Ein Autobus, groß wie die Welt - Johannes Mario Simmel - E-Book

Ein Autobus, groß wie die Welt E-Book

Johannes Mario Simmel

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Beschreibung

Ein spannendes Abenteuer in den verschneiten Bergen, das zeigt, wie Kinder in Krisenzeiten zusammenhalten und über sich hinauswachsen. In Johannes Mario Simmels modernem Kinderroman Ein Autobus, groß wie die Welt brechen 19 Kinder mit ihrer Kindergärtnerin, einem Chauffeur und dem schwarzen Schaf Josef zu einer Erholungsreise in die winterlichen Berge auf. Doch was als unbeschwerte Fahrt beginnt, wird schnell zu einem dramatischen Abenteuer voller Gefahren und Herausforderungen. Als das Schaf Josef ausreißt, zwei Lawinen zu Tal donnern, der Autobus stecken bleibt und ein Junge lebensgefährlich erkrankt, müssen die Kinder über sich hinauswachsen. Während die Älteren versuchen, Hilfe zu holen, lernen die Zurückgebliebenen, wie wichtig Zusammenhalt und Frieden sind. In dieser Ausnahmesituation wird ihr Autobus plötzlich zu einer eigenen kleinen Welt, in der sie die Spielregeln menschlichen Zusammenlebens neu entdecken. Eine spannende und berührende Geschichte über Mut, Freundschaft und das Lösen von Konflikten, die junge Leserinnen fesseln und ihnen zeigen wird, wie man auch in schwierigen Situationen zu wahren Helden werden kann.

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Johannes Mario Simmel

Ein Autobus groß wie die Welt

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Inhaltsübersicht

Das erste KapitelDas zweite KapitelDas dritte KapitelDas vierte KapitelDas fünfte KapitelDas sechste KapitelDas letzte Kapitel
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Das erste Kapitel

Ein schwarzes Schaf rast durch den Schnee – 18 Kinder laufen um die Wette – Lucie muß weinen – Herr Wiedmann droht mit Ohrfeigen – Wir drehen die Zeit zurück – Der rote Autobus ist abfahrtbereit – Der dicke Martin zeigt seine Muskeln, und Karli hat Halsweh – Helmut schlägt einen Ringkampf vor – Tante Beate lernt Josef kennen – Die Fahrt geht los – Helmut ist wütend, und Josef reißt aus – Thomas rettet die Situation – Es donnert in der Luft, und plötzlich wird es finster – Es muß etwas Schreckliches geschehen sein.

 

Am 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, raste ein dickes schwarzes Schaf durch den Schnee neben der Landstraße, die nach Bergstadt führt.

Es war gegen Mittag und sehr warm. Das Schaf rannte, so schnell es konnte, auf den nahen Wald zu. Es war so dick, daß es von weitem aussah wie eine große, dunkle Kugel. Hinter ihm her liefen 18 Kinder, Buben und Mädchen.

Das ist ein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte, nicht wahr? Aber die Geschichte selbst ist gleichfalls ungewöhnlich – und deshalb muß es wohl auch ihr Anfang sein.

Weit hinten in der langen Reihe der Kinder, die dem fetten schwarzen Schaf nachliefen, stolperte ein erschöpftes kleines Mädchen. Das kleine Mädchen weinte bitterlich und rief immer wieder verzweifelt: »Josef, Josef, komm doch bitte, bitte, zurück!«

Anscheinend hieß das Schaf ›Josef‹, und anscheinend gehörte es dem kleinen Mädchen. Aber es war ein eigenwilliges Schaf, und es kümmerte sich weder um die Rufe des armen kleinen Mädchens noch um die der anderen Kinder, die gleichfalls alle laut seinen Namen riefen.

Eine junge Frau mit freundlichem Gesicht und blondem Haar holte das kleine Mädchen ein und nahm es an der Hand.

»Sei ruhig, Lucie«, sagte sie. »Weine nicht. Wir werden dein Schaf schon fangen!«

Als Lucie die freundliche junge Frau bemerkte, brach sie neuerlich in Tränen aus.

