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Die Brettln, die die Alpenwelt bedeuten: Der Metzger schwingt sich auf die Skipiste! Wintersport … ist Serienmord? Ein rätselhafter Obdachloser rettet einem kleinen Mädchen das Leben – um wenig später selbst aus ebendiesem zu scheiden. Als auch noch die Mutter des Mädchens vor den Augen des Metzgers in den Abgrund stürzt, ist der Startschuss für seine Ermittlungen gefallen. Die einzig heiße – oder vielmehr eiskalte – Spur führt in einen Wintersportort in den Alpen. Herzdame Danjela und Halbschwester Sophie sind ob der Aussicht auf Skispaß begeistert, den Metzger hingegen fröstelt es schon beim Gedanken an steile Hänge. Nicht zu Unrecht: Offenbar sind in den dortigen Luxushotels Morde all inclusive und die Schneekanonen schießen mitunter scharf. Und hinter der bestens präparierten Fassade des Alpendorfes tun sich weitere Abgründe auf: War die größenwahnsinnige Erweiterung des Skigebiets etwa nicht für jeden Ortsansässigen der erhoffte Segen? Wenn der Metzger dieses Rennen gegen die Zeit noch gewinnen will, muss er einen fehlerfreien Lauf hinlegen. Doch die Konkurrenz ist mörderisch … Der Metzger – ein Original Der Metzger, das ist einer, der alte Dinge liebt. Als Restaurator kennt er die Schönheit eines Gegenstands, wenn dessen abgenutzte Oberfläche eine Geschichte erzählt. Er ist einer, der gerne allein ist, manchmal allerdings war er auch einsam, bevor Danjela in sein Leben trat und es heller und schöner machte. Er ist einer, der in der Schule gemobbt wurde, weil er zu klug und zu weich war für die wilden Bubenspiele am Pausenhof. Einer, der gerne Rotwein trinkt, mitunter viel zu viel. Doch auch, wenn mit dem Wein manchmal die Melancholie kommt, weiß er um die schönen Seiten des Lebens. Und um die lustigen. Vor allem aber ist der Metzger einer, dem das Verbrechen immer wieder vor die Füße fällt, manchmal stolpert er sogar mitten hinein. Und dann muss er, sehr zu seinem Leidwesen, aber zur Freude einer großen Leserschaft, die gemütliche Werkstatt verlassen und Nachforschungen anstellen … Der Raab – ein Kultautor Der Raab, das ist einer, der einen unverwechselbaren Stil hat. Schräger Humor, authentische Charaktere, Wortwitz, feine Gesellschaftskritik; vor allem eine extrem gute Beobachtungsgabe und zugleich die Fähigkeit, die Beobachtungen treffend-komisch aufs Papier zu bannen, das ist die Mischung, die ihn so erfolgreich gemacht hat. Beim Lesen ist es zuweilen schwer zu entscheiden, ob man gespannt der Auflösung entgegenfiebern oder sich lieber doch möglichst viel Zeit lassen möchte, um das Lesevergnügen voll auszukosten. Und vielseitig ist er, der Raab – er schreibt nicht nur verschiedene Kriminalromane, sondern auch Drehbücher. In "Der Metzger bricht das Eis" schickt er seinen kriminalistisch begabten Restaurator auf ungewohntes Terrain, denn Skilifte und Pistenzauber sind des Metzgers Sache nicht – und beweist einmal mehr, dass es in puncto Wortwitz, Überraschungsmomenten und technischer Finesse so schnell niemand mit ihm aufnehmen kann!
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Seitenzahl: 405
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Thomas Raab
Der Metzger bricht das Eis
Kriminalroman
Morgenrot
mit Regen droht.
Alte Bauernregel
Manchmal ist das Leben einfach ganz schön kompliziert, manchmal ist es ganz einfach schön, ja und manchmal, manchmal ist es auch ganz schön einfach.
Da zeigt dann der Himmel auf Erden sein simples Gesicht, kommt auf Gummireifen ums Eck und katapultiert den Menschen zum Gipfelpunkt seiner Glückseligkeit: der erste eigene Wagen.
Er gibt es ja nur ungern zu, der Metzger, aber in seinem Innersten regt sich ein ungewohnter, bisher streng unter Verschluss gehaltener Gefühlszustand: Stolz.
Und wirklich recht ist ihm das nicht, denn der Stolz und ein Unkrautvernichter, die haben nicht selten ähnliche Wirkung, das eine Pflänzchen richten sie auf, die anderen zugrunde. Nur was soll er machen, als Steuermann dieses Gefährts heben sich sein Kinn und seine Brust gleichermaßen wie von selbst, festigt sich sein Gang, breitet sich ein Lächeln aus in seinem Gesicht. Allerdings ist es nicht das Lächeln eines Erstzulassungsbesitzers, denn weder der Wagen noch der Inhalt gehören ihm, lediglich die Verantwortung.
Entsprechend vorsichtig bewältigt er also die Gehsteigkante, hebt behutsam die Vorderräder, lässt sanft die Hinterräder hinuntergleiten, überquert die matschige Straße und erreicht sein Ziel. Zeitgleich erreicht ihn auch ein Anruf.
Und das versteht sich von selbst, seit Willibald Adrian Metzger diese einzigartige Lenkerberechtigung erteilt wurde, ist er ein Paradebeispiel an Abrufbereitschaft.
Aktuelle Kontaktaufnahme seiner Herzdame Danjela Djurkovic: „Bist du schon in Park?“, dröhnt es dem Metzger in der von ihm so geliebten akzentreichen Aussprache ins Ohr.
„Ja, Danjela. Stell dir vor, es ist mir gelungen, diese eine kaum befahrene Straße unfallfrei zu überqueren. Du darfst mir gratulieren!“
„Na, dann gratuliere. Passt du jetzt bitte gut auf, meine Held, auf eisige Weg und auf Schnee, was fällt runter von Äste und Dächer.“
Letzter Anruf seiner Herzdame Danjela Djurkovic, vor circa zehn Minuten: „Hast du gut eingepackt in Overall, Schlafsack und Decke, weil kommt heute nix raus Sonne?“
Vorletzter Anruf seiner Herzdame Danjela Djurkovic, vor circa zwanzig Minuten: „Hat Lillimaus Flasche getrunken leer und schlaft schon? Wenn ja, dann ist Zeit für Spaziergang!“
Selbst der mit noch so großer Abkürzungs-Verunmöglichungs-Absicht ausgewählte Vorname ist vor Verlängerung nicht gefeit. Lillimaus also, immer noch besser als Lillifee, weiß der Metzger mittlerweile, tatsächlich aber: Lilli Matuschek-Pospischill, Tochter der Witwe Trixi Matuschek-Pospischill und des Kommissars Eduard Pospischill, Willibalds verstorbenem Freund. Ein Vater, den die kleine Thronfolgerin zu Lebzeiten niemals wird kennenlernen dürfen, obwohl sie bereits jetzt schon nicht verleugnen kann, wer ihr Erzeuger ist. Zu übereinstimmend sind die Babyfotos in den Alben zweier Generationen. Im Grunde ist bei näherer Betrachtung des Säuglings einzig der Vater zu erkennen, als hätte sich der Kommissar auf diesem Weg zurück ins Leben geschummelt.
Und wenn sie nicht quietscht, dann schläft sie oder trinkt sie oder schaut sie nur. Und wenn sie schaut, und der Metzger kommt auf sie zu, dann lächelt sie. Und weil sie das tut und weil der Metzger so große schaufelartige Hände hat, in die ihr Kopf so schön hineinpasst, und so starke Arme, in die ihr Körper so schön hineinpasst, und so eine Engelsgeduld, in die ihre Neugierde so schön hineinpasst, weil das eben alles so schön ist und einfach so passt, hat Lilli Matuschek-Pospischill die Erlaubnis, sich gelegentlich nur von Willibald Adrian Metzger durchs Leben wiegen oder tragen oder schieben zu lassen. Zu diesem Anlass kommt Mama Trixi Matuschek-Pospischill mindestens einmal pro Woche zeitig morgens in der Werkstatt vorbei, verlautbart: „In spätestens zweieinhalb Stunden bin ich wieder da. Ich dank dir so!“, und lädt daraufhin während der Pilates-Stunde im Fitnesscenter ums Eck ihre Batterien auf, was bedeutet: Sie braucht sich nicht sorgen, der Metzger darf sorgen, und die Djurkovic macht sich Sorgen. Abermals läutet es: „Hast du geschaut in Windel und wenn notwendig gewechselt, weil is nix gut, kalte Wetter und nasse Hose?“
„Melde gehorsam: Vor dem Füttern in die Windel geschaut, Windel gewechselt, wieder angezogen. Alles gut.“
Und genau das stimmt nicht. Denn seit Lilli wohlbehalten auf dieser Erde angekommen ist, fühlt es sich für Danjela Djurkovic schlichtweg nach Einzelhaft an, wenn sie dank ihrer Festanstellung als Hausmeisterin einer Schule, also Schulwartin, in puncto Zeiteinteilung nicht über dieselbe Flexibilität verfügt wie ihr selbstständiger Restaurator und Lebensmensch Willibald Adrian Metzger. Kein Wunder, wenn sich da ihr Gesamtzustand trotz der eben erst ausgeklungenen Feiertage schwer in Richtung Urlaub entwickelt hat.
