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Das Wesen der Zeit
Eine Zeitreise Millionen Jahre in die Vergangenheit; eine Zukunft, in der es möglich ist, Menschen immer wieder zu kopieren; ein faszinierendes Spiel mit der Tatsache, dass unser Universum nur eines von vielen ist … Mit
Der letzte Tag der Schöpfung,
Midas und
Das Cusanus-Spiel hat Wolfgang Jeschke drei Romane geschrieben, die zum Besten gehören, was die Science Fiction zu bieten hat. Nun sind diese Romane erstmals in einem Band versammelt.
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Seitenzahl: 1616
DAS BUCH
Der letzte Tag der Schöpfung: Archäologische Funde bestärken die amerikanische Regierung in der Annahme, dass sie mit dem geheimsten ihrer Projekte Erfolg haben könnte: Mittels Zeitmaschinen Millionen Jahre in die Vergangenheit zu reisen und die Menschheitsgeschichte zugunsten der USA zu verändern. Noch ahnt niemand, dass damit eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes heraufbeschworen wird.
Midas: Rätselhafte Meldungen tauchen seit einiger Zeit in den Nachrichten auf: Menschen, die eigentlich tot sein sollten, werden auf offener Straße gesichtet. Und andere Menschen behaupten, dass es nicht sie seien, um die es in den Meldungen geht, sondern Doppelgänger. Wer ist dafür verantwortlich? Und was hat das alles mit dem MIDAS-Projekt zu tun, für das diese geheimnisvollen Doppelgänger gearbeitet haben? Ein Rennen gegen die Zeit beginnt.
Das Cusanus-Spiel: Europa im Jahr 2052. Die Biologin Domenica Ligrina wird für ein atemberaubendes Unternehmen angeworben: Sie soll im Deutschland des 15. Jahrhunderts Pflanzen und Samen sammeln, die in der Gegenwart für die Renaturierung der nach einem atomaren Unfall verstrahlten Gebiete benötigt werden. Doch nicht jeder Zeitreisende kehrt zurück – und wenn er zurückkehrt, kann es sein, dass sich seine Gegenwart unwiederbringlich verändert hat.
Diese einmalige Sonderausgabe versammelt die drei berühmtesten Romane von Wolfgang Jeschke erstmals in einem Band.
DER AUTOR
Wolfgang Jeschke, 1936 geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie und war lange Jahre als Lektor und Herausgeber tätig. Daneben schrieb er zahlreiche Erzählungen und Romane, die das Bild der Science Fiction in Deutschland nachhaltig prägten. Jeschke wurde mehrmals mit dem renommierten Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Zuletzt ist im Heyne-Verlag sein Roman Dschiheads erschienen.
Redaktion: Alexander Martin
Copyright © 2013 by Wolfgang Jeschke
Copyright © 2013 des Nachworts by Sascha Mamczak
Copyright © 2013 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-10428-3
www.heyne.de
Inhalt
Der letzte Tag der Schöpfung
Midas
Das Cusanus-Spiel
Nachwort
Der letzte Tag der Schöpfung
Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.
Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor
lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art:
Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden,
ein jegliches nach seiner Art.
Und es geschah also.
Und Gott machte Tiere auf Erden,
ein jegliches nach seiner Art,
und das Vieh nach seiner Art,
und allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art.
Und Gott sah, dass es gut war.
Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen,
ein Bild, das uns gleich sei …
Erstes Buch Moses 1, 23–26
Prolog
1959 war Steve Stanley sechzehn Jahre alt. Er hatte seine Kindheit in Paris und Rom verbracht, wo sein Vater Auslandsvertreter eines amerikanischen Pharmakonzerns war. In die USA zurückgekehrt, besuchte er das College in Springfield, Ohio, wollte Flugzeugbau studieren und Pilot werden. Nach Abschluss des Examens meldete er sich zur Air Force.
1959 entdeckte der amerikanische Geheimdienst im Umkreis des westlichen Mittelmeerraums Spuren, die auf ein Projekt hinwiesen, das die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, radikal verändern sollte.
1968 war Steve Stanley fünfundzwanzig und gehörte zu den besten Piloten der amerikanischen Luftwaffe.
1968 wurden unter strengster Geheimhaltung und strikten Sicherheitsmaßnahmen in den USA die Vorbereitungen zu einem Projekt getroffen, das die US-Navy in Zusammenarbeit mit der NASA zu verwirklichen gedachte und das in der Geschichte der Menschheit einzigartig sein sollte.
1977 war Steve Stanley vierunddreißig und arbeitete als Testpilot bei Rockwell. Er verlor seine Stellung, als Präsident Carter die Entscheidung traf, dass die B-1 nicht in Serie gehen solle. Steve Stanley bewarb sich daraufhin bei der NASA, die für die geplanten Shuttle-Flüge erfahrene Piloten suchte.
1977 lief das geheime NASA/Navy-Projekt bereits auf Hochtouren, obwohl einige der beteiligten Wissenschaftler seit geraumer Zeit dringend vor den sich abzeichnenden Konsequenzen warnten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war nämlich allen Eingeweihten klar, dass nicht alles nach Plan verlief. Die Militärs schlugen die Warnungen in den Wind und forcierten das Projekt mit allen Mitteln, obwohl inzwischen sogar Laien auffiel, dass im Seegebiet westlich der Bermudas seltsame Dinge geschahen. Der CIA kamen die wilden Spekulationen über das sogenannte Bermuda-Dreieck nicht ungelegen, und sie trug durchaus dazu bei, die obskure Gerüchteküche anzuheizen, damit kein Wissenschaftler auch nur daran dachte, sich ernsthaft mit den rätselhaften Phänomenen zu befassen.
Kurz darauf erschien der Name Steve Stanley auf einem Computerausdruck unter den Namen der Kandidaten, die man für die Teilnahme an dem Geheimprojekt in die engere Wahl gezogen hatte. Die Liste benannte Spezialisten aus einigen Bereichen der Wissenschaft, der Technik und der Logistik sowie ehemalige Angehörige der kämpfenden Truppe, die ganz bestimmte Anforderungen erfüllten.
Steve Stanley konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, was man von ihm forderte – ebenso wenig wie die anderen, die auf der Liste des Projektleiters Admiral William W. Francis standen. Sie alle hatten keine Ahnung, dass ihr Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen würde, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt haben mochten. Sie waren ausersehen, das Paradies zu betreten – doch es war nicht die Genesis, deren Zeugen sie wurden, sondern die Apokalypse.
Eines Tages war Steve Stanley spurlos verschwunden, und mit ihm verschwanden die meisten jener Leute spurlos, deren Namen der Computer aufgelistet hatte.
Spurlos?
Sie hinterließen Spuren.
Es war nur äußerst schwierig, sie zu erkennen, und noch schwieriger, sie zu deuten – besonders für diejenigen, die nicht ihre Zeitgenossen waren.
ERSTER TEIL
Spuren
Bohrlöcher
Als am 13. August 1970 die Glomar Challenger den Hafen von Lissabon verließ, um in der Balearensenke Bohrungen im Meeresgrund durchzuführen, erwarteten nicht nur Wissenschaftler Aufschluss über rätselhafte Phänomene, auf die man in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gestoßen war. Den Biologen und Ozeanografen ging es um die Klärung eines einschneidenden Vorgangs, der sich vor etwa fünfeinhalb Millionen Jahren ereignet haben musste und der den Übergang zwischen Miozän und Pliozän markiert. Er bedeutete für den Mittelmeerraum eine biologische Revolution, die mit einer drastischen Klimaveränderung in Europa verbunden war.
Die Expedition der Glomar Challenger wurde von der National Science Foundation finanziert und unter Aufsicht der Scripps Institution of Oceanography durchgeführt. Am Nachmittag des 23. August wurde das Forschungsschiff hundert Meilen südlich von Barcelona elektronisch verankert und in zweitausend Metern Meerestiefe die erste Bohrung niedergebracht. Weitere Bohrungen folgten.
