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Jesolo, Caorle, Bibione, egal, das Fegefeuer ist ein Meer aus Sonnenschirmen und Goldkettchen auf öliger Haut – zumindest für den Restaurator Willibald Adrian Metzger. Entführt und seinem eigenen Untergang nahe, bekommt er es am Ufer der Adria mit einer Ausgrabung zu tun. Einer dermaßen makabren, versteht sich, da scheinen die alles andere als harmonisch urlaubenden Teutonen und Alpenländer, allen voran ein vorlauter Berliner unbekannter Profession, das geringste Übel zu sein, möchte man meinen. Und weil es höchst ungesund ist, vom Liegestuhl aus Dinge zu beobachten, die einen nichts angehen, wird für den Metzger und seine Danjela aus dem Fegefeuer dann die reinste Hölle.
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Seitenzahl: 384
Thomas Raab
Der Metzger kommt ins Paradies
Kriminalroman
Knaur e-books
Jesolo, Caorle, Bibione, egal, das Fegefeuer ist ein Meer aus Sonnenschirmen und Goldkettchen auf öliger Haut – zumindest für den Restaurator Willibald Adrian Metzger. Entführt und seinem eigenen Untergang nahe, bekommt er es am Ufer der Adria mit einer Ausgrabung zu tun. Einer dermaßen makabren, versteht sich, da scheinen die alles andere als harmonisch urlaubenden Teutonen und Alpenländer, allen voran ein vorlauter Berliner unbekannter Profession, das geringste Übel zu sein, möchte man meinen. Und weil es höchst ungesund ist, vom Liegestuhl aus Dinge zu beobachten, die einen nichts angehen, wird für den Metzger und seine Danjela aus dem Fegefeuer dann die reinste Hölle.
Etappe 1
Was wunderst du dich,
dass deine Reisen dir nichts nützen,
da du dich selbst mit herumschleppst.
Sokrates
Angenommen, der 59-jährige Tierliebhaber Hans-Peter, Konditor seines Zeichens, schwärmt, während er jeden Morgen durchgeschwitzt in weißem Beinkleid und ärmellosem Rippleibchen seine backfrischen Butter-Croissants à 450 Kilokalorien aus dem dampfenden Ofen zieht, von nichts anderem als einem Aktivurlaub im frostigen Norden und seine angetraute Sonnenanbeterin Henriette schenkt ihm zum anstehenden Sechzigsten eine gemeinsame zweiwöchige Hundeschlittentour durch Alaska, dann kann das getrost als Liebe bezeichnet werden.
Geht es allerdings auf eine Kreuzfahrt in die Südsee, ist es nicht so abwegig, wenn im Hirn des lieben Hans-Peter der Gedanke kein unausgefeilter bleibt, seiner Henni, Großmeisterin der Tiefkühlkost, im Hinblick auf den nahenden Hochzeitstag eine Kompakt-Küchenmaschine zum Schneiden, Raspeln, Reiben, mit Mixaufsatz, Teigknete-Funktion und Emulgierbesen einzupacken.
Nichts ist vorhersehbar, nicht das Wetter, nicht die Geodynamik und schon gar nicht der Mensch, Letzterer am allerwenigsten. Da kann der eine mit dem anderen ein noch so vertrautes Nahverhältnis pflegen, bleibt doch jeder für sich ein Mysterium, ein Zauberkasten, eine Büchse der Pandora, immer für Überraschungen gut.
Willibald Adrian Metzger kann ein Lied davon singen:
»Hände hoch!«, dringt es forsch an sein Ohr, und, nein, es steht weder ein praktischer Arzt zwecks Abhörens vor ihm, ein Schneider zwecks Maßnehmens hinter ihm, noch steht er zwecks Abnehmens in einer Gymnastik-Einheit.
Geschwitzt wird trotzdem – und so geschwitzt, ohne auch nur einen Finger zu rühren, hat er in seinem bisherigen Dasein überhaupt noch nie.
»Kidnapping nennt man das!«, quält er sich ein paar Worte über die salzigen Lippen, blickt in den Lauf einer Pistole und versteht es einfach nicht: Wozu um Himmels willen muss ein Waffenträger seinem Opfer auch noch den Gegenstand der Bedrohung in einem Abstand von maximal 20 Zentimetern unter die Nase reiben oder gar auf dieselbe pressen, wenn zur Einschüchterung so ein gezücktes Schießeisen doch absolut reicht.
In völliger Selbstaufgabe schließt er die Augen, nicht sicher, ob es neben dem Schweiß auch Tränen sind, die seine Wangen benetzen, und geht sie gedanklich noch einmal durch, die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die weit zurückliegt und deren Logik sich ihm erst seit vorgestern zur Gänze erschließt. Die Zukunft ist eben kein Wunschkonzert, und sie kann warten, sie kann sich die größten Gemeinheiten schön in der Hinterhand aufbewahren, jederzeit nach Belieben aus dem Ärmel schütteln und in Hochgeschwindigkeit aus verborgenen Ecken herausschießen lassen wie die Ameisen im Frühling.
Die Ameise: Organisiert, hartnäckig und vor allem höchst effektiv, schleppt sie ein Leben lang ohne Unterlass und Rücksicht auf Verluste Masse weit über ihrem eigenen Körpergewicht von A nach B, dagegen waren die gigantischen Reisebewegungen ägyptischer Gesteinsbrocken das Freizeitvergnügen diverser Heimwerker oder Hobbygärtner. Wozu also aufregen, wenn der Mensch irgendwo weit weg vom Schuss ein paar Löcher in der Wüste, der Erde, dem Meeresgrund oder in Wohnhäusern samt deren Insassen hinterlässt, um es sich anderswo gutgehen zu lassen, oder von irgendwo Sand herbeikarrt, um andernorts ein kleines Badeparadies aufzuschütten. Meine Güte! Was so ein mickriger Sechsfüßler darf, darf ein hochentwickelter Zweibeiner schließlich schon lang.
So also steht der Polizeibedienstete Josef Krainer gemeinsam mit seinem Kollegen Gerhard Kogler am Südufer des städtischen Baggersees und sieht, wo einst noch Wiese war, seine Schuhe nicht mehr. Weich ist der sich zwischen Leder und Socken schmiegende Sand, deutlich lesbar das Schild: Süßwasser-Fidschi, unübersehbar die vor Josef Krainer ausgehobene Grube.
Genüsslich beißt er in sein Frühstück und greift zum Telefon:
»So, ich bin jetzt vor Ort, also w…
–
Wer hier spricht? Josef Krainer spricht hier. Speichern Sie sich endlich meinen Namen ein, verdammt noch mal, am besten unter K wie Kojak oder Kolumbo …
–
Hab ich Sie jetzt richtig verstanden: Ob ich weiß, wer Amerika entdeckt hat? Sie, Kollege Schulze, waren’s jedenfalls nicht, da bin ich siche…
–
Aha! Kolumbus schreibt man mit K, Kolumbo mit C. Na wunderbar, danke für die Deutschstunde! Aber was wunder ich mich über jemanden, der hochoffiziell K wie Klugscheißer im Pass stehen hat …
–
Ich weiß schon, dass Sie mit Vornamen irgendwas wie Gertmund, Ekkehard, Dietwald, Gottlieb …
–
Heinzjürgen, sag ich doch. Hat sich die Frau Mama also nicht entscheiden können, ob Heinz oder Jürgen. Ist beides gleich tragisch und im Prinzip egal, weil beim Klugscheißer geht es ja nicht um den Namen, sondern die Staatsangehörigkeit, verstehen Sie, die Staatsangeh…
–
Humorlos sind Sie also auch. Was glauben Sie, Schulze, wie mich das jetzt überrascht! Und jetzt lassen Sie mich endlich zur Sache kommen. Also: Wir haben eine männliche Leiche, Alter zwischen 40 und 45, etwa 180 Zentimeter groß, geschätzte 60 bis 70 Kilo, heller Anzug, schaut nach Zuhälter aus oder Geschäftsmann, vielleicht sogar ein bisserl Schlagerstar: Blond ist er und hat rotgoldene, stechende Knopfaugen …
–
Genau, Schulze, rot. Ein toter Heino sozusagen.
