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Fassung in aktueller Rechtschreibung Während seiner Zeit als Lokalreporter in Prag kam Kisch die Inspiration für seinen Roman aus dem Zuhälter- und Prostituiertenmilieu Prags. Es sollte sein einziger Roman bleiben. Das Buch sollte übrigens schon recht früh als Stummfilm auf die Leinwand kommen. Kisch, orientiert am "vertikalen Journalismus" eines Kurt Tucholskys, hatte keine Berührungsängste gegenüber den sozialen Außenseitern der damaligen Zeit. Er schilderte das Leben der Nutten, Zuhälter und kleinen Ganoven und des hoffnungslosen Proletariats auf der Suche nach ihrem Stück vom Glück. Der junge Jarda Chrapot, ein Bewohner des heruntergekommenen Vergnügungsviertels von Prag, sieht vermeintlich nur eine Zukunft als Zuhälter vor sich. Gemeinsam mit seinen besten Freunden sitzt er in der gemeinsamen Lieblingsabsteige und schmiedet Pläne für eine bessere Zukunft. Sie versuchen, Mädchen an Land zu ziehen, Mädchen, die für sie auf den Strich gehen sollen. Sie sind Mädchenhirten. Kisch schildert die Erlebnisse der Halbstarken und Kriminellen Prags, als hätte er mit ihnen am Tisch gesessen. Mit 63 Fußnoten Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 224
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Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Ein Roman
Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Ein Roman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Reiß Verlag Berlin, 1914 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-73-5
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Inhaltsverzeichnis
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
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Ganz unvermutet, ganz plötzlich platzte das Manometer.
Bevor noch das Entsetzen mit seinem lähmenden Arm die Heizer zu berühren vermochte, barst der Kessel mit einem grauenhaften, die ganze Stadt erschreckenden Aufschrei.
Auf dem Verdeck an das Holzhäuschen gelehnt, in dem sich die Schiffskasse befand, hatte Engelbert Naak eben zu Karl Duschnitz etwas Belangloses gesagt, die beiden Worte »Musikkapelle spielen« gesprochen, als die Detonation ertönte.
Im selben Augenblick begann das Grausen die rasendste Orgie. Ein Knabe, die Botanisiertrommel1 umgehängt, wurde in schnurgerader Linie gegen ein Haus des Kais geschleudert, prallte vom Balkon des ersten Stockwerkes ab und sauste als Leiche auf das Trottoir; um seinen verstümmelten Rumpf schlang sich schräg die grüne Schleife mit der Botanisierbüchse. Auf die Fahrbahn des Kais fiel der Kopf eines jungen Mannes, in dem man später Matthias Blecha erkannte. Marcel Bleyer, der wohl in unmittelbarer Nähe des schadhaften Kessels gestanden war, wurde in hundert Stücke gerissen. Die meisten Leute, darunter Robert von Dirnböck, den man bald unter den zusammengebrochenen Trümmern des Dampfers »Caput regni« als Leiche hervorzog, und Engelbert Naak, den man erst neun Tage nach der Katastrophe bei Melnik aus dem Flusse fischte, waren in das Wasser geschossen worden. Andere verbrühten sich an den glühenden Dämpfen, die grau und rot über die Bretter des Wracks züngelten. Anderen wurden die Rippen und Gliedmaßen gebrochen, als sie inmitten der dichten, atemberaubenden Rauchwolke, inmitten von Besinnungslosigkeit, Wehklagen, Hilferufen, Stöhnen, Wahnsinn und Schreien die schmale Steinstiege zu erklimmen versuchten, die vom Landungsplatz des Moldauniveaus zum Kai hinaufführt. Wieder andere – Fritz Fritz, der acht Tage später unter grässlichen Fieberqualen starb, war unter diesen – wurden von den schwarzen Trümmern des Schiffskamins getroffen, die zunächst wie aus einem Krater in die Höhe des Kaigeländes emporgestoßen worden waren, oben als Papierschnitzel im Wirbelwind kreisten und dann in einem Verderben bringenden Sprühregen auf das Wrack, die Landungsbrücke, den Anlegeplatz und in den Fluss, auf Passagiere und Schiffsbedienstete in den Qualm zurückfielen, Köpfe zerschmetternd, Gesichter von der Stirn zum Kinn aufreißend.
