Der Himmel und die Luft zum Atmen - Stefan Frieser - E-Book

Der Himmel und die Luft zum Atmen E-Book

Stefan Frieser

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Beschreibung

Der sechsjährige Gottfried verliert im Sommer 1932 seinen Vater durch eine Explosion im Eisenwerk. Gottfried, seine Mutter und die vier Geschwister kämpfen sich gemeinsam durch die schwere Zeit. Dann drängt sich der Nationalsozialismus immer mehr in den Alltag der Menschen… »Der Himmel und die Luft zum Atmen« erzählt die wahre Geschichte des Gottfried aus Maxhütte, der den Leser als Sohn, Hitlerjunge, Lehrbub, Soldat, Gefangener und Verliebter auf mitreißende und persönliche Art durch die Zeit unserer Großväter in Deutschland und der Oberpfalz führt. »Und was soll ich sagen. Ich war völlig überrascht! So lebendig und unprätentiös hab ich deutsche Geschichte selten oder nie erlebt.« (A. Deml)

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Vollständige eBook Ausgabe 2014
©2010 SPIELBERG VERLAG, Regensburg
Umschlaggestaltung: Spielberg Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung
Stefan Frieser

Inhaltsverzeichnis

1. Vater

2. Schule

3. Hitlerjugend

4. Regensburg I

5. Regensburg II

6. Maxhütte

7. Saalfelden

8. Salzburg

9. München

10. Rum

11. Natters

12. Skagen

13. Bergen

14. Tysse

15. Bretzenheim

16. Tübingen

17. Konstanz

18. Singen

19. Freiburg

20. Der Weg

21. Kreuzverhör

22. Der Vater

1. Vater

Juni 1932

Es ist mitten in der Nacht, und ich wache auf, weil jemand an die Haustür klopft. Ich höre, wie Mutter im Schlafzimmer den Kleiderschrank aufsperrt. Es ist gleich nebenan, und es kann nur Mutter sein, denn Vater ist nicht da. Sie macht kein Licht und huscht mit einem lauten Gähnen durch unser Kinderzimmer. Der Holzboden knarrt. Ich bin jetzt ganz wach und sitze im Bett, mein Bruder Albert neben mir atmet tief und gleichmäßig, und obwohl es so dunkel ist, kann ich sehen, wie sich Rudi unruhig zur Seite wälzt. Albert ist schon acht Jahre alt, Rudi sieben und ich erst sechs, und weil wir die drei Kleinsten sind, müssen wir uns ein Doppelbett teilen. An der Wand zum Schlafzimmer stehen die Betten von den beiden Großen. Bina und Hans. Hans ist schon vierzehn, heißt genau wie mein Vater und schnarcht auch wie er, und Bina schläft ganz ruhig und hat zwei lange Zöpfe. Ich mag ihre Zöpfe, und auch der Scheitel von Hans gefällt mir, aber niemals möchte ich so aussehen wie Rudi und Albert mit ihren Glatzen, und darum laufe ich lieber mit einem wuscheligen Lockenkopf herum.

Draußen redet Mutter mit einem Mann. Er klingt wie einer, der etwas angestellt hat, und Mutters Stimme ist heller und aufgeregter als sonst. Ich muss unbedingt wissen, was vor sich geht, klettere aus dem Bett, schleiche durch die Küche und stelle mich in die Tür zum Hausgang. Der Mann trägt einen schmutzigen Arbeitsanzug, und seine schwarze Mütze wandert von einer Hand zur anderen wie ein heißes Stück Kohle. Mutter starrt an dem Mann vorbei. Hinaus in die Dunkelheit. Sie weint.

»Schuld war die Ventilatorenanlage, Frau Frank … die ist ausgefallen.«

Mein Mund steht offen. Ich höre nur mein Schnaufen und den Mann.

»Die Sanitäter verbinden ihn unten im Werk.«

Er meint Vater. Vater hat Nachtschicht. Was ist mit ihm? Ich muss es wissen, ihn sehen. Jetzt. Barfuß und im Nachthemd wie ich bin, schlüpfe ich zwischen Arbeiter und Tür hinaus, laufe auf den Hof, am Klohäuschen vorbei und die Steige hoch zu dem Feldweg, der zum Eisenwerk führt. Kleine Steine stechen in meine Füße. Auf einer Seite geht es hinunter zu einer Wiese, und der Mond scheint so hell, dass ich das Gras sehen kann. Ich laufe und laufe, und da unten, wo das Gras war, sind jetzt die Arbeiterbaracken. Es geht bergab und meine Beine laufen von selbst, und weil ich nicht mehr bremsen kann, lasse ich mich mit den Knien auf den trockenen Boden fallen. Es tut weh, und das macht mich wütend. Leise weine ich in mich hinein, und durch meine nassen Augen hindurch kann ich die Schornsteine sehen. Wie Strohhalme stechen sie aus dem Eisenwerk heraus. Es ist so still. Stiller als sonst. Ich dachte immer, das Werk könne nicht ruhig sein. Seit ich auf der Welt bin, lebe ich mit dem Brummen der Maschinen, dem Summen und Scheppern, wie wenn jemand schwere Eisentrümmer auf den Boden krachen lässt, und ich weiß nicht, was hinter all dem Lärm steckt. In der Maxhütte stehen Öfen, in denen Eisen geschmolzen wird, erzählen die Erwachsenen, und es ist so heiß, dass die Arbeiter rote Gesichter bekommen. Sie rühren flüssiges Eisen mit Stäben um, und mit einer großen Zange müssen sie glühende Klötze greifen.

Meine Schwester Bina erzählte mir einmal von der Hölle. Es ist ein Ort mitten in der Erde, sagte sie, und da ist es so heiß, dass man fast keine Luft mehr kriegt, und überall brennen Feuer, und es gibt dort einen Ofen, der größer ist als ein Haus, und der Teufel schürt ihn mit einer riesigen dreizackigen Gabel, und seine Hörner glühen. Die bösen Menschen kommen nach dem Tod dort hin, sagte sie.

Genauso stelle ich mir das Eisenwerk vor. Vater erzählt nicht viel davon. Er sagt nur: Ich bin Maschinist im Eisenwerk. Ich male mir aus, dass zwischen dem Maschinenraum, in dem Vater arbeitet, und der Halle, in der sie das Eisen schmelzen, eine Tür ist, und wenn Vater die Tür aufmacht, steht er vor einem Abgrund und kann zu dem Feuer und dem Ofen hinuntersehen. Wie ein Mensch, der in die Hölle sehen kann.

So stelle ich mir das Eisenwerk vor. Und ich kenne seine Geräusche.

Ich muss aufstehen und weiterlaufen, durch das große eiserne Gittertor, am Pförtner vorbei, gleich was dieser sagt, und weiter in den Maschinenraum, wo Vater mich in die Arme nehmen und meine Angst verscheuchen wird. Ich wische mir das Weinen aus dem Gesicht und stehe auf. Hinter mir schnauft jemand. Ich habe den Mann nicht gehört, und jetzt steht er auf einmal hinter mir.

»Hast du dir wehgetan?«

Der Arbeiter aus dem Eisenwerk, der mit Mutter an der Haustür geredet hat, ist mir nachgelaufen. Er hält mich am Arm fest. »Komm, wir gehen zurück zu deiner Mama. Sei vernünftig.«

»Nein! Lass mich! Ich will zu meinem Papa!«

»Die lassen dich da unten gar nicht rein, Bub. Komm.«

»Dann sag du mir, was mit meinem Papa ist. Ich will alles wissen!«

»Ach Bub … was soll ich dir sagen …«

»Sag es mir! Sag es!«, schreie ich.

»Ist ja gut, ich erzähle es dir. Du weißt ja, dein Vater ist Maschinist. Wir waren sieben Leute im Maschinenraum, und mit einem Schlag ist die Windleitung explodiert. Dein Vater und noch ein Mann sind direkt davor gestanden. Wir haben Kübel genommen, die haben wir immer wieder mit Wasser gefüllt, bis die beiden nicht mehr gebrannt haben. Jetzt machen die Sanitäter einen Verband auf die verbrannte Haut von deinem Vater, dann wird alles wieder gut. Du siehst ihn gleich.«

»Ich will ihn jetzt sehen! Jetzt!«, schreie ich, aber der Arbeiter drückt meine Hand so fest, dass es wehtut. Die seine ist ganz nass, und so führt er mich nach Hause.