»Oh, Tante Beate«, rief sie schluchzend, »warum hat Helmut die Tür aufgemacht? Ich habe ihm gar nichts getan, und er hat die Tür aufgemacht und Josef hinausgestoßen! Warum, Tante Beate, warum?«

Tante Beate zog Lucie mit sich durch den tiefen Schnee und sah nach vorne zum Waldrand, wo die anderen Kinder inzwischen angekommen waren. Das Schaf Josef hielt sich hinter den ersten Bäumen verborgen. »Ich weiß nicht, warum er es getan hat«, sagte Tante Beate. »Sicherlich wollte er dir damit nichts Böses antun. Und bestimmt wird er sich bei dir entschuldigen. Ich bin überzeugt, daß es ihm schon wieder leid tut, was er angestellt hat!«

Damit eilten die beiden weiter über den Acker.

Helmut, der Junge, von dem sie gesprochen hatten, saß zu dieser Zeit auf dem Trittbrett eines großen roten Autobusses, der auf der Landstraße stand. Hinter dem Lenkrad des Autobusses saß ein dicker Mann in einer Lederjacke und mit einem roten Gesicht und sah ihn böse an. Der dicke Mann war der Chauffeur des Autos und hieß Wiedmann. Herr Wiedmann war wütend.

»Als ob man nicht schon genug Scherereien mit neunzehn Kindern hätte«, sagte er zornig, »und als ob wir nicht ohnehin schon um eine ganze Stunde verspätet wären! Nein, da muß noch so ein Lausbub wie du die Autotür aufmachen und das Schaf hinauslassen!« Helmut, der Junge, mit dem Herr Wiedmann sprach, rutschte auf seinem Trittbrett ein bißchen hin und her. Er fühlte sich nicht wohl.

»Ich habe es nicht mit Absicht getan«, erklärte er unsicher.

»Nicht mit Absicht! Nicht mit Absicht!« wiederholte Herr Wiedmann ärgerlich. »Die Tür ist von selber aufgegangen, was? Glaubst du, ich habe nicht gesehen, daß du die kleine Lucie schon seit Salzburg geärgert hast?« Er stand auf, kletterte ins Freie und kam auf Helmut zu. Helmut war ein großer, starker Junge, der aussah, als ob er sich vor nichts fürchten würde. Herr Wiedmann schien dabei eine Ausnahme zu sein. Vor ihm fürchtete sich Helmut jetzt ein wenig. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schielte ängstlich nach oben, als er den Chauffeur sagen hörte: »Bei Gott, wenn ich nicht wüßte, daß man Kinder nicht schlagen soll, dann würde ich dir jetzt ein paar Ohrfeigen geben, daß du die Engel singen hörst, mein Lieber!«

Helmut schwieg und sah ihn an. Herr Wiedmann brummte böse und drehte ihm den Rücken zu. Er sah über den tief verschneiten Acker zum Waldrand hinüber, in dessen Schatten 18 Kinder und Tante Beate noch immer mit Bitten und Locken und Betteln versuchten, das Schaf Josef zu bewegen, zu ihnen zurückzukehren.

Die ganze Situation war sehr sonderbar, findet ihr nicht? Wie kam der rote Autobus hierher, auf die Landstraße, viele Kilometer entfernt vom nächsten Dorf? Wer war Tante Beate? Und wer waren die 19 Kinder? Woher kamen sie? Wohin fuhren sie? Wieso besaß Lucie ein schwarzes Schaf namens Josef? Und warum hatte Helmut es aus dem Autobus gestoßen? Das sind eine ganze Menge Fragen, und es lassen sich bestimmt noch ein paar weitere finden. Und um sie alle beantworten und unsere Geschichte so weitererzählen zu können, daß alle sie verstehen, müssen wir ein bißchen zurückgreifen und uns an Dinge erinnern, die schon hinter uns liegen. Um zu wissen, wohin der Autobus fährt, müssen wir wissen, woher er kommt. Wir müssen zurückkehren nach Salzburg. Und wir müssen die Zeit zurückdrehen von 2 Uhr nachmittag (so spät ist es jetzt) auf 8 Uhr früh. (So spät war es, als alles begann.)