Genau den soll sie bald bekommen.
Es sind immer dieselben Gesichter, denen der Metzger im Park und auf dem Spielplatz begegnet, mehrheitlich vom selben Geschlecht, denn alle anwesenden Hunde und Kinder werden bis auf eine einzige Ausnahme von Frauen betreut. Diese einzige Ausnahme ist hier sozusagen der Hahn im Korb. Ausgestattet mit einem derartigen Wissen würde es Danjela Djurkovic natürlich noch erheblich schlechter gehen.
Von Herumturteln kann allerdings nicht die Rede sein, nicht einmal von Rede. Der Metzger spaziert nur, schaut nur und grüßt nur freundlich. Mehr ist auch gar nicht notwendig, denn allein die Art und Weise, wie sein Spazierengehen wahrgenommen und sein Gruß erwidert wird, lässt ihn erkennen: Ich bin hier gern gesehen. Und richtig wohl fühlt er sich dabei nicht, der Willibald. Ob einem anwesenden Mann ein derart wohlwollender Gruß zuteilwird, hängt nämlich, wie so oft im Leben, auch hier von seinem Wagen ab.
So kommt es also, dass sich in diesem Park regelmäßig die Wege zweier Herren kreuzen: einer ausgestattet mit Kinderwagen, folglich gern gesehen, der andere mit Einkaufswagen, folglich nicht gern gesehen, schon gar nicht in der Nähe des Kinderspielplatzes. Einer besucht den Park, der andere bewohnt ihn.
Als wüsste er über diese Umstände Bescheid, spaziert der andere auch heute wieder am Metzger vorbei, lässt das geschlechtersolidarisch gemeinte „Guten Tag!“ unbeantwortet, brummt stattdessen vor sich hin, blickt starr über die Vorderkante des scheppernden, mit unzähligen Plastiksäcken, Decken, Kartons und anderem Krimskrams gefüllten Gefährts, an dessen Front ein altes Stoppschild baumelt, zieht sich die Kapuze seines zerschlissenen Mantels noch eine Spur tiefer ins Gesicht, kratzt sich seinen rothaarigen Vollbart und setzt unbeirrt einen der beiden ausgetretenen roten Moonboots vor den anderen. Dann folgt ein ums andere Mal dasselbe Ritual: Der kleine Pavillon inmitten der Wiese wird angesteuert, ein Teil der Plastiksäcke ausgeräumt, akribisch wird auf der dort einzigen vorhandenen Bank zuerst eine Plastikplane, dann ein großer Karton, dann ein Schlafsack ausgebreitet und schließlich in Decken gewickelt darauf Platz genommen. Eine Zeit lang blickt der Mann murmelnd ins Leere, schließlich kramt er eine Thermoskanne, einen Block und einen Bleistift heraus und beginnt zu schreiben. Seite für Seite, ohne Unterbrechung, jedenfalls solange der Metzger hier seine Runden dreht, vielleicht aber auch, bis sie schläft, die ganze Stadt.
Lilli schmatzt leise vor sich hin, wie auf Schienen rollt der Wagen über den Weg, der Schnee knirscht unter den Winterstiefeln, dann taucht der Spielplatz auf. Ein unauffälliger Kontrollblick, wer ist heute alles da, wer sitzt bei wem, wer unterhält sich mit wem, wer füttert wem was, wie ist die Stimmung, ein selbstbewusstes Zurechtrücken der Decke im Inneren des Kinderwagens, ein freundliches Heben der Hand, ein leichtes Heben der Brust, ein kurzer Anflug des Stolzes. Schön kann es sein, das Leben.
Drei bis vier gemütliche Runden legt er hier regelmäßig zurück, der Metzger, was sich tragischerweise keinen Millimeter auf seine eigenen Rundungen auswirkt.
Runde eins bleibt heute ohne nennenswerte Besonderheiten. Lediglich die frisch über den verschneiten Weg gestreuten Kieselsteine fallen ihm auf.
Im Laufe von Runde zwei registriert er die bereits bezogene Bank im Pavillon und ortet leichte Unruhe auf dem Spielplatz. Ein dritter, groß gewachsener, kräftiger Mann mit verspiegelten Gläsern, Schirmkappe, hochgeschlossener Skijacke und übergestreifter Kapuze ist aufgetaucht, zückt eine Kamera mit auffällig großem Teleobjektiv und beginnt zu fotografieren: Vögel und deren Futter, Hunde und deren Besitzer, Mütter und deren Kinder, den Obdachlosen und seinen Einkaufswagen. Der Mann wirkt, als stünde er nicht mit Kamera vor dem Sicherheitszaun eines Kinderspielplatzes, sondern mit Pistole vor dem Sicherheitsglas eines Auszahlungsschalters. Das kann er eben, der Winter, Landschaften und Menschen bis zur Unkenntlichkeit verwandeln.
Ein wenig beobachtet der Besucher die Kinder, dann schickt er einen schrillen Pfiff durch den Park. Keiner der durch den Schnee jagenden Hunde zeigt eine Reaktion, einzig die Korbschaukel verliert an Schwung. Ein größerer Junge, der bisher vorsichtig, aber beherzt dem Gejohle eines Mädchens Anstoß verliehen hat, steht mit hängenden Schultern hinter dem Holzgerüst, während die Kleine schweigsam auspendelt. Eine der anwesenden Mütter kommt von hinten mit einem Rucksack zu ihm, legt ihre Hände tröstend auf seine Schultern, stoppt die Korbschaukel und hebt das Mädchen heraus. Dann stehen die drei umarmt im Schnee. Ein neuerlicher Pfiff, gefolgt von einem strengen: „Berni, her da!“, löst auch diese Idylle auf. Der Junge ergreift seinen Rucksack, die Zerrissenheit steht ihm ins Gesicht geschrieben, wenig später nimmt der stämmige Mann den Buben grob an der Hand und der Metzger die dritte Runde in Angriff, und es ist eine anstrengende dritte Runde, zumindest emotional. Da kommt ihm nämlich gleich die Erinnerung an seine eigene Kindheit, an die eigene Verzweiflung ob der plötzlich veränderten Normalität. Vom Kind zum Scheidungskind, zum alleinerzogenen Kind, zum Halbwaisen trotz lebender Erzeuger, das geht für die uneingeweihte Brut oft dermaßen rucki-zucki, da kann ein Zeugungsakt nicht mithalten.
Ebenso rucki-zucki sind sie weg, der Junge und der Mann, der vielleicht sein Vater ist. Was auch immer in dieser Familie für Verhältnisse vorherrschen, unschwer ist für den Metzger zu erkennen, es sind Verhältnisse, die ein Kind verhalten werden lassen.
Entsprechend nachdenklich absolviert er also seine dritte Runde, an deren Ende die Dinge ihren Lauf nehmen. Und es sind seltsame Dinge. Alles beginnt mit einer Lektion hinsichtlich kommender Erziehungsaufgaben, die dem Metzger unmissverständlich verdeutlichen: Die dafür nötigen Zutaten beginnen alle mit Be: Bedrohen, Belügen, Belohnen, gegebenenfalls Bestrafen.