–
Wie bitte? Wollen Sie mich verarschen. Erstens ist die Leich nicht mehr frisch, und zweitens weiß ich natürlich nicht, ob das jetzt ein Einheimischer, ein Türke oder ein Piefke is.
–
Meine Güte, Schulze! Sind S’ nicht so empfindlich. Sagen S’ halt Ösi zu mir. Und jetzt erklären Sie mir bitte, wie ich wissen soll, wo der Kerl her is? Glauben S’, Ihr Preußen riechts zwischen den Haxen alle nach Currywurst und wir nach Käsekrainer? Nach dem Aussehen darf man ja heutzutage schon überhaupt nicht gehen. Ich kenn einen, den Dorian Stegmüller, der schaut aus wie ein lupenreiner Chines, und wenn der sein Fischmaul aufreißt, klingt das, als wohnt der seit drei Generationen im sozialistisch geförderten Gemeindebau …
–
Fischmaul! Was heißt, Sie wollen so was nicht hören? Is Ihnen das zu ungesittet, zu rechtsradika…
–
Soll ich Ihnen sagen, wie wir hierzulande die Geschichte aufarbeiten: 30 Prozent aller Wähler denken hochoffiziell so wie ich. Inoffiziell könnten wir allein regieren. So ein verreckter Zuwanderer, übrigens, Schulze, sind das bei uns im Schwergewicht ihre Landsleute, drückt mir also kein Wasser ins Aug. Das sind nur Sandkörner, verstehen Sie, San…
–
Ja, rote Augen hab ich gesagt.
–
Wie bitte! Ich soll auf seine Apferln drücken! Sie sind ja krank.
–
Also gut. Moment.«
»Kogler! Sag, Kogler, hörn Sie mich? Nur, weil ich telefonier, müssen Sie ja jetzt geistig nicht komplett auf Notstrom unterwegs sein. Also, fahren S’ ihm ins Aug.
Sie sollen mich nicht anschauen wie eine Schaufensterpuppe, sondern der Leich ins Aug fahren, kapiert.«
Seelenruhig streift Gerhard Kogler einen Gummihandschuh über und nähert sich vorsichtig dem Toten. Dann bohrt sich ein Zeigefinger in die besagte Stelle und zuckt ebenso wie der danebenstehende Josef Krainer ruckartig zurück.
»Ahhh. Herrschaftszeiten, hab ich mich jetzt erschreckt. Das ganze Aug is rausg’hupft. Schulze, hören Sie mich. Das ganze Aug!«
Nur eine vollständige Umdrehung reicht, und wohl jeder hier weiß, worum es sich handelt. Kurz war es zu sehen, das Konterfei jenes nie erwachsen gewordenen Mannes, durch dessen Werk und Hinterlassenschaft diesem Globus eine Ahnung des Göttlichen geschenkt wurde. Und das betrifft ausschließlich seine weltumspannende Musik. Für jenen Exportschlager nämlich, der dem Toten gerade aus dem Auge gesprungen ist, für jene in Folie verpackte Verunglimpfung seines Namens hätte es sich selbst beim ansonsten so humorigen Wolferl Amadeus mit dem Spaß aufgehört: Gülden, mit einer leichten Röte und Körnung überzogen, als wäre er zwecks Panierens ein wenig in Bröseln gewälzt worden, liegt der kleine Ball im Sand.
»Schulze, was is das bitte für eine kranke Aktion? Wer reißt einem Toten das Aug raus und steckt ihm eine Mozartkugeln rein, und dann nicht einmal die originalen, sondern die Maschinenimitate. Entwürdigend ist das. Da vergeht einem der Appetit, abartig das Ganze, richtig abarti…
–
Was ich grad im Mund hab? Mein Frühstück, Schulze, mein Frühstück: ein Butterkipferl. Zum Glück is es frischer als die Leich …«
»Schlafen, nur noch schlafen«, schießt dem Metzger angesichts der unmittelbar vor seinen Augen auf ihn gerichteten Waffe der Gedanke durch den Kopf. Und weit hergeholt ist er nicht, dieser Wunsch nach dem alles erlösenden Schlummer. Erstens ist der Schlaf in Situationen großer Bedrohung der schnellstmögliche, in Willibalds Fall allerdings nur kreisförmige Fluchtweg, denn 1:1 entspräche der Start dem Ziel, und zweitens hat er ja nicht nur psychisch, sondern auch physisch allen Grund, hundemüde zu sein. Ein an der Zehnerstelle mit der Ziffer 5 gekennzeichnetes Menschenkind braucht eben definitiv mehr Schlaf als jene lächerlichen paar Stunden die Nächte zuvor. Und besonders eine dieser Nächte wird er sein Lebtag nicht mehr vergessen:
Es war ein Freitagabend, im Grunde zu früh, um einzunicken, trotzdem befand sich der Metzger bereits im Land der Träume. Das passiert ihm in letzter Zeit immer öfter. Überfallartig überkommen sie ihn, diese Schlummerattacken, zwischen 20 und 21 Uhr, und nichts kann er in Anbetracht seiner eingeschränkten Wahlfreiheit dagegen tun. Sicher, vorher aufstehen und ins Bett gehen wäre eine Lösung, nur, er sitzt eben einmal so liebend gern gemütlich mit seiner Danjela beisammen, versunken im Chesterfieldsofa des Wohnzimmers, die Beine auf dem Tisch, ein Glas Rotwein in der einen, ein Buch in der anderen Hand. Die Fernbedienung, samt ihrer wunderbar ergonomischen Beschaffenheit, ihrer griffigen Tastatur aus Weichgummi, ihrer fantastischen Verbindung zu dem, was der drei Meter entfernte Bildschirm zu melden hat, bekommt er in diesem Haushalt nämlich nicht zu spüren, außer natürlich er wischt den Tisch ab.
Die Programmhoheit dieses Reiches also ist eine Herrscherin aus dem Geschlechte Djurkovic und gewährleistet sich samt ihren Untertanen bevorzugt einen tiefen Einblick in die Welt der Liebenden. Und geglotzt wird alles. Herz-Schmerz-Pantoffelkino also mit derart überraschenden Wendungen, als hätte die Großmutter das Häkeldeckchen Nummer 349 vollendet. So etwas ansehen zu müssen in Kombination mit gedämmtem Licht, einem guten Rotwein, dem Wunsch nach trauter Zweisamkeit und dem Versuch zu lesen, da wird selbst das beste Potenz- zum Schlafmittel. Spätestens ab Minute 30 verliert der gute Willibald regelmäßig den Kampf gegen die Müdigkeit.
Und genau damit hat Danjela Djurkovic an diesem Abend fix gerechnet. Der Metzger wurde also vorsätzlich eingeschläfert, allerdings nur zu einem Zweck: um einige Zeit später wieder geweckt zu werden.
