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Augsburg, 1570. Während Freiherr Marx Fugger von der Lilie ein rauschendes Fest feiert, gibt sich seine Frau Gräfin Sybilla Fugger-Eberstein ihrem Liebhaber hin. Der Springer Arcangelo Tuccaro, der auf dem Fest seine Kunst vorführen soll, platzt unverhofft in den Ehebruch … Die fulminante Geschichte des historisch verbürgten Hofspringers Arcangelo Tuccaro beginnt in seiner Heimatstadt L’Aquila, führt vom Wiener Hof nach Augsburg und erlebt ihren Höhepunkt am Hofe König Karls IX. in Paris.
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Seitenzahl: 387
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Axel Gora
Der Luftspringer
Historischer Kriminalroman
Editorischer Hinweis:
Der unterschiedliche Grauwert der Typografie bei ausgesuchten Passagen ist kein drucktechnischer Fehler, sondern Absicht, die sich dem geneigten Leser im Zuge des Romans erschließt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: René Stein
Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes » Trois dialogues de l’exercise de sauter et voltiger en l’air« von Archange Tuccarro 1599 (Bibliothèque nationale de France); http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k882581s/f295.image
und »Topographia Sueviae: Augspurg« von Matthäus Merian 1643;
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:De_Merian_Sueviae_027.jpg
ISBN 978-3-8392-4238-4
Meinen guten Freunden,
sowie all den Fliegenden Roberts
und Luftspringern zwischen den Welten
mit ihren unvollkommenen
Salti mortali
»D’autant que ce saut ne se seroit peu faire sinon que preseque en volant, comme si un homme avoit des aisles comme un oiseau.«
»Diesen Sprung kann man nur beim Fliegen machen,
als hätte ein Mensch Flügel wie ein Vogel.«
Arcangelo Tuccaro, 1599
Augsburg, 12. Mai AD 1570
Geliebter G,
ich fiebere danach, Dich endlich wieder in meinen Armen, vor allem in meinem Schoß zu spüren.
Ich schreibe diese Zeilen in Eile. Die Weihe unserer Hauskapelle Sankt Sebastian durch Bischof Dornvogel steht in Kürze bevor. Pater Canisius ist schon zugegen.
Denke bitte an das Geld, es drängt!
In wenigen Augenblicken geht der Kurier zu Dir nach Wien und M darf wie immer nichts davon erfahren.
In sehnsüchtiger und
verborgener Liebe
S
Nb: Die getrocknete Kornblumenblüte von Dir bewahre ich an einem geheimen Ort auf. Es vergeht kein Tag, ohne dass ich sie mir ansehe und dabei an Dich denke.
Wien, 22. Mai AD 1570
Werte Sibylla,
seid bedankt für Eure Zeilen.
Es schmerzt mich, Euch in der monetären Verpflichtung Pater Canisius’ zu wissen, da dieser Umstand mich in arge Bedrängnis bringt.
Wie Ihr wisst, benötigen meine Experimente gewisse Summen, die ich selbst aufzubringen habe. Ich hoffe auf baldige Früchte meiner Arbeit.
Nichtsdestoweniger werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um meine Schuld an Euch bei Eurem baldigen Fest in Augsburg zu begleichen.
M.v.H.I.e.D.1
G
1 Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Diener
Stadtpalast der Fugger
Schweißperlen. Kleine und kleinste Tröpfchen. Im Schein von Fackeln und tausendundeiner Kerze glänzen sie auf Wangen, Nase und Stirn. Sie durchdringen die Brauen, machen sie schimmern wie nassen Pelz und rinnen in die Augen. Ihr Salz schmerzt, wässert den Blick, rieselt hinter den Ohren über den Nacken und bedeckt wie ein harziger Schleier Rücken, Brust und Bauch, gar Schenkel und Waden. Schweiß, dergestalt im Übermaß erfahren, bringt das Gemüt beträchtlich ins Schwanken.