*

Um 8 Uhr früh an diesem Tag stand der große rote Autobus noch auf dem Platz vor dem Festspielhaus in Salzburg. Salzburg ist eine sehr schöne Stadt, und der Platz vor dem Festspielhaus gehört zu einer ihrer schönsten Stellen. Die Sonne schien hell auf den weißen Schnee, und der rote Autobus leuchtete ordentlich unter ihren Strahlen. Es war ein sehr bequemer Autobus mit vielen Fenstern und blitzenden Metallbeschlägen. In seinem Inneren sah man weiche Ledersitze zu beiden Seiten eines Ganges, der durch den ganzen Autobus lief. Es waren sieben Sitze auf jeder Seite des Ganges, und auf jedem Sitz hatten zwei Fahrgäste Platz. Vorne, hinter dem mächtigen Lenkrad, war der Sitz des Chauffeurs. Aber um 8 Uhr früh saß der Chauffeur noch nicht auf ihm. Um 8 Uhr früh stand er neben der offenen Autobustüre und half seinen kleinen Passagieren beim Einsteigen. Auf der anderen Seite der Tür stand Tante Beate mit ihrem freundlichen Gesicht und nahm den Fahrgästen das Gepäck ab.

Es waren 19 Fahrgäste, und ohne Ausnahme Kinder. Sie gingen bereits in die Schule, der Jüngste unter ihnen war sieben Jahre alt und der Älteste neun Jahre. Manche hatten Rucksäcke, andere Koffer, und manche hatten beides, Rucksack und Koffer. Sie waren alle sehr aufgeregt, und die Eltern, die sie bis zum Autobus gebracht hatten und nun im Schnee herumstanden, waren mindestens ebenso aufgeregt. Sie gaben ihren Kindern gute Ratschläge, während sie sich verabschiedeten, und trugen ihnen auf, schön brav zu sein, gesund zu bleiben und Tante Beate zu folgen.

Vorne, an der Windschutzscheibe des Autobusses, klebte ein großer, weißer Zettel, auf dem mit großen schwarzen Buchstaben ein langes Wort geschrieben stand:

FERIENKINDERTRANSPORT

Und das erklärt eigentlich schon eine ganze Menge.

Ein Ferienkindertransport ist eine sehr lustige Angelegenheit. Viele von euch werden bestimmt schon so etwas mitgemacht haben. Wenn man einmal in die Schule geht, dann sieht das Leben anders aus. Dann kann man nicht mehr Fußball spielen und schwimmen, in den Wald laufen oder in der Sonne liegen, wann man will. Das kann man dann nur noch in den Ferien, wenn die Schule geschlossen ist.

Aber auch zu Weihnachten gibt es Ferien. Vom 23. Dezember an, dem Tag vor dem Heiligen Abend, bis zum 7. Januar, dem Tag nach dem Dreikönigsfest. Das sind natürlich ganz andere Ferien als die im Sommer! Da ist es kalt, es schneit, und man muß sich warm anziehen. Obwohl es so kalt ist, soll man doch viel im Schnee und im Wald herumlaufen, denn das ist sehr gesund. Im Winter wird man leichter krank, die gute klare Luft beschützt einen dann. Und weil Kinder doch nie so richtig ins Freie kommen, wenn sie in der Stadt wohnen, und weil man doch will, daß sie gesund bleiben, hat man die Ferientransporte erfunden.

Die Ferientransporte führen Kinder aus der Stadt aufs Land. Dort wohnen die Kinder dann in einem Hotel oder in einem Heim, eine Tante paßt auf sie auf, sie essen und spielen und singen und lachen – und zuletzt kehren sie gesund und braungebrannt und vergnügt zu ihren Eltern zurück, und die Schule kann weitergehen!