Stockdunkel war es draußen, da nahm die selige Ruh schwungvoll ein Ende: »Bist du endlich munter, hab ich meine Willibald schon gerüttelt wie verklebte Salzstreuer. So, Schlafmütze, liegen Schuhe und frische Wäsche neben Sofa. Ziehst du bitte an«, erhellte Danjelas strahlender Akzent im Anschluss an die Glühbirnen die Nacht.
»Wieso? Und wieso stehen da Sportschuhe? Die gehören mir nicht.«
»Nix wieso. Und setzt du auf Haube!«
»Haube? Aber es ist Sommer.«
»Nix aber. Und Haube sogar bis über Nasenspitze!«
Und genau da kommt sie ins Spiel, die Entführung. Muss sich ja schließlich nicht erst ein anaboler Maskierter Zutritt ins traute Heim verschaffen und seinem Gegenüber mit dem Lauf einer Pistole den Nasenrücken massieren, zur Durchführung einer Verschleppung reicht durchaus schon die Anwesenheit der eigenen Liebsten. Die Maske trägt dann in diesem Fall das Opfer selbst.
»Was heißt über die Nasenspitze? Gehen wir einbrechen? Gefall ich dir nicht mehr?«
»Gefällst du mir am besten, wenn stellst du keine Fragen. Ist Überraschung!«
Eine Überraschung also, laut Wecker um 21 Uhr 30. Hurra. Auf Überraschungen ist der Metzger in etwa genauso scharf wie auf einen Mitgliedsausweis im Verein der Böllerschützen. Den Knalleffekt dieser Überraschung betreffend, fällt ein Böller allerdings maximal in die Kategorie Spritzpistole. Was keinesfalls bedeuten soll, Spritzpistolen wären ungefährlich.
Und weil Widerspruch in Gegenwart einer euphorisierten Dame zwecklos ist, taumelte der Metzger inmitten der lauen Frühsommernacht, linker Hand gestützt von seiner Danjela, blindlings das Stiegenhaus abwärts. Beim Ausgang mischte sich rechter Hand dann noch ein weiterer Gehbehelf hinzu, gemäß der Knoblauchnote ein ihm wohlbekannter: »Petar, bist du das?«, wollte Willibald Adrian Metzger noch wissen, das unverkennbare Brummen des wenig später startenden Pritschenwagens, zugelassen auf Hausmeister Wollnar, war ihm dann Antwort genug.
Nur zwei Worte brachte sein Freund während der Fahrt über die Lippen: »Verzeih mir!«
»Na gratuliere, das muss ja eine freudige Überraschung sein!«, konnte sich der Restaurator nicht verkneifen. Knapp 30 Fahrminuten später musste er sich links und rechts am Oberarm geführt auf verschiedensten Bodenbeschaffenheiten zurechtfinden, Pflastersteinen, Asphalt, Gehsteigkanten, Fliesen, Metall, musste Lärm und Gelächter, das wohl mit seinem Erscheinungsbild in Zusammenhang stand, über sich ergehen lassen, musste Rolltreppe fahren, eine kurze, enge Treppe hochsteigen und einen ebensolchen Gang durchqueren.
Schließlich aber wurde ihm nach Öffnen einer Schiebetür mit fast mystischer Langsamkeit die Haube vom Kopf gezogen. Es dauerte ein Weilchen, bis sich seine Augen an das Neongeflimmer gewöhnt hatten, dann sah er seine strahlende Danjela neben, einen beschämten Petar Wollnar vor und eine geschlossene Zelle um sich, sah zum Fenster hinaus und sah, nein, spürte seinen Darm ein paar Zusatzwindungen einlegen.
»Um Gottes willen, ist das hier ein Zugabteil?«, entkam es ihm leichenblass, wenngleich es in diesem Moment natürlich nur um einen Willen ging: um den seiner Holden. Ist ja auch ein himmelaltes Lied: Das Freudespenden kennt keine größere Freude als die des Freudespenders – wenigstens in den Himmel ging es nicht: »Happy birthday!«, frohlockte Danjela, während Petar Wollnar das Weite suchte.
»Aber, aber, mein Geburtstag ist längst vorbei«, stammelte der Metzger, und dann schoss sie ihm durchs Hirn, die Klarheit, denn alles an diesem sechs Monate zurückliegenden 23. Jänner, seinem Geburtstag, folgte einem Plan, allerdings nicht seinem. Warum sollte es jetzt also anders sein.
Seiner nämlich lautete: »Was bitte unterscheidet einen Fünfziger von jedem anderen stinknormalen Tag? Maximal die Tatsache, wieder ein bisserl länger überlebt zu haben, das ist dann aber schon alles. Ich werde also wie immer in meiner Werkstatt arbeiten, und im Anschluss gehen wir essen, Punkt!«
Zwar verbrachte er seinen Geburtstag wie gewünscht in der Werkstatt, nahm unzählige telefonische Gratulationen entgegen, hörte sich diverse Rügen an à la »Und du machst wirklich kein Fest, schade!« und musste, wie von Danjela mit dem Argument »Willst du stinknormale Tag, na, dann bekommst auch stinknormale Tag!« gefordert, nach Geschäftsschluss mit einer ihm überreichten monströsen Einkaufsliste die Zweigstelle einer Lebensmittelkette aufsuchen. Die erstandene Ware in den Kühlschrank einsortieren durfte er zu Hause dann allerdings allein, denn weder eine Menschen- noch eine Hundeseele war zugegen, nur ein Zettel: »Bin ich kurz bei Friseur. Hol ich dich wegen Essengehen um 19 Uhr ab in Werkstatt.«
Also wieder zurück, gemütlich durch den verschneiten, gottverlassenen Park, über die Straße, vorbei an der Fensterscheibe seiner Werkstatt, hinein in den Hinterhof und durch die Hintertür in seine Wirkungsstätte. Dunkel war es, alles schien wie immer, bis auf den Geruch. Er kennt die Duftnote seines Gewölbekellers, das hölzerne, nussige, etwas süßliche Aroma. An diesem Abend aber lag eine Spur zu viel der Süße in der Luft.
Dann ging alles sehr schnell. Ohne vom Metzger eingeschaltet worden zu sein, erhellte Licht, erfüllte Musik den Raum, und auch Willibalds Geist wurde eine Einsicht zuteil: Jede der ihm am heutigen Tag erteilten Rügen war nichts anderes als ein Ausdruck reinster Hintertriebenheit. Ein lautstarkes »Happy birthday!« durchschnitt das Gewölbe der Werkstatt, und alle waren sie da, wirklich alle:
seine große Liebe Danjela Djurkovic samt Hündchen Edgar,
die Witwe seines ehemaligen Freundes Kommissar Pospischill, Trixi Matuschek-Pospischill, samt Willibalds zweiter großer Liebe, ihrem bald zweijährigen Töchterchen Lilli,
die hochschwangere Ex-Herrin der Mordkommission Irene Moritz samt ihrem untergebenen Arbeitskollegen und Lebensgefährten, also ihrem untergebenen Lebensgefährten Gerhard Kogler,
seine Halbschwester Sophie Widhalm mit ihrem Herzbuben und Feuerwehrhauptmann Toni Schuster
und sein einzig wahrer Freund, der wortkarge, grundehrliche Hausmeister Petar Wollnar. Wie ein scheues Rehkitz stand er in einem Winkel, den Blick zu Boden gerichtet.
Er hätte also gewarnt sein müssen, der Metzger.
Zugegeben, wie sie da so alle vor ihm standen und ein Geburtstagsliedlein sangen, rührte ihn der ganze Aufmarsch dann doch. Durchaus Worte des Dankes entwichen seinen Lippen, allerdings nicht ohne zuvor mit schelmischer Miene jedem Mitglied des versammelten Jubelchors betrügerische Absichten und ein hundsgemeines schauspielerisches Talent attestiert zu haben, die kleine Lilli natürlich ausgenommen.