„Mein Gott, kaum passt man einmal nicht auf die Kinder auf! Jakob! Gehst du bitte runter von der Anna, die mag keinen Schnee essen! Im Schnee kann alles Mögliche sein, Hundelulu, Vogelgagsi, Spucke, pfui ist das, da kann man sterben, und das tut weh. Geh, Hanni, kannst du deinem Bub nicht ein bisschen die Leviten lesen!“, lässt nun jene Mutter von sich hören, die gerade den großen Jungen mit seinem Rucksack auf den Weg geschickt hat.
„Jako-hob, hast du die Maria gehört, runter von der Anna, oder soll ich dem Papa erzählen, dass seine Fischerl im Aquarium nicht irgendwelche Bakterien umgebracht haben, sondern zwei Geschirrspüler-Tabs. Runter! Deinen Schokopudding kannst du heute jedenfalls vergessen. Hundertprozentig!“
„A-ha-na. Wenn du dem Jakob immer so wild die Haube runterziehst, brauchst du dich aber wirklich nicht wundern, wenn er dir … Komm jetzt her. Anna, kommst du. Kommst du bittehe! Sag, wenn du nicht gleich … Bekommst auch ein Gummibärli. Brav. Setz dich. Mein Gott, nicht in den Schnee, da wird die Hose patschnass, auf die Bank natürlich, zu mir. Wozu schlepp ich eigentlich die Schaumstoffunterlagen mit. Na geh, blöd, ich glaub, die Bärlis hab ich jetzt dem Berni mitgegeben. Bleibst trotzdem ein bisserl bei mir sitzen, jetzt, wo du schon da bist, gell, und isst schön brav dein Obst. Annnna, nein! Finger weg, das ist nur was für Erwachsene, das gehört der Tante Hannelore. Geh, Hanni, was lässt du das auch so offen herumstehen!“
Dann toben nicht nur die Kinder, sondern auch die Mütter:
„Maria, ganz ehrlich, wenn der Anna deine braunen Apfel- und Bananenscheiben nicht schaden, die da in dem Tupperware-Behälter vor sich hin gären und die dir wahrscheinlich nicht einmal der Sandler dort hinten abnehmen würde, wird sie an dieser einen Nuss auch nicht zugrunde gehen!“
„Na klar, die Frau Berger reicht ihrem eigenen Kind als Zwischensnack täglich ein paar Nüsse, in diesem Fall Wasabinüsse – Anna, Nein hab ich gesagt, hörst du mich –, außerdem sieht mir das gewaltig nach Milchschnitte aus, mit dem du deinen Jakob alle dreißig Minuten mästest, bis er platzt. Tipp: Frag ihn mal, was ihm lieber ist, dein japanisches Dosenfutter und das kohlensäurefreie Nobelmineralwasser oder mein Obst und der Apfelsaft?“
„Und das Gummizeugs, mit dem du deine Tochter gefügig machst. Ernährungstechnisch auch nicht gerade ein überzeugendes Gesamtpaket. Abgesehen davon ist das ja auch meine Jause und nicht die von Jakob.“
„Deine Jause! Ist ja auch wirklich notwendig, sich als Mutter für die Zeit am Spielplatz einen eigenen Imbiss einzupacken!“
„Willst du jetzt auf meine Figur anspielen? Lieber etwas Hüftspeck und Freude am Essen als spindeldürr und hoffen wie die Geier, dass das eigene Kind ein paar faulige Apferl übrig lässt!“
„Anna, jetzt setzt’s aber was, spuck das sofort aus! Hanni, schau, jetzt hat’s die Nuss im Mund, Herrgottszeiten! Anna, Anna, nicht schlucken! Ahanna! Anna?“
Der Metzger ist überzeugt, dieses Schauspiel würde wahrscheinlich noch ein Weilchen so weitergehen, im schlimmsten Fall mit Todesfolge, wenn dem nicht ein anderes umwerfendes Ereignis dazwischenkäme.
Anna öffnet den Mund, beginnt zu röcheln, greift sich an die Gurgel, verdreht die Augen und kippt um. Ein paar Krähen sind zu hören, das Brüllen der auf ihr Kind zustürmenden Mutter, die verzweifelten Hilferufe, während sie ihre regungslose Tochter durchrüttelt, und die Stimme eines Zaungastes: „Man muss die Rettung rufen!“
Die Rettung ist sofort da. Vom Pavillon kommt sie über die verschneite Wiese gestürmt, muss dabei kurz dem Höllentempo und den ausgelatschten roten Moonboots Tribut zollen, fällt in den Schnee, rappelt sich hoch, stolpert weiter, springt über den Holzzaun auf den Kinderspielplatz, beugt sich fortwährend murmelnd über das Mädchen, registriert den Atemstillstand, zieht es hoch, umklammert es von hinten und drückt es fest zu sich. Wie ein Laubfrosch hüpft die Wasabinuss im hohen Bogen heraus aus dem Kindermund und hinein in den Schnee. Ein paar Ladungen Sauerstoff vom bärtigen zum Kindermund reichen, dann geht es wieder selbstständig auf und ab mit Annas Brustkorb. Nur die Augen bleiben geschlossen. Und wieder springt sie auf, die Rettung, eilt zum Tisch, nimmt die beiden Schaumstoffsitzunterlagen, legt diese neben das Mädchen in den Schnee, dreht den Körper in die stabile Seitenlage hinauf auf die Liegestätte, all das, ohne für einen Moment mit dem Murmeln aufzuhören, und all das beobachtet von Annas Mutter Maria, Hannelore Berger samt ihrem Jakob, Willibald Adrian Metzger samt seiner schlafenden Lilli, den am Spielplatzzaun aufgereihten Zuschauern und ganz am Ende auch unter den geöffneten Augen Annas. Aus dem Zuschauerraum ist ein Raunen zu hören, Applaus setzt ein, ein euphorisches „Bravo“ verirrt sich aus Hannelore Bergers Mund.
Langsam weicht der Obdachlose von Anna zurück. Mit großen Augen starrt sie ihn an. So auch Annas Mutter, als wäre sie Zeugin einer Erscheinung, eines Wunders, und gleichzeitig steht ihr etwas unfassbar Sanftes, fast Liebevolles ins Gesicht geschrieben. Kurz trifft sich ihr Blick mit dem des Obdachlosen. Aus dem Niemand ist ein Jemand geworden.
Ein Jemand, der dem ganzen Gehabe nach zu urteilen nur noch eines will: zurück in seine Einsamkeit. Mit großen Schritten flüchtet er den Hang hinauf Richtung Pavillon. Wenig später übernimmt die eingetroffene Berufsrettung.
Schaurig, fast eisig sieht es dann aus, das durch die weiße Stadt davonfahrende Blaulicht.
Auch die Reihen der Zuschauer lichten sich, manche stecken ihre Köpfe zusammen, tuscheln sich etwas zu, manche beginnen zu telefonieren, und auch Lillis Kinderwagen setzt sich wieder langsam in Bewegung. Irgendwie besorgniserregend und irritierend klingen sie dem Metzger nach, die wenigen verständlichen Wortfetzen des mittlerweile verklungenen fortwährenden Gemurmels aus dem Munde von Annas Lebensretter: „Jetzt geht das Sterben wieder los, es geht wieder los!“
Nach so einem Ereignis ändert sich schlagartig die Wahrnehmung. Nicht, dass der Metzger in Zukunft auf seine wöchentliche Spazierfahrt verzichten möchte, mit einem aber ist es für die nächste Zeit erst einmal vorbei: mit dem unbekümmerten Blick hinein zu seinem Fahrgast. Ab jetzt wird er zuallererst wissen wollen: Hat sie noch rote Backen, sind die Händchen auch schön warm, hebt und senkt sich der Bauch. Es will ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf, dieses Bild des erstickenden Mädchens im Schnee und des wie aus dem Nichts auftauchenden Retters. Nichts im wahrsten Sinn des Wortes, denn ein Mensch ohne Dach über dem Kopf, ohne Hab und Gut besitzt nicht nur nichts, oft nicht einmal eine Perspektive, sondern ist, was die Sichtweise der anderen betrifft, auch noch ein Nichts. Zumindest diesbezüglich hat das Leben vorhin für einen flüchtigen Moment den Deckel dieser selbst gemachten fensterlosen Schachtel namens Norm hochgehoben, allen Insassen wie dem Kasperl in der Kiste einen Blick hinaus gewährt und sie erkennen lassen, dass so ein Nichts mit einem Mal nach ganz schön viel aussehen kann, direkt nach Mitmensch.