Stocksteif stand Arcangelo im durchgeschwitzten Gewand und presste die Lippen aufeinander – im linken Knöchel pulsierte ein stechender Schmerz. Seit dem Sturz letzte Woche, bei der geheimen Vorführung des Sprungs am Wiener Hof, war er kaum zurückgegangen, trotz der Medikamente von Doktor Mercuriale. Wie hatte ihm da nur dieser Fehler unterlaufen können? Wie war es nur möglich gewesen, dass er an Prinzessin Elisabeth gedacht hatte in der letzten Sekunde vor dem Sprung? Wo er sich jeden Gedanken an sie verbot und durch die Missachtung die oberste Regel des Luftspringens brach:
Vor dem Sprung gibt es nur den Sprung
Während des Sprungs gibt es nur den Sprung
Nach dem Sprung gibt es nur den Sprung
Bei der Generalprobe vor der Abreise in die Fuggerstadt war nur Doktor Mercuriale präsent gewesen – einzig ihn hatte sich Arcangelo als Zeugen für den Sprung der Sprünge ausbedungen. In der Sekunde des Absprungs jedoch waren ihm urplötzlich und unverhofft zahllose Bilder durch den Schädel gefahren, hatten ihn, den bravourösen Springer, von einem Moment auf den anderen zum blutigen Anfänger gestutzt und ihn zu Fall gebracht.
Jetzt, inmitten des pompös geschmückten Innenhofs des Augsburger Stadtpalastes, musste er immer noch mit den fatalen Folgen kämpfen.
Mit dicht gestellten Beinen, die Knöchel aneinander gedrückt und fest bandagiert wie nie zuvor, stand er da, aufrecht und erhaben – nach außen eine aus Marmor modellierte Statue, geschliffen, glatt und kalt, innerlich jedoch glühte er –, in seinen Muskeln brodelte es, das Blut zirkulierte durch die Adern wie hindurchgeschleudert. Beine, Rumpf und Arme glichen einer gespannten Bogensehne kurz vor dem Zerreißen.
Acht. Arcangelo zählt stumm rückwärts bis zum Sprung. Nur noch sieben Zahlen, dann heißt es: Anlauf nehmen! Wird er jetzt nicht den Sprung der Sprünge wagen, wird er es niemals mehr. Dann hat die Angst, dieses verfluchte Gespenst, über ihn gesiegt, wie sie damals über seinen Vater gesiegt hatte und ihn zum Opfer seiner eigenen Kunst gemacht. Das darf nicht sein. Nicht jetzt. Nicht hier. Niemals.
Sieben. Er weiß, dass er diesen Sprung meistern kann, gleich den anderen Sprüngen, auch wenn er ihn nur ein einziges Mal zuvor versucht hat und dabei zu Fall gekommen ist; nicht technisches Unvermögen war der Grund gewesen – er besitzt die Sprungkraft und die Eleganz der Katzen – und auch nicht mangelnde Routine oder Erfahrung – er hat Tausende von Sprüngen absolviert; einzig der fessellose Geist war ihm für einen Wimpernschlag zum Feind geworden.
Sechs.In wenigen Sekunden wird Arcangelo sie zum ersten Malvor Publikum demonstrieren, die neue, einzigartige und verfänglichste Sprungfigur, die es je gab. Sie ist ihm geradezu Schrecken und Faszinosum zugleich. Er nennt sie Salto mortale –Todessprung. Es handelt sich um eine aufsteigende Sprungfigur, bei der sich Arcangelo am höchsten Punkt um seine Querachse dreht und für einen Augenblick kopfüber in der Luft steht, um hernach wieder sicher auf beiden Beinen zu landen. Diesen Salto wird er nicht einfach nur springen; er wird ihn über einen mächtig großen, aufrecht stehenden Mann vollführen. Das kommt dem Fliegen gleich!
Fünf. Die Tribünen des Innenhofs sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Ganz oben thronen die bedeutendsten Herrschaften, allen voran Kaiser Maximilian, Herrscher des Heiligen Römischen Reichs, im pelzbesetztem Seidenwams, Barett, goldener Kette und aufgebauschtem Pfeifenkragen. Rechts neben ihm sitzen der Gastgeber Freiherr Marx Fugger, kaum weniger prunkvoll ausstaffiert, und dessen Gemahlin Gräfin Sibylla von Eberstein, sich mit einem blutroten Fächer Luft zuwedelnd. Links neben Seiner Majestät thront Prinzessin Elisabeth, die Hände im Schoß verschränkt. Die Prinzessin ist keine Beliebige; sie ist Ihre Exzellenz Elisabeth von Österreich, die sechzehnjährige Tochter des Kaisers und Arcangelos Gebieterin. Sie ist der Grund seines Hierseins – Arcangelo gehört dem Kaiserlichen Tross nach Paris an, wo Elisabeth heiraten wird. Jetzt hat Arcangelo hier in Augsburg zu springen für die mächtigsten Herren des Reiches, bei diesem Fest, eigens für Elisabeths Durchreise veranstaltet.