»Ich bringe den Ausreißer zurück«, sagt er zu Mutter. Er hält die Mütze in der Hand und schiebt mich durch die Tür zu ihr.

Sie weint und streicht über meine schwarzen Locken.

»Alles Gute für den Hans, Frau Frank. Gute Nacht.« Er verbeugt sich wie ein Diener und geht.

In der Küche sitzen meine vier Geschwister mit kleinen Augen am Tisch. Mutter dreht sich zum Fenster, ihr Gesicht spiegelt sich in der Scheibe, und ich hänge die ganze Zeit an ihrer Schürze.

»Und, kommt er?«, fragt Rudi.

»Sei still!«, sagt Bina. Sie hat ihr dunkelblaues Kleid mit den roten und weißen Blüten angezogen, in dem sie so erwachsen aussieht mit ihren zwölf Jahren, und meine Brüder haben kurze Hosen an. Es herrscht Stille. Nur Mutters Schluchzen ist zu hören und das Geräusper von meinem großen Bruder Hans. Es kratzt ihn gar nicht im Hals, und ich weiß nicht, warum er das immer macht. Es ist, wie wenn er etwas ausgefressen hat. Als er einmal im Winter nicht zur Zitherstunde gehen wollte und die Zither als Schlitten benutzt hat und ihn Vater deswegen ausgeschimpft hat, da hat er sich auch immer geräuspert.

Wir sitzen so da, bis wir den Motor des Sanitätswagens auf dem Hof hören und hinauslaufen. Aus den oberen Fenstern gaffen die Nachbarn. Zwei Sanitäter steigen aus, der eine hat graue Haare und öffnet hinten die großen Türen, dann ziehen sie den Vater auf einer Trage heraus und gehen Mutter in die Wohnung nach. Wir Kinder laufen neben und hinter der Trage herum, und Hans schießt nach vorne, um die Schlafzimmertür aufzuhalten, obwohl sie schon offen steht. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue über Alberts Schultern, und ich sehe Vaters Gesicht hell unter dem Glühbirnenlicht. Ganz weiß ist seine Haut, und die Augen hat er weit geöffnet, viel weiter als sonst. Von seinem blonden Bärtchen ist nichts verbrannt. Sein Kopf schaukelt im Takt der Sanitäterschritte. Im Schlafzimmer heben sie ihn auf Mutters Seite des Doppelbettes. Mutter beugt sich zu ihm über das Bett. »Hans!«, sagt sie, »Hans!«, und streichelt sein Gesicht.

»Anna«, antwortet Vater. Es ist mehr ein Stöhnen. Weniger ein Wort.

»Der Doktor ist schon unterwegs«, sagt der Sanitäter mit den grauen Haaren. »Geben Sie ihm Wasser und decken Sie ihn mit ein paar Wolldecken zu.«

Der andere Sanitäter legt die Hand auf Alberts kahl geschorenen Kopf und streichelt vorsichtig darüber. »Das wird schon wieder, Junge«, sagt er, und Albert schaut nur auf den Boden.

Der Werksarzt Doktor Laubach ist gekommen. Sonst lacht er immer, aber jetzt sieht er ernst aus, und als er so in unserem Schlafzimmer steht, dieser Riese mit Glatze, habe ich ein bisschen Angst vor ihm. Er bringt mit seinem Parfüm den Duft der kleinen Blumen auf den Wiesen mit, und darüber bin ich froh, denn seit Vater hier ist, riecht es so seltsam. In der einen Hand hält der Doktor eine braune Ledertasche, die andere legt er auf Mutters Arm.

»Frau Frank, Ihr Mann verliert Flüssigkeit über die offenen Wunden. Geben Sie ihm viel Wasser oder Tee. Und decken Sie ihn gut zu. An den verbrannten Stellen wird die Haut nicht mehr durchblutet, darum friert er.«

Nachdem er das gesagt hat, habe ich keine Angst mehr vor ihm und seiner Glatze. Er hat so helle Augen, und was er sagt, versteht man gut, auch wenn man weit weg steht und er leise redet. Ich glaube, es gibt nichts, das er nicht weiß.

»Die Kinder sollten rausgehen«, sagt er zu Mutter.

»Geht in die Küche«, murmelt sie. Ich glaube, sie schämt sich für ihr Weinen.

Wir sitzen am Tisch und warten. Mir gegenüber sitzt Bina. An einem normalen Tag hätte sie längst ihre Nase in ein Buch gesteckt. Meine Schwester ist die einzige von uns, die Bücher liest, und wenn es in der Küche nichts zu helfen gibt, liegt eines vor ihr auf dem Tisch. Mit ihrem breiten Gesicht sieht sie Mutter sehr ähnlich. Ihre Augen stehen weit auseinander, sie hat zwei schwarze Zöpfe, und ich glaube, sie ist klüger als wir Buben zusammen. Die Klugheit macht sie sehr hübsch. »Er wird wieder«, sagt sie.

Keiner antwortet, nur Albert blickt hoffnungsfroh zu ihr auf. Rudi sitzt neben Albert. Er ist geladen. Wie der große bissige Hund aus der Arbeitersiedlung, wenn er knurrt. Ich glaube, gleich steht er auf und tobt wild im Zimmer herum. Gut, dass der Doktor in die Küche kommt.

»Kinder, wir sehen uns in ein paar Stunden wieder. Legt euch jetzt hin und schlaft.«

»Wer soll denn jetzt schlafen können?«, sagt Rudi, als der Doktor weg ist.

Wir warten auf Mutter. Sie bleibt noch lange alleine bei Vater, dann kommt sie in die Küche und setzt sich zwischen Bina und mich. »Kommt, Kinder. Wir beten.«

Sie nimmt Binas Hand und meine, und alle halten sich an den Händen. Wir sehen die Mutter an und warten, dass sie ein Gebet spricht, aber sie schließt nur die Augen. Wir machen sie auch zu. Ich muss alles geben beim Beten. Gott hilf! Kurz mache ich die Augen wieder auf und schaue auf die weiße Keramikfigur an dem Kreuz im Herrgottswinkel über dem Ofenrohr. Still spreche ich zu dem weißen Jesus. »Lieber Herr Jesus, ich werde in meinem Leben immer machen, was du willst, nur jetzt, Jesus, jetzt musst du meinen Papa wieder gesund machen. Du kannst noch viel von mir haben, wenn ich einmal groß bin, später, Jesus. Vater unser. Vater unser.«

Ich sitze an Vaters Bett. Hier ist es genauso warm wie in der Küche, aber Vater liegt unter drei Wolldecken und einem Federbett und zittert. Mutter schüttelt die Decke auf, und ich kann seinen ganzen Körper sehen. Die wenigen unverbundenen Stellen sind schwarz wie Kohle. Beim Bauch ist so eine Stelle. Rau und zerfetzt ist das schwarze Fleisch, glatt und sauber der Verband daneben. Er riecht verbrannt. Den Kopf hat er zur Seite gedreht, sodass ich den Hals sehen kann. Die Hälfte davon ist schwarz und gelb und weiß, wie wenn jemand ein Blatt Papier angezündet und wieder gelöscht hat. Auf einer Seite wird die Haut nach oben hin dunkler, sein Ohr ist nicht mehr da, nur noch ein schwarzer Knopf mit einem Loch in der Mitte. Seine Augen sind offen. Wie blass er ist! Ich kenne ihn nur blass, im Eisenwerk scheint keine Sonne, sagt er immer, aber heute ist er weißer als sein Kopfkissen, und seine Lippen, die immer so voll waren, sind dünn und aufgeplatzt. Er presst sie zusammen. Dann deckt Mutter ihn wieder zu, Bina hält eine Tasse Tee an seine Lippen, und ich gehe zu meinen Brüdern in die Küche.

Rudi packt auf einmal die Wut. Er hebt seine dünnen Arme, haut ein paar Mal mit den Fäusten auf den Tisch, springt auf, schreit »Kruzefix! Kruzefix!«, sieht unsere traurigen Gesichter und setzt sich wieder hin.

