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In einer Bar in Lissabon erzählt ein Betrunkener einer Schönen der Nacht von seinen Erfahrungen im Angolakrieg. Unaufhaltsam redet dieser Mann, wütend, ausfallend, obszön, zärtlich und verzweifelt, er durchschreitet noch einmal die Hölle der Vergangenheit, nur um in der Gegenwart dieser Nacht nicht allein zu bleiben.
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Seitenzahl: 285
Buch
Ein Mann in einer Bar in Lissabon trinkt und versucht, eine Frau zu verführen, damit er nicht allein bleibt, damit er vergessen kann. Denn seine Erinnerung ist die Hölle, die er mit wütenden, wortgewaltigen, ironisch-süffisanten, melancholischen Tiraden umkreist: Anfang der Siebziger war er als Militärarzt im portugiesischen Kolonialkrieg in Angola. Leid, Elend und Entsetzen dort beschreibt er ebenso eindringlich wie die Schönheit der afrikanischen Landschaft. Seine Wut richtet sich gegen die Verlogenheit von Kirche, Militärdiktatur und Geheimpolizei, die die jungen, unwissenden Soldaten »am Arsch der Welt« geopfert haben. Ein Heimat- und Hoffnungsloser ist er, der Mann an der Bar, voller Sehnsucht nach Liebe.
Autor
Geboren 1942 in Lissabon, studierte Lobo Antunes Medizin und wurde Chirurg. Während des Kolonialkrieges war er 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in über dreißig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Judaskuß ist das bekannteste Werk des weltweit gefeierten Literaten und bildet mit Elefantengedächtnis und Einblick in die Hölle die sogenannte autobiographische Trilogie.
António Lobo Antunes bei btb
Elefantengedächtnis. Roman
Die Vögel kommen zurück. Roman
Reigen der Verdammten. Roman
Die Leidenschaften der Seele. Roman
Die natürliche Ordnung der Dinge. Roman
Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht. Roman
Was werd ich tun, wenn alles brennt? Roman
António Lobo Antunes
Der Judaskuß
Roman
Aus dem Portugiesischen vonRay-Güde Mertin
btb
A
Was mir am meisten am Zoologischen Garten gefiel, waren die Rollschuhbahn unter den Bäumen und der schwarze Lehrer, der ganz aufrecht und in weit ausholenden Schleifen rückwärts auf dem Zement dahinglitt, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen, um ihn herum Mädchen in kurzen Röcken und weißen Stiefeln, deren Stimmen, hätten sie gesprochen, sicher so weich geklungen hätten wie die auf den Flughäfen, die den Abflug der Flugzeuge ankündigen, Silben aus Watte, die in den Ohren zergehen wie die Reste eines Bonbons auf der Zunge. Ich weiß nicht, ob Sie das, was ich jetzt sage, idiotisch finden, aber wenn wir am Sonntagmorgen mit meinem Vater in den Zoo gingen, waren die Tiere mehr Tiere, die langstielige Einsamkeit der Giraffe ähnelte der eines traurigen Gulliver, und von den Grabsteinen des Hundefriedhofs stieg hin und wieder ein klagendes Gejaul auf. Es roch wie auf den Gängen der Kolosseums-Festhalle, es gab seltsame Phantasievögel hinter Maschendraht, die Straußenvögel glichen ledigen Turnlehrerinnen, die ungelenken Pinguine hatten Ballen wie Botengänger, Kakadus neigten den Kopf zur Seite, als betrachteten sie ein Bild; im Becken blähten sich in träger Ruhe die Nilpferde, die Schlangen rollten sich in weichen Spiralen zu Exkrementenhaufen, und die Krokodile fanden sich mühelos in ihr Schicksal, mörderische Echsen aus dem Tertiär zu sein. Die Platanen zwischen den Käfigen ergrauten wie unser Haar, und ich stellte mir vor, daß wir eigentlich gemeinsam alterten: Der Angestellte mit dem Rechen, der die Blätter in einen Eimer harkte, erinnerte mich an den Chirurgen, der meine Gallensteine in ein Gläschen mit Etikett fegen würde; eine vegetative Menopause, in der die Geschwülste der Prostata und die Knoten in den Baumstämmen sich einander näherten und miteinander verschmolzen, würde uns verbrüdern; die Backenzähne würden uns wie faule Früchte aus dem Mund fallen, und unsere Haut würde sich als rauhe Schale über dem Bauch in Falten legen. Es kam vor, daß uns ein komplizenhafter Hauch aus den Zweigen hoch oben durch die Haare fuhr und von irgendwoher ein Husten die wattige Taubheit mühsam mit einem Rauschen durchbrach, das schließlich den beruhigenden Tonfall einer chronischen Bronchitis annahm.
Im Zoo-Restaurant hingen Fetzen von Tiergerüchen in der Luft, die sich im Dampf des Eintopfgerichtes auflösten, die Kartoffeln mit einem unangenehmen Geschmack von Schwein würzten und dem Fleisch etwas Pelziges gaben; das Lokal war meistens voll und wurde zu gleichen Teilen besucht von Ausflüglern und ungeduldigen Müttern, die mit der Gabel Luftballons verscheuchten, die, zerstreutes Lächeln, ein Stück Schnur hinter sich herzogen wie die fliegenden Bräute Chagalls den Saum ihrer Kleider. Ältere Damen in Blau trugen volle Kuchentabletts vor dem Bauch, boten Blätterteiggebäck an, das staubiger war als ihre belaubten Wangen, und wurden von widerlich klebrigen Fliegen verfolgt. Abgemagerte Hunde aus mittelalterlichen Altarbildern warteten zwischen den Fußtritten der Angestellten auf die übriggebliebenen Würstchen, die zu Boden fielen wie überflüssige, ölig glänzende Finger. Die Tretboote aus dem Wasserbecken drohten jeden Augenblick durch die offenen Fenster auf den feindlichen Wellen der Papierservietten hereinzuschaukeln. Und dort draußen, unberührt von der faden Musik aus den Lautsprechern, dem vereinsamten Witwenklagen eines afrikanischen Stieres, den fröhlich verklingenden Tamburinen der Ausflügler und meiner hingerissenen Bewunderung, glitt der schwarze Lehrer noch immer aufrecht und mit der wunderbaren, ungewöhnlichen Majestät eines Rückwärtsläufers über den Rollschuhplatz unter den Bäumen.