Vier. Eine Reihe unter den Obersten haben sie Elisabeths Lehrer, den flämischen Diplomaten Ogier Ghislain de Busbecq, platziert, neben ihn den ersten der sechs Kaiserlichen Leibärzte Dottore Girolamo Mercuriale, den Hoftanzmeister Luca Bonaldi, den Kammerherren Gregorius Mayentracht und den ungarischen Festivitätsinitiator Géza Kertész.
Drumherum sitzen geladene Gäste von hohem und wichtigem Stand, wie die Stadtpfleger Heinrich Rehlinger und Paul Hainzel, der seinen guten Freund, den bekannten Astronom Tycho Brahe, bei sich hat. Sie alle warten gespannt auf die Kunstfiguren des italienischen Luftspringers.
Drei. Von den über Hundert Augenpaaren, den Blick, im Hämmern des Trommelwirbels auf ihn gerichtet, lassen ihn zwei besonders fiebern: das eine gehört Prinzessin Elisabeth, ihn hoffnungsvoll und zugleich mit Sorge ansehend. Wenn er hier auf diesem Fest versagt, ihren Ankündigungen seiner einmaligen Luftsprünge nicht gerecht wird, bedeutete dies nicht nur Schande über ihn, sondern schlimmer noch, unsägliche Blöße für sie und den Regenten.
Zwei. Das andere Augenpaar ist Marx’ Ehefrau Gräfin Sibylla zu eigen. Sie scheint jede seiner Regung zu verfolgen, jeden seiner Gedanken aufzuspüren und zu sezieren wie der Medicus einen Leichnam. Nichts in der Welt lässt sie ihren Blick von ihm abwenden, immerzu mit ihrem blutroten Fächer wedelnd. Sie weiß, dass der Springer dort unten ein Geheimnis hütet; eines, das zu hüten ihm nicht ansteht.
Eins. Arcangelo rinnt der Schweiß. Ihm ist übel wie lange nicht mehr, obwohl Doktor Mercuriale ihm die Tropfen verabreicht hat. Er fühlt sich fremd und unwirklich. Keuchen und Stöhnen. Ihm scheint, als sei die Welt samt Zeit um ihn herum erstarrt, als seien all die Menschen Puppen, ihre Gesichter aus Wachs, die Körper hölzerne Rümpfe. Ein Strom von Bildern und Tönen durchdringt ihn, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht als Leere im Kopf. Keuchen und Stöhnen. Doch wenn er die Lider schließt, drängt sich statt tiefem Schwarz gerade die Szene in sein Inneres, die er sich aus dem Schädel schlagen will: Geöffnete Frauenlippen. Zitternde Lider. Entblößte teigige Brüste quellen hervor zwischen haarigen Männerhänden. Ein Schnauzmund schmatzt zwischen weit geöffneten Schenkeln. Keuchen und Stöhnen. An schmalem Handgelenk baumelt ein zusammengeschobener Fächer. Lasziv ins Genick geworfener Kopf. Gelöstes Haar wallt über bloßgelegte Schultern. Keuchen und Stöhnen.