Wir reden in dieser Nacht fast gar nichts. Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. Hans sagt, das wird schon wieder, sieht an uns vorbei zum Fenster, und als keiner antwortet, dreht er den Kopf und starrt in eine Ecke. Seine Haare sind ganz durcheinander, sonst hat er immer einen Seitenscheitel. Alle paar Minuten räuspert er sich.

Die Sonne geht schon auf und scheint auf den Wald. Man sieht den Wald, wenn man aus dem Küchenfenster schaut, und auch hinter dem Gemüsegarten ist Wald, und rund um das Eisenwerk ist Wald. Das Eisenwerk liegt in einem Loch, und unser Haus gehört ihm, hat Vater gesagt, dem Eisenwerk, so wie alle Häuser, die du hier siehst, dem Eisenwerk gehören.

Außer uns Franks wohnen noch drei Familien in dem Haus. Die junge Frau Ehmann aus der Wohnung gegenüber will von Mutter wissen, was genau passiert ist.

»Eine Gasexplosion, Frau Ehmann, sonst weiß ich nichts«, antwortet sie. »Schlecht steht es um den Hans.« Als sie es ausspricht, muss sie wieder weinen. Sie wedelt mit der Hand vor meinen Augen herum und spricht mit erstickter Stimme weiter. »Fragen Sie den Buben, der weiß mehr als ich«, und ich erzähle, die Hand an ihre blaue Mantelschürze geklammert, was ich mir von den Worten des Arbeiters gemerkt habe.

Alle Nachbarinnen sehen kurz zu uns herein und erkundigen sich nach Vater, und ich erzähle ihnen, was ich weiß. Auch zwei der Männer kommen vorbei. Heute fällt die Frühschicht aus, sagen sie. Mutter redet im Hausgang mit Frau Sperl und Frau Ehmann, meine Geschwister sitzen in der Küche, und ich besuche Vater im Schlafzimmer.

Ich stelle mich neben das Bett und schaue ihm fest in die Augen. »Werd doch wieder gesund, Papa. Bitte.«

»Gottfried«, flüstert er nur. Ganz langsam streckt er die Hand aus, legt sie hinter meinen Rücken und zieht mich ins Bett. So liege ich in seinem Arm, den Kopf auf seiner eingebundenen Brust. Der Gestank stört mich nicht mehr, denn er riecht so, wie er immer riecht, wenn er von der Arbeit kommt und geschwitzt hat. Jetzt, am frühen Morgen, wäre seine Nachtschicht zu Ende. Ich würde aufstehen und ihn begrüßen, mich auf seinen Schoß setzen und zuschauen, wie er sein Brot in den Malzkaffee brockt. Er würde warten, bis alle aufgestanden sind und er jedem einen guten Morgen gewünscht hat, und erst dann würde er sich schlafen legen. Und am Nachmittag, wenn er ausgeschlafen hat, würde er mit uns spielen.

Wenn er mit uns spielt, ist er nicht mehr dreiundvierzig Jahre alt. »Alle auf mein Rad!«, ruft er dann, und Albert, Rudi und ich turnen um ihn herum. Vater steigt auf, Albert und Rudi zwängen sich auf den Gepäckträger, und ich, der Kleinste, halte mich an seiner Hand fest und sehe zu ihm hoch. »Na, Gottfried? Was ist? Hopp!«, sagt er, greift mir unter die Arme, setzt mich seitlich auf die Stange und fährt los. Fährt hinunter zu dem breiten Feldweg in Richtung Burglengenfeld, hinein in den Wald, bergab, immer schneller, und wir Buben schreien und feuern ihn an. Meine Beine baumeln über Vaters Füßen, wackelig sitze ich auf der Stange, aber ich habe keine Angst, so nah an Vaters Körper, genau wie jetzt, als ich bei ihm im Bett liege, den Kopf auf seiner Brust.

Bina kommt herein und hält ihm Tee an den Mund. Er stützt sich auf und ich sehe wieder den schwarzen Knopf und nicht sein Ohr. Ich renne aus dem Zimmer und hänge mich an Mutters Schürze.

Um halb acht kommt Doktor Laubach zurück. Er drückt mit dem Daumen an Vaters Handgelenk und wartet, und wir Franks stehen um das Bett. Vaters Augen sind zu.

»Schwach«, sagt der Doktor.

Die Standuhr tickt. »Zu schwach, Frau Frank.«

»Was meinen Sie damit, Herr Doktor?«

»Der Puls. Das habe ich befürchtet. Der Kreislauf wird kollabieren.«

»Wie, kollabieren?«

»Frau Frank. Wir brauchen den Herrn Pfarrer.«

Der Pfarrer hat auch eine braune Ledertasche, genau wie der Doktor. Er flüstert etwas wie »Grüß Gott« zu Mutter, und uns sieht er gar nicht an. Ein seltsamer, viereckiger Hut sitzt auf seinem Kopf, und der weiße Umhang über dem schwarzen Gewand fliegt ihm hinterher ins Schlafzimmer. Mutter folgt ihm.

»Was macht der Pfarrer im Schlafzimmer?«, fragt Albert, und Hans weiß nicht recht, was er antworten soll.

»Da kommt eben der Pfarrer. Wenn … bei einem Schwerkranken … wenn der Pfarrer betet, hilft es eher, und … das heißt nicht, dass der Vater … ach, ich weiß es auch nicht … ich meine …«

Hans hat Glück, dass er nicht weiterstottern muss, denn Mutter kommt aus dem Schlafzimmer. »Unser Vater muss jetzt beichten. Danach holt uns der Pfarrer zur letzten Ölung«, sagt sie.

Vater sagt nichts mehr. Seine Augen sind offen, aber sie glänzen nicht mehr wie früher, und sie sehen dem Pfarrer zu, wie er eine goldene Kapsel und ein Kreuz aus der Tasche holt. Auf der Kommode stehen schon ein goldener Teller, ein Kerzenständer mit einer Kerze darauf, ein zweites goldenes Kreuz und eine Holzschale mit Weihwasser. Die Dinge erscheinen im Kommodenspiegel ein zweites Mal. Es ist wie in der Kirche. Wir falten die Hände. Der Pfarrer leiert ein paar Gebete herunter, in einer fremden Sprache und so schnell, dass ich an gar nichts mehr denken kann, öffnet die Goldkapsel, tunkt den Mittelfinger hinein und verreibt das Öl auf Vaters Stirn. Die Ärmel des weißen Umhanges sind an den Enden verziert wie eine Tischdecke, sie hängen über Vaters Gesicht.

Ich stupse Albert an. »Was macht er da?«

»Weiß ich nicht«, flüstert er. »Ich glaube …«

Der Pfarrer unterbricht ihn. »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen …«

Als Mutter um zehn Uhr sagt, Kinder, jetzt ist es mit unserem Vater vorbei, und unser Vater seine Augen für immer zumacht, ist der Herr Pfarrer längst weg. Gleich nach dem Sakrament hat er sich aus dem Staub gemacht. Gesegnet hat er uns auch noch, aber das Segnen hätte ich nicht mehr gebraucht. Der Kirchenmann kann mir gestohlen bleiben, genau wie der Keramikjesus in der Küche. Wie er da hängt, so kalt und als ginge ihn das alles nichts an. Am liebsten würde ich ihn mit seinem Kreuz packen und über die Ofenplatte schmettern, damit er in hundert Scherben zerbricht. Dich gibt es doch gar nicht, sage ich zu ihm, sonst hättest du meinen Vater nicht sterben lassen, und das Annerl auch nicht. Das Annerl war wirklich unschuldig. Mutter hat mir seine Geschichte einmal erzählt, als ich beim Streunen in den Schubladen unter einer kleinen Glasplatte eine blonde Locke fand. Das Annerl war Mutters erstes Kind. Geboren und gestorben, bevor mein ältester Bruder Hans auf die Welt kam. Sie wurde zwei Jahre alt und lag eines Tages tot in der Wiege. Seit sechzehn Jahren bewahrt Mutter die blonde Locke in der Kommodenschublade auf. Als Andenken.