Karl Duschnitz war unter den Geretteten. Auch er war in langem Bogen aus dem Dampfer geschleudert worden, mitten in den Fluss. Neben der Stelle, an der er auftauchte, schwamm ein zerbrochener Tisch des zertrümmerten Schiffes. An diesem hielt er sich mechanisch achtundzwanzig Minuten fest. Während dieser Zeit vergegenwärtigte er sich gar nicht, was geschehen war, die Worte »Musikkapelle spielen«, die Engelbert Naak zuletzt gesprochen hatte und wegen irgendeines Lärms nicht zu einem Satze vollenden konnte, klangen ihm in den Ohren, er wiederholte: »Musikkapelle spielen« und sah irgendeine blaugraue, dichte Wolke auf dem Wasser. Ganz apathisch hielt er sich an der Planke fest, an deren Ecke ein in der Hälfte zerbrochener Tischfuß war. Ihm fiel gar nicht ein, dass er um Hilfe schreien solle. Allerdings hätte ihm dies nichts geholfen, weil er in der Mitte des Stromes schwamm, zu weit vom Ufer, als dass man in dem Gekreisch, Gestöhne, Geächze und Lärm seine Stimme zu hören, ihn inmitten des Tohuwabohus von schwimmenden Leichen, Balken, Bänken, Gliedmaßen, Tüchern, Papieren und Hüten zu sehen vermocht hätte. Aber er bedachte weder die Zweckmäßigkeit noch die Unzweckmäßigkeit eines Versuches, sich bemerkbar zu machen, sondern krampfte seine Hände um die Ränder der Bretter und dachte nach, wie der von Engelbert Naak jäh abgebrochene Satz zu beenden sei.
Duschnitz wurde gerade dadurch gerettet, dass er in der Mitte der Moldau war. Denn so bemerkte ihn der Flößer Johannes Chrapot, der von seinem Häuschen auf der Insel Kampa, also vom linken, dem entgegengesetzten Ufer, zur Unglücksstätte hinruderte, zuerst. Der Flößer packte Karl beim Oberarm und versuchte, ihn in den Kahn zu ziehen. Das misslang, weil Karl Duschnitz mehr tot als lebendig war und keine Anstrengung machte, seinem Retter behilflich zu sein. Er hielt sich noch immer an dem Brett fest. Da zog Chrapot die Ruder ein, beugte sich über den Rand des Kahnes, packte den Halbtoten, der nun endlich die Planke losließ, um die Hüften und hob ihn – fast wäre die Nussschale umgekippt – in das Innere des Schiffchens. Dort sank Karl Duschnitz ohnmächtig hin. Chrapot ruderte nun, so schnell er konnte, zur Insel Kampa zurück.
Hier standen schon Hunderte neugierig Erregter. Gleich nach der ungeheuren Detonation waren die Bewohner der Insel Kampa naturgemäß an das Ufer geeilt, wo sich ihnen ein weiter Ausblick auf das jenseitige Prag und auf den Fluss öffnet. Hier konnten sich jene, die schon ein Erdbeben, wenn nicht gar das Hereinbrechen des Jüngsten Tages angenommen hatten, überzeugen, dass Prag noch auf dem alten Fleck stehe, und die steilen Rauchwolken, die sich in der Gegend der Palackybrücke in den Himmel reckten, belehrten, woher der unheimliche, geheimnisvolle Krach gekommen war. In dieser Richtung jagten die sich aufbäumenden Pferde des Löschtrains, in dieser Richtung fuhren auch drüben am Kai die Rettungswagen, deren Lenker bedeutungsvoll pfiffen. Die Männer stiegen in ihre Fischerkähne und fuhren in der Richtung der Qualmwolke ab, ihre Weiber schrien ihnen, stolz, eindringlich und die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, Warnungsrufe nach. Aber niemand wusste, was geschehen sei. Dynamitattentat, Einsturz der Palackybrücke, Brand einer chemischen Fabrik? Bis endlich von der Brüstung der Karlsbrücke ein Kampabewohner das aufklärende Wort hinunterrief, das ein Feuerwehrmann einem Polizisten zugerufen hatte: Dampferexplosion. Nun gewannen die Mutmaßungen greifbarere Formen. Es musste, das war schon nach der Detonation zu schließen, eine grässliche Katastrophe gewesen sein, der Requisition von Feuerwehr und Rettungsambulanz konnte man entnehmen, dass es auch Tote gegeben habe. Außerdem war Pfingstsonntag, der rechte Tag für Ausflügler – man konnte sich die Größe der Katastrophe ausmalen. Der Erörterungen und Erwägungen wurde erst ein Ende, als man den Flößer Chrapot hastig rudernd zur Kampa zurückkommen sah und bald darauf erkannte, dass in seinem Kahn ein Mensch liege.
