Der Metzger muss nachsitzen - Thomas Raab - E-Book

Der Metzger muss nachsitzen E-Book

Thomas Raab

5,0

Beschreibung

DER BEGINN EINER UNENDLICHEN ERFOLGSGESCHICHTE: WILLIBALD ADRIAN METZGERS ERSTER FALL! Der Metzger - ein Original Der Metzger, das ist einer, der alte Dinge liebt. Als Restaurator kennt er die Schönheit eines Gegenstands, wenn dessen abgenutzte Oberfläche eine Geschichte erzählt. Er ist einer, der gerne allein ist, manchmal allerdings ist er auch einsam. Er ist einer, der in der Schule gemobbt wurde, weil er zu klug und zu weich war für die wilden Bubenspiele am Pausenhof. Einer, der gerne Rotwein trinkt, mitunter viel zu viel, und dann fantasiert von den üppigen Rundungen seiner ehemaligen Schulwartin. Denn auch, wenn mit dem Wein manchmal die Melancholie kommt, weiß er um die schönen Seiten des Lebens. Und um die lustigen. Vor allem aber ist der Metzger einer, dem das Verbrechen immer wieder vor die Füße fällt - und ihn zu seinem Leidwesen, aber zur Freude einer großen Leserschaft, zwingt, die gemütliche Werkstatt zu verlassen und Nachforschungen anzustellen. Der Raab - ein Kultautor Der Raab, das ist einer, der einen unverwechselbaren Stil hat. Schräger Humor, authentische Charaktere, Wortwitz, feine Gesellschaftskritik; vor allem eine extrem gute Beobachtungsgabe und zugleich die Fähigkeit, die Beobachtungen treffend-komisch aufs Papier zu bannen, das ist die Mischung, die ihn so erfolgreich gemacht hat. Beim Lesen ist es zuweilen schwer zu entscheiden, ob man gespannt der Auflösung entgegenfiebern oder sich lieber doch möglichst viel Zeit lassen möchte, um das Lesevergnügen voll auszukosten. Und vielseitig ist er, der Raab - er schreibt nicht nur sehr verschiedene Kriminalromane, sondern auch Drehbücher. Man munkelt außerdem, dass er seine Lesungen zuweilen selbst musikalisch untermalt. Und gerne auch eine Kostprobe von seinem kabarettistischen Potential gibt … Der erste Metzger-Krimi - ein fulminanter Auftakt Der erste Metzger-Krimi ist einer, der österreichische Krimigeschichte geschrieben hat. Fünfundzwanzig Jahre nach seiner Matura stolpert Restaurator Willibald Adrian Metzger erst in Hundstrümmerl, dann über einen toten ehemaligen Klassenkameraden. Als die Polizei den Hinweisen des Metzgers folgt, ist die Leiche verschwunden. War alles nur ein Produkt von rotweingeschwängerter Fantasie? Nein! Denn am nächsten Tag lässt jemand dem Metzger einen Schuh des Opfers zukommen. Irgendjemand möchte offensichtlich, dass der Metzger eine Spur aufnimmt. Als er das tut, begibt er sich auf eine Reise in seine schulische Vergangenheit. Und dort tauchen noch mehr Leichen auf. Der Metzger muss also nachsitzen. Damit kennt sich der Raab - als ehemaliger Lehrer - schließlich aus. **************************************************************************** "Mit diesem Buch wurde ich zum absoluten Thomas-Raab-Fan - und bin es bis heute geblieben. Ich kennen keinen anderen Autor, der so genial klugen Humor und düstere Krimispannung miteinander vereinen kann. " "Ach, der Metzger. Am liebsten möchte man ihn besuchen, einfach an die Tür der Werkstatt von diesem sympathischen Kauz klopfen, und bei einem Glas Rotwein ein Weilchen gemeinsam schweigen. " *****************************************************************************

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Thomas Raab

Der Metzger muss nachsitzen

Kriminalroman

Inhaltsverzeichnis
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Titel
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Thomas Raab
Zum Autor
Impressum

Die Auftriebskraft der Wahrheit ist größer als die Gewichtskraft der Lüge

1

Da ist es wieder! Der Metzger schleicht durch den Park, behäbig und müde. Beinah selbstständig schleppen ihn die alten Schweinslederschuhe seines Vaters den Weg entlang, von der Werkstätte nach Hause. So wie an jedem Abend.

In letzter Zeit kommt es immer öfter. Tief in seinem Inneren beginnt es, kurz und rhythmisch. Das Unberechenbare daran ist ihm etwas suspekt, und Launenhaftigkeit verunsichert den Metzger ja grundsätzlich ein wenig – vor allem die eigene, da ist es mit dem Davonlaufen nämlich vorbei. Und gerade das Davonlaufen, wenn auch deutlich sichtbar nicht im sportlichen Sinn, war für den Metzger bis jetzt eine durchaus vertraute Überlebensstrategie! Kein Wunder also, wenn ihm bei solchen spontanen inneren Wallungen ein wenig anders wird. Dabei weiß er ja noch gar nicht, das Anderswerden wird demnächst, zumindest was sein eigenes Dasein betrifft, brandrodungsartigen Dimensionen gleichkommen.

Unkontrollierbar und begleitet von einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zieht es aus seinem Inneren über verborgene Bahnen bis hinauf ins Gesicht. Und genau dort heftet es sich wie ein Parasit, wie ein nervöses Notsignal, an den rechten Mundwinkel und zuckt boshaft vor sich hin.

Welche verschlüsselte Botschaft sich da an der Oberfläche seiner Visage um Aufmerksamkeit bemüht, weiß der Metzger bis heute nicht. Was er jedoch weiß, ist, und das beruhigt ihn keineswegs, dass ungebetene Gäste genauso schwer loszuwerden sind wie Kakerlaken, Schimmelpilze oder eine miese Regierung – im Grunde alles das Gleiche.

So schleicht er also schwerfällig seinen Heimweg entlang, der Metzger, gedankenverloren und minimalistisch vibrierend, bis der rechte Schweinslederne ein eigenständiges Päuschen einlegt. Sein lascher Körper gehorcht der Schwerkraft und fällt, nun schon viel deutlicher zuckend, in die Waagrechte, unsanft aufgefangen von dem Schotterweg, der durch die Hundewiese seines Bezirkes führt.

Da liegt er, Willibald Adrian Metzger, und er ist der Typ, der hinfallen muss, damit eine Veränderung in sein Leben tritt! Hätte er allerdings geahnt, wer da seinem gewohnten Trott ein Bein stellt, er wäre morgens aus seinem antiken Bettgestell erst gar nicht herausgekrochen.

Ein wenig dauert es, bis die Botschaft von Metzgers rotweingeschwängertem Körper über die angeheiterten Nervenbahnen das Hirn erreicht! Dann setzt er sich auf und folgt mit seiner Hand dem Ruf des Schmerzes, der erbarmungslos in seinem rechten Schweinsledernen pocht. Der Metzger streicht sich über den Fuß, ein wenig verdattert, warum sich das ansonsten glatte Leder so rau anfühlt, schon ein wenig mehr verwundert, warum sein Fuß eine so seltsame Stellung eingenommen hat, und schweißtreibend verängstigt, warum er eigentlich gar nichts spürt. Er reißt an der Ferse, und mit einem dumpfen Plopp hält er den Schuh in der Hand. Nicht seinen Schweinsledernen, sondern einen braunen rauledernen Schlüpfer!

