Der Mann, der die Mandelbäumchen malte - Johannes Mario Simmel - E-Book + Hörbuch

Der Mann, der die Mandelbäumchen malte Hörbuch

Johannes Mario Simmel

0,0

Beschreibung

Eine bezaubernde und bewegende Erzählung über die verschiedenen Arten der Liebe, Leidenschaft, Treue und Tod vor der malerischen Kulisse der französischen Mittelmeerküste. In Der Mann, der die Mandelbäumchen malte begleiten wir die Charaktere auf einer emotionalen Reise durch die glitzernden Städte und stillen Dörfer Südfrankreichs. Johannes Mario Simmel, bekannt für seinen fabelhaften Blick für Themen und Motive, erschafft eine fesselnde Geschichte über Romantik, Kunst und die Kraft der Erinnerungen. Mit seiner einfühlsamen Erzählweise taucht er tief in die menschlichen Beziehungen ein und ergründet die Komplexität von Verführung, Hingabe und Verlust. Tauchen Sie ein in diese anspruchsvolle Novelle voller Poesie und Tiefgang, die Sie auf eine unvergessliche Reise mitnimmt und noch lange nachklingt. Ein Muss für Liebhaber anspruchsvoller zeitgenössischer Romane und Liebesgeschichten.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:1 Std. 57 min

Sprecher:Ursula Illert
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johannes Mario Simmel

Der Mann, der die Mandelbäumchen malte

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Der Mann, der die [...]Ich war so glücklich [...]Der Train bleu verläßt [...]Im Frühjahr 1972 stiegen [...]Und genau das war [...]Sein Wagen war alt [...]Die Achsen schlugen. [...]Stunden später zeigte Pierre [...]Weder die Engel im [...]Sie mieteten einen Wagen [...]Nach dem Essen gingen [...]Sie hielten es wirklich [...]Der Zug raste durch [...]Den Schlafwagenkorridor füllten nun [...]In allen Farben leuchteten [...]An diesem Nachmittag sah [...]Alles war genau so, [...]

Der Mann, der die

Mandelbäumchen

malte

Ich war so glücklich wie noch nie. In meinem Traum. So über alle Maßen glücklich. Dann hörte ich das Klopfen. Tack. Tack, tack, tack. Wieder. Und wieder. Immer lauter. Immer härter. Dann war ich wach.

Ich öffnete die Augen. Durch den Spalt neben der herabgezogenen Glanzstoffblende vor dem Fenster drang ein Streifen weißglühendes Sonnenlicht. Ich bemerkte, daß der Zug stand. Wo war mein Glück, mein über alle Maßen großes Glück? Was hatte ich geträumt, eben noch, vor Sekunden? Angestrengt dachte ich nach. Es fiel mir nicht mehr ein. Nichts fiel mir ein, nicht das geringste. Vergessen mein Traum, alles vergessen.

Tack! Tack, tack, tack! Tack, tack, tack!

Nun war das Klopfen sehr laut, sehr hart.

Ich hörte die Stimme des Schlafwagenschaffners.

»Madame Collins! Wachen Sie doch endlich auf, Madame Collins!«

Gähnend erhob ich mich. Über den Pyjama streifte ich den Trenchcoat, der an einem Haken hing. In Paris hatte es heftig geregnet. Ich knipste das Licht an und entriegelte die Abteiltür. Nachdem ich in meine Pantoffeln geschlüpft war, trat ich auf den Gang.

Das grelle Licht der Sonne traf mich wie ein Hammer auf den Schädel. Ich kniff die Augen zu, um mich an dieses Licht zu gewöhnen. Heiß war es im Gang des Schlafwagens, stickig heiß. Der Schaffner war glatzköpfig. Er hatte die Jacke seiner braunen Uniform ausgezogen. Mit dem oberen Ende des Bleistifts klopfte er gegen die Tür des Abteils neben dem meinen.

»Madame Collins! Sie wollten in Saint-Raphaël geweckt werden. Wir sind in Saint-Raphaël. Madame Collins, bitte!«

Ich sah aus einem Gangfenster und erblickte die sehr kleine, sehr saubere Station. Der Schlafwagen stand etwas außerhalb des überdachten Teils. Da war die Altstadt mit der romanischen Kirche. Da war das Museum für archäologische Unterwasserfunde, ich hatte es ein paarmal besucht. In der Kirche war ich oft gewesen. Der Kühle wegen. Ich erinnerte mich an die wahnsinnig heißen Sommertage, während deren ich hier zu tun gehabt hatte. Wann war das gewesen? Vor fünf Jahren? Nein, vor sechs. Da hatte Couton bei Saint-Raphaël einen Film gedreht. »Dieses verfluchte Leben«. Der große Jacques Couton. Ich erinnerte mich noch genau daran, daß ich in jener Kirche das Drehbuch umgeschrieben hatte, mit einem Kugelschreiber, die Seiten auf den Knien. Ich erinnerte mich sogar noch an die Dialoge. An meinen glücklichen Traum erinnerte ich mich nicht.