Die Ergebnisse bestätigten die Hypothesen von William E. B. Benson von der National Science Foundation und Orville L. Bandy von der University of Southern California. Sie bestätigten auch einige abenteuerliche Vermutungen von hohen Militärs im Pentagon, die mit einem militärischen Projekt beschäftigt waren, das sich Ende der Sechzigerjahre, auf dem Höhepunkt des Apollo-Programms, in Umrissen abzeichnete. Auf den Pressekonferenzen in Paris und New York, auf denen die Ergebnisse der Expedition bekannt gegeben wurden, hielt man vorsorglich einige Informationen zurück. Sie betrafen ein bei den Bohrungen zutage gefördertes Material, das man zunächst nicht identifizieren konnte, bei dem es sich jedoch um das schwerwiegendste Argument handelte, das die Befürworter des Projekts vorzubringen hatten. Dieses Argument bewog Präsident Nixon Mitte Februar 1971 – der Flug von Apollo 14 war gerade erfolgreich beendet worden –, das Raumfahrt-Budget der NASA drastisch zu kürzen, um Gelder für das Projekt bereitzustellen, das, zunächst als »Sealab« getarnt, in Zusammenarbeit von Navy und NASA vorbereitet wurde.
Die Ergebnisse bestätigten einige rätselhafte Details, die der Geheimdienst zusammengetragen hatte. Der erste Hinweis stammte aus dem Jahr 1959. Er kam aus dem französischen Verteidigungsministerium und war höchst alarmierend, da man keinerlei Erklärung für den Umstand hatte. Er wurde als »Artefakt 1« gekennzeichnet. Commander Francis, ein erfahrener Mann von der waffentechnischen Entwicklungsabteilung der US-Navy, wurde mit den Nachforschungen beauftragt. Er stieß aber erst 1968 auf ein weiteres sicheres Detail, das in diesen speziellen Zusammenhang passte: »Artefakt 2« war gefunden. Es stammte aus der Schweiz. 1969 tauchte eine Information auf, die der Geheimdienst im Vatikan aufgestöbert hatte. Sie wurde als »Artefakt 3« unter Verschluss genommen. Das Mosaik setzte sich Stück für Stück zusammen. Das Bild rundete sich – und allmählich nahm auch die wissenschaftliche Basis des Unternehmens die Form an, wie Francis und seine Mitarbeiter es längst vermutet hatten. Zu diesem Zweck wurden seit mehr als einem Jahrzehnt alle Publikationen auf dem Gebiet der theoretischen Physik weltweit gesichtet und ausgewertet.
ARTEFAKT 3: Die Flöte des hl. Veit
Anachronismen sind schwer zu erkennen. Man muss Zeitgenosse von Dingen sein, um sie anhand ihrer Funktion und ihres Aussehens einzuordnen, oder ein Spätgeborener, der von ihnen aus Überlieferungen weiß. Dem Frühgeborenen werden sie allenfalls als Kuriositäten erscheinen – oder als magische oder heilige Gegenstände, ganz nach Einfalt des Herzens, nach Gläubigkeit oder wissenschaftlicher Einsicht.
Tatsächlich gab es seit Jahrhunderten Hinweise darauf, dass im westlichen Mittelmeerraum irgendwann in vorgeschichtlicher Zeit ein Ereignis stattgefunden haben musste, das man als »Zeitfraktur« bezeichnen könnte. Es waren merkwürdige Funde, die im Küstengebiet von Südspanien und Süditalien, auf Malta, Sardinien, Korsika und den Balearen, vor allem aber in Sizilien gemacht wurden und die man ihrer nahezu unzerstörbaren Beschaffenheit und Unerklärlichkeit wegen weit und breit als Reliquien verehrte und zum Teil heute noch verehrt. Es handelt sich in der Regel um Splitter eines leichten Materials von schmutzig weißer bis gelblich brauner Färbung, das man für sehr altes Elfenbein halten kann oder für Überreste von Totenschädeln und Knochen, die das Meer und der Sand in Jahrhunderten glatt geschliffen und so bis zur Unkenntlichkeit deformiert haben. Umso mehr findet die Phantasie Anreiz, in diese beinernen Fragmente Gestalt, Geschichtlichkeit, gar Heiligkeit zu legen und sie als wunderbarerweise gerettete Körperteile aller möglichen Heiligen zu interpretieren, die einst auf Erden wandelten.
So wird in San Lorenzo, unweit von Reggio, in Calabrien seit mehr als fünfhundert Jahren ein zwanzig Zentimeter langes Stück dieses Materials als der Zeigefinger des Propheten Jeremias verehrt. In Algeciras vor Gibraltar bewahrt man ein Bruchstück von quadratischer Form und etwa zwölf Zentimetern Seitenlänge als Reliquie auf, die angeblich die Schädeldecke Johannes des Täufers darstellt, dessen abgeschlagenes Haupt auf wunderbare Weise an spanische Gestade geschwemmt wurde. Und in mindestens siebenunddreißig Kirchen Siziliens ruhen Finger- und Zehenknöchelchen, Ober- und Unterkiefer, Rippen und Schienbeine von mindestens siebenundzwanzig Heiligen, Propheten und ähnlichen verdienstvollen Männern und Frauen.
Der merkwürdigste Fund indes ruhte bislang in einem Silberschrein zu Sta. Felicità in Palermo: das Allerheiligste des hl. Veit oder Vitus, wie er dort genannt wird. Vitus, als Heiliger heute unter anderem zuständig für Bierbrauer und Bergleute, Epileptiker und Kesselschmiede, Schauspieler, Apotheker und Winzer, angefleht bei Bettnässen und Feuersbrünsten, Schlangenbiss und Tollwut, Veitstanz und Fallsucht, Aufregung und bedrohter Keuschheit, stammte aus Mazara del Valla an der Südwestküste Siziliens und hatte bekanntermaßen unter den Häschern Diokletians um 304/305 Schreckliches zu erleiden. Er war der Sohn eines wohlhabenden Heiden namens Hylas und trat zu dessen Verdruss schon im zarten Alter von sieben Jahren der Sekte der Christen bei. Um den Nachstellungen des erbosten Vaters zu entgehen, floh er mit seiner Amme Crescentia und seinem Erzieher Modestus nach Lukanien. Er wurde jedoch erkannt, ergriffen und nach Rom gebracht, wo man ihn auf besonders grausame Weise vom Leben zum Tode befördern wollte, indem man ihn in einen Kessel siedendes Öl steckte. Engel retteten ihn im letzten Moment aus der Frittüre und trugen das arme Kerlchen zurück in die ferne Heimat, wo er aber bald darauf gestorben sein soll.
Im Jahre 583 begann man die sterblichen Überreste des Märtyrers zu zerlegen. Während der Leib nach Unteritalien überführt wurde, blieb das abgetrennte Glied in Sizilien. Der rührige Abt Fulrad von St. Denis ließ den verstümmelten Leichnam 756 in sein Kloster bringen, doch nicht alle seiner Nachfolger scheinen dem ölgesottenen Veit die gleiche Hochachtung entgegengebracht zu haben, denn Abt Hilduin schenkte die Leiche 836 dem Weserkloster Corvey. Dort wurde der Märtyrer – inzwischen zum Reichspatron avanciert – weiter zerlegt; 922 erhielt Herzog Wenzel einen Arm, als er zu Ehren Veits in Prag eine Kirche bauen ließ, eben an der Stelle, wo sich heute der berühmte Veitsdom auf dem Hradschin erhebt. 1355 versuchte Kaiser Karl IV. die fehlenden, in alle Winde verstreuten Teile der sterblichen Hülle einzusammeln, konnte aber nur in Pavia ein paar Knöchelchen erwerben, von deren Echtheit die Gottesgelehrten nie so ganz zu überzeugen waren. Heute gibt es mehr als einhundertfünfzig Orte in Mittel- und Südeuropa, die Körperteile des Heiligen zu besitzen glauben.
Die delikateste Reliquie, der Veit das Patronat über bedrohte Keuschheit verdankt, tauchte im zehnten Jahrhundert in Palermo auf. Sie wird urkundlich erwähnt im Jahre 938 anlässlich des Neubaus der Kirche von Sta. Felicità, wo sie einen sicheren Hort fand. Welch ungewissem Schicksal sie während der verflossenen dreihundertfünfundfünfzig Jahre ausgesetzt gewesen war, verschweigen uns die Legenden, die sich sonst so üppig um die Gestalt des jugendlichen Märtyrers ranken.