Obwohl Vater noch den ganzen nächsten Tag und die nächste Nacht und noch einen Tag und noch eine Nacht im Schlafzimmer liegt, begegne ich ihm als Totem nur ein einziges Mal. In der ersten Nacht nach seinem Tod.

Mutter schläft jetzt bei uns im Kinderzimmer, es ist schon ein bisschen hell, und ich bin als Erster aufgewacht. Ich denke daran, dass Vater jetzt tot ist, aber weg ist er noch nicht. Er liegt im Schlafzimmer, Mutter hat ihn alleingelassen, und ich denke darüber nach, dass man alleingelassen wird, wenn man tot ist. Wenn ich ihn besuche, wird er sich bestimmt freuen, wenn er vom Himmel heruntersieht. Ich schleiche mich zu ihm. Auf zwei Stühle haben sie den Sarg gestellt. Er ist aus dunklem, fast schwarzem Holz, und in dieser Kiste ruht der Vater. Er sieht aus, als würde er schlafen und von etwas Schönem träumen, und ich wünschte, er könnte aufwachen und mir seinen Traum erzählen. »Was träumst du?«, frage ich ihn und betrachte ihn ganz genau. »Lieber Papa, lieber Papa«, flüstere ich und beuge mich langsam zu ihm herunter. Seine Lippen sind jetzt wieder so dick wie vor dem Unfall, und ich küsse sie. Sie sind kalt. Kalt und hart. Was da liegt, ist nicht mein Vater. Nicht richtig. Ich habe Angst, laufe in unser Bett zurück und rolle mich unter der Decke zusammen.

Am dritten Tag richtet ihn die Totenfrau her. Sie ist eine kleine Person mit grauen Zöpfen, und sie hat ein Gesicht wie ein junges Mädchen. Ihre Haut ist durchsichtig, und auf der oberen Seite der Hände und auf den Armen sieht man blaue Adern wie Zweige, wie blaue Flüsse auf einer Landkarte. Ich frage Bina, was die Frau so lange macht, alleine mit Vater im Schlafzimmer, und Bina sagt, sie bürstet ihm die Haare und packt ihn in seinen Sonntagsanzug. Trennt den Stoff hinten auf, damit sie seine Arme nur noch in die Ärmel zu stecken braucht. Ein Hemd braucht er nicht, sagt sie, dafür nimmt er den Verband mit ins Grab.

Zwei Rösser bringen ihn auf einem schwarzen Fuhrwerk zum Friedhof.

Nach der Beerdigung sagt Mutter, Vaters Arbeitskollege Georg Sturm ist heute auch gestorben, aber Sturm und Vater, sagt sie, sind weder die ersten, noch werden sie die letzten Opfer des Eisenwerkes gewesen sein, wo doch kaum ein Jahr vergeht, in dem kein tödlicher Unfall passiert. Jetzt müssen wir sparen, Kinder, sagt sie, ich weiß gar nicht, wie ich mit dem bisschen Rente über die Runden kommen soll.

Die Nachbarn schauen mich nicht mehr traurig an, Bina schläft jetzt bei Mutter im Schlafzimmer und Albert an der Wand. Vater ist jetzt einer von den Toten auf dem Friedhof, aber ich denke noch jeden Tag an ihn.

Einmal, als wir alle in der Küche sitzen und auf das Essen warten, liest uns Mutter einen Brief vor. »… und darum ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, für sämtliche Kinder Ihres verstorbenen Gatten einen Arbeitsplatz in der Eisenwerk-Gesellschaft Maximilianshütte bereitzuhalten … Schaut her, da kriegt jeder eine Lehrstelle.«

»Da leid ich lieber Hunger«, sagt Hans, und weil niemand antwortet, melde ich mich zu Wort.

»Mama, hast du vom Papa auch Haare aufgehoben?«

2. Schule

Mai 1934

Die Sonne hat sich hinter den Wolken versteckt, und der ganze Himmel ist grau. Die dünnen Äste der Sträucher am Wegrand sehen aus wie Regenwürmer. Braun, schwarz und nass sind sie und schlingen sich umeinander. Alle sagen, es ist Frühling, aber heute ist es einfach nur nass. Mit dem Schulranzen auf dem Rücken schlurfe ich über den aufgeweichten Feldweg. Immer näher kommen die Baracken mit ihren schwarzen Kappen aus Pappe, diese flachen Dächer über den niedrigen grauen Wänden. Auf meinem Schulweg muss ich an den Arbeiterkasernen vorbei, und im ersten Block wohnen die Schusterbrüder. Ich kann schon ihre Köpfe im Fenster sehen. Meine Schritte werden kleiner. Einer der Brüder hat Locken wie ich, der andere hat eine Glatze.

»Lockerlmadam. Hahaha, Lockerlmadam, huhu!«, singen sie, und ihre Stimmen klingen dabei so, als wäre ich ein Clown mit einer roten Pappnase.

Bald bin ich direkt vor ihrem Fenster, ich gehe schneller, schaue weg und kneife die Augenbrauen zusammen.

»Lockerlmadam! Haha!«

Ich schaue wieder hin. Die beiden recken die Hälse aus dem Fenster, und Xaver, der Ältere, der mit dem Glatzkopf, ruft »Deine Trompete hast vergessen, Negerlein!«

Von Negern kenne ich nur die Zeichnungen, auf denen schwarze Männchen mit dicken Lippen Trompete spielen, und unser Lehrer hat erzählt, sie seien uns Weißen geistig weit unterlegen und könnten nur tanzen und wilde Musik machen. Also hat Xaver mich schwer beleidigt. Die Fratzen grinsen aus dem Fenster heraus und mein Kopf wird heiß.

»Ihr zwei blöden Affen, lasst mich in Ruhe!«, rufe ich.

»Komm doch rein«, ruft Fritz, der acht ist wie ich. »Kannst bei uns die Kuchl putzen. Den Lumpen hast ja schon auf dem Kopf!«

»Pass auf, was du sagst! Hast doch selber einen Lockenkopf. Gib bloß Obacht!«

»Jetzt haben wir aber Angst vor dir, Hosenscheißer!«, säuselt Xaver. »Holt die kleine Lockerlmadam Verstärkung? Kommt dein Papa vom Friedhof raus und verhaut uns?«

Das ist zu viel. Ich kann nichts mehr denken, renne zur Haustür und hämmere mit den Fäusten darauf. »Aufmachen! Ihr feigen Schweine! Ich hau euch die Tür ein!«

Als sie aufmachen, sind meine Handkanten rot. Mein Kopf ist heiß, meine Nase voll Rotz und meine Augen feucht. Sie bauen sich vor mir auf. Xaver ist einen Kopf größer als ich und breit, er lehnt schief an der Tür und lächelt blöd auf mich herab. Brüllend hämmere ich auf seine Brust, so wie ich gerade auf die Haustür gehämmert habe. Er macht eine kleine Drehung und schubst mich durch den Hausgang in die Küche. Der Schulranzen federt meinen Rücken ab, als ich gegen den gusseisernen Ofen pralle, mir den Kopf anstoße und den Hintern prelle. In der speckigen Küche der Schusters riecht es nach Essen von gestern und vorgestern, irgendetwas zwischen Bratkartoffeln und ranziger Butter. Weiße und braune Fettinseln kleben neben und unter mir auf dem Holzboden. Ich bin an Mutters peinliche Sauberkeit gewöhnt, und die Küche der Schusters ekelt mich an. Über mir grinst Fritz mit seinem spitzen Gesicht und der langen Nase. Er packt mich am Hemdskragen und zieht mich hoch. Ich will ihn wegschubsen, doch er legt seinen Arm um mein Genick und drückt uns beide nach unten. Wir ringen miteinander, wälzen uns ein paarmal auf dem Boden, dann bleibt er auf mir sitzen, klemmt die Knie auf meine Oberarme und gibt mir eine Ohrfeige. Eigentlich streichelt er nur meine Wange, aber er tut es in der Art, wie man jemandem eine Ohrfeige gibt, und ich fange an zu flennen. Plötzlich sieht er aus, als wolle er sich entschuldigen, aber er sagt nichts und steigt nur langsam von mir herunter. Sein Bruder nimmt meine Hand, hilft mir hoch und wühlt kumpelhaft in meinen Haaren. »Darfst schon gehen.«