Wären wir zum Beispiel Ameisenbären, Sie und ich, statt uns hier in dieser Bar zu unterhalten, könnte ich mich vielleicht besser Ihrem Schweigen anpassen, Ihren auf dem Glas ruhenden Händen, Ihren gläsernen Fischaugen, die irgendwo über meinem Kopf oder meinem Bauchnabel schweben, und wir könnten uns vielleicht wie Komplizen mit unruhigen Rüsseln verständigen, die auf dem Beton sehnsüchtig nach Insekten schnüffeln, vielleicht würden wir uns im Schutz der Dunkelheit im Koitus vereinen, traurig wie die Nächte von Lissabon, wenn die Neptune aus den Seen das grüne Algengewand ablegen und auf den leeren Plätzen ihre sehnsuchtsvollen, rostigen Augen umherschweifen lassen. Vielleicht würden Sie mir dann endlich von sich erzählen. Vielleicht schlummert hinter Ihrer Cranach-Stirn eine heimliche Zärtlichkeit für Rhinozerosse. Vielleicht würden Sie mich betasten, und plötzlich wäre ich ein Einhorn und würde Sie umarmen, und Sie würden aufgeschreckt mit den Armen schlagen wie ein auf eine Stecknadel gespießter Schmetterling, überquellend vor Zärtlichkeit. Wir würden Karten für die Bimmelbahn kaufen, die wie eine Geisterbahn in der Provinz mit aufgezogenem Motor von Tier zu Tier durch den Zoo fährt, und im Vorbeifahren würden wir den weißen, zu Teppichen verarbeiteten Bären in ihrer Grotte zuwinken. Wir würden ophthalmologisch die Konjunktivitis auf den Hinterteilen der Mandrill-Affen beobachten, deren Lider sich an brennbaren Hämorrhoiden entzünden. Wir würden uns vor den Löwen küssen, die von Motten zerfressen sind wie alte Mäntel und mit zahnlosen Kiefern drohen. Ich streichle Ihre Brüste im schrägen Schatten der Füchse, Sie kaufen mir ein kleines Eis am Stiel bei den Clowns, die sich, untermalt von einem tragisch klingenden Saxophon, mit hochgezogenen Augenbrauen Klapse geben. Und so hätten wir ein wenig von der Kindheit zurückerobert, die keinem von uns gehört, jedoch immer wieder die Rutschbahn hinunterrutscht mit einem Lächeln, das ab und zu als gedämpftes Echo und fast wütend zu uns herüberdringt.
Erinnern Sie sich an die Steinadler am Eingang des Zoos und an die Kartenschalter, die wie Wachhäuschen aussehen, wo die muffigen Angestellten sitzen und wie kurzsichtige Nachteulen im feuchten Dämmerlicht blinzeln? Meine Eltern wohnten nicht sehr weit, in der Nähe eines Beerdigungsinstituts mit Wachshänden und mit Büsten des Paters Cruz, die vom nächtlichen Geheul der Tiger in arthritischem Entsetzen auf den Regalen im Schaufenster erbebten, Invaliden des Geschäfts mit der Mystik sozusagen, die später einmal auf ovalen Häkeldeckchen Kühlschränke zieren würden, so daß man meinen konnte, das Surren der Geräte käme aus tönernen Speiseröhren, die an schlecht verdauten Keksen würgten. Vom Zimmerfenster meiner Brüder aus sah man das eingezäunte Areal der Kamele, deren gelangweiltem Ausdruck nur noch die Zigarette eines Geschäftsführers fehlte. Auf dem Klo, wo der Rest eines Flusses wie in grummelnden Eingeweiden erstarb, hörte ich das Jammern der Robben, die ein zu kleiner Durchmesser der Rohre daran hinderte, in die Kanalisation zu fahren und mit dem Wasserstrahl das ungeduldige Brummen eines Mathematiklehrers durch die Wasserhähne zu schicken. Das Bett meiner Mutter ächzte in der Früh manchmal vor Hexenschuß wie der zahnlose Elefant im Zoo, der für ein paar Kohlblätter zu zehn Reis an einem Glöckchen zog, ein seit Jahrhunderten von der Inflation verschontes Geschäft, und das Ächzen wurde dirigiert vom Asthma meines Vaters, das klang wie das rhythmische Pfeifen eines Kornaks. Die Frau mit den Erdnüssen, der der linke Ellenbogen fehlte, stellte sich mit ihren Körben unter unsere Veranda und erzählte meiner Großmutter in vertikalen Reden, von unten nach oben, von den Besäufnissen ihres Mannes und berstenden Gewalttätigkeiten: Kapitel aus Maxim Gorki, Volksausgabe. Der Morgen bevölkerte sich mit Hibiskus und Tukanen, die mit den Krümeln des Frühstücks gefüttert wurden, und auf den Fingern blieb ein mehliger Staub wie auf nicht abgewischten Möbeln zurück. Ein Flecken Nachmittagssonne trabte verstohlen wie eine Hyäne über den Fußboden, unterstrich oder verdeckte nacheinander die Muster auf dem Teppich, das gesplitterte Relief an der Fußleiste und an der Wand das Porträt eines schnurrbärtigen Onkels von der Feuerwehr, dessen blankgescheuerter Helm wie eine polierte Türklinke glänzte. Im Eingangsflur hing ein geschliffener Spiegel, der nachts leer war, ohne Gesichter, und alle Bäume im Zoo und die wie riesige, gefrorene Spinnen an ihren Ringen hängenden Orang-Utans hätte aufnehmen können. Damals