Als Antwort auf diese nett gemeinte Beschimpfung wurde eine mächtige Torte aufgetragen, auf einen Tisch, dessen Tischtuch bis zum Boden hing, gestellt, und dann, ja dann kam es zu dem für solche Anlässe offenbar Unvermeidlichen. Genau: Es wurde gedichtet, es wurde einmal mehr auf diesem Erdkreis ein Poet, in diesem Fall eine Poetin, von der Muse aus einem leider nicht hundertjährigen Schlaf geküsst.
Willibalds Halbschwester Sophie Widhalm verlas eine selbstverfasste Endlosballade, bemüht gereimt, humorig gemeint, folglich kein Heldenepos, an deren Ende die Worte standen:
»Gesagt sei noch zu diesem Herrn, er reist nicht gern, nicht nah, nicht fern, da hilft kein Bitten und kein Beten, da hilft nur eins, und das ist Treten.«
»Und jetzt schaust du unter Tisch«, fügte Danjela hinzu.
Es folgte ein Anheben des Tischtuchs, das zum Vorscheinkommen eines seltsamen Metallgestells, Applaus und Gelächter auf der einen Seite, Erstarrung, ja, Angst auf Seiten des Metzgers führte: »W-, w-, was bitte soll das sein, ein Kinderwagen? Danjela! Weiß ich da etwas nicht?«
Die Antwort aller war eindeutig: »Bau es schon endlich zusammen, geht erfreulich schnell!«
Erfreulich schnell stimmte, was der Metzger dann aber vor sich stehen hatte, stimmte ihn recht schnell alles andere als erfreut. Nun verstand er es, dieses auf Beten gereimte Treten.
»Ein Klapprad! Ich, ich, ich – dank euch so«, rang er sich ab. Er, den sportliche Bewegung aller Art ähnlich euphorisierte, als müsste er im städtischen Zoo bei Minusgraden in der Unterhose den Teich des Eisbär-Freigeheges durchwaten. Als Antwort erhielt er ein großherziges, von allen Seiten inhaltlich übereinstimmendes: »Ach, ist doch nur eine Kleinigkeit, ein Symbol, beizeiten folgt Würdigeres!«
Diesbezüglich aber war er sich absolut sicher, eine derartige Verzögerungs-Geschenks-Ankündigung wäre ähnlich ernst zu nehmen wie die Vorhersage schmieriger, feindseliger Rechtsradikaler, Bundeskanzler werden zu wollen. Nur hat er da leider auf eine der vielen weisen Worte seiner Mutter vergessen: »Glaub mir, Willibald, hierzulande ist alles möglich!«
Und recht hat sie, die werte Frau Mama, Gott hab sie selig, dermaßen viel Fantasie kann ein Menschenhirn nämlich gar nicht aufbringen, um es mit dem Irrsinn namens Wirklichkeit aufnehmen zu können.
Und so stand er etwa ein halbes Jahr nach seinem Geburtstag, sprich vor drei Tagen, geweckt, entführt und unglücklich in einem Zugabteil.
Danjela sprühte nur so vor Freude und erklärte: »Stimmt schon, ist Geburtstag zwar lang vorbei, aber haben wir doch versprochen, kommt noch Nachschlag – also, freust du dich: ist Sammelgeschenk!«
Regungslos starrte der Metzger dem mittlerweile ausgestiegenen, reuig durch die Scheibe hereinblickenden Petar Wollnar ins Gesicht und wusste: Der im Winter zum Geburtstag vorgetragene Reim vom Treten hat nichts mit dem bis dato unbenutzten Klapprad zu tun, sondern bedeutet einzig die Vorankündigung einer im Sommer, sprich jetzt, zur Anwendung gebrachten indirekten körperlichen Gewalt.
Dieses Sammelgeschenk also heißt: Es wurde zusammengelegt, von all seinen Freunden, was gleichbedeutend ist mit: Er wurde, von all seinen Freunden zusammengelegt, schändlich hintergangen zum Zwecke der Freude des Einzelnen. Und dieser Einzelne ist bei vorhandener Paarbeziehung nicht zwangsweise der Beschenkte selbst, sondern möglicherweise der Ideenspender und Geldeintreiber höchstpersönlich, in diesem Fall der eigene Partner.
»Ich nehme an, wir steigen nicht gleich wieder aus?«, entkam es dem Metzger mit blasser Miene.
»Schaust du in Spiegel, siehst du, was hast du für schlechte Gesichtsfarbe, sag ich dir, brauchst du endlich echte Urlaub!«, war die klare Antwort, auch wenn der Metzger mit absoluter Sicherheit wusste: Dieses »du« muss ein »ich« sein. Seit Wochen bewirbt Madame Djurkovic nichts anderes als ihren Traum von Sonne, Sand und mehr Zeit allein mit ihrem Willibald: »Hab ich große Sehnsucht nach Turteltaubentrip in sonnige Süden«, war ihre Erklärung.
»Turteltauben, die in der Hitze braten? Klingt nach Grillhuhn, das gibt es daheim auch, und zwar in tipptopp Qualität. Außerdem, in ein Flugzeug bekommst du mich in diesem Leben garantiert nicht!«, war die nicht unbedingt romantische Antwort eines Ahnungslosen. Der Mensch ist eben kein Vogel. Die Welt von oben zu betrachten kann ja recht nett sein, aber woanders herunterzukommen, als man hinaufgestiegen ist, ist entweder Science-Fiction oder der Tritt über die letzte Sprosse einer Karriereleiter.
Fassungslos stand Willibald Adrian Metzger mit Blick auf das sich langsam entfernende Gleis 7 neben einer glückerfüllten Danjela, zwang sich zur Selbstbeherrschung und wagte einen letzten zaghaften Versuch: »Aber weder hab ich etwas eingepackt noch einen einzigen Cent in der Hosentasche«, worauf auf den Koffer gedeutet wurde und die Ernüchterung folgte: »Is alles fix und fertig, von Personalausweis bis Bermudashorts, und, bitte, is nix Flugzeug!«, stolz ist ihr Gesicht: »Und bin ich oscarreif, weil hast du ganze Zeit nix gemerkt, dass ist was faul in Staate Dänemark!«
»So also fühlt sich Entmündigung an«, ging es dem Metzger durch den Kopf, während er hochkonzentriert den Kampf gegen die Tränen der Verzweiflung führte.
»Dänemark klingt gut, da wär es nicht so heiß. Also: Urlaub wo und wie lange?«
Wie erschlagen nahm er die erschütternden Informationen zur Kenntnis, auf den Schaumstoffsitzen Platz und das stets in seiner Hosentasche einsatzbereite, gebügelte Stofftaschentuch zur Hand. Dann gab er seinen Gefühlen, seiner rinnenden Nase und seinen geröteten Augen freien Lauf.
»Hab ich gewusst, freust du dich!«, zeigte schließlich auch Danjela blind vor Vorfreude ihre Form der Anteilnahme, gab ihrem Willibald einen Kuss auf die Stirn, und der Metzger wusste: Wenn Madame Djurkovic aus diesem Schlafwandel erwacht, sie folglich wieder zu den Sehenden zählt, wenn ihr also die volle Breitseite der Ernüchterung ins Gesicht schlägt, wird sich zeigen, aus welchem Holz diese Beziehung geschnitzt ist – und zumindest mit Holz kennt er sich aus, der Willibald.
