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Österreich in den »Waldheimjahren«: Während der Skandal um den neuen Staatspräsidenten auf den Höhepunkt zutreibt, streift der Spanienveteran und KZ-Überlebende Edmund Fraul ruhelos durch Wien: Dem Lager nie entkommen, bis ins Mark kalt, kann er Gefühle nicht äußern, ja nicht einmal spüren. Bis er auf seinen Wanderungen durch Wien einem ehemaligen KZ-Aufseher begegnet und mit ihm ins Gespräch kommt: über Auschwitz. Robert Schindel führt uns nach Gebürtig erneut in den Wiener Kosmos: in eine Welt politischer, künstlerischer und menschlicher Feindschaften und Zerreißproben, in ein Geflecht von Tragödien und Liebesgeschichten, die so gut glücklich enden können wie tödlich.
Figurenreich, weltstädtisch, kämpferisch ist dieser Roman, sanft und von großer sprachlicher Schönheit – und getragen von der Hoffnung, dass Wärme und Lebendigkeit einer neuen Zeit in die erkalteten Beziehungen von einst zurückkehren.
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Seitenzahl: 812
Österreich in den »Waldheimjahren«: Während der Skandal um den neuen Staatspräsidenten auf den Höhepunkt zutreibt, streift der Spanienveteran und KZ-Überlebende Edmund Fraul ruhelos durch Wien: Dem Lager nie entkommen, bis ins Mark kalt, kann er Gefühle nicht äußern, ja nicht einmal spüren. Bis er auf seinen Wanderungen durch Wien einem ehemaligen KZ-Aufseher begegnet und mit ihm ins Gespräch kommt: über Auschwitz. Robert Schindel führt uns nach Gebürtig erneut in den Wiener Kosmos: in eine Welt politischer, künstlerischer und menschlicher Feindschaften und Zerreißproben, in ein Geflecht von Tragödien und Liebesgeschichten, die so gut glücklich enden können wie tödlich.
Figurenreich, weltstädtisch, kämpferisch ist dieser Roman, sanft und von großer sprachlicher Schönheit – und getragen von der Hoffnung, dass Wärme und Lebendigkeit einer neuen Zeit in die erkalteten Beziehungen von einst zurückkehren.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4503
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Umschlaggestaltung: Göllner, Michels
Manchmal werde ich der Stille gewahr,
die mich umgibt.
Wie ein Tier,
das nachts plötzlich aufhorcht,
von keiner direkten Gefahr,
sondern von der eigenen Vorsicht aufgeschreckt,
um sich gleichsam zu vergewissern,
dass es ruhig weiterschlafen kann.
Diese Ruhe gleicht jedoch dem Aufschub eines Urteils,
das bereits irgend jemand irgendwo
über mich gefällt hat
und das etwa so lautet:
»Wozu ihn töten?
Er geht auch von selbst zugrunde.«
Der Sturm wurde heftiger. Das Laub sauste und kreiselte, die Wolken rollten mit Tempo in den Westen, da und dort fielen Ziegel auf die Gehsteige. Der Bettler Ecke Kärntner Straße und Himmelpfortgasse, der als Krüppel vor seinem Hut gesessen war, sprang auf und lief diesem hinterher, den der Sturm zum Stock-im-Eisen-Platz trieb. Auch Edmund Fraul, der eben über die Salztorbrücke ging, wurde der Hut vom Kopf gerissen. Schon schwamm der im Donaukanal und unter der Brücke weg. Fraul, vornübergebeugt, ging weiter, das schlohweiße volle Haar in alle Richtungen.