Über den Häusern der Stadt sah ich die rote Erde des Esterel-Gebirges, das hier seinen Anfang nahm. Auch an die sehr rote Erde erinnerte ich mich. Und an die Stierkämpfe in Fréjus, ganz in der Nähe. Sie waren lausig gewesen. Alte Stiere, alte Toreros. Ich war mit diesem Mädchen hingegangen, mit Claire. Zwei Wochen lang hatte ich hier geschrieben und mit Claire geschlafen. Sie arbeitete als Sekretärin in dem Hotel, in dem ich wohnte. Ihr Mann leistete gerade seinen Militärdienst. Die beiden hatten als halbe Kinder geheiratet. Vor sechs Jahren war Claire einundzwanzig Jahre alt gewesen, ich fünfundvierzig. Die rote Erde des Esterel glühte jetzt schon, am Morgen. Ich dachte, daß dieser Tag wohl so wahnwitzig heiß werden würde wie alle jene, an denen ich mich in der Kirche mit dem versauten Script abgequält hatte.

»Morgen«, sagte ich zu dem Schaffner.

Er versuchte jetzt, mit einem Steckschlüssel die Verriegelung zu öffnen. Schweiß stand ihm in feinen Tropfen auf der Glatze. Er war ein großer Mann, Ende Fünfzig.

»Guten Morgen, Monsieur Royan.«

Der Schaffner sah mich kurz an. Neben seinen Schuhen, auf dem Gangteppich, lag eine Kladde und auf ihr der Bleistift, mit dem er geklopft hatte. Die Kladde enthielt die Namen aller Reisenden.

»Was ist los?« fragte ich.

»Wacht nicht auf«, sagte er und drehte den Steckschlüssel vorsichtig herum.

Der Schlüssel glitt immer wieder ab.

»Steigt in Cannes aus wie Sie, Monsieur Royan. Wollte in Saint-Raphaël geweckt werden und noch im Abteil frühstücken.«

»Wie ich.«

»Ja«, sagte er. »Wie Sie. Und jetzt kriege ich die Dame nicht wach.«

»Wir haben ein bißchen viel getrunken gestern abend.«

»Ja, zwei Flaschen.«

»Das ist eine ganze Menge für zwei Leute«, sagte ich. Jetzt stand mir der Schweiß auf der Stirn, und ich fühlte ihn auch über den Rücken rinnen. Ein gottverflucht heißer Tag würde das werden hier an der Côte d’Azur. In Paris hatten wir noch gefroren. Es war erst Anfang April, aber eben schon gottverflucht heiß hier unten im Süden. Ich hatte leichte Sachen eingepackt, glücklicherweise. Glücklicherweise. Was war das bloß für ein Traum gewesen?

»Der Champagner war einwandfrei«, sagte der glatzköpfige Schaffner. »Sie haben noch gesagt, daß er großartig ist.«

»Prima war er«, sagte ich. »Mrs. Collins hat es auch gesagt.«

»Ja, nicht wahr?«

»Darum haben wir auch zwei Flaschen getrunken. Mrs. Collins war so glücklich.«

Ich erinnerte mich auch noch, warum Mrs. Collins so glücklich war. Aber mein Traum? Nix. Keine Spur.

Ich sah, daß nun schon etwa ein Dutzend Reisende im Gang standen. Sie schauten uns neugierig zu. Aus dem anderen Schlafwagen kam ein junger Schaffner.

»Wird einer nicht wach, Emile?«

»Nein, Paul. Und dieses verdammte Schloß …« In diesem Moment sprang es auf. Die Tür zum Abteil von Mrs. Collins öffnete sich – einen schmalen Spalt.

»Madame!« Jetzt schrie Emile. »Madame Collins!« Er sprach den amerikanischen Namen französisch aus. »Madame Collins, so hören Sie doch! Wir sind in Saint-Raphaël!«

Keine Antwort.

Plötzlich war es sehr still auf dem Gang. Niemand sprach. Niemand bewegte sich. Eine Sirene heulte in der Ferne.

»Gehen Sie doch rein«, sagte ich. »Schauen Sie nach!«

»Kann ich nicht«, sagte Emile. »Da, der Sicherheitsbolzen. Sehen Sie? Ich kann das Schloß öffnen, aber nicht die Tür. Der Bolzen ist aus Eisen. Madame Collins!« schrie er wieder in das dunkle Abteil hinein.

»Und wenn sie …«, begann der junge Schaffner, der Paul hieß.

»Merde alors«, sagte Emile. Er sah mich an. »Es ging der Dame doch gut, Monsieur, oder nicht?«

»Ausgezeichnet«, sagte ich.

Wir blickten uns eine Weile schweigend an.