nährte ich die unsinnige Hoffnung, eines Tages anmutige Spiralen um die majestätischen Hyperbeln des schwarzen Lehrers ziehen zu können, in weißen Stiefeln und rosa Hosen, mein Gleiten würde klingen wie ein Flaschenzug, den ich mir immer hinter dem gewagten Flug der Engel von Giotto vorstellte, die in marionettenhafter Unschuld von biblischen Himmeln herabschwebten. Die Bäume der Rollschuhbahn würden hinter mir zusammenwachsen und ihre dichten Schatten ineinander verschlingen, und das wäre meine Art, mich davonzumachen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich als alter Mann mit nichts als Uhren und Katzen in einem dritten Stockwerk ohne Fahrstuhl wie ein Schiffbrüchiger zwischen Tablettenschachteln, Kataplasmen, Heilkräutertees und Gebeten an den Heiligen Geist untergehe, ich sehe vielmehr den Jungen in mir, der sich aufrichten wird wie die Seele, die auf den Bildern im Katechismus dem Körper entsteigt, um sich in unsicheren Pirouetten dem majestätischen Schwarzen mit dem brillantinegeglätteten Haar zu nähern, dessen Lippen das rätselhafte, unendlich nachsichtige Lächeln eines Buddha auf Rollschuhen kräuselt.
Dieser Schutzengel mit Krawatte hatte seit langem in mir das Bild der tugendhaften, kleinen Heiligen, der Sãozinha, mit ihren roten Bäckchen ersetzt, einer Mae West der Sakristei, so sah ich sie bei meinen Tanten im Stummfilmkino der Heiligenschreine in mystischer Liebe zu einem Christus mit Schnurrbärtchen à la Fairbanks aufschauen: Meine Tanten wohnten in großen, dunklen Häusern, wo Basreliefs auf Sofas und Möbeln das Halbdunkel noch verdüsterten und die vergilbten Tasten der mit Damasttüchern zugedeckten Klaviere in Moll schimmerten. In jedem Haus der Barata Salgueiro (traurig wie Regen auf einem Schulhof) wohnte eine alte Verwandte und ruderte mit dem Krückstock über Teppiche mit unzähligen chinesischen Vasen und vorbei an Schränken mit Intarsien, die ein Heer von Generationen spitzbärtiger Kaufleute dort zurückgelassen hatte wie an einem letzten Strand. Es roch stickig, nach Grippe und nach Keksen, und nur die großen, rostigen Badewannen mit Füßen in Form von Sphinxkrallen und einem Wasserrand, der als braune Linie zurückgeblieben war wie der Abdruck einer Mütze auf der Stirn, kamen mir lebendig vor, wie sie mit gierigen, maßlosen Mäulern die Kupferbrüste der Wasserhähne suchten, aus denen hin und wieder einzelne Tränen lehmfarben herabtropften. In den Küchen, die wie die Chemielabors im Gymnasium aussahen, an der Wand ein Kalender von der Mission mit lauter kleinen Schwarzen, kochten alterslose Dienstmädchen, die alle Albertine hießen, fade Hühnerreissuppen und murmelten dabei Gebetsfetzen in die Töpfe, die den weißen Reis würzen sollten. Auf den uralten Öfen, die noch aus der Zeit des Papinschen Topfes stammten, nahmen die Gasflammen die unregelmäßige Form zerbrechlicher Blütenblätter an und flimmerten am Rande eines verheerenden Knalls entlang, der die letzte Sèvres-Tasse in unzählige Scherben zerspringen lassen würde. Die Fenster unterschieden sich nicht von den Bildern: Auf dem Glas wie auf der Leinwand neigten sich die gleichen herbstlichen Bäume wie erschlaffte Schwänze nach einem Bad im Schwimmbecken und wurden umrankt von ausgeblichenen Papierschlangen eines längst vergangenen Karnevals. Die Tanten bewegten sich ruckartig vorwärts wie die Tänzerinnen auf einer fast abgelaufenen Spieluhr, bedrohten meine Rippen wenig beeindruckend mit ihren Stöcken, betrachteten verächtlich die gepolsterten Schultern meines Mantels und riefen säuerlich aus:
»Bist du mager«,
als seien meine vorstehenden Schlüsselbeine beschämender als die Spur eines Lippenstiftes auf meinem Hemdkragen.
Ein nicht lokalisierbares Pendel ließ im Dämmerlicht der Schränke gedämpft die Stunden in irgendeinen fernen, mit Kampferholztruhen vollgestopften Korridor tropfen, der zu unwirtlichen, feuchten Zimmern führte, in denen noch Prousts Leiche schwebte und einen abgestandenen Hauch von Kindheit in der stickigen Luft verbreitete. Die Tanten ließen sich mühsam auf dem Rand riesiger, mit Häkelfiligran verschnörkelter Sessel nieder, servierten Tee in Kannen, die wie manuelinische Monstranzen verziert waren, und vervollständigten ihr Stoßgebet, indem sie mit dem Zuckerlöffel auf die Fotografien ungestümer Generäle zeigten, die bereits vor meiner Geburt das Zeitliche gesegnet hatten, und zwar nach ruhmreichem Kampf im Backgammon und Billardspielen in Kasinos, die so trostlos waren wie leere Speisesäle und in denen die Darstellungen des Abendmahls durch Schlachtenszenen ersetzt worden waren.
