15,99 €
Willibald Adrian schlägt im Kleingarten Wurzeln … und gräbt aus, was andere lieber unter der Erde wissen würden. Danjela Djurkovic macht den Metzger zum Gärtner Nachdem des Metzgers Existenz nicht nur sprichwörtlich in Schutt und Asche gelegt wurde, ist es für ihn und seine frisch angetraute Danjela Djurkovic an der Zeit, neu aufzublühen. Und wo könnte man den zweiten Frühling besser erleben als in einer Kleingartensiedlung? Dachte sich zumindest Danjela. Der Metzger, eher Stadtpflanze als Erdwühler, fühlt sich zwischen Beeten und Gartenzwergen zunächst reichlich unwohl. Doch viel Zeit, sich mit der vermeintlichen Idylle anzufreunden, bleibt ihm sowieso nicht. Von Explosionen und Partnertausch hinter Buchsbaumhecken Zwischen den Grundstücken zweier passionierter Gärtnerpärchen detoniert eine alte Fliegerbombe und befördert das weniger glückliche Paar – pardon … eher Teile von ebendiesem – in die Zwetschgenbäume. Die zwei glimpflich Davongekommenen freuen sich, dass die Baugrube für den ersehnten Anbau jetzt quasi ausgehoben ist. Dem Metzger hingegen kommt der Unfall langsam, aber sicher suspekt vor. Vor allem, als ihm klar wird, dass manche Pärchen in der Siedlung nicht nur Gartengeräte untereinander tauschen. Liebesgschichten und Gartensachen Selbst Kleingartengewächs, gibt Thomas Raab Einblick in einen mitunter skurrilen Mikrokosmos, in dem er jeden Grashalm kennt. Schnell lässt er seinen Metzger, Liebhaber von alten Dingen, von gutem Rotwein und seiner Danjela, erkennen, dass in der Kleingartensiedlung ganz eigene Gesetze gelten. Eigentlich ist der Metzger ein umgänglicher Zeitgenosse mit Hang zur Melancholie – der Rotwein! –, jetzt gerät er an seine Grenzen, weil man ihn in unbekanntes Terrain verpflanzt, das ihm dann auch noch um die Ohren fliegt. "Für mich ist der Metzger immer auf der Suche nach dem Ursprünglichen. Da sind die perfekt getrimmte Rasenkante, drakonische Vereinsregeln im Kleingarten und die Armee aus Gartenzwergen und ihren Haltern nicht gerade das Umfeld, in dem er aufblühen kann. Irrwitzig wie immer, jagt Thomas Raab seinen Metzger durch eine Welt, in der er eigentlich keinen Platz hat. Es gibt keinen Garten ohne Unkraut, doch was für die anderen ausgerissen werden muss, ist für den Metzger eine blühende Wiese. Und gerade das macht mir großen Spaß!" Simon Schwarz "Thomas Raabs Bücher sind so wundervoll wie eine Sachertorte: dunkel, gehaltvoll, kultig und immer mit einer herrlich bittersüßen Note. Und auf den jeweils neuen Metzger unseres Vertrauens freuen wir uns seit Band eins immer wie ein Wienerschnitzel." Klüpfel & Kobr
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 275
So
Die einen sagen so,
die andern sagen so.
So manche hören zu,
ziehen die Augenbrauen hoch
und sagen nur: „Soso!“
Einige wenige hören ausschließlich zu
und sagen überhaupt nichts.
Das sind die Gefährlichsten.
Etliche hören grundsätzlich nicht zu,
sagen aber trotzdem so und so und so.
Das sind dann die Anstrengendsten.
Irgendwann hört sich’s für die einen
endgültig auf, und die anderen sagen:
„So eine Gute war sie, so eine Liebe!“, oder:
„So gut, endlich sagt er nichts mehr!“, oder:
„So schad, jetzt hört mir keiner mehr zu“, und
es bleibt, wie es war,
oder ist, wie es ist,
oder wird, wie es wird,
denn wie gesagt:
Die einen sagen so,
die andern sagen so …
NULLerl
1 Soul
Mehr als zwei Wochen werden es wahrscheinlich kaum gewesen sein, die Adolfine Zwaschka durchgehend an der frischen Luft verbracht hat. Eventuell auch drei. So genau weiß das heute keiner mehr, außer vielleicht die Pathologie.
Ihre unmittelbare Nachbarin Wilhelmine Wiskozil auf Parzelle 17B zum Beispiel behauptet felsenfest: „Vier läppische Tage waren das. Höchstens fünf. Länger ist die Zwaschka fix nicht in ihrem Liegestuhl g’sessen, bevor ich rüber bin und sie g’funden hab. Zum Riechen war sie mit ihrer süßlichen Weleda-Naturkosmetik ja schon als Lebende die ganze Zeit. Gestunken hat das Zeug, als hätt der Havlicek auf 15B vorm Grillen seine marinierten Hühnerflügerl verlegt und nach dem Grillen drauf vergessen, vor dem Grillen eben seine marinierten Hühnerflügerl verlegt zu haben. Wie bitte soll ein Mensch da auf die Schnelle unterscheiden können, ob sich die Zwaschka noch in Weleda wälzt oder eh schon verwest seit sechs Tag’!“
Maximal eine Woche also aus Wiskozil-Perspektive.
Drunten im Beisl des hiesigen Tennisplatzes hingegen sehen die Theorien je nach Alkoholpegel gänzlich anders aus. Denn wenn die Zwaschka von Natur aus auch nur annähernd so haltbar war wie die laut Tennis-Stüberl-Speisekarte hausgemachte, tatsächlich aber aus der Felix-Konservendose stammende Gulaschsuppe, dann ist sie wahrscheinlich an einem lauen Spätsommertag des Vorjahres per Öffis in ihren Garten gefahren, bisserl Sonne tanken, Liegestuhl auf, Zwaschka rein, alles fein, nur halt auf immer und ewig. Es wurde Herbst, es wurde Winter, die erste Schneedecke hat sie verschwinden lassen, die ersten Frühlingsboten wieder aufgetaut und so weiter und so fort.
Kurzum: Adolfine Zwaschka war ihren Mitmenschen so dermaßen wurscht, wie die Menschen generell wiederum ihrer Nachbarin, der Wilhelmine Wiskozil, wurscht sind. Und mehr wurscht geht nicht. Was nun an sich generell wieder wurscht wäre, hätte das leer gewordene Zwaschka-Grundstück nicht neue Eigentümer und somit die Wiskozil frische Nachbarn bekommen.