»So geht das nicht«, sagte Emile zuletzt. »Ich bleibe hier. Lauf du zum Vorsteher, Paul! Sag ihm, was los ist! Wir brauchen einen Schlosser, der den verdammten Bolzen durchsägt.« Paul lief schon los. »Und der Vorsteher soll auf alle Fälle gleich die pompiers verständigen!«

Pompiers heißt Feuerwehrleute. In Frankreich werden immer sie zuerst gerufen, wenn ein Unglück geschehen ist.

Der Train bleu verläßt Paris vom Gare de Lyon um 21 Uhr 46. Er hat nur Schlaf- und Liegewagen und fährt bis Ventimiglia, dem italienischen Grenzort an der Côte d’Azur. In südlicher Richtung fährt der Train bleu quer durch Frankreich zum Mittelmeer. Das erste Mal bleibt er in Saint-Raphaël stehen. Danach hält er oft – in Cannes zum Beispiel, in Juan-les-Pins, in Cagnes-sur-Mer, Nizza, Beaulieu, Monte Carlo. Er hält dann an vielen Stationen, die alle am Meer liegen.

Ich war mit einem Taxi von meiner Wohnung zum Gare de Lyon gefahren, und ungefähr eine Viertelstunde lang hatte ich mir das Fluchen des Chauffeurs angehört, der wegen des wüsten Regens und des starken Verkehrs nur langsam vorwärts kam. Am Bahnhof gab es keinen Träger. Ich schleppte meinen Koffer und meine Schreibmaschine den langen »Blauen Zug« entlang bis zum Schlafwagen 17. Mein Abteil lag etwa in der Mitte des Waggons. Vor der offenen Tür des Nebenabteils stand eine Dame und rauchte. Ich grüßte. Sie lächelte und neigte den Kopf.

Diese Dame hatte eine wundervolle Art zu lächeln. Es war, als gehe die Sonne auf in ihrem feingeschnittenen, schmalen Gesicht. Die Augen waren sehr groß. Sie hatte schöne Zähne und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Sie trug ein rotes Kleid und eine Perlenkette. Gleich als ich sie sah, empfand ich, daß diese Frau erfüllt war von fast unirdischer Seligkeit. Groß und schlank stand sie da. Ihr weißes Haar lag wie ein Helm um ihren Kopf und hatte einen feinen violetten Schimmer. Während sich der Schaffner mit meinem Billett beschäftigte, erblickte ich in der dunklen Fensterscheibe, vor der die Dame stand und über die der Regen peitschte, ihr Spiegelbild.

Erstaunt bemerkte ich, daß sie mich beobachtete. Ich kannte diese Dame nicht. Ich hatte sie nie zuvor gesehen.

Ich lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie lächelte gleichfalls.

»Wann wünschen Sie geweckt zu werden, Monsieur?« fragte der Schaffner, der die Kladde mit den Namen der Passagiere bei sich trug.

»In Saint-Raphaël, bitte.«

»Frühstück?«

»Ja, bitte.«

»Kaffee oder Tee?«

»Tee. Mit Milch.«

»Wie ich«, sagte die Dame in dem roten Kleid.

»Wie Madame Collins, gewiß«, sagte der Schaffner mit der Glatze. »Madame wünscht gleichfalls, in Saint-Raphaël geweckt zu werden.«

»Ja, bis Cannes habe ich dann noch genug Zeit. Sie fahren auch bis Cannes, Monsieur?«

»Jawohl, Madame …«

»Collins, Roberta Collins.« Sie sprach französisch mit starkem amerikanischen Akzent.

»Royan«, sagte ich, »Roger Royan.«

»Wünschen die Herrschaften jetzt noch etwas?«

Bevor ich etwas erwidern konnte, antwortete sie: »Ich würde gerne Champagner trinken.«

Sie sah mich an. Grün waren ihre großen Augen. »Finden Sie, daß ich unmöglich bin, wenn ich Sie einlade, Monsieur Royan?«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Mrs. Collins. Natürlich nehme ich gerne Ihre Einladung an«, sagte ich.

Ihr Lächeln wurde stärker.

»Wie schön. Sie haben doch Champagner?«

»Gewiß, Madame.« Der Schaffner zählte drei Marken auf.

»Pommery«, sagte Mrs. Collins.

»Sofort, Madame. Eine Flasche Pommery.« Der Schaffner eilte fort.

Mrs. Collins war gewiß fünfzig Jahre alt, aber sie sah viel jünger aus. Sie sah aus, als wäre sie eben vierzig geworden. Gewiß hatte sie ihr Gesicht liften lassen, bei einem erstklassigen Schönheitschirurgen.

Es waren ihre Hände, die Mrs. Collins verrieten. Ihre Hände hatte sie nicht liften lassen. Fünfzig ist sie, dachte ich. Mindestens.

Der Train bleu fuhr jetzt sehr schnell.

Der Schaffner hatte den Champagner und einen Kübel voller Eiswürfel sowie zwei Gläser gebracht. Er hatte die Flasche geschickt geöffnet und mich kosten lassen.