Drohend richte ich meinen Zeigefinger auf ihn. »Wir sind noch nicht fertig! Ihr müsst euch bei mir entschuldigen!«

Sie packen mich unter den Schultern, schleifen mich nach draußen und schließen die Haustür. Den Kampf habe ich zwar verloren, aber immerhin habe ich gekämpft und war kein Feigling. Fast jeden Tag haben sie mich wegen meiner Locken verspottet, und diesmal habe ich mich gewehrt, und jetzt bin ich froh, dass ich mir keine Glatze habe scheren lassen, nur weil zwei Idioten mich Lockerlmadam nennen. Auch wenn alle Buben außer Fritz und mir in meinem Alter eine Glatze tragen und Rudi eine Glatze trägt und Albert eine Glatze trägt, weil man so keine Läuse bekommt, und auch wenn sie mich wegen meiner Locken verspotten: Kahl sein will ich nicht, und bald muss ich sowieso nicht mehr an den Arbeiterbaracken und am Fenster der Schusterbrüder vorbei, denn in ein paar Tagen wird sich mein Schulweg ändern.

Nach der Rauferei gehe ich meinen alten Schulweg weiter, durch den Wald, an einem Feldweg entlang, an der Kirche vorbei und durch ein zweites Waldstück. Vorne rechts geht es runter zur Schule, aber ich bleibe lächelnd vor einem frisch verputzten Neubau stehen. Das ist unser neues Haus! Die unbepflanzte Erde vor mir wird unsere Wiese, das Gemüsebeet hat Mutter schon mit Steinen eingefasst, und hinter der weißen Fassade werden wir Franks bald wohnen. Im Haus werden die letzten Arbeiten gemacht, und aus dem offenen Fenster des künftigen Wohnzimmers dringt ein Hämmern. Die Wände müssen drinnen noch gestrichen werden, hat Mutter gesagt, dann können wir einziehen. Die Sonne blitzt aus den Wolken hervor, und da die Schule sowieso längst ohne mich angefangen hat, gehe ich gemächlich an unserem neuen Schuppen entlang, rieche das frische Holz und genieße die Wärme der Sonne auf meinen Schultern. Eine Runde drehe ich noch um das Haus und sehe mir die Bäumchen an, die eingesetzt wurden. Später werden sie einmal Äpfel und Birnen tragen, sodass wir uns mit Obst versorgen können und es von niemandem kaufen müssen. Wir werden von niemandem abhängig sein, denke ich, und mit einem Gefühl von Freiheit mache ich mich langsam auf den Weg zur Schule, und jetzt wird die Freiheit in meinem Kopf kleiner und weicht der Angst um meine Fingerkuppen, auf die der Rohrstock wartet mit seinen beißenden Schlägen.

Herbst 1934

Wir haben ein WC direkt im Haus. Ein echtes WC. Man zieht an einer Kette, und aus einem Behälter kommt Wasser und spült alles in den Kanal. Baden müssen wir im Waschhaus, in der grauen Blechbadewanne, aber das Waschhaus ist nah vor der Haustür, im Nebengebäude. Da haben wir auch Hühner und Hasen, und dran ist ein Holzschuppen gebaut. Dort lagern wir das Brennholz für die Wintertage, das Mutter im Sommer kleingehackt hat. Wir Buben durften nur sägen, nicht mal Hans mit seinen sechzehn Jahren durfte die Axt in die Hand nehmen. Ihr haut euch die Finger ab, meint Mutter. Überhaupt hält sie die Zügel fest in der Hand, auch die von dem Pferdefuhrwerk, das am Umzugstag unsere Sachen den Hügel hinauf und durch die beiden Waldstücke zu unserem neuen Haus brachte. Sie baute mit Hans die Schränke und Betten und Kästen auf, aber das Geschirr und unsere Anziehsachen räumte sie alleine ein. Ich will kein Durcheinander, sagte sie. Ordnung ist Mutters erstes Gebot. Kein Teller, kein Stück Brot und kein Handtuch dürfen am falschen Platz liegen, der Vorhang muss sauber aufgezogen sein, die Tischdecke darf keine Falten werfen, und dreckiges Geschirr gehört immer sofort abgespült.

Oben gibt es drei Zimmer. Zwei will Mutter vermieten, und im dritten schlafen wir Buben. Bina schläft unten bei Mutter, und dann haben wir noch etwas ganz Besonderes: ein schönes Wohnzimmer. An der Wand steht ein Kanapee mit rotem Samtüberzug, und überall hängen Fotografien. Über dem Kanapee lächelt uns Vater von einem Porträtfoto als Soldat entgegen, daneben hängen ein Gruppenbild von Vaters Infanteriedivision im Weltkrieg und ein großes Bild von Vater und Mutter. Mutter sitzt auf einem Stuhl, und Vater steht daneben in Uniform. Da waren sie noch jung. Auf der anderen Seite, neben dem Fenster, hängt unser Familienfoto samt Vater. Im vergangenen Jahr waren wir beim Fotografen, und der hat durch einen Trick den Vater in Anzug und Krawatte auf das Bild gezaubert. Er sieht ganz ernst und würdig in die Kamera, und unsere Gesichter passen gut dazu, denn keiner lacht, nur Albert grinst. Mit seinem grauen Strickpullover ist er als einziger nicht fein angezogen, er sieht aus, als würde er nicht dazugehören, und das hat eine Vorgeschichte: Albert steht nie gerne im Mittelpunkt, und ihm graute schon vor dem Gang zum Fotografen. Als wir uns alle frisierten und die Feiertagsgewänder anzogen, machte er sich aus dem Staub. Wir suchten in allen Zimmern und rund um das Haus, im Garten und zwischen den Bäumen. Hans entdeckte ihn am Ende in einer Ecke hinter dem Schuppen. »Wie ein grauer Kater ist er in der Ecke gehockt«, sagte er, und Mutter wetterte über die Verspätung und klopfte ihm hastig den Dreck von Hose und Pullover, aber zum Umziehen blieb keine Zeit mehr. So entstand dieses Foto mit Albert im Strickpullover neben Bina in einer weißen Bluse, Hans im schwarzen Anzug und im weißen Hemd mit dem breiten Kragen, Rudi und ich in dunkelblauen Matrosenanzügen und Mutter in ihrer weißen Bluse und einer dunklen Weste mit Brosche. Und Albert als einziger grinsend. Ich glaube, er lachte darüber, dass wir so feine Pinkel waren und er nicht. Oder er hatte sonst was im Kopf, worüber er lachte, denn wenn es nichts zu lachen gibt, denkt sich Albert etwas aus. Nie ist er sauer, so wie Hans, der sich im Keller einsperrt, wenn ihm etwas nicht passt, und er ist auch nie so aufbrausend wie Rudi, der fast jeden Tag auf dem Schulhof bei einer Rauferei dabei ist, aber ein Dickkopf ist auch Albert, da sind wir Franks alle gleich. Nicht nur wir Buben. Auch Bina.

Eine böse Auseinandersetzung hatte sie an einem warmen Sommerabend mit unserem Nachbarn, Herrn Semmler. Es ging los, als Semmler hinter seinem Zaun auf der anderen Straßenseite mit Politik anfing. »Vom Ausland lassen wir Deutschen uns nichts mehr gefallen. Darum geht es ja wirtschaftlich wieder aufwärts. Jetzt wird aufgeräumt! Das ist schon ein Führer, der Hitler, glaubtses mir, da seids mal beruhigt«, rief Semmler über die Straße.

Semmler ist Ofenmann im Blechwalzwerk, und er ist einer von den Männern, die so reden, als hätten sie immer recht. Breit lehnte er am Gartenzaun, die Eisenwerkerholzpantoffeln an den Füßen, und seine hässliche Frau mit dem blassen, aufgedunsenen Gesicht stand wie ein Schaf daneben. Ich muss immer aufpassen, dass ich nicht laut loslache, wenn sich Semmlers dünne Lippen bewegen und sich der Kranz roter Härchen auf seinem Kopf im Wind aufstellt.