Eine lokale Überlieferung will ihren Ursprung wissen und kommt der Wahrheit möglicherweise ziemlich nahe: Ein braver Fischersmann namens Rosso war des Nachts von einem Sturm überrascht und weit hinaus aufs Meer verschlagen worden. Er litt zwei Tage und zwei Nächte lang Unsägliches, bis der Sturm sich endlich legte und er am Morgen des dritten Tages wieder heimatliches Gestade sichtete. Als er sein Netz einholte, befand sich neben zwölf Fischen (dieser Zahl ist freilich zu misstrauen, denn gewiss handelt es sich um einen Hinweis auf die zwölf Apostel) ein seltsamer Gegenstand darin: ein gekrümmtes, schlauchähnliches, geripptes Gebilde von anderthalb Fuß Länge und einer halben Spanne Durchmesser aus einem unbekannten Material, das zugleich elastisch und brüchig wirkte und von blassgrauer Färbung war.
Dankbar für seine wunderbare Errettung übergab der Fischer seinen Fund dem Prior von Sta. Felicità, der das merkwürdige Ding unter Verschluss nahm, es vor allem den Blicken der Damenwelt entzog, da es möglicherweise zu unkeuschen Gedanken hätte Anlass geben können. So geschehen um die Mitte des neunten Jahrhunderts.
Wie durch ein Wunder überstand es unversehrt den Brand, der 922 das alte Sta. Felicità in Schutt und Asche legte. 932 wurde mit dem Bau des neuen Gotteshauses begonnen, wie es noch bis heute zum größten Teil erhalten ist.
Im Jahre 1277 erwirkte Ambrosius, ein junger und ehrgeiziger Prior von Sta. Felicità, beim Erzbischof von Palermo die Erlaubnis, beim Heiligen Vater um eine Beglaubigung der Reliquie anzusuchen. Papst Nikolaus III. konnte sich nicht entscheiden, obwohl er gleich zwei Expertenkommissionen nach Palermo entsandte, die das Gebilde an Ort und Stelle untersuchten. Dann ruhte der Antrag, bis Bonifatius VIII. 1296 eine dritte Expertenkommission schickte; doch erst 1303, kurz vor seinem Tode, konnte sich der Heilige Vater zu einer positiven Entscheidung durchringen und erteilte seinen apostolischen Segen.
Seit dem 13. Jahrhundert ruhte das seltsame Stück Schlauch, von höchster Instanz der katholischen Kirche als Sinnbild christlicher Keuschheit und Zeugnis erstaunlicher sizilianischer Mannbarkeit bestätigt, in einem kunstvoll ziselierten und mit Seide ausgekleideten Silberschrein, der nur alle hundert Jahre zur Feier des Centenariums von Sta. Felicità geöffnet und zur Schau gestellt wurde, damit jedermann das wundersam der Verwesung entzogene Glied des Heiligen in Augenschein nehmen könne.
Professor Angelo Buenocavallo, Lehrer der Medizin zu Palermo, verfasste über diese Reliquie – im Volksmund »Der Unaussprechliche des hl. Vitus« oder auch manchmal ganz ordinär »Il gazzo di Santa Felicità« genannt – 1439 eine gelehrte Abhandlung, in der er entschieden bestritt, dass es sich bei besagtem Gegenstand um ein menschliches Glied im Allgemeinen oder gar Besonderen handeln könne, auf welch wundersame Weise auch immer es sich durch das Sieden in Öl verändert haben möge, denn es weise anatomisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem solchen auf – von der Länge ganz zu schweigen. Zwar habe man etwa bei Schweineschwänzen wiederholt feststellen können, dass sie nach einiger Zeit in siedendem Öl aufquellen und schaumig verkrusten, wodurch sie größer und härter erschienen. Aber bei dem besagten Gegenstand handele es sich nicht um ausgebrutzeltes Fleisch, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach um Elfenbein. Alles deute eher darauf hin, dass es sich um eines jener heidnischen, aus Elfenbein gefertigten Musikinstrumente handeln könne, auf denen muselmanische Musikanten ihre schaurigen Töne hervorbrachten, die angeblich der Stauferkönig bei Hof so gern mochte.
Buenocavallo erhielt von seiner Fakultät keine Druckerlaubnis. Neider denunzierten ihn bei kirchlichen Stellen, er habe auf häretische Weise das Glied des hl. Vitus mit ausgebrutzelten Schweineschwänzen verglichen. Die Schrift wurde konfisziert und öffentlich verbrannt. Das tapfere Professorlein entging mit Not der Anklage wegen Ketzerei und erhielt zwei Jahre Lehrverbot. Er ging nach Padua, wo er noch drei fruchtbare Jahrzehnte als Anatom wirkte. Sein Ruhm drang weit über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus.
Inzwischen ruhte das Musikinstrument des hl. Vitus in seinem Silberschrein, widerstand dem Zahn der Zeit, überdauerte die Jahrhunderte und geriet fast in Vergessenheit.
Als 1938 der Schrein anlässlich der Tausendjahrfeier von Sta. Felicità erneut geöffnet und das hl. Glied den Blicken des Publikums preisgegeben wurde, nahm ein gewisser Luigi Risotto, Gymnasiallehrer in Tarent und im Ersten Weltkrieg an eben jener Stelle versehrt wie einst der berühmte Abaelard zu Paris, die Reliquie besonders gewissenhaft in Augenschein. 1939 erschien im Tarentiner Blättchen für Lehrerbildung ein Aufsatz, in dem Luigi Risotto die Echtheit der Reliquie entschieden bezweifelte. Er nannte es einen ungeheuren Skandal, dass die katholische Kirche sich noch im 20. Jahrhundert erdreiste, ein Stück Schlauch, noch dazu dieser Länge und Beschaffenheit, als Geschlechtsteil eines Heiligen auszugeben und verehren zu lassen. Das sei Fortschreibung des finstersten Mittelalters und eine unverschämte Verdummung des einfachen gläubigen Volkes, und das zu einem Zeitpunkt, da die große Kulturnation Italien sich anschicke, auch politisch eine der bedeutendsten Nationen der Welt zu werden. Eine Schande sei das, ereiferte er sich.
Bei dem Ding handle es sich, so führte Risotto weiter aus, um nichts anderes als um ein geripptes Stück Schlauch aus hart und brüchig gewordenem Gummiharz, wahrscheinlich das Verbindungsstück einer Wasserpfeife maurischen Ursprungs. Ihm entging in seinem aufklärerischen Elan und seiner einfältigen Gelehrsamkeit, dass dieses Stück Gummi bereits im 10. Jahrhundert urkundlich erwähnt und 1303 als Reliquie sanktioniert wurde, die Mauren aber erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Rauchtabak Bekanntschaft machten. Und was die Wasserpfeife betrifft: Sie wurde erst 1612 erfunden, und zwar von einem geschäftstüchtigen Kaffeehausbesitzer namens Ziad Kawadri zu Damaskus, der nach längerem intensivem Nachdenken die Nargileh zur gesteigerten Behaglichkeit der Gäste in seinem Lokal ersann. Von Damaskus aus trat dieser Quell orientalischer Behaglichkeit gurgelnd und blubbernd seinen Siegeszug an durch die muselmanischen Länder bis Budapest und Casablanca, bis Dar-es-Salam und Hyderabad.
Seit 1961 war auf Anweisung Johannes XXIII. eine vatikanische Gelehrtenkommission tätig, um in aller Stille den Reliquien-Dschungel auszuforsten. Es sollten in erster Linie all jene Fälle untersucht werden, die der Verehrung unwürdig, weil abgeschmackt, peinlich oder gar lächerlich seien. Im Verlauf von mehr als fünf Jahren hatte die Kommission 3786 derartiger Fälle zusammengetragen, von denen 1284 tunlichst sofort dem Vergessen anheimgegeben werden sollten. 1544 weitere, von deren Duldung auf längere Sicht abzuraten sei, sollten offiziell unerwähnt bleiben, und 958, die zwar stillschweigend geduldet werden könnten, sollten schließlich nur in Ausnahmefällen offiziell erwähnt werden.