War schon früher die Gefahr vorhanden gewesen, dass von den Neugierigen, die zu Hunderten auf der durch keinerlei Geländer geschützten Böschung zwischen der Rolandstatue und der Kampa-Realschule schräg standen, sich quetschten, drängten und stießen, jemand in das Wasser gestoßen werde, so steigerte sich die Gefährlichkeit der Situation noch, als man des Flößers Chrapot ansichtig wurde; die Männer und Burschen wollten an den Rand der Böschung hinunter, um dem Herankommenden beim Landen behilflich zu sein, die Frauen und Kinder, die vorne standen, wollten teils aus Neugierde nicht Platz machen, teils konnten sie sich wirklich nicht von der Stelle rühren, da sie eingekeilt waren. Schließlich kam Ordnung in die wogenden und schiebenden Reihen, es gelang einem Flößerburschen, die am Kiel des Chrapotschen Kahnes hängende Kette zu erfassen und das Boot fest an das Land zu ziehen.
Einige waren behilflich, den Bewusstlosen aus dem Boot zu heben, und trugen ihn zu Chrapots Wohnung. Dorthin war inzwischen auch das Weib des Flößers gekommen. Sie sperrte die Türe zu dem Zimmer auf, das links neben der Küche war, und man legte den Fremden auf den Tisch. Die Stube war voll von Neugierigen, und auch auf der Stiege drängten sich solche. Chrapot schob alles zum Hause hinaus und machte sich dann daran, den Bewusstlosen zum Leben zu erwecken. Kaum hatte er die Schläfe Karls eingerieben, als dieser die Augen öffnete und tief aufatmete. »Leg ihn zu Bett und heize ein«, sagte der Flößer und entfernte sich eilig, um von Neuem zur Unglücksstätte hinzufahren. Auf die Widerrede seines Weibes hörte Johann Chrapot nicht.
Frau Chrapot schloss die Tür, zerrte des Fremden Stiefel von den Füßen, seine Kleider und Wäsche vom Leibe. Karl Duschnitz lag apathisch auf dem Tische und ließ alles mit sich geschehen. Auch als die Chrapot mit ihrem ganzen Körper den Tisch ruckweise bis zum Bett schob, regte er sich nicht. Er schaute mit weiten Augen auf die Zimmerdecke und atmete tief. Als ihn aber das Weib anpackte, um ihn ins Bett zu legen, schaute er sich zuckend in der Flößerstube um und fragte: »Was ist?«
»Ihr seid bei der Dampferexplosion ins Wasser gefallen, und mein Mann hat Euch hergebracht. Das ist unsere Wohnung. Ich will Euch jetzt ins Bett legen.«
Karl Duschnitz drückte seinen linken Zeigefinger der Länge nach auf die Schläfe und starrte vor sich hin. Er besann sich lange. Nach und nach schien ihm der Zusammenhang der Ereignisse klar zu werden. Wie die Tafelrunde auf dem Dampfer zur Pfingstfahrt versammelt, das Schiff zur Abfahrt bereit war, wie Engelbert Naak irgendetwas von einer Musikkapelle sprach, plötzlich ein beispiellos furchtbarer Knall ertönte, wie er sich dann auf dem Wasser fand, eine Planke umfasste und dann von einem fremden Mann in dessen Boot gezogen wurde.
»Wo ist Euer Mann?«
»Der ist fort«, sagt Chrapots Frau zerstreut. Sie hat den fremden Herrn, der ein so zartes Gesicht, so schmale, durchscheinende Hände und einen teuren alten Ring auf dem Finger hat, den fremden jungen Herrn, dessen erstaunlich feine Wäsche und Kleider auf dem Stuhle liegen, unverwandt angesehen, während er erwachte. Da er sie nun fragt und sie ihm antwortet, weilt ihr Sinnen anderswo.
Den Blick fühlt Karl Duschnitz. Er erwidert ihn scheu, ängstlich und sieht ein junges Weib. Etwas möchte er sagen, irgendetwas sagen – das Gespräch stockt schon unheimlich lange. Mühselig zwingt er sich zu einem Satz, aber während er spricht, ist ihm, als ob sein Bewusstsein im Wasser wäre: »Wohin – wohin ist denn – wo ist denn Euer Mann?«
»Der ist wieder zum Dampfer hingefahren. Auf mich wollte er nicht hören. Was kümmert sich der um mein Reden! Der kümmert sich gar nicht um mein Reden …«
Nur etwas sprechen, irgendetwas fragen, sie sind so unheimlich, diese Gesprächspausen.