Behutsam mustert er dieses ausgetretene Stück, das aufgrund seiner Beschaffenheit mehr über seinen Besitzer erzählt, als dem Träger wahrscheinlich lieb ist, und da trifft der Schuh nun genau auf den Richtigen.

Denn das kann er, der Metzger! Dinge mustern. Und Geduld hat er auch, die braucht er in seinem Beruf. Er hört noch heute seinen Vater: „Blöder Bub, lern was G’scheites! Wennst basteln willst, dann werd von mir aus Volksschullehrer, übrigens der einzig männliche in der ganzen Stadt. Aber altes ruiniertes Klumpert sammeln und wieder zusammenpicken! Bist ja kein Sandler!“

Sandler ist er keiner geworden, der Metzger, aber Restaurator. Was soll aus einem Kind, das mit einer Pinzette die eingerollten Borsten seiner Zahnbürste entfernt, sorgfältig glättet und behutsam wieder einzieht, schon anderes werden? Eventuell Chirurg oder Gebrauchtwagenhändler. Dem Willibald hat es halt nur immer schon ein wenig gegraust, wenn es um schmierige Geschäfte ging.

Nichts konnte er wegschmeißen, für ihn hatten die Dinge alle eine Seele. Und alle hatten sie einen Namen. Er war ein sonderbarer Junge, der Willibald Adrian, und „sonderbar“ ist ein denkbar ungünstiges Attribut im begrenzten Universum heranwachsender Knaben. Versteht sich also von selbst, dass Metzgers bester Freund ein kleiner grüner Stein war, der ihm an der Hauswand gegenüber des Elternhauses schicksalhaft in die offene Hand gefallen ist, herausgedreht aus einem Kaugummiautomaten, und versteht sich auch von selbst, dass der Metzger in der Schule immer nur „der Metzger“ war! Während die Vornamen Willibald oder Adrian bei anderen schon reichen, um in der Schülerliga der Fußabstreifer ganz vorne eingereiht zu werden, war der Metzger auch noch mit dem „Metzger“ gesegnet. Da fällt die Wahl des Siegers dann nicht schwer! Und weil die besonders intelligenten Mitschüler bei Metzger immer gleich auf Fleischhauer gekommen sind, haben diese dann begonnen, das Ganze wörtlich zu nehmen, Metzgers Fleisch regelmäßig verhaut und diese Zuwendung liebevoll als „Schnitzel klopfen“ bezeichnet. Mindestens einmal die Woche hat er also seine Abreibung bekommen, der Metzger. Genau da, wo er auch jetzt gerade liegt, mit dem Rauledernen in der Hand, auf der Hundstrümmerlwiese, direkt vor seinem ehemaligen Gymnasium.

Langsam begreift er, dass das nicht sein Schuh sein kann, sucht den dazugehörigen Fuß, folgt aufmerksam der blauen Socke, der Bundfalte der Schnürlsamthose, dann biegt er den Busch zur Seite, und schaut ihm mitten ins Gesicht – dem Dobermann!

2

Felix Dobermann, er erkennt ihn sofort an seinem weintraubengroßen Muttermal – nicht wie die kernlosen Trauben, sondern die fetten blauen – direkt unter dem rechten Auge. Eigentlich hat er sich überhaupt nicht verändert, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hat, da ist nur der Metzger gelegen und der Dobermann über ihm, fast an der gleichen Stelle: „No, Fleischhauer, jetzt schaust aus wie a Schweinsroulade!“ Dann haben sie sich aus den Augen verloren, weil der Dobermann am nächsten Tag einfach nicht mehr in der Bankreihe vor ihm gesessen ist. Und weil im Grunde die Einzigen, die mit dem Metzger in der Schule geredet haben, die Lehrer waren, hat er nie erfahren, was passiert ist. Ehrlich gesagt hat ihn das auch gar nicht interessiert, Hauptsache, der Dobermann war weg.

Jetzt hat der Metzger natürlich schon immer gewusst, dass unaufgearbeitete Geschichte irgendwann wieder, überheblich grinsend, mit Ellbogen aus dem Fahrerfenster und verspiegelter Sonnenbrille, auf der Überholspur von hinten daherkommt. Dass das jetzt aber nicht nur im globalen Sinn gilt, sondern auch auf ihn persönlich zutrifft, hätte er sich nicht gedacht. So hinterfotzig kann das Leben sein, weil unangenehm ist das schon, am Heimweg über einen alten Schulkameraden zu stolpern, dem man eigentlich immer aus dem Weg gegangen ist!

Wie gesagt, er hat sich also nicht verändert, der Dobermann, bis auf den überdimensionalen Zahnstocher, der aus seinem linken Aug herausragt. Nachbildung, Epoche spätes 18. Jahrhundert schätzt der Metzger, ein sich zuspitzender feiner Stab aus dunkel lackiertem Eichenholz, auf der einen Seite endend in einem edlen Messingknauf mit den eingravierten geschwungenen Buchstaben K. Z., auf der anderen Seite, wahrscheinlich nadelspitz, endend im Aug vom Felix Dobermann! Man darf es dem Willibald nicht übel nehmen, dass ihn in diesem Augenblick der Stab ein wenig mehr fasziniert als der durchbohrte Schädel, aber erstens, Berufung ist Berufung, und zweitens, er hat ihn schon mal gesehen, den Zahnstocher! Der Metzger muss wieder ein wenig schmunzeln, weil das „Aus-dem-Aug-Verlieren!“ nun auch irgendwie auf den Dobermann zutrifft, und die beiden am Ende doch was verbindet. Das Schmunzeln bleibt aber nur ein sehr kurzweiliges Vergnügen, denn wenn der Metzger einmal was gesehen hat, dann weiß er meistens auch wo!

Ein bisserl groß ist es aber schon, das Loch im Aug vom Dobermann, denkt sich der Metzger noch, vor allem in Anbetracht der edlen Schnitzerei, die zwar tief in den Schädelknochen eingedrungen, jedoch weit davon entfernt ist, die neu entstandene Augenhöhle zur Gänze auszufüllen. Da muss schon jemand ordentlich herumgerührt haben, ähnlich der schmerzhaften Kombination Fahrschüler, Schalthebel und Rückwärtsgang. Außerdem hat der Dobermann den anderen Schuh schon irgendwo vorher verloren, sinniert der Metzger beim Betrachten des Gesamtkunstwerkes, armselig liegt er jetzt da, in Socken Richtung Himmelstür, dass er sich da nicht die Füß verbrennt, so nah, wie der an der Hölle vorbei muss!

Der Metzger ist im Grunde kein nachtragender Mensch, wenn er was findet, von dem er weiß, wem es gehört, kann es zwar passieren, dass er es dem, der es verloren hat, schon mal nachträgt, aber das betrifft eher Sachgegenstände. Wenn aber Worte verloren wurden, und das kam häufig vor, die dem Metzger zwar nicht gehörten, aber für ihn gedacht waren, und er sie zwar gefunden hat, aber meistens verletzend, dann war er nicht nachtragend.

Dem Metzger war es nämlich lieber, sie nicht zu lange mit sich herumzuschleppen – sie wurden ihm dann zu schwer.