Ein unerwartetes Ergebnis dieser Nachforschung war, dass in mehr als tausend Fällen die Reliquie aus einem Material von schmutzig weißer bis gelblich brauner Färbung bestand, das – wie die Beschreibung regelmäßig lautete – wie sehr altes, rissiges Elfenbein aussehe.
Die päpstliche Kommission erbat Proben von diesem Material und übergab sie dem physikalischen Kabinett des Vatikans, wo sie mit modernsten Methoden – unter anderem auch der Radiokarbon-Methode – untersucht wurden. Dabei machte man eine weitere überraschende Feststellung. Sämtliche Tests nach der Radiokarbon-Methode verliefen negativ, und das konnte nur eines bedeuten: Handelte es sich um organisches Material, also Knochen oder Elfenbein, Gummi oder selbst Bernstein, dann mussten sämtliche Proben älter als 30000 Jahre sein, denn weiter reicht die Datierung nach diesem Verfahren nicht in die Vergangenheit zurück. Wahrscheinlich waren die Proben sogar älter als 100000 Jahre. Also konnte es sich weder um den Zeigefinger des Propheten Jeremias noch um die Schädeldecke Johannes des Täufers, weder um das rechte Fußknöchelchen der hl. Genoveva noch um das Brustbein des hl. Paulus handeln.
Die Flöte des hl. Vitus – wie nicht anders zu erwarten, unter den peinlichen, tunlichst sofort dem Vergessen anheimzugebenden Reliquien eingereiht – wich zwar in Färbung und Konsistenz von der Fülle des anderen Materials ab, wies jedoch, als man sie später ebenfalls inkriminierte und untersuchte, dasselbe vorbiblische, ja unbiblische Alter auf. Des hl. Vitus echtes Glied musste als verschollen gelten. Was der Fischer Rossi nach Seenot und unter größten Mühen im Netz aus den Tiefen des Meeres geborgen hatte, war indes mit einem Mal erheblich interessanter – auch für die Gelehrten des päpstlichen physikalischen Kabinetts. Was sich da am Horizont als unscheinbare Trübung zu erkennen gab, konnte sich zu einem Sturm auswachsen, der geeignet war, an den Grundfesten der Heilsgeschichte zu rütteln. Wenn sich die Vermutungen als richtig erwiesen, konnte diese Entdeckung von ungeheurer Tragweite sein.
Und sie sollten sich als richtig erweisen.
Am 2. März 1969 traf in Palermo eine Gesandtschaft Pauls VI. ein. Sie überbrachte dem Erzbischof von Palermo ein persönliches Handschreiben des Heiligen Vaters, in dem dieser seine Eminenz bat, aus Gründen, die zu verschweigen er allerdringlichsten Anlass hätte, die in Sta. Felicità aufbewahrte Reliquie des hl. Vitus unverzüglich nach Sankt Peter zu überführen. Furchterfüllt müsse er Anzeichen zur Kenntnis nehmen, dass der Antichrist Jahrtausende der Heilsgeschichte mit einem Federstrich zunichtemachen, die Welt ihres ersehnten und erlittenen Heils berauben und sie nachträglich in Besitz nehmen könne.
Stirnrunzelnd, da verärgert über den offenkundigen Mangel an Vertrauen des Heiligen Vaters in seine Person, der ihn nicht über den Zusammenhang zwischen der schrulligen Reliquie und der drohenden Herrschaft des Antichrist unterrichtete, andererseits aber besorgt wegen der Dringlichkeit der Bitte, gab Seine Eminenz Anweisung, den Schrein in Sta. Felicità zu öffnen und den gewünschten Gegenstand wohlverpackt der Gesandtschaft auszuhändigen.
Nach mehr als tausend Jahren der Ruhe ging die Flöte des hl. Veit, Schlauchstück einer Wasserpfeife oder heidnisches Musikinstrument, auf die Reise. Ein Jahrtausend lang als Anachronismus unerkannt, versetzte sie nun plötzlich Physiker, Moraltheologen und Politiker gleichermaßen in Aufregung.
Am fünften März traf die Reliquie in Rom ein und wurde ungesäumt dem Heiligen Vater vorgelegt, der sie mit wachsendem Unbehagen in Augenschein nahm, seine schrecklichsten Ahnungen bestätigt sah und sich zum Gebet zurückzog.
Im physikalischen Kabinett hatte man inzwischen weitere Proben untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem Material weder um ein organisches noch um ein anorganisches handeln konnte, sondern dass es sich um ein synthetisches handeln musste. Dasselbe bestätigte sich bei dem etwas andersartigen Material, aus dem die Reliquie aus Palermo bestand. Darüber hinaus ähnelte »Il gazzo di Santa Felicità« ganz verblüffend dem gerippten Schlauch einer Atemmaske, wie sie Düsenjägerpiloten zu tragen pflegen.
Ungeklärt blieb allerdings vorerst die Frage, wie viele Jahrhunderte vor der Erfindung der Kunststoffe derartiges Material auftauchen konnte, das überdies zu jenem Zeitpunkt bereits Spuren extrem hohen Alters aufwies. Die Gelehrten des Vatikans standen vor einem Rätsel. Es gab weder eine wissenschaftliche Theorie, noch war eine technische Einrichtung vorstellbar, mit der sich der Sachverhalt hätte erklären lassen. Die Konsequenzen dieser fast undenkbaren Möglichkeit waren jedoch in höchstem Maße alarmierend.
Papst Paul VI. tagte mit seinen Gelehrten und Ratgebern in Permanenz. Nach langem Zögern rang er sich zu einer Entscheidung durch: Alle verfügbaren und beschaffbaren Proben dieser rätselhaften Materialien seien in eternitatem in den vatikanischen Archiven unter Verschluss zu nehmen und es gelte allerstrengstes Stillschweigen über sie zu bewahren.
So wanderte die Flöte des hl. Veit in das vatikanische Archiv mit der größten Sammlung merkwürdiger Gerätschaften, kurioser Apparaturen, Handschriften und Kunstwerke, die in anderthalb Jahrtausenden zusammengetragen wurde.
Was Paul VI. bei seinem weisen Entschluss aber nicht bedachte, war die Tatsache, dass die CIA sich grundsätzlich für alles interessiert und ihre Schnüffler allgegenwärtig sind. So hat der amerikanische Geheimdienst sozusagen auch ständig eine Nase unter dem Heiligen Stuhl, um jedes päpstliche Lüftchen zu registrieren, das dem Pentagon ins Gesicht blasen könnte. Und so bekam man in Washington bald Wind von den rätselhaften Funden und der Besorgnis im Vatikan – und wenig später Unmengen an Fotos und einige Proben des seltsamen Materials.
Captain Francis reckte kampflustig das Kinn, als er die auf seinem Schreibtisch ausgebreiteten Fotos mit der Lupe musterte. Was da unverhofft aus dem Vatikan eingetroffen war, passte genau in den gezeichneten Rahmen und zu den beiden Steinchen, die aus den Jahren 1959 und 1968 stammten, aus Algerien und von Gibraltar. Die Glomar Challenger musste mit Bohrungen in der Balearensenke die letzten Steinchen des Mosaiks liefern. Die Vorbereitungen zu dem Deep-Sea-Drilling-Projekt der National Science Foundation würden bald anlaufen, die Gelder für das Forschungsvorhaben standen bereit.
Francis warf einen Blick auf die schon etwas abgenutzten Kapitänsstreifen an seiner Uniformjacke. Es war höchste Zeit, dass er einen Schritt weiterkam, und er spürte befriedigt den Aufwind, den das Projekt mit der Sendung aus Rom erhalten hatte. Er würde auch ihn ganz nach oben reißen. Einer Beförderung zum Admiral stand dann nichts mehr im Wege.
Er zielte mit dem Plastiklineal und erschlug eine Fliege, die sich auf dem gestochen scharfen Foto der Reliquie niedergelassen hatte. Ein Blutfleck verunzierte den Unaussprechlichen des hl. Vitus, aber das störte Captain Francis nicht.
Er schabte sich mit der Kante des Lineals den Nasenrücken und lächelte, wobei er die Oberlippe mit dem schmalen Schnurrbart hob und die Zungenspitze zwischen seine großen gelben Schneidezähne und die Unterlippe schob. Er grunzte zufrieden.
