche herab. Kati ließ sich darauf nieder und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Der Vormittag war noch immer ein wenig diesig, aber die Sonnenstrahlen wärmten ihr bereits das Gesicht. Während sie langsam vor und zurück schwang, atmete sie tief durch. Der Geruch des Waldes wehte zu ihr herüber und entfaltete eine beruhigende Wirkung. Es war beinahe vollkommen still.
Kati beschloss, die Gegend neu zu erkunden, die ihr einst so vertraut gewesen war. Sie stand auf, wandte sich Richtung Süden und marschierte los.
Schon nach wenigen Metern lag ein heller Sandweg vor ihr, der sich durch die hügelige Heidelandschaft schlängelte. Sie folgte dem Pfad und spürte durch ihre dünnen Schuhe den weichen Muller, wie der fein rieselnde Sand hier genannt wurde. Nach etwa fünfzehn Minuten gelangte sie auf eine kleine Anhöhe. Sie blieb stehen und ließ ihren Blick über die weite Landschaft schweifen. Es war so friedlich hier. Die Heidepflanzen mit ihrem zu dieser Jahreszeit typischen, satten Grün bildeten einen geschlossenen Teppich, der nur vereinzelt von kleinen Geländeinseln unterbrochen wurde. Die meisten dieser Inseln waren mit Wacholderbüschen bewachsen, entweder mit den rundlichen, fast kugeligen, weiblichen Pflanzen oder mit den schlanken, in die Höhe strebenden männlichen. Auf einigen wenigen mit Gras bewachsenen Erhebungen standen Kiefern, die mit ihren knorrigen Stämmen und ihren recht spärlich ausgestatteten Kronen ein äußerst bizarres, aber reizvolles Bild boten.
Kati spürte, wie sie in der vertrauten Umgebung und vor allem in der für sie ungewohnten Stille immer ruhiger wurde. Langsam ließ auch die Wut auf ihren Chef nach. Sie hatte ja im Grunde damit gerechnet, dass Gero seinem schlechten Ruf wieder einmal gerecht werden würde. Gero, das Grauen! So wurde er von den meisten Kollegen heimlich genannt. Einzig Flo wagte es manchmal, ihm Kontra zu geben. Sie hatte sich durch ihre aufmüpfige Art sogar ein wenig Respekt bei ihm verschafft. Dennoch war sie als Texterin ebenso unterbezahlt wie alle anderen. Aber welche Alternativen hatten sie schon? Die Zeiten waren auch in der Werbebranche nicht besonders rosig. Und Hoffnungen auf einen Wechsel in eine größere Agentur machte sich keiner.
Wenn sie Freiberuflerin wäre, dachte Kati, könnte sie jetzt sofort alles stehen und liegen lassen und sich ganz der Familie widmen.
Aber auch so konnte sie unmöglich zurück nach Hamburg fahren, bevor nicht geklärt war, wie es mit ihrem Vater weitergehen würde. Entschlossen folgte sie dem Weg. Und obwohl sie fast verging vor Angst um ihn, ermahnte sie sich mit jedem Schritt, optimistisch und stark zu bleiben. Bestimmt würde ihr Paps noch heute wieder zu Bewusstsein kommen und erste Scherze über das Krankenhausessen machen. Auch für Elli und Dorothee wäre es besser, wenn sie mutig nach vorne schaute. Sie musste die beiden, so gut es ging, unterstützen. In ihrem Alter würde die Großmutter keine zusätzliche körperliche und psychische Belastung verkraften. Elli sollte sich keine Sorgen machen müssen. Auch wenn zu befürchten war, dass Paps nicht sofort wieder ins Geschäft einsteigen konnte. Schließlich musste er zuerst einmal wieder ganz gesund werden. Und die Angst, dass er vielleicht nie wieder in der Lage sein würde, den Hof zu führen, verdrängte Kati, so gut es ging.
In Gedanken versunken war sie dem schmalen Weg gefolgt und stand plötzlich vor einer riesigen Kiefer. Sie kannte den mächtigen Baum gut. In ihrer Familie wurde er immer nur «der Kletterbaum» genannt.