»Ihr – habt auch Kinder?«
»Nein, Kinder haben wir nicht. Mein Mann ist krank …« Die Frau sagt den Satz im Tonfall der Resignation. Dann aber schaut sie auf, als ob sie ihn als Argument aufgefasst wissen wollte. Ermunternd.
Duschnitz fühlt, wie sein fahles Gesicht jäh von Rot überströmt wird. Ein junges Weib. Eine derbe Nase, aber kein hässliches Gesicht. Gewiss nicht. Eher hübsch. Ja, hübsch. Plötzlich merkt er, und es scheint ihm, als träume er das, dass ihre Augen die seinen beobachten, dass sie erkennen möchte, wie die Prüfung ihres Gesichtes ausfallen werde. Ertappt gleitet sein Blick ab, tastet sich mühselig über die in eine blaugestreifte Kattunbluse eingezwängten Brüste, über starke Hüften. Eine dralle Person. Und er ist da allein in der Stube. Und nackt … Zitternd sucht er nach der Decke. Die Frau hat sich an den Bettrand gesetzt und atmet ein heißes Lächeln. »Musikkapelle spielen«, erinnert er sich unvermittelt. Seine Gedanken werden immer wirrer. Und er zieht die Frau an sich, zieht sie an sich.
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Man kennt in Prag das Duschnitzsche Haus. Das große, rote Firmenschild des Selchers, der heute im Duschnitzschen Hause in der Rittergasse Laden und Werkstätte innehat, mag die prunkvolle Würde der Fassade stören, die durch Ruß, Staub und Witterung fast beinschwarz geworden ist – es bleibt doch eines der schönsten Gebäude der Stadt. Es hat nicht die höhnenden und einschüchternden Karyatiden1 mit Sklavengestalten, die die Balkone der Kleinseitner Adelspaläste auf ihren Nacken halten müssen, vielmehr ist hier der Torbogen von zwei unpersönlichen Eckpilastern flankiert, die durch ein Gesimse in der Mitte unterteilt sind und sich am oberen Ende in ein kapitälartiges Schneckengewinde einrollen. Portal, Fenster und Fassade sind überströmt von figuralen Zierraten und von architektonischen und Pflanzen-Ornamenten, die, in ausdrucksvollem, flachem, aber kräftig eingeschnittenem Relief behandelt, auf beiden Seiten der Fassade, an jedem Fenster und an jeder Hälfte des Tores ganz verschieden sind. Ein aus dem Vollen schöpfender Steinmetz hat sich hier, zurzeit, als niederländische Kupferstiche ihren Einfluss auf die Frührenaissance mächtig geltend zu machen begannen, im Auftrage eines reichen Bauherrn künstlerisch auszuleben versucht, während die Kunst des Architekten vornehmlich aus dem majestätischen Giebel und aus den Arkaden spricht, die im Hofe das erste Stockwerk mit kurzen, von Rustikabändern umwundenen Säulen einschließen.
Auch die erbeingesessenen Prager, die tausendmal an dem Duschnitzschen Hause vorübergegangen sind und der herrlichen Barockhäuser mehr kennen, pflegen nie vorbeizueilen, ohne mit einem Blick den Skulpturen an der schwarzen Front ihre Reverenz zu beweisen.
Alte Deutschprager, denen sich die in jeder kleineren Stadt wuchernde Anteilnahme, Neugierde und Tratschsucht im Laufe der Jahre schon zur Lust am Reminiszenzenerzählen gewandelt hat, wissen, wenn sie am Duschnitzschen Hause vorbeikommen, ihren jüngeren Begleitern vielerlei Historien. Sie berichten von einem der reichen Duschnitze, der einmal vor hundert Jahren in der Nacht durch Läuten an seiner Wohnungstür aus dem Schlafe geweckt wurde und sich, als er öffnete, dem Kaiser Franz gegenübersah, der eigens in der Postkutsche aus Wien nach Prag gekommen war, um ihn zur Bewilligung einer Staatsanleihe zu bewegen, sie erzählen von zwei Brüdern Duschnitz, die einander einmal auf dem Postamt begegnet waren, da ihnen beiden gleichzeitig – unabhängig voneinander – der Einfall gekommen war, einen auswärtigen Kommittenten dringend mit dem Abschluss eines Auftrages zu betrauen. Auch von dem letzten Sprossen dieses Altprager deutschen Patriziergeschlechts wissen sie, der schon bei Lebzeiten seiner Eltern durch und durch dekadent und sentimentalisch und ein romantischer Nichtstuer gewesen sei, sodass sein Vater, Roderich Duschnitz, die Hoffnung aufgeben musste, jemals in Karl einen Chef des Bankhauses D. Duschnitz zu sehen, und sich zum Verkauf des Geschäftes an eine Bank genötigt sah; kurz nach dieser Transaktion sei der alte Roderich gestorben. Der aus der Art geschlagene Karl Duschnitz bewohne jetzt das Haus in der Rittergasse, ohne irgendeiner nützlichen Beschäftigung zu obliegen.