Er überquerte den Kai. Die grünbärtige Ruprechtskirche sah älter aus, als sie war, bedrückt ließ sie auch diesen Sturm über sich ergehen, der Sand der Baustelle neben ihr wirbelte um sie herum, Fraul bog in die Rotenturmstraße ein. Auf dem Stephansplatz, ohnehin der windigste Platz der Stadt, wurde der Sturm geradezu unerträglich. Rechts in der Brandstätte ließ der Druck etwas nach. Fraul ging rasch und wusste mit einem Mal, dass ihm von den Häusern, an denen er entlangeilte, Unheil drohte. Konnte es sein, dass hinter den Fenstern Leute lauerten, die ihm vierzig Jahre später noch nach dem Leben trachteten? Er schaute rasch links und rechts zu den Scheiben hinauf. Als er in den Tuchlauben eintraf, zerriss der Sturm die Wolken über ihm, sodass die Novembersonne jäh den Straßenzug aufhellte; einen Moment ließ der Sturm ganz nach, dann trieb er Edmund Fraul ins Café Korb.
Damals hob ich den Blick, legte die Zeitung weg, stand auf, um Fraul zu begrüßen. Er gab mir die Hand; ein abschätziges Lächeln, das ich für ein freundliches nahm, und schon ging er seinen Mantel ausziehen und an den Haken hängen. Nachdem er eine Melange bestellt hatte, begannen wir miteinander zu reden. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir uns, ich packte meine Notizen zusammen, er winkte mir nochmals zu. Kaum war er bei der Tür draußen, eilte ich ihm nach, denn ich wollte ihm noch in den Rücken schauen, seinen Gang beobachten. Doch neben mir stand bereits der Ober, ich zahlte und verlangte eine Rechnung.
Auf dem Weg zum nächsten Interview sah ich den Alten nochmals. Er verließ ein Hutgeschäft und kam mir entgegen. Bevor er mich hätte bemerken können, blieb er vor einer spiegelnden Auslage stehen und betrachtete den Hut auf seinem Kopf. Ich ging hinter seinem Rücken vorbei, und wir entfernten uns voneinander. Die Kraft des Sturmes schien gebrochen, der Tag wurde noch sonnig und mild.
Fraul schlenderte nach Hause. Inzwischen war es drei Uhr geworden. Gelegentlich blieb er vor den Auslagen stehen. Sein Atem ging ruhig.
Ein höflicher junger Mann, dieser Apolloner, dachte er. Nett. Hat sich informiert, hat mein Auschwitzbuch gelesen, allerhand. Was wird er sein? Dreißig? Was war sein Vater? Hitlerjunge oder schon SA?
Der Bettler Ecke Rotenturmstraße und Fleischmarkt schaute stumpf vor sich hin, als Fraul vorbeiging. Was will der Fechter, dem gehts doch gut. Er unterbrach diesen Gedanken, schaute über die Schulter zu dem Bettler zurück. Ein Kleiderhaufen auf dem Erdboden, aus dem ein zerrupfter Kopf herausgewachsen war. Fraul blieb stehen. Im Umdrehen holte er sein Portemonnaie unterm Mantel aus der Gesäßtasche, entnahm einen Zwanzigschillingschein, ging zurück, bückte sich und legte ihn dem Bettler in den Hut.
»Donge«, flüsterte der, ohne die Kopfhaltung zu verändern. Edmund Fraul setzte seinen Weg fort. Daheim angekommen, nahm er am Küchentisch Platz.
»Kaffee?«, fragte seine Frau.
»Noch nicht, danke.« Er schaute zum Fenster hinaus und auf den wolkenlosen Himmel.
»Wie war das Interview?«, fragte Rosa und machte sich an die Zubereitung ihres Kaffees.
»Wie immer.«
»Wann kommt es?«
»Es wird schon kommen.«
Sie schwiegen. Rosa trank Kaffee. Schließlich stand Fraul auf, ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Sie blieb in der Küche sitzen. Es dämmerte, sie machte Licht. Gedanken sind ihr viele durch den Kopf gegangen. Wie zumeist hielt sie sie nicht fest. Als sie seine Schreie vernahm, kam sie rasch ins Schlafzimmer und weckte ihn auf. Er lächelte leise, ging ins Bad und wusch sich sein Gesicht ab.
»Vergiss nicht, Karel kommt heute«, sagte sie ins Bad hinein.