Als Kind war sie so oft auf diesen Baum gestiegen, dass sie jeden Ast und jeden Zweig kannte. Stundenlang war sie auf der knorrigen Kiefer herumgeturnt, ohne dass ihr langweilig wurde. Mal ging es nur darum, möglichst weit nach oben zu kommen, manchmal wurde die Baumkrone aber auch zum Schiffsdeck, von dem aus man in der Ferne Land sichten konnte. Oder sie hielt wie auf einer Safari Ausschau nach wilden Tieren. Die Heidschnucken wurden dann zu einer Herde Gnus und die Hütehunde der Schäfer zu gefährlichen Raubkatzen. Einer der Schäfer hatte stets ein paar Honigbonbons für sie in der Tasche gehabt. Auch wenn der hochgewachsene Mann namens Ewald ansonsten eher wortkarg war und den Kontakt zu Fremden mied.
Kati trat näher an den Stamm der Kiefer und betastete vorsichtig die Rinde. An einer Stelle waren die eingeritzten Buchstaben eines Namens zu lesen. Man musste sehr genau hinsehen, um die Schrift entziffern zu können. Die Witterung hatte die Spuren verwischt. Als ihre Finger über die Stelle fuhren, zuckte Kati unwillkürlich zurück. Wie tausend kleine Nadelstiche bohrte sich die schmerzhafte Erinnerung in ihren Brustkorb: Jule! Da war er, der Name, der mit ihren Albträumen verbunden war und der sie nachts so oft nicht schlafen ließ.
Kati spürte, wie sie ein übergroßes Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins überkam und drohte, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie schluckte und unterdrückte den Drang, einfach loszuweinen. Denn sie wusste, das half ohnehin nichts. Also atmete sie tief durch und bemühte sich mit aller Kraft, die Kontrolle nicht zu verlieren. Sie musste sich in die Gegenwart zurückholen. Auch wenn sie ahnte, dass die Wunden der Vergangenheit noch längst nicht geheilt waren.
Als sie eine halbe Stunde später zurück zum Heidehof kam, ging Kati kurz auf ihr Zimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Sie wollte nicht, dass jemand ihre Traurigkeit bemerkte. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Großmutter. Vielleicht konnte sie ihr doch noch bei der weiteren Tagesplanung helfen.
Elli war in der Küche, wo sie mit erstaunlicher Schnelligkeit zwischen den Tischen und Ablagen herumwirbelte. Voller Konzentration verstaute sie Teller und Töpfe in den großen Metallregalen und räumte das Geschirr vom Frühstücksbuffet in die große Spülmaschine. Kati sah ihr von der Tür aus zu. Überall standen Töpfe, Pfannen und Schalen herum. Fast sah es so aus, als würde ihr Vater hier jeden Augenblick ans Werk gehen und ein viergängiges Menü zaubern. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er wohl in diesem Raum verbracht.
Während Kati ihre zierliche Großmutter bei der Arbeit beobachtete, stiegen Erinnerungen an früher in ihr auf. Wie oft hatte sie ihren Vater und Elli in der Küche aufgesucht, um etwas zu naschen oder um Neues aus der Schule zu berichten. Häufig wollte sie auch einfach nur in ihrer Nähe sein, und sie genoss es, wenn Elli ihr im Vorbeigehen über die Haare strich. Schon damals war die Großmutter Kati recht alt erschienen. Elli hatte schon sehr früh erste graue Haare bekommen. Außerdem trug sie zumindest bei der Arbeit meistens einen Kittel, der sie nicht besonders vorteilhaft kleidete.
Vielleicht war es aber auch mehr eine Frage der Generation als des Alters gewesen, dachte Kati. Heute sahen Frauen um die sechzig wesentlich jünger aus.
Auch Ellis Gang war bedächtiger geworden und ihre Figur noch schmaler als ohnehin schon. Doch jetzt wirbelte sie herum, als hätte die Zeit keine Spuren hinterlassen. Der geblümte Kittel, den sie heute trug, schlackerte um ihre Hüften und war mindestens eine Nummer zu groß.