Er war sehr, sehr zuversichtlich.
ARTEFAKT 2: Der Streitwagen von Gibraltar
Während sich Österreicher und Franzosen im Spanischen Erbfolgekrieg um den Thron stritten, brachten sich die Briten mit sicherem Blick fürs Wesentliche in den Besitz des wichtigsten Stützpunkts im westlichen Mittelmeer. Am Morgen des 4. August 1704 stürmten deutsche Söldner Gibraltar, nahmen es im Handstreich und hissten die Flagge Großbritanniens.
Der Dschebel al-Tarik, der Felsen des Tarik, so benannt nach dem berühmten arabischen Feldherrn, der hier mit seinen Truppen 711 Fuß fasste, um die Pyrenäenhalbinsel zu überrennen, ist ein Klotz aus Jurakalk, der zusammen mit dem auf afrikanischer Seite westlich von Ceuta gelegenen Dschebel Musa einen schmalen Riegel bildete, der einst den Atlantik vom Mittelmeer trennte. Da im Mittelmeerbecken mehr Wasser verdunstet, als ihm von Flüssen zugeführt wird, ist ein ständiger Zustrom von Wasser aus dem Atlantik die Folge. Diese Wassermengen haben im Laufe der Jahrmillionen eine Bresche von mehr als dreihundert Metern Tiefe und vierundzwanzig Kilometern Breite gesägt: die Straße von Gibraltar. In die südliche Flanke des Felsklotzes von Gibraltar frästen sie zwei Terrassen, den Windmill Hill und die Europa Flats, die zur Punta de Europa hin abfallen und sich geradezu ideal zur Befestigung eignen. 1714 mit dem Friedensvertrag von Utrecht im Besitz bestätigt, begannen die Engländer mit dem Ausbau zum Flottenstützpunkt.
Es hat in Spanien nie an Stimmen gefehlt, die die Rückgabe forderten; es gab sogar einige Eroberungsversuche, die jedoch kläglich scheiterten. Aber da England für die Spanier meist ein willkommener Verbündeter gegen Frankreich war, wie etwa während der Napoleonischen Kriege, blieb die britische Stellung, von der aus sich alle Flottenbewegungen zwischen Mittelmeer und Atlantik überwachen lassen, unangefochten.
Als Napoleon von der Bühne der Geschichte abgetreten war, mehrten sich wieder die Stimmen im Lande, die für eine »Befreiung« des Felsens plädierten. Zwar hatten die Stimmen kein Gewicht und die politischen Hitzköpfe waren mit der liberalen Revolution, mit der französischen Intervention und anschließend mit einem blutigen Bürgerkrieg zwischen Karlisten und den Anhängern der Regentin vollauf beschäftigt, doch da in Spanien alles, was auch nur entfernt nach Reconquista klingt, die nationalen Leidenschaften zu entzünden vermag, taktierten die Engländer auf Gibraltar behutsam und unauffällig. Jeder Zusammenstoß mit Einheimischen musste unweigerlich zu Querelen mit den europäischen Großmächten führen, die den Briten die strategische Position neideten und jede Schlägerei zwischen Matrosen der Royal Navy und spanischen Fischern zum »Freiheitskampf« emporstilisieren würden. Deshalb entschloss sich 1843 der Kommandant des Stützpunkts, Sir Walter Griffith, die Befestigungen über der Sandnehrung nordöstlich des Moorish Castle verstärken zu lassen. Im Herbst 1843 begannen die ersten Schanzarbeiten.
Das Gelände sollte möglichst unauffällig verändert werden, um den Nationalisten die Absicht zu verhehlen und nicht peinlichen Fragen in Madrid ausgesetzt zu sein. Die Leitung dieser Arbeiten lag in den Händen von Oberst Frank Gilmore, eines im Festungsbau erfahrenen Offiziers, der bereits in Ägypten als Berater Mohammed Alis tätig gewesen war, bevor sich dieser mit Großbritannien überwarf und die Londoner Konvention gegen den abtrünnigen Statthalter der Pforte geschlossen wurde. Gilmore war ein begeisterter Amateurarchäologe und bei Ausgrabungen in Nubien dabei gewesen. Von den anderen Offizieren wurde er scherzhaft »Gilmore Pascha« genannt.
Es wurden zunächst der lichte Buschwald abgeholzt und Gräben gezogen – angeblich um das Wassereinzugsgebiet für das südwestliche Reservoir zu erweitern. Um die Fundamente für die Kasematten in den gewachsenen Fels zu setzen, ließ Gilmore Pascha die Wurzelstöcke ausgraben und das lockere Erdreich – vor allem Mergel und Tonschiefer – abtragen. In etwa acht Fuß Tiefe stieß man auf eine harte Tonschicht. Gilmore ließ einen Stollen hineintreiben, um ihre Stärke festzustellen. Die Arbeiter waren mit ihren Spitzhacken kaum drei Fuß tief eingedrungen, als Ton zutage trat, der mit Rost durchsetzt schien.
Der Oberst ließ die Arbeiten sofort einstellen, um das Material zu untersuchen. Es handelte sich in der Tat um sehr stark verwittertes Eisen, aber auch um Spuren anderer Substanzen, darunter stumpfe Splitter eines granulierten Materials, bei dem es sich möglicherweise um Glas handeln mochte.
Daraufhin ließ Gilmore vorsichtig ein zwanzig mal zwanzig Fuß großes Areal Zoll für Zoll waagrecht abgraben, weil er zu Recht vermutete, auf ein Artefakt gestoßen zu sein. In etwa zwei Fuß Tiefe stieß man auf weitere Rostspuren, und tags darauf zeichnete sich an der Grabungsstelle ein rechteckiger Umriss von etwa sechs mal zwölf Fuß Größe ab.
Oberst Gilmore fertigte eine maßstabgetreue Zeichnung des Umrisses an und ließ weiter Schicht für Schicht abdecken. Nach jeweils fünf Zoll Tiefe wurde der Umriss von Neuem genau vermessen und eine weitere maßstabgetreue Skizze angefertigt, um den völlig verwitterten Gegenstand anschließend vertikal rekonstruieren zu können. Nach einem weiteren Fuß Tiefe war Gilmore felsenfest davon überzeugt, dass es sich nur um ein Artefakt handeln konnte. Als sich in zweieinhalb Fuß Tiefe der rechteckige Umriss zunächst auf einer Seite und in dreieinhalb Fuß Tiefe in seiner ganzen Fläche mit Rostspuren füllte, erkannte Gilmore, dass er die Überreste eines kastenähnlichen Gebildes vor sich hatte, wahrscheinlich eines Wagens, möglicherweise eines antiken Streitwagens, der hier im Schlamm versunken war. Der Schlamm musste ins Innere des Gefährts eingedrungen sein und den Innenraum völlig ausgefüllt haben wie der stützende Kern einer Gussform. Dadurch war das Fahrzeug sozusagen aufrecht stehend konserviert worden.
Mit Spatel und Pinsel bewaffnet, suchte Gilmore Pascha die Flanken des »Kastens« ab, um die Reste von Rädern zu finden, zunächst jedoch ohne Erfolg. Er wollte bereits aufgeben, weil er annahm, dass das Eisengefährt möglicherweise Holzräder besessen hätte, von denen keine Spuren mehr nachweisbar wären, als er vorn und hinten seitliche Auswüchse des »Kastens« entdeckte, die metallischer Natur waren und bei denen es sich sehr wohl um Räder oder Walzen gehandelt haben könnte. Das Fahrzeug hatte ursprünglich also vier Räder besessen, was bei einem antiken Streitwagen eine recht ungewöhnliche Konstruktion gewesen wäre.
Als Oberst Gilmore daranging, den Fund anhand der Horizontalskizzen vertikal zu rekonstruieren, schälte sich ein merkwürdiges Gebilde heraus, das eher einer leichten, niedrigen Equipage glich als jenen gepanzerten Streitwagen, die man von antiken Darstellungen her kannte.