Genauso ein Ferientransport war es, zu dem sich die 19 Kinder am 26. Dezember um 8 Uhr früh auf dem Platz vor dem Festspielhaus in Salzburg versammelten.

Die Kinder kamen aus Schulen in Salzburg und in der Umgebung. Sie hatten alle blasse Gesichter, aber das sollte bald anders werden. »In einer Woche seid ihr schwarz wie Neger«, behauptete Tante Beate. Sie hatte schon viele Kindertransporte geleitet, und sie erklärte den Eltern, wohin die Fahrt ging. Die Eltern hörten so neugierig zu wie die Kinder, die einander ab und zu von der Seite ansahen, so, wie man neue Freunde mustert.

»Wir fahren zuerst nach Zell am See«, sagte Tante Beate, während Herr Wiedmann, der Chauffeur, die Rucksäcke und Koffer auf den leergebliebenen Sitzen hinten im Autobus verstaute. »Von Zell am See fahren wir dann in die Berge hinauf. Und am Abend sind wir in Schruns. Dort werden wir in einem schönen kleinen Hotel wohnen. Und am sechsten Januar kommen wir dann alle wieder zurück!«

Eine Frau mit einem mageren, blassen Jungen trat zu Tante Beate. »Ach, bitte, liebe Tante Beate«, sagte sie, »das ist mein Sohn, der kleine Karli. Achten Sie darauf, daß er sich jeden Tag brav in die Sonne legt, er sieht so schlecht aus und ist oft krank. Ich möchte, daß er sich einmal richtig erholt! Gerade jetzt fühlt er sich nicht gut.«

Tante Beate sah Karli aufmerksam an. Er blickte sie flehend an. »Du fühlst dich nicht gut?« fragte die Tante. »O ja!« rief der blasse Junge. »Ich fühle mich sehr gut, Tante, wirklich!«

»In der Nacht hat er Halsschmerzen bekommen«, sagte die Mutter.

Karli hatte Angst, daß man ihn vielleicht im letzten Augenblick wieder nach Hause schicken würde. Er kletterte schnell an Tante Beate vorbei in den Autobus hinein und hielt sich an einem Fensterrahmen fest.

»Ich habe gar keine Schmerzen mehr!« rief er. »Ich bin ganz gesund!«

Tante Beate betrachtete ihn nachdenklich.

»Zeig mir einmal deine Zunge«, sagte sie. Karli zeigte sie widerwillig. Die Zunge war weiß.

»Na, sehr hübsch sieht sie nicht aus«, meinte Tante Beate. »Wir haben oben in Schruns einen Onkel Doktor, der wird dich gleich untersuchen, wenn wir ankommen.«

Sie gab Karli einen liebevollen Klaps, und er strahlte sie an. Sollte der Onkel Doktor ihn ruhig untersuchen – wenn er nur mitfahren durfte! Er ging durch den Mittelgang des Autobusses nach hinten, wo bereits ein paar Kinder saßen. Neben einem sehr dicken Jungen war noch ein Platz frei. Der dicke Junge trug eine Brille, und auf seinen Knien lag ein Paket mit Wurstsemmeln und Äpfeln. Der dicke Junge hatte den Mund voll und kaute versunken. Er war so sehr mit Essen beschäftigt, daß er zuerst gar nicht hörte, daß Karli ihn etwas fragte. Karli mußte noch einmal fragen: »Darf ich mich zu dir setzen?«

Der dicke Junge sah auf und nickte.

»Mhm«, sagte er dann. Mehr konnte er nicht sagen, er hatte den Mund zu voll. Karli betrachtete ihn interessiert. »Ich heiße Karli«, erklärte er höflich.

»Mhm«, sagte der dicke Junge und kaute wie verrückt. Es schien ihn nicht sehr zu interessieren, wie Karli hieß. Er biß ein Riesenstück von seiner Semmel ab, schob das offene Paket zu Karli und murmelte dazu etwas, was so klang wie: »Hi-u-au?« Es klang so, weil er vor lauter Futtern nicht richtig sprechen konnte. Sonst hätte es geklungen: »Willst du auch?«

Karli verstand ihn auch so. Er schüttelte den Kopf und erwiderte: »Danke, nein. Ich habe gerade gefrühstückt.«

Der dicke Junge schluckte zum erstenmal alles, was er im Mund hatte, hinunter und sah ihn verblüfft an.