Und das wünscht sich keiner.
Genau das bekommt Willibald Adrian Metzger nun zu spüren.
„Gibt’s das!“, spitzt er die Ohren.
Unter ihm genau jener bequeme Liegestuhl, aus dem es Adolfine Zwaschka einst nur noch mit Hilfe der Bestattung Bussi-Baba-mit-Jedlicka herausgeschafft hat. Und weil der Metzger von diesem tragischen Umstand nichts weiß, sitzt er hier auch so gern, je später die Stunde, desto lieber.
Rund um ihn die sich in Lärm auflösende Idylle der Nacht.
Rechts von ihm die Glut zweier rauchender Gelsenspiralen.
Links die stille Gegenwart seiner Danjela. Mit Tablet und Kopfhörern ausgerüstet, ist sie vor sicher schon drei Stunden im Inneren des Gartenhäuschens in ihrem Schaukelstuhl verschwunden, sicherheitshalber mit den Worten: „Hör ich gleich nix mehr, wegen Stöpsel in Ohr und Strömen in Auge!“ In-Ear und Streaming also. Danjelas Deutsch mit dem von Willibald Adrian so geliebten Balkan-Akzent, dafür ohne Anglizismen. „Weil was ist zu viel, ist zu viel, ist zu viel!“
Diese Haltung der Djurkovic findet dann auch in ihrem Schaukelstuhl Umsetzung, denn nach maximal dreißig Minuten entfalten die unendlichen Wahlmöglichkeiten aus Netflix, Amazon Prime, Disney Plus, Sky X ihre sedierende Wirkung und Danjela verabschiedet sich in Richtung Traumwelt. Ein wohlverdienter, seliger Schlaf. Einer, der von innerer Ruhe herrührt, endlich frei von dieser nie enden wollenden Angst, ihre Vergangenheit könnte sie überrollen, verschlingen und verschwinden lassen. Dieses Kapitel ist nun erledigt, der Sulemanjiu-Clan Geschichte1. Willibald und Danjela sind endlich bei sich angekommen, neues Leben, wenn auch mit Vorsicht, zurückgezogen, aber frei – und natürlich trotzdem nicht allein.
Leider.
„Darf denn das wahr sein!“, verlässt der Metzger mit einem energischen „Frau Wiskozil!“ nun den Zwaschka-Stuhl. Ein wunderschöner englischer Klappsessel aus dunkler französischer Buche mit kräftiger, geschwungener Armlehne und luftiger Binsensitzfläche. Baujahr 1910.
Wilhelmine Wiskozil im Garten nebenan hingegen ist 45 Jahre jünger. Baujahr 1955. Geboren am 27. Juni, quasi exakt beim Inkrafttreten des österreichischen Staatsvertrages. Wahrscheinlich dürfte ihr genau deshalb ein bisserl was durcheinandergekommen sein, was sie hat glauben lassen, nicht das Land Österreich wäre nun wieder souverän, unabhängig und demokratisch, sondern die Wiskozil als Österreicherin an sich. Sehr souverän und unabhängig sogar. Dafür hapert es eben mit der Demokratie ziemlich. Aus gutem Grund. Gibt ja sonst niemanden mehr in ihrem Garten. Kinder hat sie keine. Der Rest ist tot, beginnend bei Katze Schnurrli Wiskozil, gefolgt von Wellensittich Burli Wiskozil, Gemahl Georg, sprich Schurli Wiskozil, und schließlich Zwergspitz Karl-Heinz Burschi Wiskozil, benannt nach Karl-Heinz Burschi Dolezal, Kollege des Wiener Kieberers Trautmann, bekannt aus Film und Fernsehen.
Wilhelmine also lebt allein in dieser ihrer Welt.
Und exakt so verhält sie sich auch.
„Die lästige Delirium-Wanzn, die elendigliche!“ Geladen marschiert Willibald Adrian auf seine Thujenhecke zu. Delirium, weil Wilhelmine Wiskozil statt Wasser nur Prosecco trinkt. Lästige Wanzn, weil eben lästig und weil die von Wilhelmine bei emotionaler Berührung ausgestoßene wortreiche Wiskozil-Wolke zum Himmel stinkt.
Die einst in kluger Voraussicht von Adolfine Zwaschka gepflanzten, schnell wachsenden Thujen also sind ein blickdichter Glücksfall, ein giftiger Schutzwall. Eine Wohltat der Abgrenzung. Als Schallmauer aber reicht die Hecke trotz über zwei Meter Höhe natürlich nicht.
„Frau Wiskozil?“, schickt der Metzger ein erstes Aufbegehren durch das Immergrün. Doch keine Reaktion. Nur dieses penetrante Gurgeln, Brummen, Vibrieren. Er ist mit diesen Dingern ja wirklich nicht firm, der Metzger, aber wenn sich Wellness generell so anhört, dann wär jede Therme leer, wahrscheinlich gäb’s gleich die ganze Wellness-Welle nicht. Wilhelmines aufblasbarer Whirlpool jedenfalls klingt, als würd die Wiskozil hinter ihrer mächtigen Thujenhecke nach Öl bohren wollen.
„Wir san’ hier net im Marchfeld!“, platzt dem Metzger jetzt folglich der Kragen. Und er hält wirklich viel aus, ganz ohne Aufschrei.
Dem Havlicek seinen hochaktiven Fuhrpark elektrischer Gartengeräte, sogar die Gartenschere ist eine mit Akku von Gardena.
Die beiden im Körper zweier Menschenkinder gefangenen, freilaufenden Großmann-Brüllaffen auf Parzelle 21.
Dazu auf Parzelle 24 die vermutlich ziemlich schwerhörige Henriette, Gymnasiallehrerin für Deutsch, Geschichte – und leider Hobby-Pianistin. Der Blüthner Flügel in ihrem Gartenhaus ist verstimmt, das Pianissimo nicht annähernd ein Piano, für ihr Forte fehlen dem Metzger die Worte, und für ihre Präludien fehlen den Fenstern die ausreichend dichten Fugen. Selbst Johann Sebastian war selten noch so froh darüber, bereits den Bach runter zu sein.