»Zum Glück wird das Militär einen Mann aus ihm machen.«
Diese kraftvolle Prophezeiung, die während meiner ganzen Kindheit und Jugend von künstlichen Gebissen mit unbestrittener Autorität ausgesprochen wurde, setzte sich in schrillem Echo an den Canastatischen fort, wo die Weibchen des Klans ein heidnisches Gegengewicht zur sonntäglichen Messe bildeten, zwei Centavos der Stich, eine nominelle Summe, die ihnen als Vorwand diente, um mit einem Joker alte, geduldig zurückgehaltene Haßgefühle loszuwerden. Die Männer der Familie, deren pompöse Feierlichkeit mich vor der ersten Kommunion fasziniert hatte, als ich noch nicht verstand, daß ihr verschwörerisches Flüstern, das abgeschirmt und lebensnotwendig war wie eine Zusammenkunft von Göttern, schlichtweg dazu diente, die prachtvollen Schenkel des Dienstmädchens zu kommentieren, unterstützten die Tanten nachdrücklich dabei, eine Hand fernzuhalten, die in Zukunft bei den flüchtigen Kniffen während des Tellerabräumens zur Rivalin werden konnte.
Der Geist Salazars schwebte über den frommen Köpfen als Zünglein eines korporativen Heiligen Geistes und errettete uns vor der düsteren, vernichtenden Vorstellung des Sozialismus. Die PIDE setzte mutig ihren edlen Kreuzzug gegen den finsteren Begriff der Demokratie fort, die der erste Schritt wäre, um versilberte Bestecke in den gierigen Taschen von Zeitungsjungen und Lehrlingen verschwinden zu lassen. Kardinal Cerejeira garantierte aus der Zimmerecke das Fortbestehen des Wohltätigkeitsvereins der Damen der Gesellschaft und damit die Armut der Unterjochten. Die Zeichnung, die das Volk in atheistischem Jubelgeschrei um die Guillotine der Befreiung herum darstellte, war endgültig auf den Dachboden verbannt worden, zu den alten Bidets und wackligen Stühlen, die von der Sonne durch einen staubigen Spalt hindurch mit jenem Geheimnis umgeben wurden, das abgestellte, nutzlose Dinge an sich haben. Als ich mich an Bord eines mit Soldaten beladenen Schiffes nach Angola aufmachte, um endlich ein Mann zu werden, erschien der ganze Klan geschlossen am Kai, dankte der Regierung, die mir eine solche Verwandlung kostenlos ermöglichte, und fand sich in einem Anfall von glühendem Patriotismus damit ab, von einer wilden, anonymen Menge hin- und hergestoßen zu werden, die ebenjener auf dem Bild mit der Guillotine glich und dorthin gekommen war, um ohnmächtig ihrem eigenen Tod beizuwohnen.
B
Kennen Sie Santa Margarida? Ich frage das, weil manchmal im Offizierskasino, das selbstverständlich so unpersönlich und geschmacklos wie das Wartezimmer eines Vorortzahnarztes eingerichtet war (Plastikblumen, billige Reproduktionen, deren monotone Ornamente sich mit der Tapete vermischten, unbequeme Stühle, die wie verstreute Vierfüßler die Fransen der Teppiche abgrasten), aufgeregte Majore ihre Whiskygläser stehenließen und Eiswürfel durch Pokerwürfel ersetzten, um dann aufrecht wie schmerbäuchige Zinnsoldaten eine hereinkommende Dame zu grüßen, die irgendein sich städtisch gebender Oberst im Schlepptau mitgebracht hatte; ihm folgte, erkennbar an den zitternden Tressen, ein Schwanz von Kasernenbrunftgetuschel, das sich, zur Alphabetisierung putzender Rekruten, in unzweideutigen Sprüchen auf dem ädrigen Marmor der Pißbecken niederschlagen würde. Masturbation an den in eiskalte Laken eingezogenen Pumpenstangen war unsere tägliche Gymnastik, während draußen in der Feuchtigkeit die Pinien raunten, im Nebel verschwammen und in die Nacht ragten mit klebrigen Stämmen, auf denen die Wolken saßen wie die Zuckerwatte einer Kirmes. Wie damals, am Strand in Praia das Maçãs, wissen Sie, Ende September, wenn wir Kinder uns hinlegten und der Körper einem verlorenen, kleinen Samen auf einer riesigen Matratze glich, der verschrumpelt und zitternd die behaarten Fasern der Glieder in Krämpfen bewegte, erschreckt vom Rauschen des Meeres unter uns, das sich von nirgendwoher in der steinigen Bronchitis seiner unsichtbaren Lunge zusammenzog und ausdehnte. Die Kuckucksuhren machten den irritierenden Hörnern Platz, Uniform und Haut wuchsen zu einem einzigen militärischen Panzer zusammen, und die kurzgeschorenen Haare und das Antreten der Truppe erinnerten mich an Ferienlager meiner Kindheit und den süßsauren Geruch von zu wenig Wasser, Folge einer leicht indignierten Resignation. Am Sonntag kam die jauchzende Familie, um sich die fortschreitende Verwandlung der Zivillarve in einen perfekten Krieger anzusehen, der mit einem Käppi auf dem Kopf und in riesigen, mit dem historischen Schlamm von Verdun bedeckten Stiefeln auf halbem Wege zwischen einem mythomanischen Pfadfinder und einem als Soldat verkleideten Karnevalisten war. All dies spielte sich jedoch in einer Internatsatmosphäre ab, die die Kasernen auf subtile Weise fortführten mit Geheimnissen, Initiationsgruppen und primitiv perversen Strategien, die dazu bestimmt waren, die Wachsamkeit der Kommandanten zu täuschen. Die sorgten sich eher um die Wahl des richtigen Trumpfes im Bridge, von dem der ruhige oder stürmische Verlauf der Verdauung ihres Abendessens abhing, als um die nächtlichen Konvulsionen von hinter den schimmligen Schuppen der Platanen verlorenen Schlafsälen, wo sich magere Hunde wie die Windhunde El Grecos in melancholischem Koitus vereinten und uns mit den schmerzensreich flehenden Augen sterbender Nonnen anblickten.