»Und vor allem«, sagte er und streckte den Zeigefinger in die Höhe. »Der Hitler hat was für uns Arbeiter über!«

Albert und ich warfen mit Semmlers Sohn Heiner auf der Straße einen Ball hin und her, und Heiner griff die meiste Zeit daneben und musste ihm hinterherlaufen, weil er zum Ballspielen seine Hornbrille mit den dicken Gläsern nicht aufsetzen durfte.

Bina stand am Zaun neben Mutter. »Aber warum hat die NSDAP so viele Bücher verbrennen lassen?«, rief sie zurück.

Semmlers dünne Lippen wurden breiter, er lachte über Bina. »Die Bücher, ach Mädel, welche Bücher denn? Ein bisschen Schund vielleicht. Les lieber das, was erlaubt ist.«

Bina wurde munter. Sie hob den Kopf und fauchte Semmler an. »Schund? Thomas Mann ist jetzt verboten. Bertolt Brecht. Und Erich Kästner auch. Die Braunen können wohl gar nicht lesen? Ich habe sie bis jetzt nur marschieren sehen.«

Semmler schüttelte den Kopf. »Mädel, Mädel!«

»Ein Mädel bin ich schon, Herr Semmler, aber ich weiß …«, fing Bina an, doch dann unterbrach Mutter sie.

»Ja, Mädel, ja, und wir gehen jetzt ins Haus, gleich läutet es zum Abendgebet! Gute Nacht miteinander!«

»Heiner! Komm herüber!«, rief Semmler.

Als wir um sieben Uhr bei Malzkaffee und Brot zusammensaßen, nahm Mutter meine Schwester ins Gebet.

»Jetzt sag ich dir mal was, mein Fräulein. Politik machen die anderen, nicht wir. Wenn dir etwas nicht gefällt, dann halt deine Goschn.«

Ich traute mich kaum in mein Brot zu beißen. Mutter wurde lauter. »Der Semmler verkehrt jeden Tag mit dem Gürstner Josef, und der ist Blockleiter! Was glaubst du, was los ist, wenn der Semmler dem Gürstner erzählt, was du über die Nazis gesagt hast?«

Bina sagte nichts. Sie hielt sich an ihrer Tasse fest, und eine Träne lief an ihrer Wange herunter. Für einen Moment herrschte Stille, bis Rudi sagte: »Der Semmler ist doch ein Depp!«

Mutter beachtete ihn nicht. »Über Politik will ich von euch nichts mehr hören, damit das klar ist«, sagte sie.

Mir war das egal. Ich weiß gar nicht, was das genau ist, Politik, aber ich weiß, dass sie etwas Schriftliches ist. So wie die Schule. Wenn ich einmal groß bin, will ich nichts Schriftliches machen. Ich will mit den Händen arbeiten und mit Autos und Schiffen fahren und mit Flugzeugen. Nur nichts, das so ist wie die Schule.

Mein Körper sitzt im Klassenzimmer, aber alles andere von mir ist draußen im Freien, auf dem Pausenhof und überall, nur nicht hier. Ich sehe hinaus zum Fenster, und meine Schulkameraden sitzen gebückt über ihren Heften und schreiben. Für mich gibt es nichts zu schreiben. Unser Lehrer wandert vor seinem Pult hin und her und kontrolliert uns aus dem Augenwinkel. Oberlehrer Stolz ist ein windiger Kerl, dürr, mit Spitzbart und Nickelbrille, und immer grinst er. Er beobachtet mich verstohlen, aber ich sehe ihn gar nicht an. Beim Einsammeln der Hefte steckt er das meine ganz unten in den Stapel.

Um vier Uhr nachmittags, als die Schule aus ist und alles aufbricht, sagt er kühl: »Gottfried, du bleibst hier!«

Soll er mich ruhig ausschimpfen. Was hätte ich schreiben sollen? Die Aufgabenstellung hat mich schon verärgert: Was arbeitet euer Vater, und was hat er euch beigebracht? Stolz weiß genau, dass ich keinen Vater mehr habe, und nur weil ihm das egal ist, werde ich nicht irgendetwas in mein Heft fantasieren, und Entschuldigung werde ich auch nicht sagen. Nur zwei Sätze habe ich geschrieben, und die liest er mir jetzt vor: »Mein Vater war Maschinist im Eisenwerk. Dort ist er verbrannt.« Er baut sich vor meiner Bank auf und blickt mich streng an. »Da schreibt man über seine Mutter oder über die Großeltern, aber nicht so etwas. Du bist einfach zu faul, Frank.« Er sagt es ruhig, dann klatscht er mir das Heft vor die Nase. »Du stehst erst auf, wenn da ein ordentlicher Aufsatz steht!«

Er blickt eine Weile auf die Decke. »Sonst hau ich dich, Gottfried. Das ist dir schon klar, oder?«

Ich tauche meinen Füllfederhalter in das Tintenfässchen. Die leeren Bänke umkreisen mich, und ein knorriger Oberlehrer sitzt mir gegenüber auf seinem Pult wie ein Richter. Dann fange ich an zu schreiben.

»Unser Vater ist unsere Mutter. Sie hat uns ein Haus gebaut, das hat achttausendfünfhundert Reichsmark gekostet. Jeden Monat zahlt sie dafür Geld bei der Bank. Den Zins. Die Bank ist in Burglengenfeld. Jedes Mal, wenn wir mit ihr zum Zinszahlen gehen, kriegen wir beim Metzger eine Speckwurst und eine Semmel. Meine Brüder Albert und Rudi und ich. Jeder für zwanzig Pfennig. Immer haben wir genug zu essen. Meine Mutter ist eine ausgezeichnete Köchin. Wir sind fünf Kinder, und wir helfen immer zusammen. Deswegen muss ich jetzt heim, weil sie auf mich warten.«

Ich klappe mein Heft zu, marschiere zur Tür und rufe laut und deutlich: »Heil Hitler!«

»Bleib hier!«, schreit Stolz.

3. Hitlerjugend

April 1938

Die Augen gerade auf mein Spiegelbild gerichtet, drehe ich langsam den Kopf nach rechts. Die Tischlampe taucht meine linke Gesichtshälfte in gelbes Licht. Ich mustere meine Nase im Profil, drehe den Kopf auf die andere Seite und betrachte meine Züge im Schatten. Habe ich mich in der letzten Zeit so herausgewachsen? Werde ich bald ein Mann? Oder liegt es nur an dem schwarzen Halstuch und dem braunen Hemd, dass ich so stattlich herauskomme? Zum ersten Mal trage ich die HJ-Uniform. Sie ist frisch gewaschen und gestärkt. Meine Schultern kommen mir darin breiter vor, meine Nase hat genau die richtige Größe, meine Lippen wirken wie gemeißelt, und mein Blick ist voll Ehre und Aufrichtigkeit. Die Uniform macht mich unendlich stolz. Zu Weihnachten hat uns Mutter eine gekauft. Jedem kann ich keine Uniform kaufen, hat sie gesagt, für so was haben wir kein Geld. Also wechseln wir uns ab, und heute darf ich sie zum ersten Mal anziehen. Ein Ledergürtel hält meine schwarze Kniehose. Ich zurre ihn um ein Loch enger und bastle die beiden Flügel meines Halstuches in die perfekte Position, als bliebe der Stoff genau so liegen, wie ich ihn modelliere. Noch ein Mal zupfe ich an meinem Hemdkragen und streiche den Stoff glatt.

Morgen hat der Führer Geburtstag, und heute, am Vorabend, findet die Aufnahmezeremonie für die neuen Pimpfe statt. Alle Zehnjährigen leisten einen Fahneneid, und hinterher marschiert die ganze HJ und die SA mit Fackeln, Fahnen, Posaunen und Trommeln durch die Straßen. Ich bin zwölf, seit zwei Jahren beim Deutschen Jungvolk, und heute darf ich als Trommler dabei sein.

Draußen wird es dunkel. Ich lasse die Hand mit sanftem Druck über meine Haare gleiten. Aus dem wilden Busch sind glatte Wellen geworden, und das habe ich einem jungen Friseurgesellen zu verdanken.