All das erträgt der Metzger halbwegs mit Gleichmut und tief in die Gehörgänge geschobenem Wachspfropfen, dankbar für sein neues Leben.
Die Wiskozil aber ist reinste Folter, ihre Vibrationen trotz Ohropax bis in Willibalds Liegestuhl zu spüren. Schlimm genug, wenn sich die Wilhelmine untertags zu jeder Unzeit von den Massagedüsen durcharbeiten lässt, aber um 22 Uhr den Motor anzuwerfen, geht definitiv zu weit. Da kann dann selbst in dem friedlichsten Mensch die Sehnsucht erwachsen, so ein Planschbecken dank der Kunst des Zen-Bogenschießens in eine Gummimatte zu verwandeln.
„Frau Wiskozil!“, ruft der Metzger neuerlich, dabei eine ziemlich eindeutige Duftnote in der Nase. „Sag, kiffen Sie jetzt auch noch dort drüben?“ Ein Umstand, der die Sache natürlich nicht besser macht. „Verdammt nochmal, hören Sie mich?“
„Kana do!“, klingt es hinter den Thujen in ungewohnter Gelassenheit zurück.
„Na vielleicht hören Sie mich ja trotzdem?“, setzt er also fort, der Metzger, und diesmal kommt die Antwort prompt:
„I hör kane Leit, die net griaßen kennan!“
Wie verblüffend. Das aus dem Munde einer Person, die bisher im Vorbeigehen auf jeden Gruß bestenfalls mit einem dahingemurmelten „Da Woamduscher!“ reagiert hat, oder mit „Augschwabta Donaufetzn!“. Wenn ihm zum Lachen wäre, er würde jetzt also losbrüllen, der Metzger. So hingegen verschlägt es ihm die Sprache. Denn Wilhelmine Wiskozil legt noch nach: „Am besten rufen S’ glei die Polizei, Sie Nullerl, die g’freien si’ sicher, wenn s’ im Gegensatz zur Zwaschka diesmal a frische Leich finden!“ Bravo! Das spricht für sich.
Null zielführend also jedes weitere Gespräch, weil:
Einsilbig lässt ihn diese Drohung werden.
Zweifelsohne zu viel für den Willibald.
Dreistigkeit, die ihn womöglich auf alle
viere zwingt, sollte er weiter reagieren. „Buckel-
Fünferln kanns mich, die oide Schreckschraum! A
Sechsertragerl hat die wahrscheinlich schon intus“,
flüstert der Metzger. Und gerade, weil sich ein Mensch mit hörbar Prosecco-schwerem Zungenschlag seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit entledigt, flößt ihm die Wiskozil gehörigen Respekt ein. Abgesehen davon kommt rein akustisch dort drüben etwas Bewegung auf.
Ergo geht er wortlos zurück in seinen Liegestuhl.
Nicht, dass er der Wiskozil in ihrem Geblubber jetzt gleich den Untergang wünscht, oder ein finales Verschlucken, aber mindestens so ein bisserl Verkutzen würd ihn jetzt schon freuen.
Und es wird schlimmer kommen.
Viel schlimmer natürlich.
Zuvor aber kommt Soul.
Vorname Corvus, Nachname Corone, sprich: eine Rabenkrähe. Den Holzmasten der Oberstromleitung vor dem Wiskozil-Grundstück hat sie sich als Logenplätzchen gewählt und späht mit neckisch geneigtem Köpfchen in Richtung Whirlpool.
„Soul, grad jetzt tauchst du hier auf!“, winkt ihr der Metzger zu und erhält zum Dank ein kleines Nicken retour. Eine alte Bekannte also. Eine treue Seele. Darum Soul. Wer sie erstmals so gerufen hatte, der Metzger oder seine Danjela, weiß dank kleiner Weinseligkeit heut keiner mehr, spielt auch keine Rolle. Hauptsache, der Name ist geblieben. Immer wieder kommt die Rabenkrähe seither zu Besuch, lässt sich mittlerweile sogar rufen, weiß, wem sie trauen kann, merkt sich haargenau, wer ihr Steine nachwirft oder eben Futter hinstellt. Willibalds Idee, in einer Baumgabel einen Teller zu fixieren und dem Vogel darin ein paar feine Happen à la Wurst, Schinken, Käse, Nüsse, Brot zu kredenzen, ging in kürzester Zeit jedoch gewaltig nach hinten los – und somit der Fuchs im Garten spazieren. Allesfresser eben. Logisch gab das klügere der Tiere umgehend nach, Meister Reinicke also da, Rabenkrähe weg. Der Metzger allerdings hat noch ein paar höllisch um die Polnische, Wiener und den Schärdinger kreischende Marder mehr gebraucht, um zu überzucken: Raubtierfütterung in freier Wildbahn? Schlechte Idee. Ergo: Teller weg. Soul wieder da.
So wie jetzt.
Und irgendetwas dürfte dem Vogel offenbar appetitlich ins Auge stechen. Den Schlauch des aufgeblasenen Sprudelbeckens wird er als Allesfresser mit Vorliebe für Aas und Innereien ja wohl nicht kappen wollen. Worauf also warten?
„Soul!“, lächelt der Metzger, mittlerweile hundemüde. „Wartest leicht, bis sich der Wiskozil-Körper um seine Seele erleichtert und ein Leckerbissen wird!“
Was auch immer dort auf Parzelle 17B gerade passiert, der Rabenvogel wird’s schon wissen. Für Willibald Adrian aber ist es Zeit, sich zu seiner Danjela zu begeben.
„Gute Nacht!“, flüstert der Metzger also und geht.
Dann wird es still.
Auch bei Wilhelmine Wiskozil.
Zumindest für die nächsten vier Tage,
oder vielleicht fünf.
Können aber auch nur drei gewesen sein.
1 Band 8: Die Djurkovic und ihr Metzger
ANSchi
2 Artisten, Tiere, Attraktionen
Seit sich die Spezialistin für Schädlingsbekämpfung Angelika Baluschek nur noch auf Gartenzwerge konzentriert, ist ihr Leben deutlich einfacher geworden. Gartenzwerge vermehren sich zwar, meist durch Handarbeit oder mittels Guss- und Presstechnik, pflanzen sich, soweit sie weiß, aber nicht fort. Und falls doch, wird die Geburtenrate wohl kaum groß in die Höhe schnellen, weil Gartenzwerginnen sind der Baluschek Angelika bisher noch keine untergekommen. Nur Zwerge.