„Ich muss mit ihm reden“, beschließt der Metzger also, da liegt Lilli bereits wohlbehalten und aufbruchbereit inmitten des Gewölbekellers in den Armen ihrer Mutter. Glühend rot sind die weiblichen Backen, bei der einen war es die frische Luft, bei der anderen die Pilates-Stunde und der Anblick des knackigen dunkelhäutigen Vorturners in seiner hautengen Adjustierung. Nur wegen des Fettabbaus allein ist es eben verdammt schwer mit der Regelmäßigkeit.
Und weil der Willibald dem durchaus schön anzusehenden Erholungszustand der beiden Damen kein abruptes Ende setzen will, erspart er Trixi Matuschek-Pospischill den tatsächlichen Reisebericht und schickt ihr nur ein: „So brav war sie, unsre kleine Prinzessin“ hinterher.
Auch bei Danjela Djurkovic, die adjustiert mit blauem Mantel und Wischmopp gerade ihre Fitnesseinheit im Stiegenaufgang eines humanistischen Gymnasiums absolviert, wird telefonisch jeder Grund für zusätzliche Nervenstrapazen vermieden.
„Ist wieder gut zurück in Werkstatt, Lillimaus?“, lautet der Inhalt ihres Kontrollanrufs, entsprechend besänftigend fällt die Antwort aus:
„Du, ich bin wegen der vielen Arbeit heut einfach früher zurück. Lilli wollte noch ein wenig schaukeln und kommt dann nach!“
„Brauchst du mich nix verschaukeln, weil gibt sonst zu Hause wirklich viele Arbeit und kannst du übernehmen auch noch Abendgassirunde mit Edgar!“
Weil ich ja nie mit dem Hund geh!, denkt sich der Metzger, schließt trotzdem wohlwollend ab mit: „Wir sehn uns, wenn es dunkel ist, Geliebte!“, schlüpft in sein Wollsakko, seine Winterstiefel und überquert erneut die Straße. Diesmal weitaus weniger gemütlich als zuvor mit Lilli, allerdings nicht weniger vorsichtig. Ein Park hat eben so seine Tücken. Eine noch so großzügig angelegte Hundezone bedeutet ja nicht gleichzeitig, dass das, wofür sie angelegt wurde, auch darin abgelegt wird, von Wegräumen ganz zu schweigen. So ein Hunderl wäre in gewisser Weise ja lernfähig genug, sind ja keine Idioten, die Vierbeiner – was von deren zweibeinigen Besitzern nicht unbedingt flächendeckend behauptet werden kann. Dass sich beispielsweise als Mitbewohner im Familienverband oder als Streicheltier am Kinderspielplatz eventuell ein freundlicheres Exemplar anböte als ein Pitbullterrier oder Rottweiler, verleugnet so mancher Tierliebhaber ja selbst noch vor dem Grabstein des kleinen Jonas, drei Jahre, diesem dummen Jungen, der eben nicht verstanden hat, dass das Viecherl in Wahrheit ja nur spielen wollte. Ausschließlich am Besitzer hapert es also, wie auch hier im Umkreis der Hundezone deutlich zu erkennen ist. So ist sie eben, die Menschheit: ins eigene Wohnzimmer scheißen, niemals, ins Wohnzimmer der anderen, das ist schon ganz etwas anderes.
Zwei Ausnahmen gibt es:
Menschen, die intelligenterweise unter Wohnzimmer auch jenen von ihnen frequentierten Lebensraum verstehen, der über die eigenen vier Wände hinausgeht, also ihre Umwelt; oder Menschen, die bedauerlicherweise gar keine eigenen vier Wände besitzen und folglich ihre Umwelt zwangsweise als eigenes Wohnzimmer verstehen müssen. In beiden Fällen gilt auch hier: ins eigene Wohnzimmer scheißen – niemals.
Und so muss der durch den Park manövrierende Metzger jetzt gar nicht erst den Pavillon und den dort geparkten Einkaufswagen ansteuern, um das Ziel seines Spazierganges zu erreichen.
„Liegen lassen, überall, den Dreck liegen lassen, den Kot, den Unrat, den Menschen, einfach liegen lassen. Gut gemacht Nummer 22 – hopp, hopp hinein in die gute Stube, weg vom Weg. Weg, weg, sonst weckt es den Eiligen, hopp, hopp. Ja, ja, gleich Nummer 23, gleich kommst du an die Reihe, hinein zu den anderen. Und patsch. Patsch macht es, wie ein Stück Topfenstrudel hinein in die Vanillesoße. Geht es dir gut, Mutter, Kaiserin des Topfenstrudels, patsch, geht es dir gut!“
Hektisch läuft der Mann mit Vollbart und ohne Meldezettel durch den Park, einen Plastiksack in der einen, eine als Schaufel zweckentfremdete Zeitung in der anderen Hand, und räumt vor sich hin murmelnd den Weg. Ohne den Metzger eines Blickes zu würdigen, widmet er sich dem nächsten Hundehaufen.
„Schwups, Nummer 23 – hinauf auf die Zeitung. Zeitung, Zeit und Dung, dreckige Geschichten. Überall liegt er, der Dreck, überall, darunter und darüber. Darüber ist wichtig, das verbirgt das Darunter, wichtig. Dreck als Tarnung für Dreck, Menschen als Vorwand für Menschen. Und Patsch Nummer 23, hinein in die gute Stube, geschafft, geschafft, geschafft, geschafft!“
„Hallo, dürfte ich Sie kurz sprechen …!“
Der Metzger tritt zwecks Kontaktaufnahme einen Schritt näher, was sein Gesprächspartner zum Anlass nimmt, sich ruckartig zu erheben und weiterzulaufen. Schneller wird seine Gangart, undeutlicher die Worte, der Restaurator muss ein für ihn ungewohntes Tempo einschlagen, um überhaupt mithalten zu können. Offenbar hat sich nun die Aufgabenstellung geändert, denn Nummer 24, 25, 26 werden ignoriert, unterwegs verschwindet der Plastiksack in einem Mistkübel, es geht vorbei an Nummer 27, was den Metzger betrifft nur haarscharf, gerade noch kann er einen letzten rettenden Haken schlagen. Auch der Vordermann ändert unvermutet die Richtung. Blitzartig geht es hinein in die kniehoch verschneite Wiese. Und da kommt nun die Größe des gebückt gehenden Herrn so richtig zur Geltung, denn nur wegen einer schlampigen Haltung werden ja schließlich die Beine nicht kürzer. Mit gewaltigen Schritten springt er überraschend leichtfüßig durch den hohen Schnee hinauf in Richtung Pavillon, abwechselnd blitzen die roten Moonboots auf, links ein Leuchten, rechts ein Leuchten. Gleichzeitig vernebelt ein Schnaufen die Luft, und ein Rufen dröhnt durch den Park: „Bitte warten Sie doch, ich möchte mit Ihnen reden!“
Da sitzt der Obdachlose längst schon entspannt auf der Bank, erreicht schließlich auch der Metzger völlig außer Atem sein Ziel. Überraschend geräumig ist es unter dem Pavillon. Im Sommer als Schattenspender gedacht, wünscht man sich hier im Winter nichts anderes als Wärme. Gut, wenn einen Erdenbürger schon das Leben nicht vor Niederschlägen bewahren kann, kann es vielleicht das vorhandene Dach – das ist dann aber schon alles. Eisig pfeift der Wind durch die Holzsäulen, kalt wie der Flaschenhals all jener perfekt temperierten Schaumweine, mit denen vor Kurzem erst das neue Jahr begrüßt wurde, ist der gusseiserne Rahmen der Parkbank, und frostig die Begrüßung. Ohne den Metzger eines Blickes zu würdigen, murmelt der Bärtige weiterhin in monotonem Tonfall und in einem Höllentempo vor sich hin:
„Der Mann mit dem anderen Wagen, mit dem anderen Wagen. Kinderwagen. Kind oder nicht Kind, das ist hier die Frage, egal wie edel im Gemüt, man weiß es nicht, man sieht es nicht, wenn man nicht hingeht und hineinsieht, weiß man es nicht. Vielleicht ein Kinderwagen ohne Kind, so wie ein Einkaufswagen ohne Einkauf, so wie mein Einkaufswagen. Der Mann mit dem anderen Wagen. Was restauriert ein Metzger, ein Metzger gegenüber in der Werkstatt, totes Fleisch ist totes Fleisch, es gibt kein Zurück, was restauriert ein Metzger. Tote Kinder sind tote Kinder, es gibt kein Zurück, kein Zurück. Null ist Null ist eine natürliche Zahl, jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger, nur Null ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl. Null ist der Anfang. Ich bin eine Null, ich bin am Anfang, nicht am Ende, Punkt. Am Nullpunkt …“
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, unterbricht der Metzger diesen unentwegten Fluss der Worte und nimmt Platz. Kurz hält der Angesprochene inne, dann geht es weiter:
„Nächster bitte. Bitte setzen, auch wenn er schon sitzt, egal, bitte setzen. Ausweis bitte, hat er ansteckende Krankheiten, Krankheiten, die sich fortpflanzen, ruckzuck, Neid, Gier, Hass, Unrecht, ansteckende Krankheiten, hat er das, hat er das und weiß es nicht, noch schlimmer: Hat er das und weiß es. Hat er ein eigenes Bett, so wie dieses, so warm wie dieses, so frei wie dieses, hat er etwas zu essen, wuff wuff, zu essen, so wie dieses, wuff, hat er …“
Die offene Dose Hundefutter zu Füßen des Mannes ist dem Metzger bereits beim Hinsetzen aufgefallen. Um 17 Uhr wandert im Supermarkt die Armut mit brauchbarem Hundefutter bei der Vordertür hinaus in die Kälte, ab 19 Uhr wandert die zumindest bis zum Ladenschluss noch brauchbar gewesene Ware bei der Hintertür hinein in die von Eisengittern und Vorhängeschlössern umgrenzten Mülltonnen – es ist, wie es ist, sagt die Liebe.