Auf der einen Seite, die Gilmore instinktiv als »vorn« bezeichnete, schien sich ein größerer Metallblock befunden zu haben, der sich etwa bis zur halben Höhe der Seitenverkleidung über die Grundfläche des Chassis erhoben hatte. Ob es sich dabei um eine massive Plattform gehandelt haben mochte, auf der der Wagenlenker seinen Platz hatte oder Bogenschützen standen, oder um eine Waffe, eine Art Rammbock oder dergleichen, wagte er nicht zu entscheiden. Auf jeden Fall schien das Fahrzeug von eher plumper Konstruktion zu sein und denkbar unpraktisch – unnötig massiv im Chassis und vor allem an der »Plattform«, dagegen fahrlässig schwach gepanzert an den Flanken. Vielleicht hatten sich dort Holz- oder Lederschilde befunden, von denen nichts übrig geblieben war, sagte sich der Oberst. Dennoch war er mit dem Ergebnis unzufrieden, weil er seinen Fund nicht so recht einordnen konnte.
Gilmore hatte selbstverständlich den Kommandanten von der Angelegenheit unterrichtet, und dieser hatte ihm – innerlich amüsiert, aber nach außen hin wie immer sehr formell – gestattet, die Schanzarbeiten an der fraglichen Stelle für einige Zeit zu unterbrechen, damit der Festungsbaumeister sein »ägyptisches Steckenpferd«, wie er es nannte, reiten könne. Sir Walter war allerdings der Meinung, dass es sich bei dem ominösen »Rostfleck« allenfalls um ein Fahrzeug handeln konnte, das den Mauren im Schlamm versunken war, als sie den Dschebel al-Tarik eroberten und von hier aus ihren Nachschub kontrollierten.
Der Oberst widersprach der Meinung des Kommandanten nicht, doch er war Archäologe genug, um zu wissen, dass es sich bei dem »Rostfleck«, nach Beschaffenheit des Untergrunds und Tiefe des Fundorts zu schließen, um ein Artefakt aus vorchristlicher, spätestens karthagischer Zeit handeln musste – wahrscheinlich aber war der Fund noch wesentlich älter.
Diese Vermutung erhärtete sich, als Gilmore Pascha bei neuerlicher Untersuchung der Grabungsstelle auf stark zerfallene Knochenreste stieß, darunter auf einen Schädelknochen, der ein daumennagelgroßes Loch aufwies. Der Lenker dieses Fahrzeugs war also offenbar eines gewaltsamen Todes gestorben.
Was den Oberst indes irritierte, war die Tatsache, dass die Knochenreste in einem Zustand waren, der auf ein weit höheres Alter schließen ließ als drei- oder viertausend Jahre. Gilmore hatte in Ägypten Skelettfunde gesehen, die unter weniger günstigen Umständen als den gegebenen sich mindestens fünftausend Jahre fast vollständig erhalten hatten. Die Tonschicht, in welcher das Fahrzeug steckte, hätte den Leichnam über den zehn- oder gar zwanzigfachen Zeitraum hinaus konservieren müssen.
Oberst Gilmore war ratlos und bat Sir Walter um Erlaubnis, mit dem nächsten Schiff eine Nachricht an die Royal Society in London absenden zu dürfen, damit sich Spezialisten mit dem Fund befassten.
»Ausgeschlossen, Oberst«, entgegnete Sir Walter rundheraus. »Völlig ausgeschlossen. Ich kann es nicht verantworten, dass hier eine Horde Wissenschaftler auftaucht, die mich in der Wahrnehmung meiner militärischen Aufgaben behindert. Die Schanzarbeiten nördlich des Moorish Castle wurden ohnehin schon lange genug verzögert, weil ich Ihren ägyptischen Interessen nachgegeben habe. Ich muss darauf bestehen, dass sie nun zügig fortgeführt und abgeschlossen werden.«
»Aber mit Ihrer Erlaubnis, Sir …«
»Gewiss. Doch Sie werden verstehen, Oberst, dass ich es mir nicht leisten kann, eine Diskussion in der Presse zu provozieren, bei Schanzarbeiten seien auf der Landseite von Gibraltar archäologische Funde gemacht worden.«
»Bei Kanalisationsarbeiten für das Reservoir, Sir.«
Sir Walter winkte ungeduldig ab. »Ich würde einem Archäologen, oder wie Sie diese Leute nennen, doch zutrauen, dass sie Schanzarbeiten von Kanalisationsarbeiten unterscheiden können, Oberst Gilmore.«
»Sir, es könnte sich möglicherweise um einen der wichtigsten vorgeschichtlichen Funde in Europa handeln, und das auf dem Territorium Seiner Majestät.«
»Auf einem militärischen Territorium Seiner Majestät, für dessen Sicherheit ich verantwortlich bin, Oberst Gilmore.«
»Das ist mir selbstverständlich bekannt, Sir. Aber bitte verstehen Sie auch meine Situation. Ich bin kein ausgewiesener Archäologe, mir fehlen die Hilfsmittel und Möglichkeiten zu einer eingehenden Untersuchung, vor allem zu einer genaueren Datierung. Der Wissenschaft könnte ein unersetzlicher Verlust entstehen. Ich möchte die Verantwortung nicht länger allein tragen …«
»Die Verantwortung überlassen Sie getrost mir, Oberst. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Sie Ihren Fund etwas überschätzen. Sie tun ja geradezu, als hätten Sie das Gerippe eines Elefanten von Hannibals Armee entdeckt. Wahrscheinlich ist ein spanisches Bäuerlein im Rausch bei Nacht und Nebel vom Weg abgekommen und mit seinem Mistkarren im Sumpf abgesoffen. Wir wollen doch nicht so viel Aufhebens um diesen Rostfleck machen. Ich muss wohl nicht deutlicher werden, Oberst. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.«
»Jawohl, Sir.«
Es war sinnlos, Sir Walter blieb bei seiner Entscheidung. Allerdings gestattete er Gilmore Pascha, einen befreundeten Lichtbildner in London, der eine Zeit lang in Reading Talbots Gehilfe gewesen war und heimlich nach dessen neuem Verfahren arbeitete, zu benachrichtigen und ihn zu bitten, nach Gibraltar zu kommen, um ein paar fotografische Aufnahmen von der Fundstelle zu machen.
Drei Wochen später war Archibald Wesley zur Stelle und belichtete etwa vierzig Platten, um den Rostfleck für die Nachwelt festzuhalten und für eine nachträgliche wissenschaftliche Auswertung zu retten. Sowohl ihm als auch Oberst Gilmore wurde zur Auflage gemacht, vorläufig nichts über die Angelegenheit zu publizieren. Daraufhin wurden die Schanzarbeiten weitergeführt und der Rest der Tonschicht abgegraben.
Als Oberst Gilmore 1846 in den Ruhestand trat, hätte ihn gewiss niemand mehr daran zu hindern versucht, über seinen Fund zu berichten, aber merkwürdigerweise sah er davon ab. Vielleicht hatte sein innerer Widerstreit zwischen Forscherinteressen und militärischer Loyalität sich endgültig zugunsten letzterer entschieden. Wahrscheinlicher aber ist, dass er zu dem Schluss gelangt war, als Amateur mit seinen Skizzen und technisch noch recht unzureichenden fotografischen Aufnahmen die Fachwelt nicht überzeugen zu können, er sich im Gegenteil heftiger Kritik ausgesetzt hätte, weil es ihm nicht gelungen war, Sir Walter in wünschenswertem Maße die Wichtigkeit des Funds und die Notwendigkeit einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung durch Spezialisten klarzumachen. Seltsamerweise kam ihm nie zur Kenntnis, dass zwei Jahre nach seinem Rückzug ins Privatleben in Gibraltar ein weiterer Fund gemacht wurde. Man stieß bei erneuten Schanzarbeiten auf den Schädel eines Vormenschen, den man jahrzehntelang für den eines Menschenaffen hielt. Sir Walter Griffith war zu dem Zeitpunkt nicht mehr Kommandant von Gibraltar. Der Fund wurde in Fachkreisen bekannt, fand aber erst hundert Jahre später – nach den Forschungen der Leakeys – das Interesse der Spezialisten.
Als Gilmore Pascha am 25. Dezember 1874 hochbetagt in seinem Landhaus in der Nähe von Chatham bei London starb, fielen seine Unterlagen, den rätselhaften Streitwagen bei Gibraltar betreffend, der Vergessenheit anheim.