Null. Arcangelo reißt die Augen auf. Schluss mit den verdammten Bildern! Jetzt ist alles in einen bläulichen Schleier gehüllt. Träumt ihm? Er sieht Katzen springen und seinen Salto schlagen, den er jetzt und hier vor den schaulustigen Blicken vorführen wird, trotz der Schmerzen im Fuß und seines eigenartigen Zustands zwischen Euphorie und Angst. Jetzt! Jetzt muss er springen. Nichts kann ihn aufhalten. Die Bilder sind fort. Gott sei Dank. Er bekreuzigt sich, erhebt die Hand zum Gruß der lauernden Menge und nimmt Anlauf. Den ersten Schritt getan, kehren die Bilder im Kopf jedoch zurück. Geschürzte Frauenlippen. Zitternde Lider. Zweiter Schritt. Entblößte, teigige Brüste. Dritter Schritt. Lasziv ins Genick geworfener Kopf. Sechs kraftvolle schnelle Schritte läuft Silhouette eines Männerkopfes. Arcangelo Grazile Hände, in Richtung beringt mit Gold und Edelsteinen. des Riesen. Den Oberkörper nach vorn geneigt, Ein Fächer, zusammengeschoben, baumelt am Handgelenk, während die Knie gebeugt, die Arme parallel, holt er sich die Kraft für den Absprung, streckt den Körper, spannt ihre andere Hand nach seinem Geschlecht greift Oberschenkel und Waden noch mehr an und springt! Wie von einer Armbrust abgeschossen, schnellt er vom Boden in die Höhe Keuchen und Stöhnen und steigt. Er steigt und fliegt geradewegs über den Kopf des Riesen hinweg. Am obersten Punkt seines Fluges angekommen, schickt er sich an, die Drehung zu vollziehen. Er drückt sein Kinn gegen die Brust, zieht die Arme und die Ellbogen ganz dicht an sich heran. Die Hände umgreifen die Knie, die Füße klappen zum Gesäß, den vorher hochsteigenden Körper Sibyllas Lippen öffnen sich, formt er zu einer Kugel um einen Namen auszustöhnen? und …
Er blieb. Steif gewordene Feigheit saß da an der Mauerwand. Hitze war ihm in den Kopf geschossen, wo vor Minuten noch kalter Schweiß die Stirn bedeckte. Er fühlte sich so matt. So schwer. Zu keiner Regung fähig. Wie sollte er jemals die Kraft aufbringen, sich vom Boden zu lösen? Wie sollte er, die Beine trockene Binsen, der Rumpf modriges Holz, auch nur einen einzigen Schritt gehen können ohne zusammenzubrechen? Wie zu Vater gelangen? Wie dem Vater beichten mit zugewachsenem Mund? Beichten? Hatte er überhaupt gesündigt? War es eine Sünde, zehn Jahre lang ohne Vaters Wissen zu üben? War es ein Frevel, das geheimnisvolle Buch der Leibesübungen, Vaters einziges Buch, das er hütete wie einen Schatz, heimlich studiert zu haben, weil Vater ihn niemals auch nur einen einzigen Blick hatte hineinwerfen lassen? War es moralisch verwerflich, dass er die Übungen besser als er erfasste, nur durch das eingängigere Studieren der Bilder – der lateinische Text unergründlich – und das intensive Beschauen jedes Details? Arcangelo hatte die Fehler erkannt, die Vater bei der Ausführung der Übungen machte; er atmete oft im schlechten Rhythmus, spannte die falschen Muskelgruppen an oder wusste wohl gar nicht um Sinn und Zweck der Übung. Doch niemals war es Arcangelo möglich gewesen, noch würde es ihm möglich sein, Vater darauf hinzuweisen. Nicht, weil er dann des schändlichen Verbrechens der Hintergehung überführt gewesen wäre, sondern weil er es niemals hätte wagen dürfen, sein Wissen und Können über das des Vaters zu stellen – hatte Vater doch all seine Energie, seinen Ehrgeiz, seine Kraft und ganze Hoffnung in den zarten Sohn gesteckt, um aus ihm einen Seilgeher zu machen, der die Tradition des Großen Andrea Tuccaro ehrenvoll weitertrüge.
Vaters Eifer bei der Ausbildung war entgegen aller Beteuerungen geschwunden, als Arcangelo den Status des einzig Geborenen verloren hatte, als seine beiden Schwestern nach schwerer Schwangerschaft der Mutter entbunden wurden und heranwuchsen. An Arcangelos fünfzehntem Geburtstag hatte seine Lehre geendet. Er habe in der zehnjährigen Schulung alles erlernt, was es zu erlernen gäbe, hatte Vater ihn aufgeklärt. Er solle nicht überheblich werden; er sei weit davon entfernt, perfekt zu sein. Wahre Perfektion werde er erst erlangen, wenn er viele Tausend Male den Gang übers Seil getan habe, hatte Vater doziert, ihn das Seil hinaufgeschickt und Alice in den Arm genommen.