Mit Schürze, Gießkanne,
Scheibtruhe, Krampen,
Spaten, Laterne,
Bierkrügerl, Wampen …
Sogar Exemplare mit hochgestrecktem Mittelfinger, nacktem Hintern oder zwecks Markierens gezücktem Zumpferl wurden schon gesichtet. Offizielle Ordenstracht gibt es halsabwärts somit keine, halsaufwärts jedoch herrscht strengste Uniformität – bestehend aus Zipfelmütze, weißem Vollbart, heller Hautfarbe.
Ein Haufen männlicher Bleichgesichter.
„Botanische Burschenschaft, elendigliche!“, flüstert Angelika, nimmt ihren Schlüsselbund mit Gartenzwerganhänger zur Hand, blickt dabei in ihren Vorzimmerspiegel, sieht darin längst mehr von ihrer Mutter als von ihrer Schwester und kann es jetzt schon erahnen: Irgendwann, wenn der Damenbart sprießt, der Schweiß herber duftet und die Ohren wachsen, wird sie dann mehr von ihrem Vater als ihrer Mutter in sich erkennen, bis sie am Ende ihres Lebens, wie einst als Kleinkind vor einer Pfütze, wieder sich selbst erkennt, nur eben ohne Spiegelbild.
Bis dahin aber ist es noch ein weiter Weg.
Mit routinierten Handgriffen versperrt Angelika Baluschek ihre Wohnung, verriegelt das Sicherheitsschloss, und los geht der Spaß. Denn schon mit Betreten des Stiegenhauses bricht hinter der Eingangstür ihres Nachbarn Engelbert Pokorny die reinste Hysterie aus. „Basti! Hier! Sitz! Platz! Bleib! Basti! Heast!“
„Ich hab ja den Schlüssel! Soll ich aufsperren, Herr Pokorny?“
„Geh bitte, Anschi, mein Engerl!“
Anschi!
Klingt nach Mono-Ski oder verloren gegangenem zweiten Carver. Und jeder, der schon mit nur einem Atomic, Blizzard, Fischer, Head … an den Füßen die Piste abwärts brettern musste, weiß, wie verdammt falsch es sich anfühlt. Kurzum: Die Baluschek abzukürzen und ihr somit die innige Bindung an das Angelika lockern zu wollen, führt direttissimo ins Unfallspital.
Erich Baumgartner zum Beispiel, damals aus der 3A, AHS-Rahlgasse, 1060 Wien, war nach seinem „Geli? Ist das was zum Gleiten?“ zuerst die Rahlstiege abwärts und dann mit Liegegips unterwegs. Beziehungsweise nicht mehr unterwegs.
Später David Höller, Oberstufe 7B. „Schauts, jetzt hab ich die Angel an der Angel!“ Schulter ausgerenkt.
Selbst das leidenschaftliche Ähndschie der Rolling Stones, mehr interpretiert als gesungen von Tamara Lindinger in der Karaokebar SOHO, war sinnlos: „Gut, dass du ein Abschiedslied ausgewählt hast, Tamtrallala, weil ich steh nicht auf Frauen!“
Kurzum: Ausnahmslos nur zwei Personen gibt es, denen Angelika Baluschek ungestraft ein Anschi, ausgesprochen „An Schi“, zugesteht. Ihrem Papa Leopold Baluschek.
Und eben dem Engelbert.
„Achtung, Herr Pokorny, dann geht jetzt gleich die Tür auf. Nicht, dass er Sie umrennt!“
„Wart, Anschi, ich halt ihn, bevor er sich no dasteßt, der deppate Dackel!“
„Kluger Zwergpudel!“
„Die drei Bastis vor ihm waren alle deppate Dackeln, ergo ist der Zwergpudel a a Dackel, a deppata. So, mein Engerl: Ich bin so weit!“
Geduzt wird nur in eine Richtung. Von der ersten Begegnung an war Angelika Baluschek für den Pokorny eben „Anschi, mein Engerl“, und der Engelbert für die Angelika der Herr Pokorny. Schön ist das, wenn zumindest in diesem Punkt die Zeit stehen bleibt. Ewige Kindheit. Irgendwie.
Türe auf. „Ja wo is’ er denn, der Basti? Wo is’ er denn?“
„Na so a narrische Freud jeden Tag!“
„Ja da is’ er ja! Da is’ er ja.“
„Bringst ihn mir morgen wieder, Anschi. Immer das Halsband oben lassen, gell, vor allem, wenn er frei herumläuft. Schau, und das hier ist deine Abendlektüre mit dem nötigen Getränk!“ Mit verschmitztem Blick wird Angelika ein Kuvert samt einer Flasche Whiskey überreicht. Waldviertler Whiskey, um genau zu sein.
„Ein Brief. Von Ihnen? An mich! Aber Herr Pokorny, was ist so geheim oder schlimm oder fällt Ihnen so schwer, um es mir nicht gleich hier persönlich sagen zu können? Und dazu der Hochprozentige. Muss ich mir Sorgen machen?“
„Manches muss zu Papier gebracht werden, mein Engerl! Und versprich mir, es erst später zu lesen. Wenn’st oben bist. Bussi. Baba.“ Türe zu.
Und nun aber los. Mit Basti, dem schwarzen Zwergpudel ihres leicht gehbehinderten Nachbarn. Vier Jahre alt, und seit Engelbert nicht mehr so gut zu Fuß ist, unternimmt Angelika mit dem Hund die nötigen längeren Runden. Liebe eben. Zwar beherrscht er auf dem Pokorny-Balkon auch mittels des Kommandos „Lacki machen!“ den Besuch des Katzenklos, die Scham über diese Erniedrigung aber steht dem Basti dabei deutlich ins Gesicht geschrieben. Und das ist nicht bei jedem Basti so, anderen auf den Schädel brunzen und sich dafür wenigstens genieren. Abgesehen davon will ja so ein Hund eben raus, bei jedem Wind und Wetter.