In Mafra habe ich in der ungeheuren Trostlosigkeit des Klosters, einem Labyrinth aus Korridoren, das heimgesucht wurde vom Geist vieler Unteroffiziere, bei Regen die Ratten zwischen den Pritschen herumlaufen sehen. In Tomar, wo die Fische aus dem Fluß heraufkommen und in glitzernden Schwärmen wahllos durch die Straßen ziehen, baute ich aus Streichhölzern Modelle des Hieronymiten-Klosters, die von den gelben Augen der an Hepatitis erkrankten Fallschirmspringer bewundert wurden. In Elvas wünschte ich mir neben einem Fähnrich, der so dick und wacklig wie ein Karamelpudding auf dem Tellerrand war, ich könnte mich in den Mauern der Stadt verflüchtigen wie Chagalls Violinenspieler im dichten Blau der Leinwand, indem ich die ungelenken, grobmaschigen Flügel meiner Uniformärmel bewegte, bis ich in Paris zu einer Revolution im Exil aus abstrakten Bildern und konkreten Gedichten landete, zu denen der Diário de Notícias aus dem portugiesischen Kulturzentrum wie ein weitsichtiger Notar einige lusitanische Elemente beitragen würde: mit Anzeigen von keuschen Hochzeiten und Totenmessen, die vom fleischlosen Lächeln der Verstorbenen versüßt wurden. Und als ich in Santa Margarida auf das Einschiffen wartete, hütete ich lange Schlangen von Soldaten auf dem Weg zu einem blödsinnigen Zahnarzt, der unter mörderischem Freudengeheul Kiefer entvölkerte:
»Mit den Backenzähnen der Jungs werden Sie keine Schwierigkeiten haben«, brüllte er mir zurückgelehnt in seinen fürchterlichen Stuhl zu und strahlte vor Zufriedenheit und Schweiß, während er den brennenden Lötkolben des Bohrers in einem entsetzten Mund versenkte.
Die Damen von der Nationalen Frauenbewegung kamen hin und wieder, um die Nerze ihrer Wechseljahre spazierenzutragen, und verteilten in Begleitung nationalistischer Vaterunser-Gebete Münzen mit Unserer Lieben Frau von Fatima und Schlüsselanhänger mit dem Porträt von Salazar und drohten mit der biblischen Hölle im Gefängnis von Peniche, wo die Agenten der PIDE in ihrer Tüchtigkeit noch die unschuldigen, mit Gabeln bewaffneten Teufel aus dem Katechismus übertrafen. Ich stellte mir immer vor, daß die Schamhaare dieser Damen aus Fuchsschwanz seien und aus ihren Vaginen, wenn sie erregt waren, Ma-Griffe-Parfum und Hundesabber tropften, die glänzende Schneckenspuren auf ihren welken Schenkeln hinterließen. Wenn sie am Tisch des Brigadegenerals saßen, aßen sie ihre Suppe mit spitzen Lippen wie an Hämorrhoiden Erkrankte, die sich auf die Kante eines Sofas setzen, hinterließen auf den Papierservietten Lippenstiftabdrücke, aus denen noch der Ärger mit dem Dienstmädchen und Reste patriotischer Ansprachen aufstiegen, und ich traf sie am Morgen der Abfahrt an der Gangway des Schiffes wieder, als sie uns mit billigen Zigaretten und kräftigem Schütteln ihrer Wappenringhände verabschiedeten.
»Seid unbesorgt, wir werden in der Nachhut wachsam sein.« Und wenn man es richtig betrachtete, gab es von so traurigen Lenden, auf denen die Korsetts lediglich die zweitrangige Rolle eines Bruchbandes spielten, wahrhaftig wenig zu befürchten.