Vielleicht sollte sie Elli mal zu einer kleinen Shoppingtour überreden, wenn es ihrem Vater besser ging und im Heidehof wieder alles normal lief, dachte Kati. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sich ihre Großmutter seit dem runden Geburtstag ihres Sohnes irgendetwas Neues zum Anziehen gegönnt hatte. Überhaupt hatte sie sich in letzter Zeit viel zu wenig um Elli gekümmert. Wann hatten sie eigentlich das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen? Vielleicht könnten sie sich mal einen schönen Tag in Hamburg oder Lüneburg machen.
Kati fuhr sich durch die Haare und betrat die Küche. «Ich bin wieder da», erklärte sie.
Elli schrak aus ihrer Versunkenheit auf. Als sie ihre Enkelin sah, zog ein Lächeln über ihr Gesicht. «Das ist schön. Ich hoffe, der Spaziergang hat dir gutgetan. Möchtest du etwas essen?»
«Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Was kann ich helfen?»
«Ach, lass mal. Du würdest mir nur alles durcheinanderbringen. Setz dich, ich mache dir einen Kakao.»
Die Großmutter lächelte Kati warm an.
«Ich bin doch keine zwölf mehr», sagte Kati kopfschüttelnd und hauchte Elli zum Dank einen Kuss auf die Wange.
«Für mich wirst du immer meine Kleine bleiben», erwiderte Elli und lächelte versonnen. «Und zu einem Tee sagst du bestimmt nicht nein.»
«Habt ihr was Neues von Papa gehört?» Kati zog sich einen Stuhl heran. «Diese Warterei ist schrecklich, findest du nicht?»
Elli seufzte und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie trat neben Kati und legte ihr eine Hand auf die Schulter. «Ja, die Ungewissheit ist das Schlimmste.»
Kati wusste, dass ihr Vater bei der Arbeit zusammengebrochen war. Hier auf dem gekachelten Boden hatte er gelegen, bis Elli ihn fand. Sie sah aus dem Fenster und betrachtete die Wolkenformationen.
Elli schenkte ihr eine Tasse Tee ein. «Hier», sagte sie und schob mit ihrem dünnen Arm zwei Teller auf den Tisch, «wir dürfen uns jetzt nicht hängenlassen.»
«Butterkuchen!», seufzte Kati und brachte ein Lächeln zustande. Gleichzeitig fragte sie sich, wann die Großmutter ihre Spezialität wohl gebacken hatte.
«Buchweizen-Butterkuchen», bestätigte Elli und setzte sich neben sie. «Ich habe uns zwei Stück von gestern aufgewärmt, also sei vorsichtig.»
Kati nahm zwei Kuchengabeln aus der Schublade des großen Metallschranks und legte sie neben die Teller. Erst jetzt sah sie, dass ihre Großmutter auch noch einen DIN-A5-Block auf den Tisch gelegt hatte.
«Was hast du vor?»
Kati ließ sich ein erstes, eigentlich viel zu süßes Stückchen Kuchen auf der Zunge zergehen. Und mit einem Mal wurde ihr klar, wie hungrig sie doch war. Sie deutete auf den Block. «Willst du das Rezept aufschreiben und mir endlich das Geheimnis deines Butterkuchens verraten?»
Elli nahm einen Kugelschreiber vom Fensterbrett, dann rückte sie ihren Stuhl neben den ihrer Enkelin und sagte: «Ich verliere den Überblick, was in den nächsten Tagen alles zu bedenken und zu erledigen ist. Außerdem muss ich eine Einkaufsliste schreiben.»
«Meinst du nicht, du solltest damit auf Dorothee warten?»
«Ich kann ja schon mal anfangen. Wenn ich nichts tue, werde ich noch verrückt. Hilfst du mir?», fragte Elli. «Sie ist bestimmt froh, wenn wir uns schon mal Gedanken machen.»
«Du hast recht. Das lenkt uns bestimmt auch ein bisschen ab.»
Im Stillen war sich Kati allerdings nicht sicher, wie Dorothee wohl reagieren würde, wenn sie auf eigene Faust begannen, Pläne zu machen. Ihr war es immer so vorgekommen, als habe ihre Großmutter Dorothee gegenüber nicht viel zu melden.