Ein Klumpen, der beim Gedanken an die eigenen Küchenabfälle nicht kleiner wird, liegt dem Restaurator im Magen. Winzig kommt er sich vor in Gegenwart dieses heruntergekommenen Mannes, winzig und belanglos. Wie alt wird er wohl sein, geht es ihm durch den Kopf. Sicher, Schmutz, Müdigkeit, Alkohol, Unterernährung und ein Vollbart machen nicht jünger, auf mehr als vierzig Jahre schätzt er seinen Sitznachbarn aber trotzdem nicht. Regungslos blickt dieser auf seinen Block und füllt Zeile für Zeile. Schlecht in Mathematik war der Metzger ja nie, zumindest im Vergleich zu seinen Mitschülern, von all den hier notierten Zahlen und Zeichen versteht er allerdings nichts. Nicht einmal ansatzweise.
Abermals beginnt er das Gespräch, diesmal eingeleitet von einer auf die Bank gelegten Visitenkarte.
„Das bin ich, Metzger mein Name. Mit wem hab ich denn das Vergnügen?“
Unbeirrt wird weiter aufs Papier gekritzelt.
Daran ändert sich auch nichts, obwohl der Metzger wiederholt höflich um Auskunft bittet und den Vorschlag offenbart, beim Würstelstand ums Eck ein Abendessen und ein Bier ausgeben zu wollen. Einzige Antwort: „Alkohol, nein danke, Atomkraft, nein danke, Menschen, nein danke.“
„Einen guten Überblick hat man von hier …!“, nutzt der Metzger die neuerliche Gesprächigkeit seines Sitznachbarn aus.
„Nicht vorgesehen, ein guter Überblick, nicht vorgesehen, nicht gesund. Bevor man weise wird, wird man Vollwaise.“
Nun unterbricht auch der Metzger: „Sie haben gerade einem Kind das Leben gerettet. Es ist so unglaublich …“
„So unglaublich ist alles, wirklich alles, unglaublich. Das Wasser, die Ölpest, der Backfisch, der Schnee, der Klimawandel, die Schneeglöckchen, der Hefeteig, das Töten, die Hände, das wohltemperierte Klavier, alles. Unglaublich ist alles. Unglaublich, wie ein dummes Menschhirn, ein dummes, kleines Menschhirn behaupten können will, zu wissen, woran man glauben soll, wenn doch alles so unglaublich ist, viel zu unglaublich. Nur Klauben ist sinnvoll, Obst und Nüsse unter Bäumen, Menschen von der Straße, nur Klauben ist sinnvoll. Die Menschen glauben einander zu viel und klauben einander zu wenig auf. Überflüssig und anmaßend, das Glauben, überflüssig. Hat er ein eigenes Bett, so wie dieses, so warm wie dieses, so frei wie dieses, hat er? Oder eines wie Anna? Hat er? Annas Bett ist nicht gemacht, noch nicht gemacht. Sie wird sterben, aber nicht jetzt, vielleicht in siebzig Jahren, aber nicht jetzt, nicht vor mir, bitte nicht vor mir.“ Dann verstummt er. Plötzlich sind die von seinem angenagten Bleistift am Papier hinterlassenen Zeichen deutlich dunkler und dicker.
„Was meinten Sie vorhin mit: ‚Jetzt geht es wieder los, das Sterben, es geht wieder los!‘?“, hakt der Metzger nach. Doch vergeblich. Schlagartig ist Schluss mit den Notizen, der Obdachlose blickt starr ins Nichts. Endlos scheint dem Metzger die Stille. Schließlich wendet sich langsam der Kopf seines Nachbarn, aus dem Mund unter dem dichten rothaarigen Vollbart kommen flüsternd unverständliche Worte hervor, unheimlich klingen sie, dann heben sich die dichten rötlichen Augenbrauen, und tiefe, fast schwarze Pupillen heften sich an den erstaunten Blick des Metzgers. Kein Wort bringt er heraus, der Willibald, sieht hypnotisiert in diese tiefgründigen, traurigen und zugleich gütigen Augen, sieht keine Frage darin, nur eine sonderbare Abgeklärtheit, und sieht den Blick schließlich wieder unter den Augenbrauen verschwinden. Behäbig breitet sich der Mann auf seinem Karton aus, schlüpft in seinen Schlafsack und umhüllt sich mit einer Decke. Seine Schuhsohlen berühren die Oberschenkel des Restaurators, und nur schwer kann er sich lösen, der Metzger, durchströmt von einer seltsamen Verbundenheit.
„Guten Tag“, meint er zum Abschied, und es erscheint ihm wie eine Verhöhnung. Was soll an einem Tag ohne Dach über dem Kopf schon gut sein.
Ping – so klingt er heutzutage, der betörende Gesang der Sirenen: vorbeisegeln unmöglich.
Kussbereit sind seine Lippen geformt, allerdings nicht um der Liebkosung willen, sondern rein zum Zweck der Tonabgabe. Jeder hat eben so seine Macken, der eine zwinkert hoch frequentiert, der andere saugt sich ständig lautstark in Westernheldenmanier die Speisereste aus den Zahnzwischenräumen, was ihm noch eine Spur widerlicher erscheint als permanentes Geräusper, ja, und er pfeift, von klein auf, nicht laut und schrill, sondern dezent und mit viel Luft. „Fly me to the moon“, zwitschert er beschwingt, vor allem aus Freude über die Reibungslosigkeit des gegenwärtigen Informations- und Datenaustausches. Neugierig wendet er sich seinem Laptop zu.
„Ping“ lautet er also, der unwiderstehliche Lockruf seines Posteingangs. Ein paar Klicks, und die zu ihm weitergeleiteten Fotos füllen den Bildschirm. Vögel, Hunde, Frauen mit Kindern, ein dicker Mann mit Kinderwagen, ein Obdachloser mit Einkaufswagen. Ein bisschen Zoomen, ein Blick auf die Details, und schon hat er, wonach er sucht: „Ja, schau dich einer an!“, nimmt er die unerwiderte Zwiesprache mit dem Computerbild auf.
Stimmt es also, was ihm da kürzlich zu Gehör gekommen ist, wurde er vorgeführt wie ein Zweijähriger von einem Siebenjährigen mit Zauberkasten, einfach unglaublich.
„Du bist tot, mausetot!“, erklärt er dem gepixelten Antlitz.
Das wird ein Heidenspaß, langsam und endgültig den Strick zuzuziehen, dieser Bagage beim Zappeln zuzusehen. Ein Weilchen braucht es, bis er sich beruhigt hat, bis er Herr über sein Hohngelächter wird. Zugegeben, er kann nicht viel, eines aber kann er, und das kann er richtig gut: den andern anständig einheizen und selbst dann nicht aufhören, wenn sie ohnedies schon gewaltig ins Schwitzen gekommen sind.