Und dann begann sich Lissabon, Sie wissen ja, wie das ist, in einem immer gedämpfter werdenden Wirbel aus Militärmärschen von mir zu entfernen, in dessen Akkorden sich die tragischen, unbewegten Gesichter des Abschieds drehten, Gesichter, die in der Erinnerung zu einem Ausdruck des Entsetzens erstarrten. Der Spiegel in der Kajüte warf mir ein angstverzerrtes Bild zu, ein durcheinandergebrachtes Puzzle, in dem die bekümmerte Grimasse eines Lächelns die abstoßende Krümmung einer Narbe angenommen hatte. Einer der Ärzte lag zusammengerollt in der Koje und schluchzte in unregelmäßigen Schüben wie der stotternde Motor eines Taxis, ein anderer besah sich seine Finger mit der leeren Aufmerksamkeit eines Neugeborenen oder eines Idioten, der mit weit aufgerissenen Augen endlos seine Fingernägel leckt, und ich fragte mich, was wir, gequält und unschlüssig, auf dem Nähmaschinenboden dieses Schiffes eigentlich zu suchen hatten, während Lissabon am Horizont mit einem letzten, hymnischen Seufzer unterging. Plötzlich ohne Vergangenheit, mit Salazar als Schlüsselanhänger in der Tasche, kam ich mir zwischen der Badewanne und dem Waschbecken, die wie in einem Puppenhaus an der Wand festgemacht waren, vor wie in meinem Elternhaus im Sommer, wenn die Gardinen fehlten, die Teppiche in Zeitungen eingerollt waren, in der Ecke die mit großen, staubigen Schweißtüchern bedeckten Möbel standen, das Silber zur Großmutter emigriert war und das gigantische Echo von niemandes Schritten in den verlassenen Räumen widerhallte. Wie wenn man nachts in einer Garage hustet, dachte ich, und das unerträgliche Gewicht der eigenen Einsamkeit auf den Ohren fühlt, das knallend widerhallt wie die klopfenden Schläfen des Herzens auf der Trommel des Kopfkissens.
Am zweiten Tag erreichten wir Madeira, einen mit kristallisierten Häusern geschmückten Königskuchen, der auf dem blauen Porzellantablett des Meeres schwamm, und es war, als zöge Alenquer in der Stille des Nachmittags vorbei. Das Schiffsorchester schnaufte Boleros für die Offiziere, die melancholisch waren wie Eulen im Morgengrauen, und aus dem Unterdeck, in dem die Soldaten zusammengepfercht waren, kam der dicke Gestank von Erbrochenem, ein Geruch, den ich seit jenen längst vergangenen Mittagsstunden aus meiner Kindheit vergessen hatte, wenn sich zu den Mahlzeiten in der Küche um die mir so widerwärtige Suppe lauter bald zuredende, bald drohende Familienfratzen drängten und jeden vollen Löffel mit jubelndem Beifall beklatschten, bis irgendein besonders Aufmerksamer rief:
»Singt mal ›Kommt ein Vogel geflogen‹, der Kleine übergibt sich gleich.«
Als Antwort auf diese schreckliche Ankündigung stimmten die Erwachsenen dann wie beim Untergang der Titanic in falschen Tönen mit über den Goldzähnen gespannten Lippen das Lied an, ein Dienstmädchen schlug dazu mit Topfdeckeln den Takt, der Gärtner spielte mit dem Besen über der Schulter einen Marsch vor, und ich spuckte einen Knödel aus Teig und Reis auf den Teller, den ich wieder hinunterschlucken mußte, dieses Mal ohne Chor, dabei aber unter leisen, wütend gezischelten Beschimpfungen. Jetzt, sehen Sie, fühle ich, ausgestreckt auf dem Deck in einem Liegestuhl, mit dem Schweiß auf meinem Kragen, wie der Lissaboner Winter sich unerbittlich in den klebrigen Sommer am Äquator verwandelt, der so weich und heiß ist wie die Hände von Herrn Melo an meinem Nacken, Melo, der Barbier meines Großvaters, in dessen Laden an der Rua Primeiro de Dezembro die Feuchtigkeit den Chrom der Scheren in den schrägen Spiegeln multiplizierte. Viel sehnlicher aber wünschte ich mir, daß wie damals das Kindermädchen Gija käme und meinen schmalen Kinderrücken bedächtig und mit geduldiger Zärtlichkeit streichelte, bis ich einschliefe und in Träume versänke, die ihre besänftigenden Finger gewirkt hatten, Finger, die aus meinem Körper auch bald die verzweifelten oder betrübten Geister verscheuchen könnten, die darin hausten.
C
Luanda war einmal ein ärmlicher, unansehnlicher Kai gewesen, dessen Lagerhäuser in der feuchten Hitze flimmerten. Das Wasser sah aus wie Sonnenmilch, die auf der schmutzigen, alten, wahllos von Tampen durchfurchten Haut glänzte. Die Schwarzen litten unter der gleißenden Helligkeit, hockten in Grüppchen zusammen und beobachteten uns mit jener zeitlosen und gleichzeitig durchdringenden und blinden Zerstreutheit, die man von Fotos kennt, auf denen John Coltrane mit der süßen Bitterkeit eines trunkenen Engels und nach innen gewandten Augen sein Saxophon bläst, und ich stellte mir auf den dicken Lippen jedes einzelnen dieser Männer eine unsichtbare Trompete vor, die sich sogleich in der dicken Luft aufrichten würde wie die Wurfseile der Gaukler. Weiße, magere Vögel lösten sich auf den Palmen der Bucht oder auf den Holzhäusern der Insel in der Ferne vor uns auf, fielen ab von den Häusern, die unter Büschen und Insekten begraben wurden, wo Huren verkehrten, die von all den liebebedürftigen Männern aus Lissabon erschöpft waren, noch ein paar Gläser Brause tranken wie sterbende, an einem letzten Strand festgemachte Wale, und hin und wieder ihre Hüften im Rhythmus eines beklommenen Paso doble schwangen. Mickrige Leutnants mit Brille und dem Gehabe erfahrener, gewissenhafter Werkstudenten trieben uns hüpfend auf Viehwagen zu, die auf einem mit Abfällen und Dreck überhäuften Ponton auf uns warteten, dem Ponton Cruz Quebrada, Sie erinnern sich, da, wo die Abwässer am Fuß der Stadt versickern, alte Hunde, die auf dem Fußabtritt den Abfall auskotzen: Überall auf der Welt, wo wir anlegen, machen wir unsere abenteuerliche Anwesenheit durch manuelinische Steinsäulen und leere Konservenbüchsen sichtbar, in einer subtilen Verbindung aus heroischem Skorbut und verrostetem Blech. Ich war immer dafür, daß man auf irgendeinem passenden Platz des Landes ein Spuckdenkmal errichtet, eine Spuckbüste, einen Spuckmarschall, Spuckdichter, Spuckstaatsmann, Spuckreiter, etwas, das in Zukunft zur vollkommenen Definition des vollkommenen Portugiesen beitrüge: Er hat sich immer mit seiner Vögelei gebrüstet und gespuckt. Was die Philosophie angeht, meine teure Freundin, reicht uns der Leitartikel einer Zeitung, und der ist so reich an Ideen wie die Wüste Gobi an Eskimos. Da unser Gehirn ausgelaugt ist von komplizierten Gedankengängen, nehmen wir, um denken zu können, trinkbare Ampullen zu den Mahlzeiten ein.