Die jungen Leute, ehemalige Mitschüler und Studiengenossen des Karl Duschnitz, die dessen Vater in das Haus gezogen hatte, um dem melancholischen, grüblerischen Karl fröhliche Gesellschaft zu sein, hatten sich dieser Aufgabe nach allen Kräften zu entledigen gesucht, indem sie im gastfreundlichen Duschnitzschen Hause allnachmittäglich und allabendlich zu allerhand Spielen und Späßen und zum Abenteueraustausch zusammengekommen waren und sich selbst famos unterhalten hatten. Nach dem Tode des alten Roderich Duschnitz hatten sie allmählich sogar eine fröhliche Selbstherrschaft in dem Hause installiert, ohne sich irgendwie dadurch abschrecken zu lassen, dass alle Ausstrahlungen ihrer übermütigen Jugendkraft in ihrem jungen, von ihnen allen geliebten Gastfreund keinen Widerschein fanden, dass dieser seines ihm selbst verhassten Hanges zur zermarternden Schwermut durchaus nicht ledig zu werden vermochte.
Karl Duschnitz war gegen alle liebenswürdig, nett und gefällig gewesen, hatte ihr Bestreben voll anerkannt und sich auch, als er sich überzeugt hatte, dass dieses seinen Freunden kein Opfer sei, keinerlei Sorge mehr darüber gemacht, dass er ihnen Mühe bereite. Er hatte sich von keinem Spaß ausgeschlossen, zu dem sie ihn aufforderten, aber jeder im Freundeskreis hatte es selbst gefühlt, dass Karl allen diesen Vergnügungen innerlich fremd sei, ja sogar manchmal Abscheu davor empfinde.
Nur bei Aktionen, bei denen Frauen im Spiele waren, hatte Karl Duschnitz mit seinem sanften, aber unüberwindbaren Widerstand jede Beteiligung abgelehnt. Gerade zu Unterhaltungen mit Frauen hatten ihn seine Freunde anfänglich, bevor sie die Unerschütterlichkeit dieser Weigerung erkannt hatten, besonders lebhaft zu überreden versucht, weil sie in ihm ein heftiges Interesse zu lesen vermeint hatten, wenn sie von ihren Abenteuern mit Damen und Dämchen erzählten. Dieses Interesse war auch wirklich vorhanden gewesen, aber eben die kritischen, parodierenden und im letzten Grund renommistischen Liebesmemoiren der Freunde stießen ihn selbst von der Betätigung in solchen Abenteuern ab und nährten seine aus Romanen und par-distance-Beobachtungen gewonnene Einsicht, dass alle diese Vergnügungen bei den Männern nur einem Sport des Erlangens und einem vergeblichen Mühen, den Sinnen Befriedigung zu schaffen, entsprangen, während bei den »besiegten« Frauen gleichfalls berechnende Gewinnsucht, vermengt mit Sinnlichkeit, das Motiv der Unterwerfung war – Ursachen, die in verlogener Weise dadurch kaschiert wurden, dass die Männer pro forma Zusicherungen dauernder Liebe äußern mussten, während die Frauen unaufgefordert ewige Treue schworen, Ehrbarkeit und gedankliche Tiefe heuchelten, nach dem Gewähren und beim Abschied schluchzten.