Mit der gerade auf seinen Kopf gerichteten Pistole und den damit verbundenen Aussichten allerdings hat er weniger Erfahrung.
»Mensch, det freut mir ja janz besonders, det sind nämlich verdammt jute Aussichten, die jibs sonst nur im Hochjebirge. War ick erst jestern da jewesen.«
»Was?«
»Also bei uns heeßt det immer noch: ›Wie bitte‹! Und den Rest hab ick, denk ick, deutlich jenug jesacht!«
»Du denkst? Also ich hab eher den Eindruck, da hat wer seine letzten paar intakten Gehirnzellen ganz gewaltig in Alkohol eing’legt. Und jetzt zisch ab, sonst reib i da ani auf!«
»Ick, ick …!«
»Was, bitte, is da nicht zum Kapieren? Also, auf Hochdeutsch: Verpiss dich, zieh Leine, husch, husch!, sonst knallt’s?«
»Det jibts ja janich! Willste mir jetzt uff die Schippe nehm, oder wat? Erstens sind wa hier verabredet, zweetens kennste mir doch und weßt jenau, wer ick bin, und drittens, det Erkennungszeichen mit Hochjebirge und jute Aussichten hab ick doch laut und deutlich zum Besten jejeben, wat, bitte, willste noch?«
»Also treffen soll ich wen, der mich mit ›Gestern war die Aussicht im Hochgebirge hervorragend‹ begrüßen soll – und zwar erst in vier Tagen.«
»Hab ick doch jesagt!«
»Ne, haste nicht!«
»Na und ob ick det hab, ick …«
»Ick, ick, ick, was soll des heißen, hakelst jetzt auf Teilzeit beim Ikea? Und was das Erkennungszeichen angeht, hat ja jeder Schimpanse ein entwickelteres Sprachzentrum! Glaub mir, mit einem derartigen Vollpfosten, der sich nicht einmal einen ganzen Satz merken kann, will ich im Traum nicht verabredet sein!«
»Kannste dir aber nich aussuchen. Versteh ick ja überhaupt nich, warum wir jetz plötzlich ’n Erkennungszeichen brauch’n wie in nem lächerlichen Ajentenfilm!«
»Weil der Chef das so will, Szepansky, kapiert? Wir haben kaum noch Fahrer, fast jedem is was passiert. Komisch is das alles. Heutzutag kann man einfach nicht vorsichtig genug sein. Trotzdem versteh ich nicht, warum mir der Chef den größten Fetzenschädel von allen schickt.«
»Erstens hab ick mir det allet nich ausjesucht, sondern wurde einjeteilt. Zweetens hat mir der Cheffe extra früher jeschickt, warum, det musste ihn frajen. Und drittens jenieß ick det jetz, wenn ick schon so weit fahren muss, verstehste. Is doch ’n Paradies, det Janze hier. Det Leben kann so jewaltig schnell ne andere Kurve nehmen. Außerdem schwimm ick für meen Leben jern!«
»Na meinetwegen, dann saufst halt ab.«
»Übrijens wäre deene Antwort jewesen: ›Die eenen zieht et ins Hochjebirge, ick aber bevorzuge det Kap der Juten Hoffnung!‹«
»Du Amöbe, des is foisch. Richtig wäre: ›Ich ziehe dem Hochgebirge das Kap der Guten Hoffnung vor.‹ Ist nicht dasselbe, oder?«
»Janz jenau: Hochjebirge und Kap der Juten Hoffnung is nich detselbe. Und det det klar is, für alle Zukunft: Ick lass mir nich verscheißern!«
»Mich, du Legastheniker, mich!«
»Hände hoch!«, hat der Ton nun an Schärfe genauso zugenommen wie offenbar auch der Metzger die letzten Stunden an Kilos. Zumindest fühlt es sich so an, denn zu eng ist die Hose, zu eng das Leibchen, zu eng sind die Bronchien. Schwer geht sein Atem, und schwer geht ihm das alles hier in den Kopf. Manchmal bleibt so eine durch den Magen gehende Liebe eben ein wenig hängen, in seinem Fall an den Hüften. Diesbezüglich wird er die nächste Zeit gewaltig abspecken.
»Gibt brave Junge endlich Pfötchen hoch, dann kann ich heraushieven Gesamtpaket aus Liegestuhl. Weil geht nix, ganze Zeit nur herumlungern mit Gesicht drei Tage wie Regenwetter. Is doch alles große Traum. Kannst du endlich wegstrecken Beine!«
Grinsend steht eine pralle, beinah den Badeanzug sprengende Danjela in all ihrer Pracht vor seinem Liegestuhl und drückt ihm eine Spritzpistole an die Nase. Ihrer leicht vorgeneigten Haltung kann allerdings nur der Herr eine Reihe weiter hinten etwas abgewinnen, der Metzger hat zurzeit für derart erfreuliche Aussichten einfach kein Auge: »Drei Tage Regenwetter, genau das, liebe Danjela, klingt nach großem Traum! Ich hab die letzten Nächte in dem weichen Bett maximal zwei Stunden geschlafen, ganz zu schweigen von der zwölfstündigen Bahnfahrt, dafür schwitz ich, seit wir hier sind, und zwar ohne Pause. Keine Ahnung, wo aus meinem Körper die ganze Flüssigkeit noch herkommen soll, wenn das so weitergeht, lös ich mich wahrscheinlich auf.«
Kurz lüftet er sein verblasstes weinrotes Poloshirt, versenkt die Spitze des Zeigefingers in der sich anbietenden Bauchfalte, hebt die Hand, erklärt: »Und überall pickt Sand! Da schau, sogar in meinem Nabel, den man bei mir an und für sich ja gar nicht sieht, also wie um Gottes willen kommt der Sand da überhaupt hinein, kannst du mir das erklären, ich beweg mich doch kaum«, senkt die Hand wieder ab, zupft an seiner hellblau karierten Badehose und setzt, endlich in Fahrt gekommen, fort:
»Und bei aller Liebe: Der Wäsche, die du mir eingepackt hast, bin ich seit einem Vierteljahrhundert entwachsen. Jedes dieser Stücke stammt aus der Lade für die Altkleider-sammlung, stimmt’s? Ich komm mir vor wie eine Knackwurst!«
»War anders nix möglich, hättest du sonst bemerkt heimliche Packmanöver. Außerdem schmeckt doch herrlich gegrillte Knackwurst. Und warum bitte hast du überhaupt an Leiberl? Brauchst du dich doch nix schämen. Schaust du dich um, quillt hier bei sicher 70 Prozent genauso Hüftspeck über zu engen Hosenbund wie bei dir. So und jetzt kommst du, machen wir Strandspaziergang. Sag ich nur, ist Schießeisen voll geladen!«
Liebevoll, fast ein wenig mitleidig blickt sie ihm entgegen und gibt ihr Bestes, den seit ihrer Ankunft immer offenkundigeren subversiven Kräften mit möglichst guter Laune entgegenzuwirken. Leider vergeblich. Denn all die ihr bis dato präsentierte Mattigkeit ist nichts als noble Zurückhaltung. Und der gehen dank Schlafentzug und Dauertranspiration langsam, aber sicher die Nerven aus.