Nach Verlassen des kaiserlich anmutenden Mehrparteien-Wohnhauses, einst die Villa der Familie Pokorny, geht es nun die ansteigende Straße hinauf, dorthin, wo die Mehrparteienhäuser und vereinzelten Gemeindebauten immer weniger, die Villen immer mehr, danach die Villen immer weniger und die Schrebergärten immer mehr werden. Enge Fahrbahn, weite Aussicht, die Stadt zu Füßen. Zwischendurch ein Tennisplatz samt Tennis-Stüberl, eine tatsächlich noch intakte Telefonzelle, ein Altersheim mit Blick auf einen herrlich gelegenen Friedhof, gleich ums Eck die Bestattung Bussi-Baba-mit-Jedlicka, irgendwann nur noch Bäume, Wiesen, Grünfläche und wochenends haufenweise Bewegungshungrige: Spazieren-Gehen, Nordic-Walken, Joggen, Laufen, Radl-Fahren, Im-Kinderwagerl-Liegen. Platz genug. Wienerwald eben … Freiheit pur.
Wenn auch mit Falltüren.
Bei so einem grünen Eisendrahttor nämlich, wie es Angelika Baluschek nun aufschließt, sollte ein Fremder gar nicht erst auf die Idee kommen, durchmarschieren zu wollen, selbst wenn es einladend weit offensteht. Mit „Privat“ gekennzeichnet führt ein dahinterliegender Servitutsweg durch das Siedlungsgebiet des Stammes der Kleingärtnerinnen und Kleingärtner. Mittendrin liegt die ungenutzte Parzelle von Engelbert Pokorny, und Angelika darf sich dort austoben, übernachten, urlauben, was auch immer, vorausgesetzt, sie kümmert sich um die Pflanzen und Basti ist dabei. Von der wunderbaren Tatsache begleitet, nur ein paar Zäune weiter das Leben ihrer Schwester Christine im Auge behalten zu können. In guten und in schlechte Zeiten. Ein Paradies.
Und doch: So idyllisch dies alles auch wirken mag, für verirrte Spaziergänger kann ein derartiger Ausflug gewaltig ins Auge gehen. Denn hier, hinter dem grünen Eisendrahttor, herrschen eigene Gesetze. Nicht nur die Bauordnung betreffend. Flächenwidmung 35 qm. Ausgeschrieben: fünfunddreißig Quadratmeter. Trotzdem werden es nicht mehr. Wer hier zu zweit leben will, muss sich schon sehr, sehr gernhaben. Das Benko-Bügelzimmer ist größer, beziehungsweise war, und natürlich trotzdem kleiner als wahrscheinlich der Indoor-Pool der Reichsten der Reichen, der Bernard Arnault, Babyface Musk & Zuckerberg, Bronxboy Ellison, Bezos, Buffet, Bill Gates, Balmer, Page, Brin … Ein B oder P im Namen und es rennt. So wie Basti, der Pokorny-Pudel, denn ein wenig schneller wird er nun. Zieht an der Leine. Aus reinster Vorfreude – und muss sich zurückpfeifen lassen.
„Sitz, Basti!“ Denn wie gesagt.
Hier herrschen eigene Gesetze.
„Sitz, hab ich gesagt!“, sperrt Angelika das Tor nach Durchschreiten umgehend wieder zu und zieht Basti eng an den Körper, denn: Hunde ausnahmslos an die kurze Leine! – so steht es unter anderem in dem gläsernen Anschlagkasten der Interessensgesellschaft hiesiger Garteneigentümer. Einzig, um das Aneinandergeraten etwaiger Vierbeiner zu vermeiden. Aus reinster Tierliebe.
Schön anzusehen war das nämlich nicht, wie Karl-Heinz Burschi, der freilaufende goldbraune Zwergspitz der Wiskozils, von einem Dachs offenbar missverstanden und mitten in der Nacht zum Schweigen gebracht wurde. Prankenschlag, Abflug, Landung ung’spitzt drei Gärten weiter. Kurz zuvor war sein Herrchen Georg Schurli Wiskozil verblichen und übrig blieb die WiWi, Wilhelmine Wiskozil. Von da an Witwe Wilhelmine Wiskozil, also Wi-WiWi. Traurig, allein, mit der ganzen Welt im Unreinen, kein Wunder also, wenn so ein Mensch seinen herrlichen Garten kaum noch verlässt und sich bevorzugt in seinen freistehenden Whirlpool schmeißt. Ein WiWiWi-Whi also.
Und so etwas kann dann ziemlich schnell gehen: von Alleine zu Einsam zu Eigentümlich zu Tick zu Wahn. Aus Wilhelmine wurde ein von Zwängen gepeinigter Mensch. Jetzt ist ja so eine Störung an sich kein Malheur, solang es nicht andre trifft, soll nur jeder spinnen, wie er will. An Wilhelmines Verhalten aber kam nun wirklich kein Anrainer vorbei. Denn kaum wurde das Eisentor des Servitutsweges benutzt, war aus dem Wiskozil-Garten heraus ein Aufschrei zu vernehmen: „Zuasperren, heast!“ Und weil es wiederum um Wilhelmines Gehörsinn nicht zum Besten stand und ihr rein akustisch der Vorgang des Zusperrens bald vorenthalten blieb, marschierte sie nun nach jedem Passanten fluchend aus ihrem Garten, um an der Türe zu rütteln. In ihrer Hand meist eine Dose Rich-Secco-Rosé, Schaumwein aus dem 0,2-Liter-Blech. Wilhelmines Haar hochgesteckt, mächtig wie die schwarze Bärenfell-Mütze des Wachregiments der britischen Armee, nur eben goldbraun gefärbt. Böse Zungen behaupten, die Wiskozil hätte sich aus ihrem Zwergspitz Karl-Heinz Burschi eine Perücke machen lassen. Vom Standpunkt des Recyclings her betrachtet: Warum nicht?
Wie auch immer, eines stand fest: Egal, um welche Uhroder Jahreszeit, auf den Zusperrdienst der Wilhelmine war Verlass. Wie Kerberos vor dem Eingang zur Unterwelt gab sie die Hüterin der Siedlungs-Pforte.
Gut, allzu viele Anrainer gab es jetzt nicht, die ihr für diesen Service dankbar gewesen wären oder bei Ausbleiben ihrer Kontrollgänge in Sorge ausbrachen, der Wiskozil könnte an einem brütend heißen Sommertag dank ihres Proseccos und der Fellfrisur eine finale Gardesoldaten-Ohnmacht zuteil geworden sein. Abgefahren in den Hades. Aber genau dort weilt sie mittlerweile, das steht fest, wiedervereint mit Schnurrli, Schurli, Burli und Burschi.