Der Dobermann aber, der hat ihn nicht nur beschimpft und geprügelt, sondern auch bestohlen, und da ist es aus mit seiner Nachsicht, und da stört es den Metzger dann auch gar nicht, wenn der jetzt in Socken an der Hölle vorbei muss. Gestohlen hat ihm der Dobermann sein Notizbuch, und zwar nicht irgendeine Ansammlung billiger Schmierzettel, sondern eine alte lederne Mappe, gefüllt mit ebenso altem geprägten Papier, geschenkt bekommen von einer Fleisch gewordenen Madonna, zur Aufzeichnung gefundener Gegenstände, das trägt er ihm heute noch nach – weil es ihm der Dobermann eben nicht nachgetragen hat, obwohl es ihm gehört hat.

Gehört hat der Metzger dann, wenige Tage bevor der Dobermann verschwunden ist, wie der Mario Sedlatschek, Dobermanns treuester Adjutant, vom Schulhof aus seinen Namen gerufen hat. Erstaunt über die außergewöhnliche Zuwendung hat dann der Metzger aus dem Fenster geschaut, der Dobermann hat ihm gewunken, ein Streichholz angezündet, ein wenig verschmitzt gelächelt, das Notizbuch in Flammen gesetzt und langsam in den Blechmistkübel zwischen seinen Füßen fallen lassen. Undenkbar, dass der Willibald in der Schule geweint hätte, nur dieses eine Mal hat er es gerade noch auf die Burschentoilette geschafft.

So viel entbehrliche Erinnerungen, der Metzger sitzt immer noch am Schotterweg neben seinem ehemaligen Gymnasium, froh, dass er den Rotwein schon vorher getrunken hat! Nachdem er festgestellt hat, dass seine Beine so weit funktionstüchtig sind, um ihn zur nächsten Polizeistation zu tragen, macht er sich auf den Weg. Plötzlich irgendwie sehr wach und beschwingt. Er sollte es genießen.

Die Wachstube gleicht einer Selchkammer, schwere Nikotinwolken verbreiten ihren bläulich grauen Schimmer, während Willibald Adrian Metzger, schwer allergisch auf Rauch, langsam den Weg durch den Nebel sucht. So eine Rauchallergie kann einem sensiblen Wesen schon ziemlich zusetzen, bei Metzger mit Übelkeit, Aggression, Klaustrophobie und ein paar Sprachstörungen auf Grund der Atemnot. So landet er, nun wieder genauso träge wie noch am ursprünglichen Nachhauseweg, vor dem Tisch des Dienst habenden Kommissars.

„Na, du hast dich verändert, man könnte glauben, du bist dein eigener Großvater!“ Zuerst denkt der Metzger, sein Gegenüber telefoniert, bis er auf den durchdringenden Blick, der ihn aus Adlersaugen hinter einer dicken Hornbrille mustert, stößt.

„25 Jahre kein einziger Schulkollege und dann innerhalb einer Stunde gleich zwei!“, lispelt der beinah erstickende Willibald Adrian, holt tief Luft und setzt fort:

„Pospischill, bist also Polizist geworden!“

Gedacht hat er sich auch noch: Warst ja schon in der Schule so ein Gerechtigkeitsfanatiker, dass du dir aus der Klassenkassa für deinen Job als Klassensprecher immer selbst einen Gehalt ausgezahlt hast!

Irgendwie sind Rauchallergie und Pospischill nicht gerade die ideale Paarung, und mehr hat der Metzger jetzt nicht gebraucht, als die Geschichte vom Dobermann zu erzählen. Und weil Raucher zwar den Rauch nicht mehr riechen, aber eben nur den Rauch, kann der Pospischill natürlich problemlos die schwere Rotweinfahne wittern, die der Metzger da angeschleppt hat.

Und so schnell kann der Metzger dann gar nicht schauen, sitzt er auch schon im Streifenwagen und ist wieder auf der Hundstrümmerlwiese mit einem sehr sarkastischen Pospischill, zwei amüsierten Polizisten und ohne Dobermann, weil da liegt nicht einmal mehr der Raulederschlüpfer!

Ist der Dobermann also schon wieder verschwunden, und der Metzger weiß nicht warum.

3

„Weißt, Metzger, irgendwie freut’s mich ja, dass du mich besuchen gekommen bist, aber wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun, als einen Besoffenen durch die Gegend zu fahren. Geh heim und komm morgen vorbei auf einen Kaffee, nimmst ein Klassenfoto mit, und wir reden über die schönen alten Zeiten, da hast du mein Visitenkarterl, falls dir am Heimweg noch eine Leich über den Weg läuft!“

Und weg ist er, der Pospischill. Von wegen schöne alte Zeiten, aber das mit dem Klassenfoto ist keine schlechte Idee, denkt sich der Metzger, und dass ein Restaurator auch ein ordnungsliebender Mensch ist, versteht sich von selbst. Und Ordnung ist ja bekanntlich Ansichtssache. Was da in eine 60-Quadratmeter-Wohnung alles hineinpasst, wenn das geeignete Inventarisierungssystem gefunden wird, grenzt an ein Wunder. Ebenso grenzt es an ein Wunder, dass der Metzger all diese Schuhschachteln besitzt, wo er doch im Grunde nur ein Paar ordentliche Schuhe hat, nämlich die Schweinsledernen seines Vaters. Wie gesagt, er kann halt nichts wegschmeißen, und zuschauen, wie andere was wegschmeißen, das kann er auch nicht, schon gar nicht Schuhschachteln. Sie sind die beständigen Hüter seiner Heiligtümer, seiner „Vielleicht-brauch-ich-das-doch-noch-irgendwann“ und seiner kleinen Geheimnisse.

Irgendwie hat er als Kind den Glauben entwickelt, dass in den Kartonquadern der Himmel drinnen steckt, reiner Selbstschutz. Was bleibt so einem kleinen Jungen denn auch anderes übrig, wenn er einen ganzen Abend lang Maikäfer fängt, in eine Schuhschachtel bettet, auf Gras, Blättern und ausgewählten Wiesenblumen, dankbar neben sein Bettchen stellt, endlich Freunde, und am nächsten Morgen sind sie alle mausetot? Und Willibald Adrian Metzger, von den Eltern liebevoll Wolferl gerufen, weil diese ja die originelle Idee hatten, die Initialen seines Namens auf W. A. M. hinzuphantasieren, wäre es schon damals nie in den Sinn gekommen, die schöne Schuhschachtel der einst funkelnagelneuen Schweinsledernen seines Vaters zum Zwecke der Herstellung von Luftlöchern zu durchstoßen. Er hat sie übrigens heute noch, diese Schachtel, gefüllt mit den Gedenkbildern diverser Verstorbener und verbunden mit einer kindlichen Ahnung von der Ewigkeit – wenn auch aus Pappe.

Metzger setzt also seinen Heimweg fort, ein wenig berauscht, nicht vom Rotwein, sondern vom inzwischen wieder deutlich spürbaren Schmerz aus seinem rechten Schuh, und greift in Gedanken bereits in den richtigen Karton, Klassenfotos hat er natürlich alle noch.