»Ist doch gleich, wie du sie mir schneidest«, habe ich frustriert gesagt. »Meine Locken machen sowieso, was sie wollen.«

Er hörte mit dem Schneiden auf, trat einen Schritt zurück und musterte meinen Hinterkopf. »Man könnte sie schon glatt kriegen«, sagte er und ließ die Schere an einem Finger nach unten baumeln. »Pass auf. Du machst sie vor dem Bettgehen nass. Klitschnass. Dann kämmst du sie streng nach hinten. Wenn noch was wegsteht, machst du sie nochmal nass und kämmst sie nochmal nach hinten. Dann setzt du ein Haarnetz auf …«

»Ein Haarnetz?«

»Das sieht ja keiner. Kaufen kannst du es bei mir.«

Er schnitt nur die Spitzen ab. »Das reicht«, sagte er. »Wenn sie zu kurz sind, legen sie sich noch nicht hin, aber wenn sie so lang sind, dass du sie in den Mund nehmen kannst und du immer schön das Haarnetz drauf tust, dann bist du deinen Krauskopf los.«

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen, und ich trage meine zurückgekämmten Wellen. Vor dem Spiegel setze ich mein Schiffchen auf und rücke es in die richtige Schräglage. Von unten höre ich Albert rufen. »Trommler, was ist? Komm runter!«

Hitlerjungen, Pimpfe und ein paar SA-Männer treffen sich vor dem Schulhaus. Im Keller ist unser HJ-Heim, und hier lagern auch die Trommeln, Fahnen, Medizinbälle, Seile, Stöpselgewehre – das ganze Zeug eben für die Heimabende und Geländespiele. Herr Wiesner, unser Fähnleinführer, gibt mir eine der Landsknechtstrommeln. Sie ist weiß lackiert, mit gleichmäßigen roten Flammen. Unter der Regie Wiesners und eines SA-Mannes stellen wir uns in Neunerreihen auf.

»Fackelträger nach vorne«, ruft Wiesner.

Rudi und Albert haben sich Fackeln aus dem Keller genommen, und jetzt stellen sie sich mit ihren Lederhosen in die zweite Reihe. Sie haben sich braune Hemden herausgesucht, damit sie nicht so sehr von den anderen abstechen, denn die meisten tragen eine Uniform. Hinter ihnen weist der SA-Mann mit kreisenden Armen die Pimpfe mit den Jungvolkfahnen in die Reihe, und dann folgen die älteren Buben mit den Gefolgschaftsfahnen.

»Hier die Trommler!«, kommandiert Wiesner, und wir stellen uns auf.

Ich halte den Rücken gerade und in jeder Hand einen Trommelstock und warte mit geschlossenen Füßen auf den Abmarsch. Die rot-weiß-roten Gefolgschaftsfahnen versperren mir die Sicht auf meine Brüder. Hinter uns kommen die Fanfaren, dahinter die Flöten, dann zwei Reihen mit SA-Männern. Was sonst noch marschiert, ist bunt gemischt, in Zivil und in Uniform. Wiesner und der SA-Mann gehen mit ihren brennenden Fackeln durch die ersten Reihen und zünden die Dochte an. Das Feuer streut Licht auf die Flaggen, die schwarzen Hakenkreuze stechen aus dem Rot-Weiß-Rot der Gefolgschaftsfahnen hervor wie die Speerspitzen eines Heeres, und die weißen Blitze auf den schwarzen Jungvolkfahnen sagen spitzig S wie Stahl und S wie Sieg. Keine Sterne und kein Mond erhellen die Nacht, nur die Flammen der Fackeln werfen einen orangefarbenen Glanz auf den Lack der Trommeln. Auf Wiesners Kommando marschieren wir im Gleichschritt los. Im Rhythmus der Schritte schlagen wir auf die Trommeln. Die Flöten und Posaunen stimmen ein, und bald erreichen wir die Hauptstraße mit den Siedlungshäusern. Die Straße ist feucht vom Regen am Nachmittag, es ist windstill und für den neunzehnten April zu kühl. Auf der Hauptstraße schließen sich immer mehr Menschen an, nur die Alten und die Mütter mit kleinen Kindern bleiben am Straßenrand stehen oder winken aus den Fenstern. Bald werde ich zum Trommelwirbel ansetzen. Ich habe es lange geübt und beherrsche es perfekt. Das kräftige Rot der Hakenkreuzfahnen prangt an den Häuserwänden, es riecht nach frisch gewaschenen Uniformen und brennenden Fackeln. Klong … klong …, schallen die Trommeln, die Bläser schmettern los, und ein Heer von Kehlen stimmt gemeinsam ein.

Wir sind die Hitlerjugend

Und helfen euch befrein

Wir stehn mit unserm jungen Blut

Für Volk und Heimat ein!

Tritt ein in unsre Reihen!

Was säumst du, Kamerad?

Alldeutschland sich zu weihen,

Ist keiner je zu schad!

Und bald kommt mein Trommelwirbel. Ich bin bereit.

August 1938

Rudi, der Kammerl Michel und ich liegen im Schatten einer Fichte auf der Lauer. Auf den Wiesen türmen sich Heuhaufen. Vor uns plätschert der Bach, und rechts von uns beginnt der Nadelwald, hinter dem Saltendorf liegt, die Heimat unserer Feinde. Es ist ein milder Nachmittag im späten August, ein Mittwoch, und mittwochs ist immer HJ. Geländespiel ist angesagt. Wehrertüchtigung. Wir nennen es einfach Kriegerles. Den Feind auskundschaften, Kartenlesen, den Feind einkreisen, Nahkampf. Wir drei sind zum Auskundschaften abkommandiert, und die restlichen sechs Pimpfe aus unserer Jungenschaft sind nach Nordwesten gezogen.

»Militärisch gesehen müssen wir in den Nordwesten«, hat unser Jungenschaftsführer gesagt. »Hier bleiben nur der Kammerl und die zwei Franks. Wenn die Saltendorfer aus dem Wald laufen, schießt ihr sie ab!«

Unser Jungenschaftsführer ist ausgerechnet unser Nachbar Heiner, der kurzsichtige Semmlerjunge, dieser Idiot.

Mit Stöpselgewehren bewaffnet und auf dem Bauch liegend erwarten wir die feindliche Übermacht. »Und wenn die aus dem Wald kommen«, sage ich zu den beiden, »machen wir Pengpeng mit unseren Stöpselgewehren, und die stürzen sich auf uns. So ein Blödsinn!«

»Die lachen uns aus«, ruft Kammerl grinsend.

»Der Semmler ist ein Depp«, schimpft Rudi. »Da liegen wir jetzt wie die Idioten. Aber lange warte ich nicht.«

Lange müssen wir auch nicht warten. Geschlossen stürmt die Saltendorfer Jungenschaft aus dem Wald, und dass wir nur zu dritt sind, ist ihnen egal. Das Ploppen unserer Stöpselgewehre geht in dem Gejohle unter, und selbst wenn es die Saltendorfer gehört hätten, wäre es ihnen egal gewesen. Im Normalfall erfolgt jetzt der Nahkampf, eine Rauferei, aber in diesem Fall ergeben wir uns mit erhobenen Händen und hören uns an, was die Jungen des benachbarten Fähnleins mit uns anstellen wollen.

»Wir binden sie an die Bäume«, befiehlt ihr Führer.

Sie binden uns mit stabilen Seilen und fachmännischen Knoten an drei Fichten am Waldrand und verschwinden. Die Saltendorfer glauben, unsere Leute werden uns befreien, aber wir sind uns nicht sicher, ob Semmler so weit denkt.

Meine Hände sind hinter dem Stamm zusammengebunden und ziehen die Schultern nach hinten. Ein zweiter Strick spannt sich über meine Brust, ein dritter fixiert meine Füße. Beim Versuch, mich zu befreien, wetze ich mir die Haut auf. Es riecht nach Harz. Die Schultern tun mir weh. Es ist, als hätte mir jemand einen Nagel hineingeschlagen. Nach einer Stunde spüre ich sie nicht mehr. Ein Gefühl von Taubheit tritt an die Stelle des Schmerzes. Ich muss mich kratzen. Immer stärker wird der Drang. Wenn man einmal damit anfängt, auf einen Juckreiz am Körper zu achten, wandert er herum wie ein Floh. Auf der Nase, am Kopf, zwischen den Beinen oder über dem Ohr: Überall will ich mich kratzen.