Möchten Sie noch einen Drambuie? Wenn ich von Ampullen zum Trinken spreche, habe ich immer Durst auf sirupartige, gelbe Flüssigkeiten, in der unsinnigen Hoffnung, durch sie und die sanfte, freudige Benommenheit, die sie mir verschaffen, das Geheimnis des Lebens und der Menschen zu entdecken, die Quadratur des Kreises der Emotionen. Manchmal fühle ich, beim sechsten oder siebten Glas, daß ich es fast geschafft habe, daß ich fast soweit bin, daß die linkischen Pinzetten meines Gehirns mit chirurgischer Vorsicht den empfindsamen Kern des Geheimnisses fassen werden, aber unmittelbar darauf gehe ich im verschwommenen Jauchzen zähflüssiger Blödheit unter, aus der ich mich am folgenden Tag mit großen Dosen Aspirin und Fruchtsalz herausreiße, in meinen Latschen herumstolpere und mich aufmache zur Arbeit, dabei die unabänderliche Trübheit meiner Existenz mitschleppe, einen Morast voller Rätsel, der so dick ist wie der Zucker, der morgens in der Kaffeetasse zurückbleibt. Haben Sie noch nie das Gefühl gehabt, kurz davorzustehen, in einer Sekunde eine aufgeschobene und jahrelang verfolgte Erwartung fassen zu können, jenes Vorhaben, das gleichzeitig Ihre Verzweiflung und Ihre Hoffnung darstellt, haben Sie nie das Gefühl gehabt, daß Sie nur die Hand auszustrecken brauchen, um es mit unbändiger Freude zu packen, und plötzlich fallen Sie auf den Rücken, Ihre Finger haben sich um nichts geschlossen, während die Erwartung oder das Projekt sich gemächlich von Ihnen entfernen, gleichgültig davontraben, ohne Sie überhaupt anzusehen? Aber vielleicht kennen Sie diese entsetzliche Art der Niederlage nicht, vielleicht stellt die Metaphysik für Sie nur ein vorübergehendes Unwohlsein dar wie ein flüchtiges Jucken, vielleicht wohnt in Ihnen die jauchzende Leichtigkeit kleiner, vertäuter Boote, die langsam, im ungebundenen Rhythmus einer Wiege, auf und ab schaukeln. Eines der Dinge, die mich übrigens an Ihnen entzücken, erlauben Sie, daß ich Ihnen das so sage, ist Ihre Unschuld, nicht die unschuldige Unschuld von Kindern und Polizisten aus einer Art innerer Jungfräulichkeit heraus, die von Leichtgläubigkeit oder Dummheit herrührt, sondern eine weise, resignierte, fast kreatürliche Unschuld, würde ich sagen, wie die Unschuld derer, die von den andern und sich selbst das gleiche erwarten wie Sie und ich, die wir hier sitzen, oder wie die Unschuld des Kellners, der von meinem wie von einem unverbesserlich braven Schüler erhobenen Arm herbeigerufen wird und herkommt: mit leicht zerstreuter Aufmerksamkeit und absoluter Verachtung für das magere Trinkgeld unserer Dankesbezeugung.