Er schleppt sich durchs feuchte Stiegenhaus die Treppe hoch, hinauf in seine Altbau-Mansardenwohnung, schnappt sich die Reklamesackerln, die an seiner Tür hängen, wundert sich noch, dass es diesmal offensichtlich wirklich viel zu bewerben gibt, zieht mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Schuhe aus, holt sich die entsprechende Schuhschachtel, die offene Flasche Rotwein, die grundsätzlich auf seinem Biedermeier-Vorzimmertischchen steht, und lässt sich in sein Chesterfield-Dreiersofa fallen, samt dem 2003er Blaufränkischen, der Schuhschachtel und den Reklamesackerln.

Da lachen sie ihm alle entgegen, denkwürdig verewigt auf Zelluloid, die Idioten aus der 8B, der Friedberg, der Deutner, der Seidlinger, der Pospischill, der Dobermann und wie sie sonst noch alle heißen. In Schwarz-Weiß, entsprechend ihrem damaligen geistigen Horizont. Der Einzige, der nicht lacht, ist der Metzger. Keinen hat er nach der Matura jemals wieder gesehen, bis zum heutigen Tag! Und links außen der Klassenvorstand, Professor Zwirnhofer, Konrad Zwirnhofer, kurz genannt der Henker, noch kürzer K. Z.! Mathematik und Physik! Da war es mucksmäuschenstill, und die Tür zum Gang war sperrangelweit offen die ganze Stunde, damit die Kälte und die Angst aus dem Klassenraum auf die ganze Schule abstrahlte, und jeder, der vorbeiging, zu sehen und zu spüren bekam, was Disziplin bedeutet. Vielleicht war es aber auch das Unberechenbare an Zwirnhofers Erscheinung, das zu dieser atemlosen Stille beigetragen hat. Eine hakenförmige Nase in einem dürren Gesicht, astförmige Arme und knöcherne Hände, die sich verlängerten, je nachdem auf welcher Seite Konrad Zwirnhofer den dunkel lackierten Eichenzahnstocher – kurz K. Z.s Zeigestab! – gehalten hat. Und wenn der auf den Tisch gedonnert ist, war es, als bräche das knöcherne Gerüst dahinter in sämtliche Einzelteile auseinander, nur hat der Henker das Beben seines unterernährten Körpers mit den Augen aufgefangen und seinem Gegenüber einen so durchdringenden Blick zugespielt, dass die in den Augen gebündelte Schwingung seiner Wut selbst den Hartgesottensten der 8B-Schwachköpfe erzittern hat lassen.

Der Metzger mochte den Henker, einerseits aus Dankbarkeit, weil er die anderen auch ein wenig das Fürchten gelehrt hat, und es folglich die ganze Stunde erholsam ruhig war, und andererseits, weil er sich irgendwie mit ihm verbunden fühlte. Beide waren sie Außenseiter, der Henker und der Metzger. Nur war halt der Metzger in der denkbar schlechteren Position.

Während er also auf seinem Sofa liegt, die Fotos studiert und die Rotweinflasche leert, beginnt die Müdigkeit in gewohnter Weise ihren Liebkosungsakt, umschlingt Metzgers lädierten Körper und rollt ihn in die vertraute Embryostellung, weich und heimelig grunzt er zufrieden den feinen Grat zwischen Wachheit und Dämmerzustand entlang, rollt sich ein wenig herum, sucht die Position, die ihn in den Schlaf entlässt. Die leere Flasche rutscht aus seiner Hand, und der Metzger wird anstatt ruhiger immer unrunder. Irgendetwas versucht seine vertraute Chesterfieldsofa-Schlafstellung zu stören! Er setzt sich auf und greift um sich. Die Reklamesackerln!

Eine leichte Wut breitet sich in Metzgers eher friedlichem Gemüt aus. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwer das zwingende Bedürfnis verspürt, in aller Öffentlichkeit auf gedrucktem Hochglanzpapier seinen Schrott anzupreisen. Und, das empfindet der Metzger als absolute Demütigung des menschlichen Intellekts, auch noch die Frechheit besitzt, für diese Produkte, mit der erwiesenen Überlebensdauer weniger Verwendungen, offiziell Geld zu verlangen. Das Erschütternde dieser Entwürdigung ist nun aber vielmehr, dass das menschliche Hirn beim Reizwort „verbilligt“ offensichtlich schwerer Hypnose zum Opfer fällt und dem restlichen Körper befiehlt, scharenweise Schnäppchen nach Hause zu karren, diese dann meist originalverpackt wie eine Familienzusammenführung der unnötigen Art zu diversen Artgenossen dazuzustapeln und mit dem stolzen Gefühl weiterzuleben, sich wieder einmal etwas erspart zu haben. So bleibt der Ramsch ein Schatz, denn wie um alles in der Welt soll der Jäger in den Genuss der Ungenießbarkeit seiner Beute kommen, wenn er sie gar nicht kostet? Hoch leben die Originalverpackungen in unseren Kellerabteilen. Kein Wunder also, wenn der Metzger die Theorie vertritt, die Kellerabteile werden der Menschheit von jenen Firmen zur Verfügung gestellt, ja sogar von diesen Firmen errichtet, die ihre Reklamesackerln an unsere Türklinken hängen lassen. Keller sind die Gefängnisse unseres Intellekts. Willibald Adrian Metzger hat keinen Keller.

Verärgert schmeißt er die sinnlose Vergeudung von Papier ins Wohnzimmerinnere und wird vom klirrenden Aufprall zurück in den Wachzustand gerissen. Willibald Adrian Metzger wundert sich noch, wie ein Reklamesackerl so ein Gewicht zusammenbringt, betrachtet die Scherben der Messingstehlampe und traut seinen Augen nicht. Da ist er wieder, beinah arrogant schaut er heraus aus einem uralten Plastikbeutel mit der Aufschrift „Cohiba“, der Raulederne vom Dobermann!

4

Schwer war die Leiche vom Felix Dobermann. Allein ist es nicht so leicht, eine zwar abgemagerte, aber trotzdem ausgewachsene Person durch die Gegend zu schleppen. Vor allem so, dass niemand etwas bemerkt. Alles war gut vorbereitet, jeder Handgriff war geplant und wurde nun von ihm den Anweisungen gemäß in die Wege geleitet. Der Gedanke, all das zu tun, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Für ihn war jedoch sofort klar, dass ihm die Durchführung keine Probleme bereiten würde. Eine gewisse Hartherzigkeit gegenüber den Dingen, die getan werden müssen, hatte er im Laufe seines Lebens schon entwickelt. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.

Zum ersten Mal geht es diesmal aber nun auch ein wenig um ihn. Je länger er mit der Angelegenheit beschäftigt ist, desto distanzierter kann er all die notwendigen Schritte setzen, obwohl er selbst betroffen ist, und irgendwie verliert er immer mehr die Angst vor dem letzten Schritt – wenn es dazu überhaupt kommen sollte.

So oder so, es ist immer dasselbe. Schon die Vorstellung, sich einsam im Wald verirren zu können, löst im Vorfeld Panik aus. Andererseits dann aber wirklich plötzlich alleine im Wald zu stehen und nicht mehr weiterzuwissen – da werden Geist und Körper auf nie gekannte Weise handlungsfähig. So geht es ihm jetzt. Er ist hellwach, unterwegs auf der letzten Reise seines Lebens und dabei völlig gelassen.