„Was ist denn nur los mit dir, jetzt zieh nicht so, wir sind doch gleich da!“, hält Angelika den Pokorny-Pudel fest im Zaum. In seinem Garten genießt er alle Freiheiten, da ist die Vorfreude natürlich zu verstehen, so euphorisch wie heut aber war er noch selten. „Ja gibt’s das! Basti!“
3 Nur eins ist wichtig …
Währenddessen, ein paar Parzellen weiter:
„Was meinst du, Danjela: Soll ich schauen, was mit der Wiskozil los ist? Man hört und sieht nichts mehr von ihr.“
„Unterstehst du dich mit Schnüffelei. Brauchen wir weder alte Probleme noch neue Sozialkontakte. Und glaubst du mir, Willibald: Tor zu Servitutsweg ist verschlossen, auch ohne Absperrdienst von Wiskozil. Gibt ja offenbar Nachfolger-Psychopathen mit heftige Verfolgungswahn.“
„Sicher ist eben sicher!“
„Sicher ist nur: Warst du kontrollieren erst vor exakt fünfzehn Minuten und hast du obendrein aus Postkasten hereingebracht Einladung zu Gartenfest von Strache. Reicht als schlechte Nachricht.“
„Und exakt fünfzehn Minuten weißt du so genau, weil?“
„Wegen Sprenkel-Anlage. Bist du hereingekommen bei Start. Jetzt ist Stopp. Laufzeit fünfzehn Minuten.“
„Wieso fünfzehn, wenn sie auf dreißig programmiert ist!“
„Weil besser als Außenfühler von Computer funktioniert Innenfühler von menschliche Körper!“
„Du hast die Sprenkel-Anlage umgestellt, ohne es mit mir zu besprechen! Und dann wunderst du dich über meinen Verfolgungswahn?“
„Aber Willibald, hat Regen-Wahrscheinlichkeit von mindestens fünfzig Prozent. Und Hälfte von halbe Stunde sprenkeln ist Viertelstunde sprenkeln. Außerdem gibt laut App schlechte Wetter für ganze Woche.“
„Apps. Plural. Du hast mehr Wetterapps als ich Apps insgesamt.“
„Bist du keine Maßstab mit einzige benutzte App Solitaire. Hauptsache hast du Maßstab, weil brauchen wir dringend neue Outdoor-Sofa unter Gelenkmarkise, also bitte misst du aus!“
„Mit dem Mist geh ich jetzt raus, so schauts aus. Und danach umprogrammieren. Mindestens der Salat, die Gurken und Zucchini, die Kräuter und deine Paprika brauchen verlässliche hundert Prozent. Und das Outdoor-Sofa ist kein Outdoor-Sofa, sondern ein wertiges Möbelstück samt Geheimfach. Ein Max-Allraumbett …“
„Alptraumbett.“
„Allraumbett von Joka. So etwas schmeißt man nicht weg.“
„Und wenn, würdest du sowieso finden und wieder herausziehen aus Tonne, so wie wahrscheinlich jede kaputte Gartenzwerg!“
„Welcher kaputte Gartenzwerg?“
„Liegt eigentlich recht hübsche Modell zertrümmert in Restmüll. Nimmst du mit Plastiksack, pickst du zusammen, taufst du Max und legst du in deine Alptraumbett!“
„Da wird er sich aber freuen, weil:
Ein Joka-Bett bekam der Max
für nachts und auch für untertags.
Der schöne Stoff so fein genäht,
ja das ist Joka-Qualität!“
„Was soll das sein? Ballade von Spießbürgertum?“
„Um Himmels willen, du Ahnungslose! Das ist die Ode an die Hapfn meiner Träume. Der sehnlichste Wunsch meiner Kindheit war das. Ein Max-Joka-Bett.“
„Mit Max Yoga im Bett! Meine Güte, hab ich Glück, weil bist du trotzdem geworden hetero.“
„Du nimmst mich grad auf den Arm, oder?“
„Lieber in den Arm!“
„Ich seh dir doch an, du weißt haargenau, wie es weitergeht.“
„Fernsehwerbung aus 80er Jahre. Logisch weiß ich:
Und erst große Bettzeugraum,
auf-zu, auf-zu, spürt man kaum.
Doch jetzt hat Max noch Clou entdeckt –
hier ist Nachtkästchen versteckt!“
„So in etwa. Das Ende fehlt noch:
Max weiß, eins ist im Leben wichtig,
Joka und Sie liegen richtig!“
„Ha, Ende ist falsch. Muss heißen:
Metzger weiß, nur eins ist wichtig,
mit Djurkovic, da liegt er richtig!
Und wehe, besuchst du Wiskozil! Wanderst du ruckzuck aus Schlafzimmer und liegst du richtig schlecht auf Alptraumbett unter Gelenkmarkise.“
„Ich dich auch!“
4 Wewiwe
„Basti! Fuß!“
Freude pur, immer noch. Bei Angelika Baluschek hingegen Verwunderung.
„Fuß, hab ich gesagt!“
Lang dauert es nicht, und sie weiß, warum. Ein Stück entfernt kommt ihr ein neuer Anrainer entgegen.
Weber sein Name.
Um die sechzig, biedere Ausstrahlung, etwas korpulent, freundlich, tierlieb, unauffällig. Bundfaltenhose, kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und grüner Gärtnerschürze. Lebt seit drei Monaten sehr zurückgezogen mit seiner Partnerin in dem von Zypressen umwachsenen, uneinsichtigen Kleingarten der alten Zwaschka. Man grüßt sich, spricht vielleicht kurz über das Wetter, mehr nicht. So wird es jedoch nicht bleiben, denn Angelika kann ihn sehen: den Plastiksack in seiner Hand. Auch Basti hat Witterung aufgenommen und ist kaum noch zu halten.