Die nächste Stunde vergeht und eine weitere. Die Sonne steht tief, Fliegen kitzeln uns und Mücken zerstechen uns die Haut. Hier am Bach gibt es genug von ihnen, und der Juckreiz wird zur reinsten Folter. Nebenbei kämpfe ich gegen meine volle Blase an, und Kammerl verliert die Nerven. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, schreit er mit heller Stimme. »Ich mag nicht mehr.« Sein Kopf läuft rot an. »Schweine! Die Schweine!«

Er lässt das Kinn auf die Brust fallen und kneift die Augen zusammen. An seinen strammen Schenkeln laufen kleine Rinnsale herunter. Seine Blase hat kapituliert. Ich behalte es für mich, will ihn vor Rudi nicht bloßstellen, denn Kammerl ist ein lieber Kerl. Viele halten ihn für dumm, aber das ist er nicht, und seine kurzen Ausraster sind eher lustig. Er kommt mir dann vor wie ein fünfjähriger Junge.

Rudi schwitzt kaum. Er schaut grimmig, aber er ist so zäh, wie er schmächtig ist. Ich glaube, er hat Kammerls nasse Hose auch bemerkt, aber auch er sagt nichts darüber, versucht, ihn zu beruhigen. »Bleib ruhig, Kammerl. Alles geht vorbei. Die suchen bestimmt schon nach uns.«

Aber nur einer sucht nach uns.

Kurz vor Sonnenuntergang kommt Albert auf dem Fahrrad über die Wiese gefahren. Stehend tritt er in die Pedale. Mich befreit er zuerst.

»Albert! Wenigstens du denkst an uns«, sage ich, während er mit seinem Fahrtenmesser die Stricke durchschneidet.

»Ich hätte euch so lange gesucht, bis ich euch gefunden hätte. Ich war heute mit der Flieger-HJ unterwegs. Als ihr noch nicht daheim wart, bin ich runter ins Heim, und da sind sie alle gesessen und haben mit Papierfliegern herumgeworfen. Der Semmler hat nur dumm geschaut, als ich ihn nach euch gefragt habe. Die sind jetzt bestimmt schon daheim, hat er ganz gescheit gesagt, und die anderen haben erzählt, dass ihr in Saltendorf auf der Lauer gelegen seid.«

»Der Semmler ist ein Depp!«, ruft Rudi.

Am nächsten Tag beim Abendessen haben wir die Marterpfahlgeschichte schon fast vergessen und fiebern dem Montag entgegen. »Schade, dass du nächste Woche nicht beim Zeltlager dabei bist«, sage ich zu Albert, während ich an meiner Brotrinde kaue.

Albert säbelt eine Scheibe vom Laib. »Ich hätte auch lieber Ferien, als dass ich mit flüssigem Eisen in der Gießerei rumrenne und mich einnebeln lasse, das darfst mir glauben«, sagt er, denn vor vier Monaten hat er eine Lehre zum Former im Eisenwerk begonnen.

»Einer muss ja mit mir das Haus hüten«, sagt Mutter und schenkt mir Malzkaffee nach. »Sonst wär ich ja ganz alleine.«

Unsere Familie ist geschrumpft. Bina hat einen Studenten aus München geheiratet. Sie lernten sich im letzten Jahr kennen, als er die Ferien bei seiner Tante in Maxhütte verbrachte, und jetzt leben sie zusammen in der Landeshauptstadt. Auch Hans ist nur noch am Wochenende hier. Er hat über die Woche ein Zimmer in Regensburg gemietet, wo er bei der Bahn als Elektriker arbeitet, und wenn Rudi und ich im Zeltlager sind und Albert beim Trachtenverein, ist Mutter alleine im Haus.

»Ach was«, sage ich, »du hast doch den Filax«, stecke zwei Finger in den Mund und setze zu einem ohrenbetäubenden Pfiff an.

»Gottfried! Du mit deinem Hundsköter!«, wettert Mutter.

Filax, unser Mischlingsrüde, kommt angehechelt. Er legt die Vorderpfoten auf meinen Oberschenkel und reckt sich schnuppernd zu mir hoch. Bis auf die herunterhängenden Schlappohren sieht er aus wie ein Schäferhund. Meine Pfiffe hört er über fünfhundert Meter, vom Schulhof bis zu unserem Garten, und wenn ich in der Pause die Finger in den Mund stecke, dauert es nicht lange, bis er über den Zaun gesprungen kommt und meine Klassenkameraden mit ihm spielen können. Ist die Pause zu Ende oder ein Lehrer im Anmarsch, sage ich nur: »Geh wieder heim«, und er springt wieder aus dem Schulhof und schleicht davon. Mutter hat ihn vor einem Jahr einem Bauern als Welpen abgenommen. Er gehört uns allen, aber sein Herrchen bin ich. Mir gehorcht er, und ich bin es, der ihm das Apportieren, das Springen über eine Schnur, die Beachtung der üblichen Befehle wie Platz! oder Aus! beigebracht und ihn stubenrein gemacht hat. Filax und ich haben ein Ritual. Wenn ich beim Arbeiten im Garten oder beim Holzsägen meine Arbeitshandschuhe anhabe, wartet er hechelnd, bis ich sie endlich ausziehe und er sie in seiner Schnauze ins Haus tragen darf. Vermutlich ist es der Geruch von meinem Schweiß, der sie für ihn so attraktiv macht, oder er hat einfach Freude, mir zu helfen. Ich glaube, er hat einen Narren an mir gefressen, und ich liebe ihn auch.

»Eine Woche wirst jetzt schon auf ihn verzichten müssen«, sagt Rudi, der mit nacktem Oberkörper vor einem Glas Wasser sitzt. »Oder du nimmst ihn mit und bringst ihm das Exerzieren bei.«

Am Montagmorgen ist es so weit. Unser Fähnlein, in unserem Fall das komplette Maxhütter Jungvolk, sammelt sich im HJ-Heim. Achtzig Buben zwischen zehn und vierzehn. Sie stehen mit ihren Tornistern in Gruppen zusammen, als Rudi und ich den Kellerraum betreten. Kammerl ist auch schon da.

»Der Kammerl mit dem Schifferl aufm Kopf!«, begrüßt ihn Rudi.

Kammerl hebt das Kinn und verschafft sich Überblick. Außer ihm trägt keiner eine Kopfbedeckung, und als ihm das klar wird, reißt er sich hastig sein Schifferl herunter.

»Hast dich wieder erholt vom Marterpfahl, Kammerl?«, frage ich.

Er grinst und schüttelt wild den Kopf. Mit dem Finger deutet er auf jemanden hinter mir. »Da steht er! Haha! Da steht er! Bohoho!«

Ich drehe mich um und sehe, wen er meint. Heiner Semmler, in tadelloser HJ-Uniform, erklärt ein paar Jungen wichtigtuerisch etwas auf einer Landkarte.

»Da hast du recht, Kammerl«, sagt Rudi. »Dem Semmler, diesem Deppen, dem haben wir das zu verdanken.«

Um Punkt acht Uhr taucht Herr Wiesner auf, unser Fähnleinführer. »Alle Mann ins Glied!«

In Dreierreihen marschieren wir ins benachbarte Burglengenfeld, zu einer Lichtung auf dem bewaldeten Brunnberg.

Am Waldrand sind zwanzig graue Zelte in gleichmäßigen Abständen aufgestellt. Wir marschieren darauf zu. Pfützen glänzen in der Sonne zwischen grünen und braunen Flächen, und die Nässe sickert durch meine Schuhe. Links von den Zelten ist der Turnplatz: Drei Trampoline und ein Pauschenpferd sind aufgebaut, an einer hölzernen Kletterwand hängen Seile, vier Reckstangen sind da und ein Barren. Dahinter geht es den Berg hinunter zur Naab. Umringt von Semmler und ein paar anderen Buben in Uniform, marschiert Wiesner auf den freien Platz. »Sammeln!«