Es war ihm schon klar, dass, nachdem der Metzger verschwunden war, niemand an der Stelle vorbeikommen würde, so wie in den letzten Wochen auch. Sehr lange ist der Weg beobachtet worden. Der Weg, den der Metzger von der Werkstatt nach Hause nimmt. Niemals war die Route anders, das wurde ihm versichert. Wahrscheinlich geht er sogar dieselbe Schrittanzahl, dachte er sich noch, wie er den Restaurator in dieser versunkenen Haltung in monotonem Tempo und vor allem zur angekündigten Zeit daherkommen sah. Und es war ein Wink des Schicksals, dass dieser Weg direkt an der Schule vorbeiführt, denn sonst wäre es nie so weit gekommen.

Er war also völlig sicher, dass alles klappen würde, trotzdem erwies es sich als äußerst vorteilhaft, dass er seinen kleinen Rollwagen dabei hatte, um die Leiche relativ rasch die paar Meter zum Auto transportieren zu können. Seine einzige Sorge war, dass der abends immer leicht betrunkene Metzger um Hilfe schreien könnte, bevor er die Polizei holen würde, dann wäre der Plan ein anderer gewesen, auch dafür war im Vorfeld gesorgt worden. Aber der Metzger hat sich genau so verhalten wie erhofft, er ist still davongegangen und dann wiedergekommen, mit der Polizei. Alles ist nach Plan gelaufen. Er konnte dann beruhigt mit der Leiche des Felix Dobermann davonfahren.

Jetzt ist es geschafft. Zumindest der erste Schritt. Zärtlich streicht er über die Wangen des inzwischen ausgebluteten Felix. Das eine Auge ist längst verschlossen, anstelle des anderen würde immer diese entsetzliche Lücke bleiben, hätte er nicht die Augenklappe besorgt. Behutsam streift er das schwarze weiche Leder so über die tiefe Grube, dass eine kleine Ebene entsteht, die nichts mehr von dem Darunter erahnen lässt. Den besten Anzug hat er dem Felix angezogen, damit er ordentlich aussieht, wie ein Ehrenmann eben. Fein säuberlich kämmt er ihm die Haare, so wie es der Dobermann immer selbst gemacht hat, als er noch konnte. Der schiefe Mund hat sich nun wieder entkrampft, und der Felix liegt da, als wäre er nie gelähmt gewesen, als hätte er bis zuletzt lachen können.

Was ist das da draußen bloß für eine Welt? Was ist ein Menschenleben wert? Die Liebe, die die beiden verbunden hat, wird keiner verstehen. Aber das müssen sie auch nicht, das gehört nun nur noch ihm allein.

5

Nachdem der Metzger auf seinem Chesterfieldsofa den Schuh samt Sackerl gefunden hatte, ist er dann einfach eingeschlafen, wahrscheinlich ein wenig beruhigt, weil er doch nicht ganz meschugge ist, denn dass eine Leiche verschwindet, einfach so, das gibt’s nicht! Jetzt weiß er wenigstens, dass sich der Dobermann wirklich zu einem Kurzaufenthalt auf der Hundstrümmerlwiese eingefunden hatte. Wollte vielleicht auch einmal wissen, wie das so ist. Er hätte sich aber zu diesem Zweck nicht gerade umbringen und ablegen lassen müssen, ein Anruf bei Willibald Adrian wäre informativ genug gewesen, weil oft genug konnte der Metzger, dank Dobermann, zu Schulzeiten den Hundstrümmerln auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten oder besser gegenüberliegen! Jetzt liegt der Metzger auf jeden Fall erleichtert auf seinem Sofa und fällt dankbar der gewohnten embryonalen Schlafstellung zum Opfer.

Geträumt hat er nichts, so wie immer, aber beim Aufwachen denkt er, sein schmerzender Fuß ist im Begriff abzufaulen, so stinkt es im ungelüfteten Wohnzimmer. Und von Beruhigung keine Spur mehr, denn der Schuh liegt immer noch da, selbstsicher und sehr naturverbunden. Weil bei distanzierter Betrachtung bemerkt der Metzger relativ rasch, dass das Braun des Rauleders am Rand eine deutlich andere Bräunung aufweist. Genauer muss er die Schattierung gar nicht weiter mustern, um herauszufinden, dass mit dem Schuh auch ein wenig was von der Hundstrümmerlwiese auf seinem alten Perser gelandet ist.

Der Metzger beginnt nun, den Schuh genauer unter die Lupe zu nehmen. Hundekot am Raulederrand, das wird der Dobermann wohl nicht selber fabriziert haben, auch wenn er Dobermann heißt, Willibald muss ein wenig lächeln über seinen Wortwitz, und das bedeutet, der Dobermann wurde durch die Wiese gezogen. Vorsichtig dreht er den Schuh um und sieht auf der Schuhsohle, einsam im Profil eingeklemmt, ein winziges Papierkügelchen. Er holt einen Zahnstocher, rollt das Papier auseinander und erstarrt: „Cognosce me!“ Während heutige Lateinmaturanten mit diesem Sätzchen wohl ihre liebe Mühe hätten, wäre das im Jahre 1980 für den Absolventen eines humanistischen Gymnasiums kein Problem gewesen. Und da, wie wir an unseren Eltern und Großeltern schmerzhaft feststellen dürfen, noch selbst die Wissensreste ihrer Schulbildung unser gegenwärtiges Niveau bei weitem übertreffen, hat dieses Sätzchen dem Metzger selbst nach 25 Jahren keine Schwierigkeiten bereitet:

„Erkenne mich!“

Dem Metzger wird plötzlich etwas schaurig zumute! Erstens hat da jemand gewusst, dass er jeden Abend den gleichen Heimweg nimmt, so viel zu den Schattenseiten von Routine, zweitens war das „jenseitige“ Fortbewegungsmittel vom Dobermann zweifelsohne ein Mensch, und zwar wahrscheinlich derselbe, der seine Gewohnheiten kennt, und drittens wurde der Dobermann offensichtlich dort hintransportiert, um vom Metzger gefunden zu werden. Willibalds Hirn überschlägt sich. Er kann sich der Vielzahl der Fragen gar nicht erwehren und schon gar nicht gegen die aufkeimende Gewissheit, dass er sich nun dem Restmüll seines eigenen Lebens widmen muss, mit dem Alten beschäftigen, also Selbstrestauration.

Warum verschwindet die Leiche wieder, wenn er sie doch schon gefunden hat? Ist das der Tick des Dobermann? Wie kann eine Leiche verschwinden, davongelaufen wird sie ja nicht sein? Warum soll nun die Leiche von derselben Person noch einmal gefunden werden? Abgesehen davon, dass es dem Metzger bis gestern niemals in den Sinn gekommen wäre, den seit kurz vor der Matura aus seinem Leben verschwundenen Dobermann zu suchen.

Dem Metzger wird schlagartig bewusst, dass das ganze Schauspiel mit seinem Sturz und dem folgenden intimen Klassentreffen einen Zuschauer gehabt haben muss, nämlich den Dobermannverschlepper, den Mörder.