„Ja, der Herr Weber!“
„Grüß Sie, Frau Baluschek!“, nickt er höflich zurück, geht in die Knie und streichelt den Zwergpudel: „Bist ein Lieber, ein Braver! Wir hatten auch ein Hunderl. Einen Mischling. Edgar. Fehlt uns sehr!“
„Und worauf warten Sie dann? Hier heraußen ist es mit einem Hund ja wirklich paradiesisch!“
„Ganz offensichtlich!“, wundert sich Herr Weber, denn Basti stürzt sich auf den Plastiksack. „Ja was suchst du denn, da ist doch nur Schutt drinnen?“
„Spinnst!“, schnappt sich Angelika den Hund und nimmt ihn hoch. „Bitte um Verzeihung.“
„Kein Problem. War das leicht Ihrer?“, will Herr Weber wissen.
„Was meinen Sie?“
„Der Gartenzwerg!“, hebt er den Plastiksack ein Stückchen höher. „Weil Ihr Hund offenbar so fixiert drauf ist.“
„Nein, nein, der Basti hat einen eigenen zum Spielen aus Gummi. Jetzt glaubt er wahrscheinlich, was weiß ich. Sehen ja alle irgendwie gleich aus, die Typen.“
„Na ja, so gleich schaut der nicht aus!“ Herr Weber deutet auf einen darin unversehrt gebliebenen Allerwertesten, auf dem ein Singvogel sitzt: „Offenbar ein Zwerg, der uns seine Lebenshaltung ins Gesicht streckt.“
„Das g’fallt Ihnen? Na bravo! Und was machen S’ mit dem zerstückelten Zwergenkörper? Weiter verwurschten? Bringen S’ ihn leicht zum Metzger?“
„Zum Metzger?“, wiederholt Herr Weber. Es ist eine seltsame Erstarrung, die sich in seinem Gesicht breitmacht. Gespickt mit einem fast ängstlich wirkenden, fragenden Blick: „Wie kommen Sie auf Metzger!“
„Ui. Sind Sie so ein österreichischer Sprachpolizist, der bei Worten wie lecker die Pustln kriegt? Also bitte: Bei uns ist das natürlich der Fleischhauer. Oder Fleischhacker. Zufrieden? Also, Willi Weber? Was machen Sie mit dem hinigen Zwerg?“
„Vielleicht kann ich den Kerl reanimieren!“
„Reanimieren?“, lacht Angelika.
„Zusammenkleben und wieder wo aufstellen. Warten S’“, greift Herr Weber in seine Hosentasche, zieht eine abgetragene Ledergeldbörse heraus, öffnet diese, zückt ein ziemlich druckfrisch wirkendes Visitenkarterl – und Angelika staunt nicht schlecht. „Da haben Sie aber extra den Namen geändert, damit sich das irgendwie schön ausgeht und nach was klingt, oder! Wie der Heinz Georg Kramm oder die Gabriele Susanne Kerner?“, kommt ihr ein Lachen aus und der Blick des Herrn Weber könnte ernster gerade kaum werden.
„Wie meinen?“
„Sie kennen Heinz Georg Kramm nicht? Besser bekannt als Heino. Oder Gabriele Susanne Kerner. Auch Nena genannt. Und Sie sind“, Angelika blickt auf die Karte und liest vor:
„Werkstatt Willi Weber.
Puppenklinik Wien.
Künstlername WeWiWe? So wie die WiWiWi, Witwe Wilhelmine Wiskozil? Und wie heißen Sie jetzt richtig? Sind Sie vielleicht das allwissende WWW?“ Es ist die boshafte Ader, gegen deren Macht sich Angelika schon als Kind nicht wehren konnte, dieser Humor durchaus auf Kosten anderer, der ihr heut noch die Tränen kommen lässt vor lauter Lachen. „WiWiWi und WeWiWe im Kleingarten, herrlich.“
Ein neckisch ernster Blick jetzt bei Herrn Weber: „Meinetwegen müssen Sie kein schlechtes Gewissen haben, Frau Baluschek. Es ist durchaus in Ordnung, schon am Nachmittag betrunken zu sein!“ Und das gefällt der Angelika natürlich, ein Mannsbild mit Witz: „Na dann sind S’ froh, mich nicht schon am Vormittag getroffen zu haben!“
Jetzt schmunzeln sie beide.
„Und Ihre Puppenklinik? Wie kann ich mir das vorstellen? Was passiert so in der Werkstatt Willi Weber? Prothesen bei fehlenden Extremitäten, Augen-OPs, schönheitschirurgische Eingriffe?“
„Genau so“, lächelt er.
„Erstaunlich!“ Absurd im Grunde, wenn zwei derartig ausgefallene Professionen aneinandergeraten.
„Und Sie? Was machen Sie beruflich, irgendetwas Sportliches, nehm ich an?“, kommt wie befürchtet die Gegenfrage. Angelika blickt in die tiefen Weber-Augen, vielleicht die Spur zu lange, um ihr Nachdenken verbergen zu können, und entscheidet sich mehr oder minder für die Wahrheit. Wozu auch lügen.
„Bei mir geht es nicht ganz so romantisch zu wie bei Ihnen.“
„Täuschen Sie sich nicht, Frau Baluschek!“, unterbricht er amüsiert. „So lose herumliegende Porzellanpuppenköpfe, Arme und Beine, da kommt Friedhofsstimmung auf!“
„Da kann ich locker mithalten, Herr Weber: Was ich anderen schon an Friedhof ins Haus gebracht habe. Da war dann Schluss mit den Faxen, egal wie viel Haxen. Von achtbeinigen Spinnen über Sechsfüßer wie Schaben, Bettwanzen, Hausbock, Motten, Silberfischchen, Ameisen, Wespen.“
„Eine Kammerjägerin?“
„Ganz genau. Selbstverständlich durften sich auch keine Vierbeiner mit mir angelegen, Mäuse, Wühlmäuse, Ratten, Marder. Und so ein Zweibeiner, uiuiui, ich sag Ihnen, Herr Weber, da heißt es heut noch gewaltig aufpassen.“
„Eine Kammerjägerin, die Zweibeiner beseitigt? Muss ich mir jetzt Sorgen machen?“
„Wenn Sie Flügel haben, dann schon. Vogel- und besonders Taubenabwehr. Ich war lange bei der Schädlingsbekämpfung. Heute können Sie mich als Mediatorin buchen. Kommt aufs selbe raus. Die Leut müssen sich zwangsweise mit Menschen arrangieren, denen sie normalerweise aus dem Weg gehen. Auch eine Art Schädlingsbekämpfung. Nur geht es da eben gegen den eigenen inneren. Derjenige also, der uns am meisten schaden will, uns zusetzt. Wenn Sie mich brauchen, einfach im Internet unter Mediation und Konfliktmanagement Wolf.“
„Warum Wolf und nicht Baluschek! Wer meldet sich da bei Wolf? Ökobauern mit gerissenen Schafen?“
„Logisch. Oder als Vollidioten enttarnte Politiker, die zuvor beim Armin in der ZiB 2 waren und seither nicht mehr schlafen können vor lauter Rachgier.“
Etwas Spitzbübisches zieht sich in sein Gesicht, nimmt seine dunklen, wachen Augen in Beschlag: „Ich will Berufliches und Privates so gut es geht trennen. Darum Wolf!“
„Na dann. Hoffentlich brauch ich Sie nie, Frau Baluschek!“
„Und wenn ich helfen kann, bin ich selbstverständlich gern zu Diensten!“, verschenkt sie ihr schönstes Lächeln, will schon weiter in ihren Garten, muss sich aber noch gedulden.