Sein Enkel Edward George Gilmore jr., ein erfolgreicher junger Architekt und begeisterter Automobilist, gab 1898 das Landhaus bei Chatham auf, um es zu renovieren und an einen reichen Textilfabrikanten aus Manchester zu verkaufen. Vor dem Umzug nach London Westend, wo er sich ein Haus gebaut hatte, machte sich Edward Gilmore jr. persönlich die Mühe, die zum Teil uralten Papiere und Briefe, die sich auf dem geräumigen Speicher des Landhauses angesammelt hatten, zu sichten, bevor er sie verbrannte. Dabei stieß er auf ein Bündel mit zweiunddreißig ziemlich stark vergilbten Fotografien, die auf der Rückseite in der Handschrift seines Großvaters säuberlich beschriftet waren, auf denen er aber nichts zu erkennen vermochte als die schwungvoll gestaltete Firmenbezeichnung »Archibald Wesley, Calotype Atelier, Chiswick« in der rechten unteren Ecke. Beigefügt waren ein sorgfältig verschnürtes kleines Papierpäckchen, das indes nur graubraunen, mit harten Krümeln durchsetzten Staub enthielt – offenbar Knochenstaub, dachte Mr. Gilmore jr., bevor er es achtlos wegwarf – und ein Bündel Skizzen von der Hand seines Großvaters, darunter eine Zeichnung, auf der sich unschwer ein Automobil erkennen ließ.
Edward G. Gilmore jr. hielt den Atem an. Das Blatt trug das Datum 12. März 1844. Moment mal, dachte er. Hatte der alte Oberst sich etwa heimlich als Erfinder betätigt? War er bereits 1844 drauf und dran gewesen, ein Automobil zu konstruieren? Seines Wissens hatte der alte Gilmore sich weniger für Technik als vielmehr für Ausgrabungen interessiert.
Mr. Gilmore betrachtete mit geübtem Auge die Zeichnung von allen Seiten. Die übrigen Skizzen stellten Risszeichnungen dar, die das Fahrzeug in verschiedenen Querschnitten zeigten. Um eine Kutsche handelte es sich auf keinen Fall, eher um ein Automobil, auch wenn es von recht merkwürdiger Form war, darauf deutete der Motorblock vorn hin. Er ging den gesamten Nachlass seines Großvaters durch, um weitere Hinweise auf dessen Erfindertätigkeit zu entdecken, aber vergeblich. Möglicherweise hatte es sich um ein Gerät für Erdbewegungsarbeiten oder um ein militärisches Vehikel gehandelt, das bei irgendeinem Spezialeinsatz oder im Festungsbauwesen Verwendung gefunden haben musste.
Mr. Gilmore jr. verlor das Interesse. Immerhin schien ihm der Fund bedeutsam genug, um ihn in seinem Tagebuch zu erwähnen und Skizzen wie Fotografien aufzuheben und mit nach London zu nehmen, als er einige Wochen später in sein neues Haus zog.
Dort ruhte Gilmore Paschas Nachlass, bis an einem verregneten Samstagnachmittag im September 1968 Patrick Geston, seit 1966 verehelicht mit Catherine Geston, geborene Gilmore, Enkelin des Architekten Edward G. Gilmore jr. und Tochter des Bauunternehmers Arthur Edward Gilmore, in einem Anfall von Nostalgie das Tagebuch des Großvaters seiner Frau zur Hand nahm und darin schmökerte. Dabei stieß er auf jene Eintragung über das automobilähnliche Vehikel, das sein Vorfahr angeblich 1844 skizziert habe. Darunter stand in der säuberlichen Druckschrift des erfolgreichen Jugendstil-Architekten: »Es sind noch weitere Risszeichnungen und auch 32 Fotografien dabei, die jedoch leider schlecht fixiert wurden. Es sind nur Flecken darauf zu erkennen.«
Patrick Geston, Deutsch- und Englischlehrer, auch Gelegenheitsübersetzer, Liebhaber von Science Fiction und all der Literatur, die sich mit den Grenzen der Wissenschaft befasst und den Dingen, die jenseits dieser Grenzen liegen, wurde stutzig. Er trank sein Bier aus, kletterte auf den Speicher und durchstöberte Truhen und Pappschachteln, Kisten und Körbe. Schließlich wurde er fündig.
In einem festen braunen Kuvert, auf dem mit Tinte in denselben schönen Druckbuchstaben der Architektenschrift »Großvater Gilmore Paschas Automobil« geschrieben stand, steckte der gesuchte Packen. Zuoberst befand sich die Zeichnung des »Automobils«.
Geston zuckte zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten.
Das Ding war unverkennbar ein Jeep oder Landrover, auch wenn die Form nicht ganz stimmte. Kotflügel und Räder fehlten, und die Kühlerhaube lag tiefer, so als sei sie abgesackt.
Wo um alles in der Welt war der alte Oberst Gilmore im Jahre 1844 einem Jeep begegnet? Zu einem Zeitpunkt, da noch nicht einmal der Benzinmotor erfunden war?
Geston atmete tief durch und hielt die Blätter so vorsichtig, als drohten sie, ihm zwischen den Fingern zu Staub zu zerfallen. Wahnwitzige Ideen von Zeitsprüngen und Zeitreisen schossen ihm durch den Kopf: Die Story »Hawk among the Sparrows« von Dean McLaughlin, die zwei Monate zuvor in Analog erschienen war; und die Zeitreisegeschichte eines deutschen Autors, dessen Name ihm nicht mehr einfallen wollte, die er in einem Science-Fiction-»Fanzine« gelesen hatte.
Er eilte hinunter in sein Arbeitszimmer und breitete mit zitternden Fingern die Fotos auf seinem Schreibtisch aus. Eine herbe Enttäuschung. Sie waren völlig vergilbt und wiesen braune Flecken auf. Einige davon zeigten bei exaktem Hinsehen zwar eine regelmäßige Struktur, aber was genau sie darstellten, daraus wurde er nicht schlau.
Dann legte er die achtundzwanzig Skizzen, chronologisch nach den Datumsangaben auf der Rückseite geordnet, hintereinander. Es war ihm sofort klar, dass es sich dabei um Querschnitte durch den »Jeep« handelte, und zwar von oben nach unten. Schließlich entdeckte er auch Ähnlichkeiten zwischen der Fleckenstruktur einiger der Aufnahmen und den Skizzen, die die untersten Querschnitte darstellten. All dies wies auf das Protokoll einer Ausgrabung hin.
Geston eilte hinaus ins Wohnzimmer und fragte atemlos seine junge Frau: »Was hat der alte Gilmore gemacht, Oberst Gilmore, dein Ur-Urgroßvater?«
Mrs. Geston blickte erschrocken von dem Buch auf, in dem sie las. Ein Regenschauer trommelte gegen die Fensterscheiben. »Was meinst du damit, was hat er gemacht? Offizier war er. Ich glaube, Festungsbaumeister oder so was. Warum willst du das plötzlich wissen?«
»Und warum nannte man ihn Pascha?«, setzte Patrick nach, ohne auf ihre Frage einzugehen.
»Herrje, was weiß ich? Doch – warte mal! Ist er nicht eine Zeit lang in Ägypten gewesen? Ich glaube, er ist in Ägypten gewesen.«
Ägypten! Das Wort wirkte auf Patrick Geston wie ein magisches Zeichen. Er eilte in die Küche, holte sich eine Büchse Bier aus dem Kühlschrank und riss sie mit zitternden Fingern auf, um den Sand des ganzen Orients hinunterzuspülen, der sich plötzlich auf seinen Schleimhäuten abgelagert zu haben schien.
»Und wann war das?«, fragte er, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte.
»Keine Ahnung, aber das muss sich doch feststellen lassen.«
Es ließ sich feststellen. Oberst Frank Gilmore war zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Ägypten gewesen. Er war 1840 von Alexandria nach London zurückgekehrt und im Jahr darauf nach Gibraltar abkommandiert worden, wo er bis zu seiner Pensionierung 1846 den Ausbau der Befestigungsanlagen geleitet hatte.
Gibraltar?