Die Reise kann losgehen.
Durchgefroren und betroffen macht er sich auf den Rückweg, der Metzger, den kleinen Hügel hinunter und am Spielplatz vorbei. Ungehetzt, wie es seinem Naturell entspricht, ist sein Tempo, leicht gebückt, wie es seiner schlechten Haltung entspricht, ist sein Gang, nachdenklich zu Boden gerichtet ist sein Blick. Kein Wunder also, wenn ihm da in Kombination mit seiner unaufgeregten Beobachtungsgabe wie einem Bussard im Vorbeiflug genau jene Dinge ins Auge stechen, die in der üblichen Betriebsamkeit sonst unbemerkt bleiben – und zwar genau dort, wo kurz zuvor noch das Mädchen beinah erstickt wäre.
Im Inneren des mittlerweile verlassenen Spielplatzes umtänzeln ein paar Krähen die verwaist im Schnee liegende Dose Wasabinüsse. Unweit davon entfernt nähert sich nun auch der Metzger dem Boden und hebt ein kleines, buntes Umhängetäschchen auf. Rosa ist es, gefertigt aus Baumwolle, bestickt mit einer feenhaften Gestalt, allerlei Blümchen und dem Schriftzug „Anna“. Im Zuge des Abtransportes auf der Krankenbahre wird dieses Besitztum der Kleinen wohl aus der Jacke heraus in den Schnee gepurzelt sein.
Er weiß es zwar, der Willibald, so etwas gehört sich nicht, unerlaubt in fremde Portemonnaies zu äugen, und nein, es besteht auch kein Unterschied in der Bedeutung dessen, was ein Erwachsener oder ein Kind darin verborgen mit sich herumträgt. Trotzdem kann der Metzger nicht widerstehen und öffnet vorsichtig den Reißverschluss. Zwei kleine, runde Steine lachen ihm entgegen, ein unförmiges Stück Holz, eine Miniausgabe einer Packung Gummibärchen, eine bunte Kette, zwei Haarspangen, zwei Euro-Münzen, drei Buntstifte und ein kleiner Block.
Behutsam nimmt er Letzteren zur Hand und durchblättert vorsichtig die Seiten. Und da staunt er jetzt nicht schlecht, der Metzger: Wenn diese Zeichnungen tatsächlich von der etwa vierjährigen Anna stammen, dann können sich so manche Machwerke in den Schauräumen diverser zeitgenössischer Kunstsammlungen schon gewaltig am Wandhaken festklammern. Jede Seite ein anderes Tier, und auch ohne viel Phantasie sind diese Tiere eindeutig ihren realen Abbildern zuzuordnen: Seite 1 ein Frosch, Seite 2 ein Elefant, Seite 3 eine von ausgewachsener Handschrift eilig notierte Einkaufsliste, das ist eben ein Segen, wenn die Kinder immer etwas zu schreiben dabeihaben, Seite 4 ein Fisch, Seite 5 eine Giraffe, Seite 6 wieder eine schlampige Notiz, diesmal eine Zahlenreihe, wahrscheinlich eine Telefonnummer, so geht es weiter.
Eines steht für den Metzger in der Sekunde fest: Er will den Fund der rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben, denn wie gesagt, es besteht kein Unterschied in der Bedeutung dessen, was ein Erwachsener oder ein Kind mit sich herumträgt. So blättert er also zur Telefonnummer, zückt sein ausschließlich für den privaten Gebrauch gedachtes Mobiltelefon und startet einen Anrufversuch.
„Hallo!“, meldet sich nach mehrmaligem Läuten eine Frauenstimme.
„Ja, hallo. Ich hoffe, Sie können mir helfen. Es geht um …!“
„Wer spricht da?“, wird er abrupt unterbrochen.
„Verzeihung. Mein Name ist Willibald Adrian Metzger. Ich ruf wegen eines Mädchens namens Anna an. Kennen Sie …?“
„Wer hat Ihnen meine Nummer gegeben?“
„Niemand. Die hab ich in Annas Täschchen gefunden. Sie hat es verloren, und ich würd es ihr gerne …“
Und aus, die Verbindung wurde unterbrochen. Der nächste Anrufversuch beginnt wie der erste, es läutet mehrmals, nur diesmal hebt keiner ab, nicht einmal die Sprachbox.
Etwas sonderbar empfindet er das, der Willibald, als wolle jemand mit voller Absicht nicht mit ihm sprechen, marschiert zurück in die Werkstatt und wählt zwecks Portemonnaie-Rückgabe die einzig sich ihm noch bietende Möglichkeit.
Ohne Rücksicht auf die Zartheit der hauchdünnen Telefonbuchseiten arbeitet sich der Restaurator mit angespeicheltem Zeigefinger lautstark und zügig durch das Kleingedruckte bis zur gewünschten Position vor, vorgebeugt versteht sich, denn wer kurzsichtig, zittrig und mit trockener Mundhöhle ausgestattet ist, kann so ein Telefonbuch sowieso nur mehr zum Einheizen verwenden: „B – B – Be – Be – Ber – Berger: Hier haben wir es“, hallt es durch den Gewölbekeller: „H – H – Ha – Ha – Han – Hanil – Hannah – Hannelore. Hannelore Berger“ – die Wasabimama.
Drei davon gibt es, zumindest namentlich. Beim zweiten Versuch erwischt er auch kulinarisch die Richtige:
„Hier Metzger, Willibald Adrian Metzger. Verzeihen Sie die Störung, aber waren Sie vorhin zufällig auf dem Spielplatz, mit Ihrem Sohn Jakob? Bin ich da richtig?“
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin der Herr mit dem Kinderwagen und war ebenfalls Zeuge dieser schrecklichen Geschichte …“
„Ja, wirklich schrecklich. Mir ist immer noch ganz übel. So entsetzlich, da wär die kleine Anna doch glatt an meinen Nüssen erstickt, ich hab so ein schlechtes Gewissen!“
Und dann befreit es sich schwallartig, das Rede- und Rechtfertigungsbedürfnis der Hannelore Berger. So erfährt der Metzger aus erster Hand, dass Frau Berger Wasabinüsse rein aus Gründen der Gewichtsreduktion als Snack konsumiert, das heizt sozusagen dem Körper ein, fördert die Verdauung, unerwünschte Bakterien lernen das Fürchten und, und, und. Des Weiteren erfährt der Metzger, dass der brave Jakob im Gegensatz zur kleinen Anna ja niemals ohne sie zu fragen irgendetwas essen würde, und schließlich erreicht ihn auch die eigentlich wichtige Information:
„Morgen darf Anna wieder heim. Die Maria hat mich gerade angerufen! Ich fahr sie jetzt noch besuchen, das gehört sich einfach!“
„Wirklich, das trifft sich gut, ich hab am Spielplatz Annas Geldbörse gefunden. Kann ich Ihnen die vorbeibringen?“
Zögern auf der Gegenseite.
„Vorbeikommen wollen Sie? Wäre es nicht geschickter, Sie geben das gleich im Spital ab? Die Maria ist ja eh die ganze Zeit dort. Station D, Dr. Norden.“
Und recht hat sie, die Frau Berger.
Wenig später sitzt er mit der um einen Gegenstand angereicherten kindlichen Geldbörse im nächstbesten Taxi, denn was erledigt ist, ist erledigt. Diese Haltung dürfte dem Taxifahrer fremd sein. Für die ihm gebotene gemütliche Stadtbesichtigungsrunde fehlen dem Metzger allerdings schnell die Nerven: „Ich wohn hier und kenn die Gegend, Sie können also ruhig schneller fahren!“
Nachdem die Bemerkung keinerlei Wirkung zeigt, setzt Willibald Adrian Metzger nun schon deutlich bestimmter hinterher: „Entweder Ihr Tacho ist kaputt, oder Sie fahren tatsächlich nur dreißig – und verwechseln mich mit einer Milchkuh!“
Nun wird reagiert. Suchend blickt der Fahrer zum Fenster hinaus: „Melken. Wo Milchkuh?“
„Ja, melken!“
„Gut Milch, trinken Frühstück, gut Milch, gut Butter!“ Gut, das ist sinnlos, sieht der Metzger nun ein, schämt sich ein wenig und meint: „Ja, gut. Milch ist gut.“
Es dauert also, bis das Taxi vor dem Spital in zweiter Spur, leicht versetzt direkt vor einem eingeparkten silbernen Familyvan, zu stehen kommt. Willibald Adrian Metzger steigt aus, ein hinter dem Steuer sitzender junger Mann mit zu einem Zopf gebundenen Dreadlocks lächelt freundlich durch die Windschutzscheibe, und wie er dann nach Übergabe der acht Euro Fahrtkosten samt den zwei Euro Trinkgeld auch noch in das überglückliche Gesicht seines Lenkers sieht, erfüllt ihn direkt ein wenig die Scham über seine vorangegangene Unhöflichkeit.