In Anbetracht der Hitzewallung und der ersten leichten Angstzustände sieht der Metzger in einer eiskalten Dusche die Rettung zurück zur temperierten Stimmung. Wahrlich bedrohlich muss sein Schrei sein, als der Wasserstrahl seinen leicht schwammigen Körper mit Temperaturen konfrontiert, die den Nervenzellen seiner Haut bisher noch unbekannt waren. Reiner Gewöhnungseffekt, leider, denn wenn der Metzger dann einige Zeit später durchs dünne Eis des Baggerteiches brechen wird, hätte er gern genauso geschrien.

Auf jeden Fall hat dieser Schrei den Willibald wach gerüttelt und offensichtlich auch noch andere. Laut pocht es an seiner Tür!

„Na, jetzt hab ich mir aber schon Sorgen gemacht, bist offensichtlich entweder schwer aggressiv ohne Alkohol, oder du hast dich gerade zum ersten Mal im Spiegel gesehn, armer Bub!“

Vor der Tür steht der Pospischill, Inspektor Eduard Pospischill, freundlich grinsend und mit einer Thermoskanne in der Hand.

„Weißt, Metzger, irgendwie hast mir gestern wirklich leidgetan, wie du so verlassen und vom eigenen Rausch ein wenig über den Tisch gezogen auf der Hundstrümmerlwiese gestanden bist, ohne Leiche, aber wahrscheinlich genauso blass wie der Dobermann in deiner Halluzination. Komm, wir trinken jetzt gemeinsam einen Kaffee, hab ich selber gemacht, wird dich sicher aufwecken, hat noch jeden aufgeweckt, und dann erzählst du mir statt deinen komischen Phantastereien, was du so getrieben hast das letzte Jahrhundert. Zieh dir mal was an, weil du in einem Handtuch, am Morgen auf nüchternen Magen, da gehört schon sehr viel Liebe dazu.“

Der sehr verdatterte Metzger schmeißt sich in seine Alltagsbekleidung, graue Bundfaltenhose, weißes Hemd, Ärmel nach dem Kauf aufgekrempelt und seither nie wieder in den Urzustand gebracht, weder vor noch nach der Waschmaschine, und holt das Klassenfoto.

„Wenn schon der Kaffee zu mir kommt, samt Inspektor, dann lass mich wenigstens das Klassenfoto beisteuern, tut mir leid wegen letzter Nacht, aber offensichtlich hab ich vorher Wahnvorstellungen bekommen müssen, um ein Wiedersehen mit dir zu verkraften.“

Der Pospischill muss herzhaft lachen, und das wundert den Metzger gar nicht, weil lustig war der ja schon immer.

So lustig, dass er der Einzige in der Klasse war, der sich lachen getraut hat, wenn der Zwirnhofer Recht hat walten lassen und die Nieten der Reihe nach intellektuell an die Wand gestellt hat. Eine richtige Freud hat er gehabt, während der Physikstundenwiederholungen vom Zwirnhofer. Und das nur deshalb, weil er im Grunde ein Schmarotzer war, der Pospischill. Ein Schmarotzer am Hirn und an der Füllfeder vom Metzger. Ein geistiges Eierschwammerl neben dem schweigsamen Herrenpilz. Und wer einen Herrenpilz findet, der schaut dann das Eierschwammerl gar nicht mehr an, und so ist der Pospischill zum intellektuellen Windschattenfahrer vom Metzger geworden. Bis zur Matura hat ihn der Metzger mitgeschleppt, und der Pospischill hat ihn dafür wenigstens in Ruhe lassen, mehr aber schon nicht, von Gegenhilfe keine Spur! Egal, vorbei ist vorbei, aber trotzdem wäre es dem Metzger nicht im Traum in den Sinn gekommen, mit dem Pospischill, der fast zwei Jahre in der Schulbank neben ihm gesessen ist, jemals wieder den Tisch zu teilen. Der kahle Edi, so wurde der Kommissar seinerzeit wegen seinem sehr lichten Haar, das inzwischen zu einem Kurzhaarschnitt „letzte Stufe Haarschneider“ zusammengeschrumpft ist, genannt, sitzt also nun quietschvergnügt an seinem Küchentischerl, kichernd über das Klassenfoto gebeugt, und versorgt den Metzger mit einem G’schichterl nach dem anderen, ob der nun will oder nicht! Und so schwer es dem Metzger auch fällt, aber mit der Zeit kann er sich das Lachen nicht verkneifen, und irgendwie spürt er da etwas Fremdes am Grund seines schwammigen Bauches. So etwas wie Vertrautheit und einen kleinen Anflug von Geborgenheit tief in seiner gereizten Magenhöhle.

Nach einigen Tassen Pospischill-Kaffee schaut der Eduard dem Willibald Adrian tief in die Augen und sagt: „Alt sind wir auch schon, die Zeit, sie spannt uns vor den Karren und hält uns dort zum Narren, wir ziehen und ziehen … Und während die Jahre vorbeirasen, steckt der Wagen fest im Dreck!“ Jetzt wird dem Metzger ein wenig mulmig, weil wenn ihm schon ein gemeinsames Lachen emotional so zusetzt, was passiert dann erst, wenn es tiefsinnig wird?

„Da schau, der Deutner, was wär aus dem wohl geworden?“ Der Pospischill deutet auf das Klassenfoto.

„Wieso wäre?“, fragt der Metzger.

„Weißt du das nicht, dem hat der Dobermann die Umwege des Lebens erspart! Direkt in den Himmel! Vier Jahre nachdem der Dobermann plötzlich aus der Schule verschwunden war, hat er den Deutner durch einen Brief in der großen Pause in die Schule gelockt und im Biologiekammerl erstochen. Mitten ins Herz, in der Hand der Leiche ein Brief und rundherum Fußabdrücke. Unser Chemielehrer, der Eder, die Geschichtstante Neubauer und ein paar Schüler haben den Dobermann an diesem Tag in der Schule gesehen. Die Beweislage war erdrückend: Fußspuren überall, die vom Dobermann verfasste schriftliche Einladung in der Hand vom Deutner und kein Alibi. Das hat gereicht, auch wenn der Dobermann das Unschuldslamm gespielt hat, aber du weißt ja, der Dobermann und Unschuldslamm, das ist so wie Amerika und friedliche Absichten!“

„Und wer hat ihn gefunden, den Deutner?“

„Die Klasse, die nach der Pause in den Saal gekommen ist. Einer der ersten Fälle, die ich bei der Kriminalpolizei miterleben durfte. War ein schwerer Brocken, auch wie dann der Dobermann in seiner Wohnung verhaftet wurde, und die 25 Jahre, die sie ihm aufgebrummt haben.

Und dann ist alles rausgekommen, großer Schulskandal, weil alle bis zu diesem Zeitpunkt ja noch immer nicht gewusst haben, warum der Dobermann ein paar Wochen vor der Matura die Schule von heut auf morgen verlassen hat.“

Metzgers Anspannung steigert sich zu ihm bisher unbekannten Auswüchsen, er bekommt zittrige Hände, kalter Schweiß drückt ihm die kleinen Hautunreinheiten an die Oberfläche, und ein Herzrasen jagt ihm das Blut durch die Adern, als hätten die Blutkörperchen vor, einen neuen Rundenrekord aufzustellen. Während er das Kaffeehäferl Richtung Lippen führt, betrachtet der Pospischill Metzgers vibrierende Hand inklusive der schwarzen Flüssigkeit und meint: „Na schau, ich hab es dir ja versprochen, mein Kaffee hat noch jeden aufgeweckt!“

„Was ist rausgekommen?“, fragt der Metzger.