Geston war enttäuscht, doch er gab nicht auf. Er schrieb an die Royal Society und an die National Geographic Society, ob in oder bei Gibraltar Mitte der Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts archäologische Ausgrabungen durchgeführt worden seien. Von beiden Institutionen erhielt er den Bescheid, dass von archäologischen Grabungen in oder bei Gibraltar nichts bekannt sei, weder zur fraglichen Zeit noch zu einem späteren Zeitpunkt. Allerdings seien 1848 bei Schanzarbeiten Schädelreste eines Menschenaffen gefunden worden, die man neuerdings eher für die eines Vormenschen halte.
Gestons Enthusiasmus war nunmehr erheblich gedämpft. 1848 war der alte Frank nicht mehr in Gibraltar gewesen, sondern auf seinem Ruhesitz bei Chatham. Geston wusste nicht, wie er weiterkommen sollte. Er kannte jedoch einen deutschsprachigen Autor, der ein sehr erfolgreiches Buch über rätselhafte vor- und frühgeschichtliche Funde publiziert hatte. Geston hatte es ins Englische übersetzt und aus diesem Anlass wiederholt mit dem Autor korrespondiert. Ihm bot er nun das Material an, wobei er andeutete, dass er möglicherweise einer ganz großen Sache auf der Spur sei, aber nicht die Möglichkeit und die Mittel habe, sie weiterzuverfolgen.
Der Schriftsteller, der wie Oberst Gilmore Pascha Amateurarchäologe war, zeigte sich an dem Fund brennend interessiert und schlug vor, die Skizzen und Fotos nach gründlicher Prüfung in seinem nächsten Buch zu publizieren. Vielleicht könne man dadurch zu weiteren Hinweisen gelangen.
Da Geston das wertvolle Material nicht der Post anvertrauen wollte, wählte er einen ihm sicherer erscheinenden Weg, es dem Schriftsteller zu übermitteln. Er hatte im Deutschen Club in London einige Leute von der deutschen Botschaft kennengelernt, darunter auch den Botschaftsangestellten Dr. Werner Reichert, der zwei- bis dreimal pro Woche mit wichtigen und geheimen Schriftstücken im diplomatischen Gepäck zwischen Bad Godesberg und London hin- und herreiste. Dr. Reichert erbot sich, den Umschlag mit dem Material mit nach Deutschland zu nehmen.
Ein anderer Angestellter der deutschen Botschaft, der das Gepäck des Kuriers zusammenzustellen hatte, lichtete routinemäßig das gesamte für Bad Godesberg bestimmte Material ab und leitete die Kopien an den amerikanischen Geheimdienst weiter.
Drei Tage später hatte das Pentagon Kenntnis von dem merkwürdigen Fund von Gibraltar, der genau zu dem anderen rätselhaften Stück passte, das aus Algerien stammte und 1959 vom französischen Verteidigungsministerium übermittelt worden war.
Da auf den Ablichtungen der Fotos kaum etwas zu erkennen war, entschied Captain Francis, dass das Originalmaterial herbeigeschafft werden müsse, um die Kalotypien nachzubehandeln und mithilfe des Computers die Kontraste zu verstärken. Darüber hinaus müsse eine Publikation des Materials unter allen Umständen vermieden werden. Vielleicht ließe es sich einrichten, diesen Autor eine Zeit lang am Publizieren zu hindern. Im derzeitigen Stadium des Projekts wäre es verhängnisvoll, wenn die Gegenseite auch nur eine Andeutung der Aktivitäten erhielte, mit denen die US-Navy befasst sei.
Am 16. Oktober 1968 traf der Umschlag mit den Fotos und Skizzen in Bad Godesberg ein. Der Empfänger sah sich außerstande, die Sendung sofort persönlich abzuholen, da er auf einer Vortragsreise war, und beauftragte seinen Verlag, jemanden hinzuschicken und das Material in Empfang zu nehmen.
Am Montag, den 21. Oktober, fuhr eine Lektorin des Verlags nach Bad Godesberg und nahm die Sendung entgegen. Am Freitag der darauf folgenden Woche wurde sie in Düsseldorf dem eigentlichen Empfänger ausgehändigt, der das Kuvert öffnete und das Material flüchtig durchsah, da die Zeit drängte und er sich verspätet hatte. Er steckte den Umschlag in den Koffer und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof.
Vier Stunden später, auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Basel, verließ der Schriftsteller für etwa zehn Minuten sein Abteil Erster Klasse, das er zu diesem Zeitpunkt allein benutzte. Als er von der Toilette zurückkehrte, war sein Koffer aus dem Gepäcknetz verschwunden. Er benachrichtigte den Zugführer, der die Bahnpolizei alarmierte. Eine Untersuchung des Reisegepäcks an der Grenzstation in Lörrach blieb ergebnislos, eine weitere auf dem Hauptbahnhof von Basel ebenso.
Als er an diesem Abend verspätet zu Hause eintraf, fand er den Koffer bereits vor. Ein Unbekannter hatte seinen Namen benutzt und einen Taxifahrer beauftragt, das Gepäckstück zu ihm nach Hause zu bringen und seiner Frau auszurichten, er sei kurz aufgehalten worden und würde in spätestens einer Stunde eintreffen.
Der Koffer enthielt alles, was sich darin befunden hatte – nur der Umschlag mit den Fotos und den Skizzen fehlte.
Die Polizei fand angeblich nie eine Spur und brach die Ermittlungen bald ab. Kurz darauf wurde der Bestohlene unter obskurem Vorwand festgenommen und erst nach anderthalb Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen.
Captain Francis blickte in den Schnee hinaus, der dann und wann, von heftigen Windböen getrieben, fast waagrecht am Fenster vorbeiflog, doch er nahm ihn nicht wahr. Es schien eher, als fixierten seine Augen einen unendlich fernen Punkt.
»Warum ausgerechnet Gibraltar?«, murmelte er. »Die schwächste Stelle.« Er benetzte Daumen und Zeigefinger mit Spucke und bügelte gedankenverloren seinen schmalen Schnurrbart mit langsamen Bewegungen von innen nach außen. »Die allerschwächste Stelle.«
Hinter ihm auf dem Schreibtisch waren die Skizzen und Kalotypien von 1844 ausgebreitet. Daneben lag ein unförmiges, stark korrodiertes Stück Metall, das beinahe wie Holzkohle aussah, aber an einigen Stellen matt glänzte, wo Materialproben entnommen worden waren.
Es wird also Ausfälle geben, dachte er. Nun, wo gehobelt wird, fallen Späne. Und da würde gehobelt werden, weiß Gott. Wir sind dabei, den größten Coup der Weltgeschichte zu landen – buchstäblich.
Captain Francis lächelte, denn er war – wie immer – sehr, sehr zuversichtlich.
ARTEFAKT 1: Tiefenbachers Knarre
Axel Tiefenbacher, 1934 in Hanau bei Frankfurt geboren, war ein Waffennarr von frühester Jugend an. Er stahl und kaufte Schusswaffen, wann und wo er ihrer habhaft werden konnte. Und sie wurden schließlich sein Verhängnis.
1949 hatte er eine zweijährige Jugendstrafe zu verbüßen, weil er bei einer Wirtshausschlägerei mit Besatzungssoldaten im Frankfurter Stadtteil Bockenheim einen Sergeant der US-Army angeschossen und erheblich verletzt hatte. Bei der Durchsuchung der elterlichen Wohnung fand die Polizei in der unbenutzten Waschküche des bombengeschädigten Hinterhauses ein Waffenversteck, wie sie es bis dahin selten entdeckt hatte. Es enthielt über vierzig Pistolen aus etlichen Ländern, hauptsächlich aber Waffen aus Beständen der ehemaligen deutschen Wehrmacht und aus amerikanischen Heeresbeständen sowie eine Maschinenpistole russischer Herkunft; dazu Munition jeden Kalibers, das Rohr einer Panzerfaust mit Treibsatz und mehrere Eierhandgranaten amerikanischen Ursprungs.
Zur Herkunft seines Arsenals befragt, schwieg Tiefenbacher beharrlich. Nach seiner Haftentlassung 1951 ging es stetig bergab mit ihm. Er hatte kein Glück mehr, denn die Polizei hatte ein Auge auf ihn geworfen und verstand immer weniger Spaß, wenn sie ihn auf einer verdächtigen Tour erwischte.
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