So steht er also gerührt vor den Toren des Kinderspitals, der Willibald, kündigt seiner Danjela fernmündlich eine berufsbedingte Verspätung an, und genau das hat er nun mit der Stimme in seinem Rücken gemeinsam. Auch der Taxler telefoniert.
„Sicher, Kurti, kein Problem, dann eben erst morgen Nachmittag! Ist mir eh lieber als in der Früh, bei mir wird’s spät heute. Nachtschicht, weißt eh! Dumpfbacken und Besoffene kutschieren. Super, oder?“ Dann steigt er aufs Gaspedal, winkt dem Metzger zu und ruft:
„Ja, gut! Ist gut Milch.“
Völlig vor den Kopf gestoßen rührt sich der Metzger ein Weilchen nicht vom Fleck, dann betritt er aufgewühlt die Klinik und landet in Räumlichkeiten, die ihm nichts von seiner Anspannung nehmen, ganz im Gegenteil. Denn hat man das Erdgeschoss und somit die restlos überfüllte 24-Stunden-Ambulanz ungeschoren hinter sich gebracht, was klarerweise nur funktioniert, wenn sie bereits alle zu Gast waren, die Masern, Mumps, Scharlach, Röteln, Windpocken und wie sie sonst noch alle heißen, landet man in den einzelnen Abteilungen dieses Hauses. Und egal wie farbenfroh die Wände sind, egal wie viele Girlanden, Lampions und Tierposter herumhängen, egal wie freundlich sich die Angestellten auch geben, die meisten der Patienten in ihren bunten Pyjamas haben sichtlich mit dem Lachen so ihre Schwierigkeiten, manche haben zurzeit auch ihre Schwierigkeiten mit dem Leben, und manche haben Schwierigkeiten mit dem Leben, ohne jemals erlebt haben zu dürfen, wie unbeschwert es sich anfühlen kann. An einigen Ecken ist sie einfach nur gottverlassen, diese Welt, kann sich der Metzger nicht gegen seinen Eindruck erwehren.
Station D, das ist sein Ziel. Unangenehm ist ihm das jetzt, kurz nach Ende der offiziellen Besuchszeit durch die Gänge eines Kinderspitals zu schleichen.
Aus manchen Zimmern dröhnt ein Weinen auf den Gang, irgendwann muss hier eben jede Mama oder jeder Papa nach Hause, außer natürlich die Zusatzversicherung finanziert ein Extrabett. Betreten bleibt er stehen, es geht ihm alles sehr zu Herzen, dem Willibald, dann zuckt er erschocken zusammen.
Ein Zwicken war es, in seiner rechten Gesäßhälfte, kein sanftes, sondern eines der Art, von der ihm seine Herzensdame Danjela Djurkovic konsequent einreden möchte, es spräche die Sprache der Liebe.
„Ahhh“, stöhnt der Metzger, reibt sich sein Hinterteil, dreht sich um und sieht größenmäßig eine Etage tiefer in ungewöhnlich große graugrüne Augen. Sehr zart und melodiös klingt die dazugehörige Stimme:
„Hast du dich verlaufen oder träumst du?“
„Hallo. Du, das hat aber jetzt ganz schön wehgetan!“
„Nicht so weh wie das da!“ Der feingliedrige Junge zieht einen Ärmel seines blauen Pyjamas hoch und deutet auf die vielen blau, grün, gelb umrandeten Einstichstellen in der Armbeuge.
„Die trifft nicht sehr gut, die Schwester Jelena!“
Jetzt lacht er, der Bursche, strahlt übers ganze Gesicht, und wie Taschenlampen leuchten zwei Augen dem Metzger entgegen. So ungewöhnlich groß wirken sie vor allem deshalb, weil das sehr schmale Gesicht des Knaben von keinerlei Haarwuchs begrenzt wird. Blass ist seine Haut, sein Kopf, sein ganzer Körper.
Mit aufforderndem Blick setzt er fort:
„Du hast dich verlaufen, stimmt’s?“
„Ich muss zu einem gewissen Doktor Norden, Station D. Das ist doch hier die Station D, oder?“
„Ich kenn mich hier aus, und auf D gibt es keinen Norden, nur im Süden, Station E, da scheint den ganzen Tag die Sonne, auch wegen der Schwester Gabi. D ist die Onko.“
Und wieder lacht er.
„Und du gehst ein wenig spazieren?“, will der Metzger etwas unbeholfen wissen.
„Ja, spazieren geh ich und gute Nacht sagen zum Felix und zum Sebastian, die liegen dahinten. Das sind meine Freunde, und mit denen spiel ich Schule. Die sind genauso oft da wie ich. Bist du auch der Papa von jemandem hier?“
Schrecklich, wie es den Metzger jetzt drückt. Es sind nur ein paar Schritte, und man landet direkt von der Straße, wo oft bereits alles zu haben, inklusive der Gesundheit, noch lange nicht genug ist, im zweiten Stock der Kinderkrebsabteilung. Seltsam kommt es ihm vor, da sucht der Mensch in Gotteshäusern vergeblich nach seiner verlorenen Demut vor dem Leben, und genau dort, wo die Welt zeigt, wie gottverlassen sie sein kann, ist sie zu finden.
„Peter!“, dröhnt in diesem Moment eine Frauenstimme über den Gang.
„Uiuiui, die Schwester Jelena, ich muss zurück.“
Im Hintergrund nähert sich eiligen Schrittes eine schlanke, für dieses Umfeld ungewöhnlich herausgeputzte Krankenschwester. Stechend ist der Blick aus ihrer stark geschminkten Augenpartie.
„Peter, nicht schon wieder. Du musst jetzt liegen bleiben. Jedes Mal dasselbe, wirklich!“
„Aber ich kann ja auch beim Felix und beim Sebastian liegen!“
„Nein, das kannst du nicht, du liegst auf Klasse und hast dein eigenes Zimmer, sogar mit Fernseher! Andere reißen sich darum! Kommst du jetzt.“
„Aber ich brauch kein Klassezimmer. Mein kleines Klassenzimmer mag ich. Ich kann ja auch beim Felix und beim Sebastian liegen!“
„Nix aber, verstanden! Und jetzt dalli.“
Resignierend senkt der Junge den Kopf, dreht sich um und flüstert:
„Sie fahren jetzt hinauf auf E? Grüßen Sie die Schwester Gabi, ja? Vom Peter. Versprochen?“
„Versprochen!“, entgegnet der Metzger.
„Und kommen Sie mich wieder einmal besuchen, ja? Versprochen?“
Dann hat sie ihn schon am Oberarm, die Schwester Jelena.
Schon von Weitem sieht der Metzger Hannelore Berger mit Annas Mutter Maria vor einem der Krankenzimmer stehen.
Laut Türschild heißen die beiden hier liegenden Patientinnen Anna Kaufmann und Melinda Jakobi. So nimmt der Metzger also mit: „Guten Abend, Frau Kaufmann!“ neben der Zweiergruppe Aufstellung, erzählt von seinem Fund und zückt den besagten Gegenstand.
„Das ist aber lieb von Ihnen, da wird Ihnen wer dankbar sein“, stellt Maria Kaufmann mit einem irgendwie abwesenden Gesichtsausdruck fest, blickt auf die Uhr und zeigt keinerlei Anstalten, die Geldbörse zu übernehmen. „Geben Sie ihr das ruhig selbst, Anna wird sich freuen. Hanni, gehst du mit rein, dann geh ich schnell auf ein Sprüngerl hinauf eine rauchen!“, lautet zur Verwunderung des Metzgers die mütterliche Weisung. Dann schultert sie ihre getigerte Handtasche, hängt sich in den Windschatten eines vorbeispazierenden Pflegers und verschwindet im Treppenhaus.