Seine schlaflosen Nächte und seine würgenden Träume hatten dem Weibe gehört. Er hatte sich versprochen, dass seine viel bespöttelte, fast unnatürliche Unberührtheit durch ein Wunder gelohnt werden müsse, durch irgendein Wunder seelischer Hingabe, ungeheuchelter Liebe und vollster Unschuld, durch irgendein funkelnd weißes Wunder von blütenumkränzter Nacktheit, das alle Martern, alle Fesseln und alle Düsterkeit seines Gemütes von ihm nehmen, ihn befreien und zum Herrn über viele Frauen machen werde, was er lodernd ersehnte. Dafür hätte er mehr als allen seinen Reichtum gegeben, für den er sich ohnedies nichts kaufen konnte. Dieser wirre Glaube an das Wunder, das ihn von seiner fast psychopathischen Skepsis und Schüchternheit retten werde, war die einzige Hoffnung gewesen, die er sich nicht selbst zu zerstören gewagt hatte, um nicht in Verzweiflung seiner sonst für ihn wertlosen Existenz ein Ende zu machen.
In dieser monomanen Hoffnung war Karl Duschnitz siebenundzwanzig Jahre alt geworden, als er mit seinen Freunden den Dampfer »Caput regni« bestieg, um den Pfingstsonntag irgendwo in einem Walde oberhalb Prags zu verbringen. Bevor noch die Landungsbrücke des dicht besetzten Schiffes eingezogen worden war, hatte sich die grässliche Katastrophe ereignet, die unsagbares Leid über die Stadt brachte und auch den Freundeskreis zerstörte. Außer Karl Duschnitz war niemand aus seinem Kreise davongekommen.
Aus der Flößerwohnung war Karl Duschnitz im Wagen in sein Haus in der Rittergasse gefahren. Allein. Er hatte jede Begleitung abgelehnt. Zu Hause hatte er sich unwohl gefühlt. Dann hütete er drei Wochen, leicht fiebernd, das Bett. Das Schicksal seiner Fahrtgenossen wollte man ihm verheimlichen. Aber er ließ keine Ruhe. Was mit Fritz Fritz geworden sei, mit Matthias Blecha, mit Naak, Dirnböck und den anderen wollte er wissen. So brachte man ihm nach und nach schonend bei, dass sie alle tot seien. Als man Naak als Leiche aus der Moldaumündung fischte, wollte man es ihm schon nicht mehr mitteilen. Er hatte sich bei jeder der vielen Todesmeldungen zu sehr aufgeregt. Aber schließlich bekam es Karl durch seine Fragen doch heraus, dass man auch das Geschick Engelbert Naaks kenne. Und nun nahm er die Botschaft vom Tode des letzten der Tafelrunde apathisch auf.
Nach Karls Heilung war sein Weg, das Haus seines Retters zu suchen. Das war leicht, denn am Ufer der Kampa, die eigentlich keine Insel, sondern eine Halbinsel ist, stehen wenige kleine Häuser. Es sind nur große, dreistöckige Mietshäuser dort, und wenn der Gesuchte in einem von diesen gewohnt hätte, dann wäre es nicht leicht gewesen, es herauszufinden. Denn diese Häuser sind alle gleich in ihrer Seltsamkeit. Da die eine Front nach vorne auf die mit großen Linden bewachsene und ungepflasterte Hauptstraße blickt, auf der die Kinder mit Kugeln »Labeda«2 spielen und die Töpfer ihre Märkte abhalten, und die andere Front gegen die Moldau gerichtet und von der Karlsbrücke aus sichtbar ist, so wussten die Erbauer dieser billigen Häuser nicht, welchen Teil sie als Rückseite, welchen als Vorderseite deklarieren sollten. Der Ausweg aus diesem Dilemma war durch die Erwägung gegeben, dass Mörtelanwurf und Friesverzierung teure Dinge seien. So machte man denn überhaupt keine Vorderfront.
Inmitten dieser Gebäude war das würfelförmige Häuschen Chrapots nicht zu verfehlen, und Duschnitz konnte sich die peinlichen Fragen nach der Wohnung des ihm dem Namen nach unbekannten Flößers ersparen. Schräg gegenüber der Schenke »Zur Hölle«, in der König Wenzel in der Todesnacht seines Vaters, des vierten Kaisers Karl, mit der Dirne Božka Vesna gezecht und um ihretwillen blutig gerauft hatte, war es gelegen. Frau Chrapot war allein zu Hause. Ihr Mann sei fort, auf dem Floß nach Hamburg. Wann er zurückkomme? Nun, so fünf Wochen werde es noch dauern. Und wieder der ermutigende Blick von damals. Ohne Wirkung heute. Karl Duschnitz nannte seinen Namen und seine Adresse. Er verreise jetzt nach dem Süden und werde nach der Rückkunft seinem Retter ein Geldgeschenk überbringen. Das Geld hatte er bei sich; aber er wollte es dem Weibe nicht überantworten, das solche Blicke schickte. Er ging.