Schließlich entschieden sie, drei Spalten anzulegen: Zum einen würden sie Dinge notieren, die sofort erledigt werden mussten, dann die Punkte, über die längerfristig nachgedacht werden musste, und als Drittes, wer was erledigen würde.
«Wir müssen zum Beispiel prüfen, was an Anmeldungen und Bestellungen vorliegt», sagte Elli mit konzentriertem Gesichtsausdruck. «Außerdem sollten wir dringend eine Inventur des Kühlraums machen.»
Kati nickte. «Wenn du es mir erklärst, könnte ich bei den Vorbereitungen für das Frühstücksbuffet helfen oder einkaufen fahren.»
«Eins nach dem anderen. Ich weiß gar nicht, wie viel Geld überhaupt noch da ist. Wir müssen als Erstes eine Art Bestandsaufnahme über anfallende Kosten und Rechnungen machen», erwiderte Elli. «Aber dazu brauchen wir wohl doch Dorothee. Sie macht schließlich die Buchhaltung.»
«Aber die laufenden Kosten sind doch sicher abgedeckt.»
Unsicher zuckte Elli mit den Schultern. «Ich weiß nur, dass dein Vater und Dorothee in letzter Zeit ständig Streit hatten wegen des Geldes.»
Kati runzelte die Stirn. «Hat Paps etwa Geldsorgen? Der Heidehof läuft doch nicht schlechter als sonst, oder?»
Ohne ihre Enkelin anzusehen, stand Elli auf und strich sich die Kittelschürze glatt. Kati hielt sie am Arm zurück und sah ihr in die Augen. Ein furchtbarer Gedanke machte sich in ihrem Kopf breit.
«Bitte, sei ehrlich! Wie steht es um den Heidehof?»
Elli seufzte. «Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht.»
«Aber du glaubst, dass Papas Zusammenbruch kein Zufall ist?», fragte Kati. «Wächst ihm alles über den Kopf, und ist er deswegen krank geworden?»
Elli setzte sich wieder auf den Stuhl und rückte dichter an Kati heran.
«Mach dir keine Sorgen, Liebes! Es wird sich alles finden.» Liebevoll strich sie ihr über den Kopf. «Sag mir erst einmal, wie lange du überhaupt bleiben kannst. Musst du nicht längst wieder in Hamburg sein?»
Kati schüttelte den Kopf. «Darum mach du dir keine Gedanken! Erst mal schreiben wir jetzt diese Liste. Ich will euch bei den dringendsten Punkten helfen, und erst danach fahre ich zurück nach Hamburg. Denn vermutlich muss ich doch persönlich mit meinem Chef sprechen, und vor allem muss ich mir was zum Anziehen besorgen.»
Kati sah an sich hinunter. Ihre Jeans hatte schon einen unschönen Fleck, und ihre Bluse würde sie auch gerne gegen ein frisches Oberteil eintauschen. Sie beschloss, am Abend die 50 Kilometer nach Hamburg zu fahren und am nächsten Tag mit Gero zu sprechen. Vielleicht hatte er doch ein Herz und würde ihr sogar eine ganze Woche frei geben, wenn sie ihn eindringlich darum bat. Außerdem wollte sie bei sich zu Hause nach dem Rechten sehen und dann gegebenenfalls eine Tasche mit dem Nötigsten packen.
Wer weiß, dachte Kati, als Elli aufstand, um das Belegungsbuch zu holen, wie lange ich hier gebraucht werde.
In dem Buch wurde aufgelistet, wer und wie viele Personen in den nächsten Wochen angemeldet waren. Es war quasi die Bibel der täglichen Arbeit und würde für ihre weiteren Entscheidungen sehr wichtig sein.
Der Heidehof verfügte über zehn Zimmer mit insgesamt 16 Betten. Und Kati wusste, dass sie jetzt, wo die Hochsaison kam, den Gästen unmöglich absagen konnten. Das wäre fatal für die Geschäfte und den Ruf des Hauses.
Wie sie kurz darauf aus dem Buch erfuhren, war der Hof ab dem folgenden Wochenende für die kommenden acht Wochen praktisch ausgebucht. Lediglich kleine Lücken gab es noch, und die würden sicher durch Spontananreisende gefüllt werden, erklärte Elli, als sie sich gemeinsam über die Seiten beugten.