»Danjela, bitte, ich will bei dieser Affenhitze nicht auch noch kilometerlang durch den brennheißen Sand latschen müssen, von einem Hotelkomplex zum nächsten. Du kennst mich doch!« Und nun kann er nicht mehr anders, nun muss es einfach heraus: »Ich versteh überhaupt nicht, wie du auch nur auf so eine Idee kommen konntest. Und dann überrumpelst du mich, anstatt mir so was zu ersparen?«
Sparen, genau! Hier also ist er gelandet, der schwer renovierungsbedürftige Willibald: in einem ebenfalls schwer renovierungsbedürftigen, innerhalb der Eurozone langsam, aber sicher die Stufen in Richtung Ramschstatus hinabsteigenden Land, dem Königreich aller Restaurateure. Und nicht nur in diesem Fall ist die Ähnlichkeit derer, die ein Land kaputtmachen, zu denen, die es wieder herrichten wollen, frappant, man könnte fast meinen, es wären dieselben.
Dass es allen Ernstes nicht nur funktionstüchtige Hirne gibt, die sich eine schwer nach geistigem Totalschaden anmutende Wortkreation wie »Ramschstatus« überhaupt ausdenken können und damit offiziell ganze Länder samt deren Bewohner versehen, sondern auch noch eine Horde Staatsdiener trotz der tiefschürfenden Lektionen der Menschheitsgeschichte dazu beitragen, diesen abschätzigen Begriff salonfähig zu machen, ist für den Metzger ein höchst besorgniserregender Zustand.
Er brodelt also ganz gewaltig, der europäische Kochtopf. Um diese Hitze zu spüren, muss man sich erst gar nicht in einen Pauschalflieger zwängen und irgendein Ufer des Ägäischen, Balearischen, Tyrrhenischen oder Ligurischen Meeres anpeilen, dazu reicht sie völlig, die Reise an die Adria.
»Du weißt doch, so etwas wie hier ist für mich der reinste Alptraum! Warum keine Stadt besichtigen oder irgendwas Kulturelles?«, setzt der Restaurator fort.
Ungewohnt missmutig ist sein Ton. Ja, er ist sauer, stinksauer, auf seine Herzdame, auf alle seine Freunde, auf den ein Stück näher gerückten Äquator und auf sich. Das ist eben der Teufelskreis eines Grantlers: Zuerst mag er die andern nicht, dann mag er sich nicht, dann mögen ihn die andern nicht, und diese andern mag er dann erst recht nicht, Ende nie.
Danjela deutet um sich, lächelt, senkt zögernd die Spritzpistole und reicht ihm versöhnlich die Hand: »Bist du jetzt keine Spielverderber. Komm, gehen wir wenigstens so wie jede andere Urlaubsgast gemütlich in frische Wasser.«
»Frisch!«, wiederholt der Metzger zynisch. »Was bitte soll daran frisch sein?«
Ja, es ist eine wahrlich gutbesuchte Erfrischung, wie er seit seiner Ankunft beobachten darf: Reihenweise erhebt sich ein Urlauber nach dem anderen aus seinem Liegestuhl, watet bis zum Nabel in die Tiefen des Meers, offenbar nicht um diesen von Sandablagerung zu reinigen, schaut ein Weilchen beglückt in der Gegend herum, greift sich dann kurz zwischen die Beine und verlässt es wieder, das Salzwasser. Von wegen schwimmen oder planschen, pischen gehen die Leut, da ist er überzeugt, der Metzger. Ist ja auch ein gewaltiges Stückchen bis zur nächsten als solche ausgewiesenen Toilettenanlage. Warum also das eine nicht uneingeschränkt mit dem anderen verbinden, all inclusive eben. Keine zehn Pferde bringen ihn hinein in dieses überbevölkerte Gemeinschaftsurinal.
Ein wenig lässt ihm Danjela Djurkovic noch Zeit, bleibt vor ihm stehen, sucht fragend in seinen Augen nach dem liebevollen, dem rettenden Funken Humor, vergeblich.
»Danjela, bitte, ich will einfach nicht, versteh das doch«, erklärt der Metzger schließlich, und es klingt endgültig.
Der Unterschied ist eben lächerlich, nur ein Hauch, ein leichtes Verstärken des zwischen den Zähnen herausgeschnellten Lüftchens, und aus »reisen« wird »reißen«, aus einem in den Urlaub aufgebrochenen Langzeitpärchen werden heimgekehrt zwei getrennte Haushalte.
»Alles klar«, erwidert Danjela mit ernster Miene, die deshalb an Wirkung kaum zu überbieten ist, weil sie mit glasigen Augen einhergeht. Gekränkt und den Tränen nahe, richtet sie sich auf, erklärt: »Lass ich dir also deine Ruhe«, würdigt den so reich Beschenkten keines weiteren Blickes mehr, steuert genau jenes stellenweise handwarme Nass an, weshalb der ganze Aufwand hier betrieben wird, und spaziert im knöchelhohen Wasser den Strand hinunter.
»Ruhe«, flüstert der Metzger in sich hinein: »Wo bitte ist hier Ruhe?«
So weit das Auge reicht, stehen sie, angetreten in Reih und Glied, die vollbesetzten Legionen an Liegestühlen. Wie ein in Schlachtaufstellung befohlenes römisches Heer, bereit, eine anrollende Seemacht aufzuhalten, liegen die Urlauber geordnet der Adria gegenüber. Gut, von der Gefahr des Ertrinkens jetzt einmal abgesehen, tödliche Bedrohung nähert sich aus dem Mittelmeer mittlerweile keine mehr, außer natürlich man verschluckt beim Schwimmen einen Brocken Plastikmüll.
Von Ruhe kann hier folglich nicht die Rede sein, auch weil es ganze Sippschaften sind, die diese Destination zwecks Urlaubens auserkoren haben.
Und weil hier alles möglich ist, von Camping bis Wellness, von Substandard bis nobel, und trotzdem jeder denselben Strand und dasselbe Meer bekommt,
und weil unabhängig von der Behausung im Prinzip herrlich eine Woche lang mit nur einer Hose und zwei Leibchen das Auslangen zu finden ist,
und weil es hier genau das zu futtern gibt, was die Kinder auch zu Hause auf den Tisch bekommen,
und weil es hier eine große Sandkiste gibt, in der nicht so wie daheim im Park reihenweise die Hunde ihre Haufen hinterlassen,
und weil es hier ein großes Planschbecken gibt, das nicht extra erst eingelassen oder bei zu hoher urinbedingter Trübe gewechselt werden muss,
und weil das hier alles so schön und vor allem so schön mit dem Auto zu erreichen ist,
liegt unter dem einen Schirm zum Beispiel die Familie Neumann und daneben gleich die Familie Kappichler, dann die Familien Becker, Müller und Schmidt, daneben die Familien Stadlbauer, Baumgartner und Maurer, dazwischen vielleicht die Familie Donato, und Ancilotti, dann aber sofort wieder die Familien Botoschek, Wodwarka und Dragowic.
Wer also wissen will, was er mit seinem handflächengroßen Universal-Wörterbuch und den fix ausformulierten Übersetzungen wie »Guten Tag«, »Wie heißen Sie?«, »Wie alt sind Sie?«, »Sind Sie verheiratet?« ausrichten kann, muss sich schon ein paar Kilometer ins Landesinnere begeben, denn innerhalb der Liegestuhlreihen ist die Umgangssprache Deutsch. Ein Kurztrip in die Fremde reicht eben nicht, um den Urlauber zum Sprachakrobaten mutieren zu lassen, außer natürlich die Fremde hört auf Eleonora, Giorgia oder Alessandra.
Wie gesagt, es sind also hauptsächlich Familien, die da ihre bunten Handtücher auf den Liegenstühlen plaziert haben, was bedeutet, aus der Vogelperspektive gleicht der Strand einer gigantischen Werbefläche: Von Hello Kitty bis Barbie, von Schlümpfen bis Marvel Comics, von Dreamworks bis Walt Disney, hier fehlt nichts.