»Ich auch«, sagte er, jetzt mit klarer Stimme. »Aber ich habe schon wieder Hunger. Ich habe überhaupt immer Hunger.«

»Ich nicht«, sagte Karli.

»Das merkt man«, meinte der Dicke. »Du siehst auch so aus! Schau mich an! Essen macht stark. Da!« Er bog den linken Arm ab und ließ Karli seine Muskeln fühlen. Er hatte sehr starke Muskeln.

»Bum«, sagte Karli beeindruckt.

»Könntest du auch haben, wenn du mehr essen würdest!« sagte der Dicke. »Im übrigen heiße ich Martin«, fügte er hinzu. Er gab Karli die Hand. »Ich bin der dickste Junge in meiner Klasse«, erklärte er stolz.

»Das glaube ich«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Karli drehte sich um. Hinter ihnen saßen ein Junge und ein Mädchen. Der Junge hatte blonde Haare, die wild in die Luft standen, als wären sie noch niemals gekämmt worden, und das Mädchen war klein, zart und sah den großen rotbackigen jungen bewundernd an. Es war der Junge, der gesprochen hatte.

»Was glaubst du?« fragte Martin, ein wenig verärgert.

»Daß du der Dickste bist.«

»Der Dickste und der Stärkste«, erklärte Martin mit Betonung.

Der blonde Junge lachte. Es war ein ungläubiges und herausforderndes Lachen, und Martin wurde ein wenig röter im Gesicht. Karli fand, daß es eigentlich sehr ungezogen von dem blonden Jungen war, sich in ihr Gespräch einzumischen und den dicken Martin auszulachen, aber der blonde Junge sah aus, als ob er sich immer in die Gespräche anderer Leute einmischen würde. Es schien ihm viel Spaß zu machen, sich einzumischen. Das kleine, zarte Mädchen an seiner Seite betrachtete ihn hingerissen.

»Daß ich nicht lache!« sagte der Blonde. »Du und der Stärkste!«

»Du brauchst es ja nicht zu glauben«, meinte Martin beleidigt.

»Tu ich auch nicht«, sagte der Blonde. »Ich wette mit dir, daß ich mit einer Hand stärker bin.«

»Lächerlich«, sagte der dicke Martin und grunzte verächtlich.

Der Blonde stieß ihn in den Rücken, nur so zum Spaß, aber Martin zuckte zusammen.

»Wir können es ja einmal untersuchen«, sagte der Blonde. »Ich heiße Helmut, und ich wette mit dir, daß ich dich in zwei Minuten auf den Rücken lege.«

»Ich wette nie«, erklärte Martin. Er schien nicht nur dick und stark, sondern auch sehr diplomatisch zu sein.

»Weil du dich nicht traust«, sagte Helmut triumphierend.

»Nein«, sagte Martin, »weil ich Wetten nicht mag!«

»Feigling!« sagte Helmut herausfordernd.

»Ha!« sagte Martin und biß in seinen Apfel. Karli lachte ein bißchen aus Nervosität. Beim Lachen tat ihm der Hals weh. Er hörte schnell zu lachen auf, denn es war ihm unangenehm, an seinen Hals erinnert zu werden. Die Mutter des kleinen, zarten Mädchens trat an das Autofenster. »Na, Hanna«, sagte sie, »hast du schon Freunde gefunden?«

»O ja«, erwiderte die kleine Hanna und blickte scheu und bewundernd zu Helmut hinüber. Ihre Mutter wandte sich gleichfalls an den blonden Jungen.