„Na ja, helfen könnten S’ mir schon!“, wird seine Stimme nun leiser, geheimnisvoll fast: „Es wär wegen Wilhelmine Wiskozil.“
Und bei Angelika Baluschek beginnt er zu rasen, der Puls.
„Was ist denn mit ihr?“
„Eben nichts. Gar nichts. Kein Mucks. Kein Herumfluchen. Kein Whirlpool. Keine Kontrollgänge zum Servitutsweg-Türl. Womöglich ist ihr etwas passiert. Vielleicht sollte man sicherheitshalber bei ihr vorbeischauen.“
Sollte man?
Wenn Angelika Baluschek eines so richtig nicht mag, dann diese indirekte Befehlsform, dieses hinter dem Mansollte versteckte:
Sie-sollten, Ihr-solltet, Du-solltest,
im Grunde wurscht, wer,
Hauptsache, nicht ich.
„Mann sollte. Da geb ich Ihnen absolut recht, Herr Weber. Also tun Sie sich keinen Zwang an“, marschiert Angelika schnurstracks mit Basti in den Armen zum Wiskozil-Gartentor und betätigt die Türschnalle. „Na bitte. Offen! Also, Willi Weber, worauf warten S’? Rein ins Paradies.“
5 Fort
Er kann sie sehen, sobald er auf dem Rücken liegt.
Die Weltkarte an seiner Decke. Aus alter Kleidung wurde sie herausgeschnitten und mit Kleister festgeklebt. Jedes Land aus eigenem Stoff, in eigener Farbe. Detailverliebte Arbeit, die dieses Kunstwerk hat entstehen lassen. Kein Land gleicht dem anderen. Einzig die mancherorts mit weißer Lackfarbe hineingetupften Markierungen geben der Unterschiedlichkeit das Gemeinsame. Als Hinweise. Erinnerungen. Überall dort ist er bereits gewesen. Alles Stationen seiner Flucht vor sich selbst.
Menschen gibt es, die wohl mit Blick auf seine Zimmerdecke behaupten würden, er wäre offenbar zuhause in der Fremde und hätte schon die ganze Welt gesehen.
Schwachsinn natürlich.
Kein Mensch hat jemals die ganze Welt gesehen. Unmöglich. Dafür gibt es haufenweise Leut, die kennen nicht einmal die eigene, sind Fremde in ihrer Heimat. Freiwillige Fremde. Treten aus der Haustür auf das Trottoir, gehen ins Büro oder in die Schule, ins Grüne oder einfach nur hinaus in den eigenen kleinen Garten – und sind ahnungslos. Desinteressiert an der Umgebung. Wissen nicht, warum ihre eigene Gasse heißt, wie sie heißt. Könnten nicht einmal sagen: Die eigene Häuserzeile hat der und der gebaut, in der und der Zeit, dieses Wildkraut zwischen den Pflastersteinen ist das und das, die Vögel, die mich in der Früh aufwecken und abends in den Schlaf singen, sind die und die.
Dafür wissen sie, womit sich Taylor Swift die Zehennägel lackiert, was Pamela Reif zum Schwitzen bringt, und natürlich das aktuelle Wetter auf Saint-Barthélemy, ohne die geringste Chance, dieses Wetter dort eines Tags auch leibhaftig verspüren zu dürfen. Aber das macht nichts.
Herzen trösten. Aktuell sogar über alles hinweg. Universalsprache der Gegenwart. Werden verschickt selbst zwischen einander völlig fremden Menschen.
Mit Herzerl in den Smiley-Augen,
Herzen als Emoji,
Herzerln per Luft-Bussi.
So ändern sich die Zeiten. Früher ist dir jemand ordentlich auf die Nerven, die Socken oder Eier gegangen, auf den Senkel, Zeiger, Wecker oder Arsch, heut ist der Stinkefinger einem mit beiden Händen geformten Herzchen gewichen. Durch die Blume irgendwie dasselbe. Früher waren Lob, Anerkennung, generell ein Ausdruck der Zuneigung, eher Mangelware, heut ist ein inflationäres „Hab dich lieb!“ die Regel. Und es kann alles bedeuten von „Ich mag dich!“ über „Lass mich bitte in Frieden!“ bis zu „Du kannst mich gernhaben!“.
Davon ist er überzeugt: Je mehr ein Mensch von Liebe spricht, desto weniger weiß er, wovon die Rede ist. Haufenweise Philosophen, Theologen, Literaten, die seit Jahrhunderten diese Welt mit ihren schriftlichen Ergüssen überschütten, groß und breit erklären: Die Liebe sei kein Selbstläufer, falle zwar womöglich aus heiterem Himmel herab, pflanze sich irgendwo ein, schlage vielleicht sogar Wurzeln, aber für all ihre Fülle brauche sie Licht und sorgsame Pflege, müsse gegossen und gedüngt werden, sonst werde das nichts. Und während so ein altkluges Blabla auf Papier gebracht wird, trocknen den Damen und Herrschaften auf ihren Fensterbrettern die Topfpflanzen aus.
Wenn es nach ihm ginge, gehörte jedem Menschen, um die ganze Sache mit der Liebe zu lernen, zuallererst ein Blumenkisterl oder Gemüsebeet verpasst, bevor es dann an die Mitmenschen und später die Haus- und Nutztiere geht.
Nein, ihm muss keiner etwas erklären.