„Stell dir vor, der Dobermann, das Schwein, hat damals in der Achten versucht, die Praktikantin vom Zwirnhofer im Biokammerl zu vergewaltigen. Und der Deutner, als Biologieordner, hat mitbekommen, dass da im Kammerl was nicht stimmt, hat den Zwirnhofer geholt, natürlich der Professor Eder samt seinem Chemieordner Meixner auch hinterher, und zack. Muss ein Wahnsinn gewesen sein für die Kitzler!“

6

Die KITZLER. Eine Frau, die ein Mann, der auf die für ihn von der Natur vorgesehenen Reizauslöser reagiert, nicht vergisst.

Wie der Zwirnhofer die Unterrichtspraktikantin Kitzler der Klasse vorgestellt hat, waren alle dermaßen paralysiert, dass selbst der Name Kitzler, mit dem ein weiblicher Mensch im Grunde ja nur dann Lehrer an einem reinen Burschengymnasium wird, wenn er völlig meschugge oder krankhaft selbstbewusst ist, nicht einmal das kleinste Lächeln in der 8B hervorgerufen hat.

Alle sind sie dagesessen, Kinnlade am Schreibpult, Finger krampfartig am Sesselrand klammernd und Äuglein leicht angenässt. Alle bis auf eine Ausnahme, den Metzger! Weil der Metzger nur dann auf die für den primitiven Mann vorgesehenen vordergründigen Reize reagiert, wenn diese von üppiger, barocker Statur präsentiert werden.

Es ist natürlich logisch, dass sich diese Welle der Triebhaftigkeit, die den Schülern aus den Augen herausgequollen ist, im ganzen Schulhaus ausgebreitet hat wie eine lodernde Feuersbrunst in trockener Steppe. Und je konservativer die Schule, je verklemmter der äußere Rahmen, desto größer die innere Spannung, desto merkwürdigere Auswüchse zeigt das Balzverhalten der hormongesteuerten Männchen. Und bitte nicht glauben, nur weil wir uns in einem humanistischen Gymnasium befinden, wäre die männliche Lehrerschaft standhaft. Vielleicht im Geiste, aber selbst da bezieht sich diese Standhaftigkeit am wenigsten auf den Kopf.

So waren die Monate der Kitzleranwesenheit geprägt von bizarren Modeerscheinungen, Kopfweh auslösenden Rasierwasserduftcocktails auf den Gängen, etlichen unbeabsichtigten Kollisionsunfällen auf Grund spontaner Koordinierungsdifferenzen in der Bewegungs- und Blickrichtung und etlichen beabsichtigten Kollisionen mit Birgit Kitzler. Sehr zur Freude der weiblichen Kollegenschaft! Da kommt eine überdurchschnittlich perfekt proportionierte, Besorgnis erregend attraktive, unübersehbar große junge Frau ins Konferenzzimmer und fast alle Männer machen ihr den Hof – da gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich auszumalen, welche Reaktionen das im weiblichen Lehrkörper hervorgerufen hat. Hass, vom einsamen Schmieden diverser Vernichtungspläne durchwachte Nächte, hysterische Tratscheskapaden, zuerst flüsternd in zurückgezogenen Ecken, später lautstark im Aufenthaltsraum. Das Schulklima war katastrophal: Hitze und Eiszeit nebeneinander!

Und mitten hinein in diese explosive Atmosphäre wird also die Kitzler in der großen Pause, durch das beherzte Eingreifen männlicher Kollegen, dank der Spürnase des so umsichtigen Biologieordners Ferdinand Deutner vor einer Vergewaltigung gerettet.

Die reinste Katastrophe, denkt sich der Metzger. Da passiert eine ohnedies schon höchst unangenehme Angelegenheit, und dann wird einem vom Himmel zur Rettung, zusätzlich zum Deutner, auch noch ein ganz spezielles Trio geschickt! Professor Konrad Zwirnhofer, beinharter Klassenvorstand und Gerechtigkeitsfanatiker, Professor Johann Nepomuk Eder, auch genannt der Maulwurf, und der Meixner. Der Eder war jener Typ Mann, der, versteckt hinter panzerglasdicken Brillengläsern, wortkarg und behäbig durch die Gegend wandelt, dabei völlig unbeachtet bleibt und nur dank seiner lebensbedrohlichen Tollpatschigkeit gelegentlich doch wahrgenommen wird. Die Krönung dieses Trios stellte jedoch der Chemieordner dar! Karl Meixner.

Und ein Ordner, im schulischen Bereich, ist ja keineswegs jemand, der wahrhaftig um jene Ordnung bemüht ist, die den zugeordneten Gegenstand betrifft. Die Ordnung des Ordners liegt rein in der Gehorsamstreue dem eigenen Grundsatz gegenüber, der sogenannten Ordnerstrategie: Ordentlich den Lehrern zuerst entgegen-, dann hinterherhecheln, dabei auffällig bemüht, diverse Unterrichtsmaterialien, Professorentäschchen, -mäntel und -hüte zu tragen, sympathisch zu sein und so gezielt väterliche/mütterliche Instinkte auszulösen, höflich alle Türen auf- und so sich selbst alle Wege offen zu halten. Darum geht es! Um den geheimen Pfad zum Hintereingang des Beurteilungsschaltzentrums eines Lehrers. Denn: Welcher „Herr“ gibt schon seinem Ordner schlechte Noten?

Dieses Erfolgsprinzip hat der Meixner, wahrscheinlich aus überirdischem Kalkül, recht geschickt fortgesetzt. Er wurde Ministrant – keine blöde Idee, schließlich weiß man ja nicht, wie der spätere Herr einmal ausschauen wird!

Bei Themen, die mit Sexualität zu tun hatten, waren seine Ansichten so konservativ, der Papst hätte die reinste Freude gehabt, aber wenn es um die Brutalität gegangen ist, die dem Metzger zuteilwurde, war er schön ruhig, der heilige Karl. So heilig war der, ein glänzender Schein hat ihn begleitet. Aber viel weniger ein Heiligenschein als eine gewisse Scheinheiligkeit. Neben seiner Berufung zum göttlichen Hilfsdiener war er nämlich nebenbei auch Jünger des gerade aktuellen Klassengottes, immer dem höchsten Herren hörig, meistens war das der Dobermann. Wenn es drauf ankam, litt die Aufrichtigkeit des Karl Meixner unter akuter Potenzstörung, wahrscheinlich war ihm die Redewendung „jemandem die Stange halten“ doch zu anzüglich.

Logisch, dass die Kitzler mehrfach verzweifelt war und auf keinen Fall wollte, dass ihr Malheur in irgendeiner Weise an die Schulöffentlichkeit durchsickerte, man stelle sich vor, was für Schmach, abgesehen davon, dass dann selbst manche Kollegin freudvoll das so beliebte Argument: „Kein Wunder, wenn sich wer so herrichtet!“ salonfähig gemacht hätte. Das wollte sich die Kitzler also ersparen.