»Paß ein wenig auf Hanna auf, bitte, ja?« fragte sie. »Sie ist ein bißchen ängstlich und unbeholfen und noch nie allein fortgefahren.«

Helmut stand auf und verbeugte sich wie ein Erwachsener.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, gnädige Frau«, sagte er ernst. »Hanna steht unter meinem Schutz.«

Karli blinzelte. Helmut sagte wirklich ›gnädige Frau‹ und ›unter meinem Schutz‹! Es klang unerhört erwachsen, und Karli wünschte, er hätte die Worte gesagt. Auch der dicke Martin schien sehr beeindruckt zu sein. Er schluckte hinunter, sah aus dem Fenster zu Hannas Mutter hinunter und äußerte: »Unter meinem Schutz auch!« Dabei sah er Helmut herausfordernd an. Hannas Mutter bemerkte den Blick nicht und sagte erfreut: »Na, dann kann ja überhaupt nichts passieren, Hanna, wenn du zwei so starke, nette Jungen zu Freunden hast, gelt?«

Hanna nickte mit sorgenvollen Augen und sagte leise: »Nein, hoffentlich nicht!« Sie schien sehr ängstlich zu sein. Martin drehte sich zu ihr um und reichte ihr einen Apfel. »Da«, sagte er. »Iß! Damit du groß und stark wirst!« »Danke«, sagte Hanna und lächelte ihm zu. Dann biß sie in den Apfel. Der blonde Helmut ärgerte sich. Die erste Runde hatte eindeutig der dicke Martin gewonnen.

Ehe er jedoch dazu kam, Hanna seinerseits einen Gefallen zu erweisen, ereignete sich beim Eingang des Autobusses etwas, was seine Aufmerksamkeit vollkommen gefangen nahm. Er stand auf und sah nach vorne. Er traute seinen Augen nicht. Denn beim Eingang des Autobusses stand eine kleine Menschengruppe. In der Mitte der Menschengruppe stand ein kleines Mädchen. Und neben dem kleinen Mädchen stand ein schwarzes Schaf!

Das schwarze Schaf war so dick und wollig, daß man zunächst überhaupt nicht sagen konnte, wo vorne und hinten war. Man hätte ihm eine Zigarre in den Mund stecken müssen, um es sagen zu können. Ferner stand das schwarze Schaf sehr unglücklich und bedrängt im weißen Schnee und schien darunter zu leiden, daß alle Leute es anstarrten.

Die Mutter des Mädchens, welches das Schaf an einem Strick festhielt, sprach gerade mit Tante Beate.

»Liebe Frau Beate«, sagte sie bittend, »erlauben Sie doch ausnahmsweise, daß Lucie Josef mitnimmt!«

»Wen mitnimmt?« fragte Tante Beate verblüfft.

»Josef«, sagte die Mutter. »So heißt das Schaf.«

»Ich habe hier einen Ferienkindertransport und nicht einen Ferienschafetransport«, sagte der Chauffeur Wiedmann, der dazutrat, und betrachtete das schwarze Schaf, das Josef hieß, mit Widerwillen.

»Es ist ein gutes, stilles Schaf«, sagte die Mutter. »Es macht nichts schmutzig, und es beißt nicht.«

»Es wird ganz still in einer Ecke liegen und schlafen«, sagte die kleine Lucie.

»Sie werden keine Scherereien mit ihm haben«, sagte die Mutter. Tante Beate schüttelte hilflos den Kopf.

»Aber, um alles in der Welt, was sollen wir mit dem Schaf denn in Schruns anfangen?«

»Da machen Sie sich gar keine Sorgen, Frau Beate!« rief die Mutter. »In Schruns wird Josef vom Autobus abgeholt. In Schruns erwartet man ihn bereits!«

»Wer erwartet ihn?« fragte Wiedmann mißtrauisch.

»Der Besitzer«, sagte Lucie.

»Wenn der Besitzer in Schruns ist, was macht das Schaf dann in Salzburg?« fragte Wiedmann weiter. Die Sache kam ihm sehr verdächtig vor.

»Es war bei uns nur zu Besuch«, sagte Lucie. Ihre Mutter unterbrach sie und erklärte gleich die ganze Situation.