»Hm.«
Edmund blieb heute zu Hause. Sein Sohn würde kommen. Schauspieler hat er werden müssen. Verdient Geld, indem er so tut als ob.
»Wer hat dir den neuen Hut geschenkt, Edmund?«
»Keiner.«
Heute, vierter November fünfundachtzig, hatte Fraul seinen sechsundsechzigsten Geburtstag. Er saß im Wohnzimmer, seine Frau kochte. Während er auf seinen Sohn wartete, las er im Mahnruf, der Zeitung des KZ-Verbandes. Die Todesanzeigen studierend, rief er Namen zur Küche.
Rosa rief, wenn sie einen Namen trotz der Küchengeräusche verstand, »ich weiß« zurück.
Karl erschien um sieben. Er übergab dem Vater sein Geschenk, setzte sich zu Tisch und betrachtete Frauls Gesicht, als der das Papier entfernte. Edmund schaute auf den Einband des Buches, ein Schauspielführer, lächelte schwach zu seinem Sohn hinüber, stand auf und legte es auf den Fernsehapparat. Rosa trug den Tafelspitz herein. So saßen die drei beisammen. Nach dem Essen tranken sie Cognac, und der Sohn verabschiedete sich.
Seit dieser Saison war Karl Fraul der angehende Jungstar des Burgtheaters. Er hatte einst das Reinhardtseminar absolviert, wurde hernach von Direktor Schönn ans Haus geholt. Dort ging er gelegentlich auf der Bühne hinten hin und her, indes sich einige Meter vor ihm die großen Szenen ereigneten. Es verdross ihn, von der Astrid von Gehlen bloß stets den Hintern zu sehen und vom alten Bonker, dieser Schauspielerlegende, die rötliche Glatze. Er begann sich in der Kantine entsprechend zu gerieren, betrat sie etwa mit dem Satz: »Herr von Posa, kann auch der Feldkurat sein, folgt mir auf dem Fuß«, verabschiedete sich mit »die Pferderln san gesattelt«. Während er seine Gspritzten trank, hielt er Lobreden auf eine geheimnisvolle, aber mächtige Statistengewerkschaft, die ihm so hohe Gagen erkämpft hatte fürs »Umananderstehn«, zitierte ständig den in Wien ohnehin bekannten Qualtingersketch vom vierten und siebten Zwerg und ging den andern Gauklern auf die Nerven.
»Hören Sie, Fraul«, schnarrte ihn gelegentlich Karl-Heinz Bonker an, »Ehrgeiz ist ja in Ordnung, aber müssen Sie ihn unentwegt auf der Trompete blasen, noch dazu so dicht bei meinen Ohren?«
»Mit vollen Hosen ist leicht stinken«, antwortete ihm Karl unbekümmert, und in der Kantine lachten sie etwas.
»Ach wat«, murrte Bonker ins Gelächter hinein, »ick hab ooch of kleeneren Häusern zu gaukeln begonnen.«
»Mir fehlt wohl die Provinz?«
»Sie sagen es.« Karl Fraul stand auf.
»Der Fraul ist abgereist. Er ist per Zug nach Graz.« Er zahlte, ging und ließ sich, als sei es kein Scherz gewesen, nach Graz engagieren. Er erhielt große Rollen und hatte Erfolg. Also holte ihn Schönn nach zwei Jahren wieder ans Haus zurück.
Nun probte er den Malcolm, unter der Regie von Dietger Schönn selbst. Nun konnte er der Astrid von Gehlen ins Gesicht schauen, sie spielte die Lady Macbeth. Macbeth wurde von Felix Dauendin gegeben, dem großen Star, den sich Schönn ebenso wie Bonker und die Gehlen und noch einige andere aus Deutschland mitgenommen hatte.
Nachdem er den Geburtstagsbesuch hinter sich gebracht hatte, erleichtert, wieder aus dem Haus zu sein, ging er ins Pick Up, stellte sich an die vordere Theke.
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