Fazit: Der Eder hat also im Biokammerl den völlig verzweifelten Vergewaltiger Felix Dobermann bewacht und seinen Chemieordner Karl Meixner zum Schweigen verdonnert. Was kein Problem war, weil der Meixner damals sowieso gerade zur Dobermanngefolgschaft zählte, außerdem sind Ordner in den Augen von Willibald Adrian Metzger nichts anderes als kleine Arschkriecher, die sich durch unnötige Hilfsdienste die Gunst des Fachlehrers erarbeiten. Folglich hätte der Meixner auch als Dobermanngegner den Anweisungen seines Bosses Folge geleistet. So ist also der Chemieordner anstandslos abmarschiert, während die Kitzler im Biologiesaal den Zwirnhofer um Gnade für ihren Ruf anflehte und um ihrer selbst willen Barmherzigkeit für den Dobermann erbat.

Und weil der weiblichen Schönheit die männliche Eigenständigkeit hörig ist, hat der Zwirnhofer dem inzwischen schweigsamen, gebrochenen Dobermann das Angebot unterbreitet: Entweder augenblicklich zu verschwinden und nie wieder, egal in welcher Form, an der Kitzler und vor allem an der Schule anzustreifen oder die Polizei würde den Rest regeln, was so viel wie Anklage wegen Vergewaltigung bedeutete.

In der auf diese denkwürdige große Pause folgenden Stunde, als wieder Stille und Ordnung auf den lärmgeplagten Gängen eingekehrt war, huschte in Unterhose, offenem Hemd und Socken ein Häuflein Elend durch das Schulhaus. Felix Dobermann war daraufhin in der 8B nur mehr ein Gerücht, nur mehr ein leerer Stuhl, sehr zur Freude des damals so gepeinigten Willibald Adrian.

Der Metzger sitzt völlig unbeweglich an seinem Küchentischerl, während die Geschichte aus Pospischills aufgeblähten Backen sprudelt, und denkt sich: Ein Wahnsinn, was dir alles entgeht, wenn du dich aus gesellschaftlichen Angelegenheiten heraushältst!

„Und du hast gar nichts von all dem mitbekommen? Warst ja nach der Matura wie vom Erdboden verschluckt!“, hört er den Pospischill.

Die Wirkung des Kaffees ist inzwischen abgeflaut, und sehr ruhig, beinah hypnotisch, stellt der Metzger fest:

„Und vier Jahre später kommt dann der Dobermann, rächt sich genau an der Stelle des Verrates und schickt das Tratschweib Deutner ins Jenseits. Warum bitte erst vier Jahre später, kann Rache so lange warten?“

„Die Vorstellung allein, irgendwann Rache üben zu können, kann so ein erfüllender Lebensinhalt werden, dass Täter nach ihrem Rachefeldzug oft aus lauter Antriebslosigkeit und vor lauter fehlender Lebensmotivation ihrem vereinsamten Dasein selbst ein Ende setzen. Das ist fast ein bisschen so wie bei einem alten Pärchen. Zuerst stirbt er, und kurz danach sie, oder umgekehrt!

Also vier Jahre sind für einen Rächer keine Zeit.

Der Dobermann war zuerst beim Militär und dann mit demselben Verein auf Auslandseinsatz, hat gutes Geld gemacht. Und wie er zurückgekommen ist, wird ihm wahrscheinlich wieder die ganze Geschichte eingefallen sein! Vier Jahre Drill und Killerinstinkt, da sitzt dann halt die Hand ein wenig lockerer!“

„Und dann stellt er sich dabei so blöd an, dass es ein Kinderspiel wird, ihn zu überführen?“

„Richtig, weil der Vifste war er ohnedies nicht, der Dobermann!“, meint der Pospischill. „Ich war dabei, wie sie dann den Dreckskerl direkt auf die Anklagebank katapultiert haben, der Dobermann hat sich gewunden wie ein Fisch, aber das Schwergewicht der Beweise hat ihn zum Schweigen gebracht. Verdient ist verdient, trotzdem – er hat es dann schon ziemlich brutal abbekommen, könnte einem beinah ein wenig leidtun. Sie haben ihn frühzeitig entlassen wegen guter Führung. Die betrifft aber eher die Aufseher, weil nach einem Schlaganfall und einem Zwischenaufenthalt in einer Klinik haben dann die Wärter den Dobermann noch ein paar Monate im Gefängnis herumgeführt, im Rollstuhl, querschnittsgelähmt, bis zur frühzeitigen Entlassung.“

Jetzt hat der Dobermann dem Metzger fast ein wenig leidgetan, ist schon hart, wenn dir dein Leben so durch die Finger rutscht, und du sitzt dabei hilflos auf vier Gummireifen und kannst nicht einmal mehr um Hilfe schreien, weil der Gehirnschlag hat dem Dobermann nicht nur die Chance genommen davonzulaufen, sondern auch das Sprachzentrum lahm gelegt! Aus dem halbseitig gelähmten Mund vom Dobermann ist kein einziges Wort mehr herausgekommen, nur noch dieses tiefe Seufzen, das verlernt man wahrscheinlich nie!

„Vor der Gefängnistür haben ihn dann zwei ehemalige Mitschüler abgeholt, weil Angehörige hat der Dobermann keine mehr gehabt. Ich weiß das, weil ich war auch dort, war mir irgendwie ein Anliegen. Nämlich der Mario Sedlatschek, sein Adjutant, und der Sebastian Friedberg, der war zufällig sein Arzt auf der Schmidtenhöhe, dem neurologischen Spital, in dem er gelegen ist. Kein Wort haben sie mit mir gesprochen, und kein Wort haben sie mit dem Dobermann gesprochen, und der Dobermann hat ohnedies kein Wort mehr sprechen können, auch wenn er gewollt hätte. Ein richtiger Trauerzug, mir war zum Heulen!“

Irgendwie empfindet der Metzger die ganze Angelegenheit mit dem Dobermann ziemlich bedrückend, Mörder hin oder her! Relativ laut, so wie das halt ist, wenn dich etwas drückt, sagt er noch schnell, während er zielstrebig die Küche verlässt:

„Ich muss aufs Klo!“

Das Klo, zwei Quadratmeter der absoluten Zurückgezogenheit, obwohl dort rein körperlich genau das Gegenteil passiert. Und während wir am stillen Örtchen etwas fallen lassen, fällt auch die Seele ein wenig – nur umgekehrt: Sie fällt nämlich hinauf, richtet sich aus der K.-o.-Lage des Alltags empor, wird unübersehbar, steht vor der eigenen Spiegelwand und dann bleibt sie stehen, die Zeit!

Die Gedanken lösen sich aus der Umlaufbahn der Gewohnheit, und wir phantasieren, kichern, schluchzen, träumen, manche schlafen kurz, manche lösen Kreuzworträtsel, deren Kästchen vor der Toilettentür als verräterische Wissenslücken leer blieben, im Handumdrehen, manche schreiben heimlich SMS und manche denken einfach nichts, konzentriert auf das Wesentliche dieses Daseins, das uns allen erstens tagtäglich und zweitens auch ganz zuletzt bevorsteht – das Loslassen.

Der Metzger ist ein denkender Scheißer. Hier findet er Klarheit, hier kommt er zur Ruhe und trifft Entscheidungen. Er sitzt da und ganz selten kommt es vor, dass sich seine Gesichtszuckungen mit dem Ausscheidungsvorgang paaren – so wie jetzt.