Die Schattenplätze unter den Schirmen sind also fest in Kinderhand, die dazugehörigen Liegen in der Hand halbtot wirkender, großwüchsiger Menschenleiber, die unter Urlaub nicht unbedingt verstehen, paarbeziehungstechnisch später als gewohnt ins Bett zu gehen und dafür noch früher als sonst von der nur so voll Tatendrang strotzenden Brut in den Sonnenaufgang eskortiert zu werden.
Die Eltern eines kleinen, blonden, etwa sieben Jahre alten Jungen zwei Schirme weiter rechts dürfte es am Vorabend jedenfalls bedenklich heftig erwischt haben. Mit »So, Rolf, hier ist dein Spielzeug« entleeren sie zwei große Taschen, versinken in ihren vorreservierten Liegen und sind dann auch dermaßen in sich versunken, da kann sich der kleine Rolf auf den Kopf stellen oder weiß Gott was für Zirkusnummern einfallen lassen. Und das tut er.
Aus dem anfangs stillen Sandspiel wird ein nervöses Gezappel, ein Umkreisen der Eltern, ein burleskes Herumgehopse, eine kleine Leistungsschau an Turnübungen, vergeblich. So schnappt er sich also seine funkelnagelneue Strandmuschel, malträtiert mitleidlos das Karbongestänge, faltet das zum Schutz vor Wind und Sonne dienende Halbzelt ein, lässt es auseinanderschnalzen, katapultiert dabei den Sand in die Luft, auf dass es nur so herabrieselt auf seine brachliegenden Eltern, nur, da wird nicht reagiert. Sein blonder Pagenschnitt baumelt hin und her, sein Gesicht zeigt eine Verbissenheit, als wäre ihm das Biegen der Stangen nicht genug, was zumindest von einem vorbeispazierenden älteren Herrn nicht unbemerkt bleibt: »Die Muschel ist schon offen, du musst sie nicht aufbrechen.«
Also greift er zum in Unmengen vorhandenen Werkzeug. Langweilig werden sollte dem Bengel jedenfalls nicht, in puncto Unterhaltungsmittel hat er ja alles. Nur sind halt Unterhaltungsmittel ohne Unterhaltung nur mehr Mittel, und genau die fehlen ihm, um von den offenbar nicht mittellosen Eltern unterhalten zu werden. Da ist das vergnügte, zwei Schirme weiter rechts vernehmbare »Ela, nein! Weg da, Jole, ich mag keinen Sand essen!« natürlich Salz auf Rolfis Wunden.
Flankiert von zwei entzückenden Prinzessinnen, eine etwa acht, die andere fünf Jahre, kniet ein Vater in einer imaginären Küche und backt Sandkuchen. Lange dauert es nicht, und aus der Konditorei wird ein Bauunternehmen, der Herr Papa zum Wasserträger, und mit dem feuchten Sand werden die ersten kleinen Türmchen errichtet.
Thronfolger Rolf hingegen ist nach wie vor Alleinunterhalter, spickt mittlerweile jede seiner Tätigkeiten mit einem äußerst schrillen, atonalen Singsang – und, zugegeben, es nervt gewaltig, dieses Dokument einer praktizierten »Erziehung zur Freiheit«. Unter Umständen meint diese Freiheit nämlich nicht die Freiheit des Kindes, sondern die Freiheit der Erwachsenen, sprich die dem Kind zugestandene Freiheit als Vorwand für die vom Erwachsenen praktizierte Ignoranz und Bequemlichkeit.
Immerhin sieht der Metzger dem Treiben nun seit geraumer Zeit zu, und alles, was Rolf bisher bewirken konnte, sind das väterliche Zücken eines Tablet-Computers und das mütterliche Zücken eines Buches. Also zückt der Bub seine langstielige Plastikschaufel, buddelt in die Tiefe, und eine Bautätigkeit legt er an den Tag, so schnell gebaut wird ansonsten nur nach Bestechung. Schließlich erklärt er fröhlich: »Papa, setz dich rein!«
Eine Beisetzung also. Und endlich tut sich was. Ohne den Blick zu heben, erklärt der Herr Papa: »Toll hast du das gemacht, Rolfi, ein wirklich tolles Loch ist das! Morgen setz ich mich dann rein, okay!«
Das war’s dann mit der Zuwendung, und Rolf verschwindet in seiner Grube. Nur sein Kopf schaut noch heraus. Bis zur Nase hängen ihm die blonden Stirnfransen ins Gesicht, hinter denen er mit großen Augen, als würde er auf seine Abholung warten, hinüber zu Michaela und Jole sieht.
Mittlerweile empfindet er nur noch gewaltig Mitleid, der Metzger – und da ist er nicht der Einzige.
Für eine derartige Offensive, wie sie nun die Dame in ihrem blau-weiß karierten Bikini eine Reihe dahinter an den Tag legt, allerdings fehlt ihm die Courage.
»Rolf? Bua, du hoaßt doch Rolf, oder?«, brüllt sie. »I wüü mi jo net einmischa, abaa willst net rüberschaun zum Zelt vom Kiddyclub, die mochan gonz tolle Dinge, des gfreit di sicha mehra, ois do den Kaschperl zu mocha. Weil bis dass do wer von deine Herrschoften mit dir schpuit, kannst worten, bis d’ schworz wirst, des sog i da!«
»Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?«
»Nieeeeemand!«
»Wenn er aber kommt?«
»Dann laufen wir davon!«
Idioten gibt es auf diesem Planeten, da hat der Herrgott einen verdammt schlechten sechsten Tag erwischt, ist sich Dolly sicher. Strahlend blau ist der Himmel, völlig antriebslos das laue Lüftchen, die Kinderanimation in vollem Gange. Unter der überhitzten Plane des quaderförmigen Kiddyclub-Zelts überquert eine launige Schar kleiner Mäuse quietschend den mit Wasser eingespritzten Plastikboden.
So eine schlechte Errungenschaft ist die gelegentliche Fremdanimation des Nachwuchses nicht, weiß die aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung in diesem mit umfassender Kinderbetreuung ausgestatteten Hotel tätige Angestellte Dolores Poppe, kurz Dolly, sehr gut. Nur alles schön mit Maß und Ziel. Aus der Vielzahl der von ihr beobachteten Eltern stechen nämlich zwei bedenklich häufig vorkommende Extreme heraus:
Solche, die mit ihren Kindern in den Urlaub fahren, um ohne Kinder Urlaub machen zu können, ihren Nachwuchs in der Früh abgeben, und bis zum Nachmittag waren sie nicht mehr gesehen.
Und solche, die für ihre Kinder in den Urlaub fahren, um mit den Kindern Urlaub machen zu können, ihren Nachwuchs in der Früh abgeben, und bis zum Nachmittag waren sie gesehen, und zwar im Halbstundentakt, versteckt an mit detektivischer Finesse ausgewählten Plätzchen. Keiner würde sie entdecken, wäre da nicht dieser Selbstverrat, dieses wie zufällig wiederkehrende Vorbeispazieren, jedes Mal ausgerüstet mit dem stets griffbereiten Survival-Rucksack: »Mäuschen, willst du nicht schnell ein Schlückchen trinken; Mäuschen bist du auch gut eingeschmiert, wo ist denn dein Sonnenhut; Mäuschen, du bist ja ganz verschwitzt, nicht dass du dich im Schatten verkühlst, komm schnell her, ich hab ein Leibchen mit, und beiß schnell von der Banane ab!«
Ignoring oder Stalking also.