Für die Reinigung der Zimmer und das Frühstück würde noch eine zusätzliche Aushilfe gefunden werden müssen. Zwar gab es zwei Servicekräfte, aber beim Einkauf und der Vorbereitung würde die Kraft ihres Vaters fehlen. Um das Personal hatte er sich immer je nach Auslastung der Gästezimmer gekümmert.
Dorothee könnte vielleicht den Frühstücksdienst übernehmen, schlug Elli vor, das hatte sie schon öfter getan. Aber die Reinigung der Zimmer wäre sicher unter ihrem Niveau. Vielleicht wäre ja eine Frau aus dem Dorf bereit, die Tätigkeit kurzfristig zu übernehmen, überlegte sie. Schließlich fiel Elli eine junge Mutter ein, deren Töchter vormittags im Kindergarten beziehungsweise in der Schule waren.
Das größte und drängendste Problem aber war, Katis Vater in der Küche zu ersetzen, denn die Übernachtungsgäste sollten möglichst auch im Haus essen. Und selbst ohne die hauseigenen Gäste lagen schon zahlreiche Anmeldungen für das Restaurant vor. Darunter war sogar eine Hochzeitsgesellschaft mit über 50 Personen, die Elli am meisten Kopfzerbrechen bereitete.
Sie selbst würde sich natürlich wie gewohnt um die Desserts kümmern sowie um die Torten und Kuchen für das Kaffeegeschäft.
Sibylle, die Küchenhilfe, wäre sicher bereit, mehr Stunden als sonst zu arbeiten. Trotzdem wurde dringend ein erfahrener Koch oder eine erfahrene Köchin gebraucht. Nur, woher sollte man die nehmen?
Katis Großmutter schwieg und ließ sich erschöpft auf ihrem Stuhl zurücksinken.
Nach gut einer halben Stunde waren mehrere Seiten des Blocks vollgeschrieben. Gerade als Kati ihrer Großmutter noch einmal vorlas, was sie notiert hatten, trat Dorothee ein.
Sie wirkte seltsam aufgekratzt. «Ich hab gerade noch mal mit dem Krankenhaus telefoniert», erklärte sie. «Hinrichs Zustand hat sich stabilisiert und –»
«Gott sei Dank!», entfuhr es Elli.
«Dürfen wir zu ihm?», fragte Kati aufgeregt.
Doch Dorothee schüttelte den Kopf. «Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein, aber zumindest akut außer Lebensgefahr. Dr. Steindamm sagt, es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Trotzdem kann er noch keine Entwarnung geben.» Es klang fast ein wenig ermahnend. «Morgen wissen wir vielleicht mehr. Aber es wird wohl sehr lange dauern, bis er wieder richtig auf den Beinen ist. Geschweige denn, dass er wieder arbeiten kann.»
Und dann fügte sie abfällig hinzu: «Wenn überhaupt.»
Kati hielt die Luft an. «Was soll das heißen?», fragte sie irritiert.
«Ich denke, er hat genug geleistet in seinem Leben. Wenn er sich nicht vollständig erholt, sondern hier gleich wieder voll einsteigt, riskiert er womöglich sein Leben», sagte Dorothee.
Kati wusste nichts zu erwidern. Ihr war klar, dass Dorothee im Grunde recht hatte. Ihr Vater hatte schon immer viel zu viel gearbeitet. Und doch war Kati nicht sicher, ob es wirklich seine Arbeit als Koch war, die ihn krank gemacht hatte. Schließlich liebte er es, in der Küche zu stehen, selbst wenn es dort hektisch zuging.
Ob es stattdessen eher finanzielle Sorgen waren, die ihm auf den Magen geschlagen waren? Kati nahm sich vor, Dorothee danach zu fragen. Doch sie hielt es nicht für klug, in diesem Moment eine Diskussion darüber anzufangen.
«Wie soll es bloß weitergehen?», fragte Elli mehr sich selbst. Sie schob die Liste beiseite, stand auf und trat ans Fenster.