Der Zug, voll mit Koffern und der Scheu von Fremden in einem unbekannten Land, dessen Lusitanität uns so problematisch erschien wie die Ehrlichkeit eines Ministers, fuhr vorwärts taumelnd wie eine Taube vom Kai in Richtung Musseques. Das bunte Elend der Viertel am Rand von Luanda, die langsamen Schenkel der Frauen, die dicken Hungerbäuche der unbeweglichen Kinder auf den Hängen, die uns nachsahen und an einer Schnur irgendwelches unscheinbares Spielzeug hinter sich herzogen, ließen ein seltsames Gefühl von Absurdität in mir aufkommen, das mir seit der Abfahrt aus Lissabon unangenehm im Kopf oder in den Eingeweiden saß, physischer Ausdruck eines nicht lokalisierbaren Schmerzes, eines Schmerzes, den einer der auf dem Schiff anwesenden Priester mit mir zu teilen schien, weil er seinerseits müde war, im Brevier biblische Rechtfertigungen für das Massaker an Unschuldigen zu suchen. Manchmal trafen wir uns nachts an der Reling, er mit dem Buch vor sich und ich mit den Händen in der Tasche, um auf dieselben trüben, schwarzen Wellen zu starren, auf denen sich hin und wieder etwas spiegelte (welche Lichter? welche Sterne? welche gigantischen Pupillen?) und wie ein Fisch heraussprang – als suchten wir in jener horizontalen Weite, durch die die Schiffsschraube pflügte, eine erleuchtende Antwort auf das, was uns unausgesprochen beunruhigte. Ich habe diesen Priester aus den Augen verloren (das ist bei mir übrigens immer so, ich verliere alle Priester und alle Frauen, die ich treffe, schnell aus den Augen), aber ich sehe deutlich wie in einem kindlichen Alptraum sein verzerrtes Gesicht vor mir, einen verblüfften Noah, der sich auf einer Arche voller Tiere mit Koliken einschiffen mußte, die man aus den heimatlichen Wäldern geholt hatte, fort von Billardtischen und Freizeitklubs, um sie, im Namen gewaltiger, stumpfsinniger Ideale, in zwei Jahre voller Angst, Ungewißheit und Tod hinauszustoßen. Über letzteres konnte kein Zweifel herrschen: Große Kisten mit Särgen nahmen einen Teil des Schiffsbauches ein, und das makabre Spiel bestand darin zu raten, wer die nächsten sein würden, indem man die Gesichter der anderen und das eigene beobachtete. Der da? Ich? Beide? Der dicke Major da drüben, der mit dem Nachrichtenoffizier spricht? Immer, wenn wir Menschen prüfend ansehen, machen sie ein für die Nachwelt bestimmtes, würdevolles Gesicht, das wir uns in unserer Erinnerung zurechtlegen, sobald sie von uns gegangen sind. Gefühle wie Sympathie oder Freundschaft oder sogar eine gewisse Zärtlichkeit fallen uns dann leichter, Nachgiebigkeit stellt sich müheloser ein, und Dummheit kann liebenswert verführerisch als Naivität erscheinen. Im Grunde ist es natürlich unser eigener Tod, den wir im Tod der anderen fürchten, und in seinem Angesicht und durch ihn werden wir zu unterwürfigen Feiglingen.
Wollen Sie jetzt nicht zum Wodka übergehen? Man kann dem Gespenst des Todeskampfes besser ins Gesicht sehen, wenn Zunge und Magen brennen, denn diese Art Fusel, der nach dem Parfum von Großtanten riecht, besitzt die wohltuende Eigenschaft, die Gastritis anzuheizen und damit den Mut zu stärken: Nichts ist besser als Übersäuerung, um die Angst zu verscheuchen oder, wenn Sie so wollen, unseren üblichen, passiven Egoismus in ungestümes Zucken zu verwandeln, das im Grunde nicht viel anders ist, aber wenigstens aktiver: das Geheimnis des berühmten Magengeschwürs von Napoleon, verstehen Sie, der Schlüssel zur Erklärung von Wagram und Austerlitz. Und diese Tellerchen mit giftigen, salzigen Kleinigkeiten, die der Kaiser sicher nie probiert hat, werden durch unsere Eingeweide gehen wie Steinchen aus Ätznatron, die uns mit einer plötzlich ausschlagenden Kolik in die verrücktesten oder süßesten Abenteuer stürzen können. Wer weiß, vielleicht beenden wir die Nacht und lieben uns, rasend wie ein Rhinozeros mit Zahnschmerzen, bis der Morgen bleiern auf den von unseren Verzweiflungsstößen zerwühlten Bettlaken schimmert? Sprachlos werden die Nachbarn im Stockwerk unter uns denken, ich hätte zwei Dickhäuter mit nach Hause gebracht, die einander in einem Konzert aus Haß- und Entbindungsschreien verschlingen, und, wer weiß, vielleicht wird eine solche Neuigkeit lange verschüttete Stimmungen in ihnen wachrufen und sie dazu treiben, sich so ineinander zu verhaken wie die Teile dieser japanischen Puzzles, die man einfach nicht voneinander trennen kann, es sei denn mit der unendlichen Geduld eines Chirurgen oder dem geschickten Messerhieb eines entschlossenen Verschneiders. Sind Sie fähig, das Frühstück ans Bett zu bringen und dabei schon nach Blendamed und Optimismus zu duften? Durch die Vorderzähne zu pfeifen wie früher die Bäcker, mehlbestaubte Engel mit ihrem Korb auf der Schulter, die die Nachtwächter ablösten, müde Nachteulen, eine Erinnerung, die zu den weniger melancholischen Stückchen meiner Kindheitseindrücke zählt? Sind Sie fähig zu lieben? Entschuldigen Sie, das ist eine törichte Frage, alle Frauen sind fähig zu lieben, und die, die das nicht können, lieben sich selbst durch die anderen, was in der Praxis, wenigstens in den ersten Monaten, kaum von echter Zuneigung zu unterscheiden ist. Hören Sie nicht hin, der Wein nimmt seinen Lauf, und in Kürze werde ich Sie bitten, mich zu heiraten: Das ist so Sitte. Wenn ich sehr allein bin oder zuviel getrunken habe, dann beginnt ein Wachsblumenbouquet aus ehelichen Plänen in mir zu sprießen wie Schimmel in verschlossenen Schränken, und ich werde klebrig, verwundbar, winzig klein und völlig schwachsinnig; ich warne Sie, denn das ist der Augenblick, sich unbemerkt mit irgendeiner Entschuldigung davonzustehlen, sich mit einem erleichterten Seufzer ins Auto zu setzen, nach dem Friseur die Freundinnen anzurufen und ihnen lachend von meinen phantasielosen Anträgen zu erzählen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, rücke ich jetzt aber, bis es soweit ist, mit meinem Stuhl näher an Sie heran und leiste Ihnen bei einem oder zwei Glas Gesellschaft.