Ja, die Extreme, die geben Dolly schwer zu denken, und seit sie von der Kinder- in die Erwachsenen-Animation und zur Strandbar-Betreuung gewechselt hat, fällt ihr noch mehr auf, bei wem Eltern ihre Kinder deponieren. Kinderanimateure sind da dabei, die regelmäßig nach Dienstschluss dermaßen ungehemmt die kläglichen Reste ihres Gehirns in Richtung Köpermitte rutschen lassen, dagegen waren die wilden 68er ein Pfadfinderlager. Dolly kann ein Lied davon singen, denn leider wollte und folglich musste sie einen dieser Schweinigel eine Spur näher kennenlernen, was entsprechende Spuren hinterlassen hat.
Nein, hätte sie Kinder, keines davon würde jemals irgendein Kiddyclub-Zelt zwecks Unterhaltung von innen oder einen Vollpfosten, wie zweifelsohne Jürgen Schmidts einer ist, zwecks Unterhaltenwerdens von vorne sehen. Nur, wie gesagt, Dolly Poppe hat eben keine Kinder, was weiß sie also schon?
Dass die Kleinen in diesem Zelt abgegeben werden, um Spaß zu haben, weiß sie zum Beispiel, und welche Taschentuchmenge manche von ihnen benötigen, um endlich draufzukommen, wie lustig das auch wirklich alles ist.
So sitzt sie, wieder einmal, extra von der Strandbar herbeordert, vor der Plastikplane des Kiddyclubs, eine vierjährige Rosalie auf ihrem Schoß, eine Tiger-Handpuppe übergestülpt, und brummt mit tiefer Stimme den in ihrer Laufbahn schon so oft gesagten Satz: »Ich, Tiiiiiger Tommy, verspreche hoch und heilig, dass Mama und Papa ihre Roooooosaaaaliiiie ganz bestimmt ganz fest liiiiiiiebhaben und bald wiederkommen, jaaaaawohl!«
Im Hintergrund watscheln gerade die Kleinen, die allesamt ohnedies nicht die sichersten sind auf ihren Beinchen, durch ein etwa 30 Meter langes, 10 Meter breites, gerade mal knöcheltief eingelassenes, aufblasbares Schwimmbecken von der einen Seite auf die andere, Brunzbecken, wie Jürgen das von ihm viel zu selten gewechselte, abgestandene Wasser abends nach ein paar Bierchen in trauter Runde zu bezeichnen pflegt. Spaßig sieht das alles aus. Die Zwerge fallen hin, stehen auf, watscheln weiter, all das, um den Fängen des schwarzen Mannes zu entkommen.
Ja, registriert Dolly verwundert, dieser Zeitvertreib hat überlebt und mit Vertreiben bedenklich viel zu tun. Er findet vereinzelt statt in Kindergärten, in Schulen, auf Pfadfinderlagern, auf Kindergeburtstagsfeiern, und er findet statt hier im Kiddyclub-Zelt, durchgeführt von Jürgen Schmidts. Der schwarze Mann steht als Pseudonym für den Eindringling, das Bedrohliche, das Fremde auf der gegnerischen Seite, und auf Kommando müssen sich die Kleinen ganz offiziell vor ihm fürchten und an ihm vorbeilaufen, ohne gepackt zu werden, hoch lebe die Nachhaltigkeit der Pädagogik. Nein, um Wählerzuwachs muss sich der Rechtspopulismus keine Sorgen machen.
Dolly ist außer sich, streift Tiger Tommy von der einen, nimmt Rosalie an die andere Hand, marschiert ins Zelt und zählt geschätzte 30 Sprösslinge, ergibt in etwa 30 Euro. Das ist es ihr wert.
Dann schickt sie einen schrillen Pfiff durchs Becken und brüllt:
»Wenn ihr es schafft, den lieben Jürgen unterzutauchen, gibt es für jeden hier eine Kugel Eis – una pallina di gelato per tutti.«
»Wie, tutti?« Da hat der Herzensbrecher Jürgen Schmidts noch gar nicht richtig überrissen, inwiefern sich gerade die Aufgabenstellung des Spiels geändert hat, spürt er, wie unfassbar hoch knöcheltief aus der Waagrechten betrachtet sein kann. Sichtlich panisch schnappt er nach Luft.
»Gehört gewechselt, das Wasser, oder?«, geht es Dolores amüsiert durch den Kopf. Ja, jetzt ist es hier herinnen wirklich lustig, muss sie sich nun ebenso eingestehen wie die Tatsache, dass ihr an ihrer linken Seite jemand fehlt.
»Rosalie?«, brüllt sie. Der Schrei aber geht, ebenso wie immer wieder auch Jürgen, unter. Zu laut ist das vergnügte Gekreische der Kleinen, zu ungestüm, als wären sie zu Besuch in einem Streichelzoo, das Geturne auf den Armen, Beinen, der Brust und dem Kopf ihres Animateurs. Und weil diverse kleine Häschen, Meerschweinchen, Kitz- und Lämmlein von der sie vermeintlich liebkosenden Kinderschar schon reihenweise in Jenseits befördert worden sein sollen, wirft sich Dolly Poppe rechtzeitig vor Jürgens endgültigem Untergang ins Getümmel und ist anfangs beruhigt.
Auch die kleine Rosalie ist offenbar quietschvergnügt mit dabei, beim kollektiven Eintunken, der liebe Jürgen allerdings ist weder vergnügt, noch scheint er eines Quietschens, ja überhaupt eines Tones fähig. Und jetzt vergeht ihr natürlich der Spaß, der lieben Dolly.
»Weg, weg, weg mit euch, aber dalli! Britta, kauf den Kleinen ein Eis, ich geb dir nachher das Geld. Und jetzt raus aus dem Zelt!«, brüllt sie, stürzt zu dem aus der Nase und einer aufgeplatzten Lippe blutenden regungslosen Jürgen, setzt ihn an den Beckenrand gelehnt hoch, ohrfeigt ihn, ruhig ist es geworden in diesem überhitzten, nun verlassenen Vergnügungstempel.
»Du stirbst jetzt nicht, du Scheißkerl, das tust du mir nicht auch noch an!«, bearbeitet sie so lange durchaus schwunghaft, mit beiden Handflächen abwechselnd, seine Wangen, bis Jürgen schließlich die Augen öffnet – womit sich zur Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage eine weitere lebensrettende Sofortmaßnahme gesellt hätte. Heilfroh ist sie sowohl über den Augenaufschlag des Ex-Kollegen als auch über die Tatsache ihres frisch vergebenen Herzens. Wie meistens ein von nicht so fern angereister Gast, und diesmal fühlt es sich wirklich richtig nahe an, diesmal könnte mehr draus werden.
»Ah, das brennt!«, ist mit glühend roten Backen Jürgens erste Wortmeldung, und unter Garantie meint er nicht die aufgeplatzte Lippe, deren Erstversorgung nun Dolores am Herzen liegt. Hektisch läuft sie hinter einen Paravent, öffnet dort den mit einem roten Kreuz versehenen kastenförmigen Plastikspind, und diesmal kommt jede Rettung zu spät, ebenso wie Dollys Schritt zur Seite. Schwerfällig kippt ihr ein großgewachsener, regungsloser Körper entgegen und landet in ihren Armen. Wie der Kopf eines Liebenden legt sich das fremde Haupt auf ihre Schulter und blickt mit zwei kreuzförmig von weißen Pflasterstreifen verklebten Augen ins Nichts. Ein Weiß, das auf der beinah ins Schwarze gehenden Gesichtsfarbe umso deutlicher zur Geltung kommt.