Auf einer der dalmatinischen Inseln nahm er Aufenthalt. »Im Süden, am Meer werden Sie sich von Ihrer Aufregung erholen«, so hatte der ärztliche Rat gelautet. Aber die Wellen des Quarnero waren nicht hellblau, sondern von grünem Dunkel, fast schwarz. Karl Duschnitz sah dort kein sanftes Gestade, das die Wasser umspült hätten, sondern nur zerklüftete, zerrissene Klippen und steile Felsabhänge, an welche die flüssigen Massen mit Getöse wild heranstürmten, sich geifernd aufbäumten, von denen sie dröhnend zurückfielen. So weit seine Sehkraft reichte, verzehrte sich das Meer in fortwährendem Kampfe mit sich selbst, in steter Unruhe, in stetem Gewoge. Das Element, das da wieder und wieder gegen den steilen Strand tobte, auf dem er stand, war dasselbe, das erst vor Kurzem den Tod seiner Freunde geheischt, seinen eigenen Tod verschmäht hatte. Warum hatten gerade ihn diese grässlichen Fänge losgelassen, die noch jetzt zu ihm auf die Klippen heraufgriffen, Hass, Geifer, Drohungen und Macht verspritzend, wieder zurückschlugen und sich immer höher emporreckten, als wollten sie ihm zeigen, dass sie auch jetzt noch ihr Opfer umkrallen könnten, wenn sie es wollten? Sie wollten es nicht. Den lebenshungrigen Freunden hatten sie gierig das Leben genommen. Aber ihn, der nicht am Leben hing, hatten sie in derselben Stunde heimtückisch seines einzigen Besitzes beraubt: des Glaubens an das Wunder.
Heißkalte Schauer durchzuckten ihn, wenn er sich vergegenwärtigte, wie er sich in wirrem Denken das Wunder seiner ersten, befreienden Hingabe erträumt hatte, und wie er in der gleichen Stunde, da ihn ein Mann vom Tode gerettet, ihm das Weiterleben für die Erwartung des Wunders geschenkt hatte, Lebensrettung und Gastfreundschaft noch halb bewusstlos, dumpf mit Ehebruch gelohnt. Ein dralles, unbefriedigtes, ehebrecherisches Flößerweib – das sollte der Lohn für seine Entsagung sein, dafür hatte er seine Unberührtheit hingegeben, das war seine erste »Liebe«, von der die Befreiung kommen sollte.
Karl Duschnitz begann, das Temperament seiner toten Freunde zu ersehnen. Wie hätten die mit behaglichem Lachen ein solches Abenteuer zum Besten zu geben vermocht! Wie hätten sie ihn beglückwünscht, seine Vorwürfe spießbürgerlich und skrupulös gescholten!
Es half ihm nichts, dass er sich tausendmal sagte, dass sein Glauben an das befreiende Wunder ein unerfüllbarer Irrwahn, ein mystisch unklarer Gedanke, und dass jene Stunde in der Flößerwohnung eine reale Belanglosigkeit gewesen sei – es half ihm nichts, dass er sich tausendmal wiederholte: Nur dadurch, dass ihm seine Krankhaftigkeit als solche bewusst sei, unterscheide er sich von vollends Geisteskranken –, immer wieder kehrten Verzweiflung, Enttäuschung und Selbstvorwürfe mit der grausen Beharrlichkeit zurück, mit der die Wogen schreiend an das Ufer klatschten. Wie glühende Schrauben lagen die Adern in seinen Schläfen.
Drei Monate verbrachte Karl Duschnitz so sich selbst zerwühlend am zerwühlenden Meer. Dann kehrte er zurück. Man konnte nicht finden, dass er sich im Süden erholt habe. Aber er vermochte sich zu Gesprächen mit den Verwandten zu zwingen, die ihn aufsuchten. Nur den Fragen nach der Katastrophe wich er aus. »Lassen wir das Thema, das erregt mich zu sehr.« Und sprach von etwas anderem.
Als er wieder in das Haus kam, in dem der Flößer Johann Chrapot wohnte, begegnete ihm dessen Gattin auf der Pawlatsche.3
»Ich habe meinem Mann alles gesagt.« Und als Duschnitz sie groß anschaute, fügte sie noch hinzu: »Er hätte es bald auch selbst bemerkt.«
Erblasst drückte Karl Duschnitz seine Hände an das Geländer, als er das erfuhr.