Kurz dauert der Besuch. Anna übernimmt mit einem sehr aufgeweckten „Dankeschön“ das Täschchen, leert es sofort vor sich auf der Bettdecke aus, so als wollte sie den Inhalt auf seine Vollständigkeit überprüfen, hält einen Gegenstand hoch und meint: „Das gehört mir nicht!“
„Jetzt schon!“, erklärt Willibald Adrian Metzger. „Du magst doch Tiere – aber ja nicht in den Mund nehmen!“
Ein wissendes Lächeln legt sich auf die Lippen des Mädchens, bläulich schimmert ein kleiner gläserner Elefant zwischen ihren Fingern. Nach mehr als vierzig Jahren darf so ein Viecherl schon einmal den Setzkasten verlassen, der einst vom Metzger noch mit Kinderhand gefüllt und mittlerweile in eine Ecke der Werkstatt verbannt worden ist.
„Den mag ich, der hat zwei verschieden große Ohren, wie der Hund von unserer Nachbarin Frau Kwatal!“
„Das freut mich und natürlich auch den Elefanten. So, du tapfere junge Dame, ich lass dich jetzt wieder allein. Und pass schön auf dich auf!“, beendet der Metzger seinen Besuch und weiß gar nicht, welch grausame Wirklichkeit in seinen Worten steckt.
Kurz darauf spaziert er ein paar Abteilungen weiter, denn einen weiteren Besuch in diesem Spital hat er ja noch zu erledigen.
„Der Peter richtet mir Grüße aus? Mein Gott, so ein lieber Junge. Ich werd ihn später noch besuchen, versprochen“, erklärt Schwester Gabi, und ja, das kann er völlig nachvollziehen, der Willibald, da hätte er sich als Junge wahrscheinlich auch ein wenig verliebt. Eine korpulente, mit wunderbar weichen weiblichen Formen ausgestattete Person, die eine derart gütige Ausstrahlung und eine so sanfte Stimme an den Tag legt, wenn das keine Einladung zum Hineinkuscheln ist. Lange ist dem Restaurator dieser wunderbare Anblick aber nicht vergönnt, denn Schwester Gabi steht mit dem Rücken zum Fenster, was bedeutet: Der Metzger sieht bei diesem Fenster hinaus. Und erquickend sind die Aussichten nicht, da hilft die wunderschönste Südseite nichts.
Schuld dran sind nicht die Krähen, die sich, als hätten sie eine schaurige Vorahnung, plötzlich im Innenhof des Spitals von der düsteren Fassade lösen und unter dem bewölkten Himmel ihre Kreise ziehen. Schuld ist ein anderes Flugobjekt. Nur weil ein Tiger nicht fliegen kann, gilt das eben noch lange nicht für ein entsprechend gemustertes Accessoire.
„Hopsala, da ist jetzt was runtergefallen“, entfährt es dem Metzger. „Ganz schön riskant da oben auf der Raucherterrasse.“
„Ich sag’s ja immer wieder: Rauchen kann die Gesundheit gefährden!“, erwidert Schwester Gabi. Und weil auch sie sich zum Fenster dreht, sind es nun zwei Augenpaare, die mit ansehen müssen, wie sich die Handtasche nur als Vorhut und Schwester Gabis Spruch auf höchst makabre Weise als zutreffend erweisen.
Augenkontakt hat trotzdem nur der Metzger, und diesen kurzen Blick wird er sein Lebtag nicht mehr vergessen. Sich völlig ergebend sieht sie ihn an, die Frau Kaufmann, der Rock schlägt ihr vor die Brust, ihr Mantel flattert im Wind, wie in Zeitlupe rudern ihre Arme haltlos durch die Luft, ihre Wangen sind seltsam verformt, ihre Lippen leicht geöffnet. Kein Schrei ist zu hören, als wüsste sie um die Sinnlosigkeit dieses Hilferufs. Dann taucht sie mit wehendem Haar am unteren Rand des Fensters ab. Dröhnend und dumpf zugleich hallt der Aufprall durch den Innenhof.
Schwester Gabi allerdings gibt sich nicht mit der Erkenntnis zufrieden, ein Schrei wäre vergebens. Und da staunt er jetzt nicht schlecht, der Willibald, zu welcher Urgewalt so eine zarte Stimme imstande ist. Vorbei ist es mit der Ruhe auf Station E und wenig später auch im OP. Denn dort, wo zuerst die tigergemusterte Handtasche mit sanften Pfoten gelandet war, als Katze auf dem weißen Blechdach, hat auch Maria Kaufmann ihren Abdruck im Schnee hinterlassen. Dank der unwiderstehlichen Herausforderung, die so ein regungsloser zertrümmerter Körper für den chirurgischen Ehrgeiz darstellt, wird dieser Abdruck, da können die Krähen noch so munter ihre Kreise ziehen, nicht ihr letzter sein.
Ähnlich wie im Hochsommer am Sprungturm tummeln sich nun also im Erdgeschoss die medizinischen Kunstspringer. In den luftigen Höhen dieses Hauses aber herrscht die Stille und Einsamkeit einer idyllischen Winterlandschaft. Dennoch, wie er sich da an die Brüstung der Dachterrasse gelehnt so vorbeugt, der Willibald, kommt ihm dann doch der Gedanke: Ein wenig nach Sprungturm und Strecksprung vorwärts sieht es von hier heroben schon aus.
Was seine Möbel angeht, ist der Metzger ja ein Meisteranalytiker, ansonsten aber liegt ihm das Spurenlesen nicht unbedingt im Blut. Viel Phantasie gehört allerdings nicht dazu, um die Lektüre im Schnee entsprechend entziffern zu können. Eine Raucherterrasse in einem Kinderspital ist ja erwartungsgemäß nicht unbedingt ein Ort regen Treibens, und den Fußabdrücken nach zu urteilen, erfolgt in diesem Haus die Tabakverbrennung entweder verbotenerweise in diversen überheizten Innenräumen, oder es gibt nur zwei Nikotinkonsumenten. Die größere der beiden Fußspuren führt vom Eingang zum Geländer und wieder zurück, die kleinere führt ebenfalls vor bis zur Brüstung, direkt neben die andere Spur, für den Retourweg allerdings wurde eine andere Route genommen.
Das könnte rückblickend nun bedeuten: Zwei Menschen standen nebeneinander vor dem Abgrund. Vielleicht hat sich Maria Kaufmann vor ihrem Fall noch gefällig unterhalten, nach Kraftakt oder Tumult sehen die beiden Abdrücke nämlich nicht aus.
Seltsam findet er das, der Metzger. Ein kumpelhafter Schlag auf den Rücken reicht wohl nicht aus, um einen menschlichen Körper gegen seinen Willen über ein Geländer in die Tiefe zu befördern. Irgendetwas Sonderbares war da in Maria Kaufmanns Blick, etwas Abwesendes, etwas sich völlig dem Schicksal Ergebendes. Ist Maria Kaufmann also tatsächlich freiwillig gesprungen? Hat sie ihr: „Ich geh nur schnell auf ein Sprüngerl hinauf …“ wörtlich gemeint? Warum steigt sie zu diesem Zweck nicht bei sich zu Hause aufs Dach, sondern fährt ins Spital?
Warum kündigt sie extra an, rauchen gehen zu wollen, und wartet nicht einfach, bis jeder Besuch weg und sie allein ist?
Hat sie zunächst also gar nicht vorgehabt zu springen, sondern zur Motivation dieses selbstmörderischen Aktes erst auf der Terrasse etwas zu hören oder zu sehen bekommen? Welche Botschaft kann so bedrohlich, so fürchterlich sein, dass eine Mutter aus freiem Willen in den Tod stürzt?
Ein bisschen zu viele Fragen vielleicht, um allein die Antworten zu finden, sieht der Metzger ein und tut, was zu tun ist.
Das waren noch Zeiten, wo sich schon allein die Inbetriebnahme eines derartig schweren Geräts zur Dokumentation kraftstrotzender Männlichkeit eignete: Lederjacke zu, Helm auf, Standbein einklappen, Schwergewicht leicht zur Seite neigen und Kickstarter durchtreten.