»Gelo! Da bist du. Wir haben dich überall gesucht.«
»Steh auf und komm! Wir wollen essen!«
Er sah hoch. Giula und Alice standen vor ihm, Weißbrot und Rotwein in den Händen.
»Esst ohne mich. Ich habe keinen Hunger.«
»Wie du meinst. Komm Giula, wir gehen.«
»Du musst was essen, dass du bei Kräften bleibst!«
Giula reichte ihm die Hand, während Alice sich bereits abwandte. Die beiden Mädchen sahen sich bis auf Giulas handgroßes Feuermal am Hals zum Verwechseln ähnlich, doch war Alice das komplette Gegenteil von ihr, egoistisch, eifersüchtig und zänkisch. Allein Giula sorgte sich stets um Gelo. Alice hingegen kümmerte er nicht, und umgekehrt. Gelo hatte jahrelang ihr die Schuld an Mutters Tod gegeben – sie war bei Alices Geburt, Giula war die Erstgeborene, gestorben. Zudem neidete er ihr Vaters Liebe. Alice hingegen missgönnte ihm das Seilgehen - Frauen durften sich in dieser Kunst nicht üben.
Gelo erhob sich schwerfällig. Giula klopfte ihm den Staub von den Kleidern und hakte sich bei ihm ein.
»Es ist wegen Vater, stimmt’s? Ich habe noch nie so viel Verzweiflung in seinen Augen gesehen wie heute.«
»Er darf nicht mehr aufs Seil. Selbst wenn sein Gang heute glimpflich verlaufen ist, morgen kann alles zu spät sein.«
»Alice meint, es sei die Sonne. Ich glaube nicht, dass es nur das ist.«
»Ich wollte am Waschplatz mit ihm reden, nur fehlte mir die Kraft.«
»Versuch es beim Essen.«
Die Tuccaros hatten mit einer Handvoll anderer Gaukler Quartier bezogen unter den Arkaden des Mercato coperto, der lang gezogenen Markthalle, unweit der Piazza del Duomo. Die Markthalle selbst war als Unterkunft tabu; über die Jahre hatten sie sich mit anderen Gauklern ihren Platz an der Rückseite der Halle erstritten, in Mauernischen und hinter Bretterverschlägen, zwischen gestapelten Kisten, Fässern und Kornsäcken. Anfangs hatte man die Künstler auch da nicht gewollt; die Händler waren in Sorge um ihren Lagerbestand. Schließlich hatte man eine Lösung gefunden: Jeder Fahrende, der um einen überdachten Platz ersuchte, musste sich offiziell mit Namen, Gauklerkunst und Dauer der Quartiernahme in eine Liste eintragen oder, des Schreibens unkundig, eintragen lassen. Nach der Inspektion des zugewiesenen Platzes durch Marktaufseher und Quartiernehmer hatte Letzterer eine Kaution zu entrichten, die er bei anstandslosem Verlassen wieder ausbezahlt bekam. Bei Schäden oder Verlusten wurde sie einbehalten; so geschehen bei den zwei venezianischen Lautenschlägern, die im Streit um die Einnahmen alles kurz und klein schlugen, oder dem Taschenspieler aus Bergamo, dem die Unterkunft abbrannte, weil er am wärmenden Feuerchen eingeschlafen war und die Flammen die Latten des Verschlages samt Decken und Tüchern fraßen. Er kam lebend davon. Anders verhielt es sich mit den drei florentinischen Schwertschluckern, die sich einer Hure wegen regelrecht abschlachteten; mit ihren sonst stumpfen Degen, messerscharf geschliffen, tranchierten sie sich gegenseitig bis auf die Knochen. Sie blieben nichts schuldig, außer der Reinigung der blutbespritzten Bänke und dem Wegschaffen der halb zerstückelten Leichen.
Die beiden Schwestern, Gelo und Vater saßen auf den Pritschen an einem Holztisch vor Essbrett und Zinnbecher. Vater brach den Fladen, schnitt den armdicken Wurststrang in Scheiben und verteilte beides zu gleichen Teilen. Giula schenkte den Wein ein, Alice zählte die Oliven ab und gab jedem davon.
Gelo rührte nichts an.