»Was – was – hat – Euer Mann – erwidert?«
»Na, er hat sich halt geärgert. Aber er hat sich doch selbst immer ein Kind gewünscht. Übrigens«, das Weib schlägt trotzig den Kopf zurück, »hab ich zu Hause zu reden.« Und dann: »Kommen S’ herein, er ist drinnen im Zimmer.«
Johann Chrapot liegt ohne Rock auf einem sofaähnlichen Möbelstück.
»Steh auf, der Herr Duschnitz ist da.«
»Herr Chrapot, ich komme, um Ihnen tausendmal zu danken – und Sie um Vergebung zu bitten.«
»No jo«, brummt der Flößer, der beim Eintritt des Fremden aufgestanden ist, mit ernstem Gesicht und denkt nach, was sich da so erwidern ließe.
Aber Karl Duschnitz kommt ihm zuvor. Er zieht die Brieftasche und reicht dem Chrapot zwei Banknoten. Der nimmt sie und dreht sich mit sehr großen Augen nach seinem Weibe um. Sein Gesicht glüht jetzt vor freudiger Aufregung.
»Tausend Gulden.« Der Gedanke, dass er jetzt tausend Gulden habe, ist ihm über die Lippen gehuscht. Dann bemüht er sich, ein würdiges Lächeln zu zeigen. »No jo«, sagt er laut und trägt das Geld zum Schrank.
Skulptur einer weiblichen Figur mit tragender Funktion in der Architektur. <<<
Murmeln spielen. <<<
balkonartige Galerie, meist im Hof eines Hauses. <<<
Auf der Kampa-Insel war des Munkelns kein Ende. Dass der kleine Jaroslav, der Jarda, nicht der Sohn des kranken Flößers Chrapot sei, wusste man; man wusste auch jenen Mann, der damals halb tot vom Wrack herübergebracht worden war, mit der Geburt des Kindes in Zusammenhang zu bringen. Wer aber war jener Fremde gewesen? Die Frage war der Erörterung wert. Frau Chrapot trug jetzt einen großen Damenhut, die Kleider des Kleinen waren in einem Kinderkonfektionsgeschäft gekauft – nicht wie die Kleidchen der anderen Flößerkinder aus Wäschestücken oder Anzügen der Eltern plump zurechtgenäht. Mit jenem Schiffbrüchigen war also bei den Chrapots der Reichtum eingekehrt, und man hätte verteufelt gerne gewusst, wer er gewesen sei. Aber die Chrapotin verriet nichts. Sie war, wie man so sagt, mit allen Salben geschmiert. Als sie ledig war, war sie Fabrikarbeiterin in Holleschowitz gewesen, und die Flößer, die hinter dem Hetzinselwehr anlegten, um beim »Bastecky« den letzten Trunk Prager Bieres zu tun und ihre Flöße zum Remorqueurtransport1 aneinanderzukuppeln, hatten sie gekannt. Mancher brüstete sich auf der Weiterfahrt lachend eines Abenteuers mit ihr, dessen Zeugen die Grasbüschel auf der Manina-Heide oder die Akaziensträucher der Hetzinsel gewesen seien. Den Flößer Chrapot, der nicht mehr jung und keiner der Klügsten gewesen war, hatte sie oft gehänselt, bevor er begann, ihre Späße damit zu erwidern, dass er ihr nachstellte. Sie machte sich darüber lustig, und lachend erkundigten sich die Flößer, wenn sie sich auf ihrer Tour nachts auf das Floß oder unter die Wirtshaustische in Jedibab und Laube zum Schlafe niederstreckten, bei Chrapot, was wohl jetzt seine Angebetete mache, ob sie seiner in Treue gedenke. Allmählich hatte aber das schlaue Fabrikmädel über die Nachstellungen des Flößers zu spötteln aufgehört. Sie bedachte, dass sich hier eine Gelegenheit zum Heiraten biete, wie sie nicht so bald wiederkehren werde. Und eines Tages wohnte sie als legitime Frau Chrapot auf der Insel Kampa. Die Kampa-Leute, deren Eltern und Familien schon dem Holzschwemmbetrieb entstammten, sahen das ehemalige Fabrikmädel, die »Fabritschka«, der einer der ihren so täppisch ins Garn gegangen war, nicht gerne unter sich, insbesondere die Frauen mochten sie nicht leiden. Frau Chrapot hatte ihrerseits die »Podskalaci«2