Der Metzger - Thomas Raab - E-Book

Der Metzger E-Book

Thomas Raab

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Beschreibung

Der neue Kriminalroman des Bestsellerautors Thomas Raab! So ein toter Autor bereitet offenbar viel Freude. Und ein bisserl Verleger, Lektoren, Kritiker quälen auch … Deutsch-Lehrer sowieso. Schweinereien also ohne Ende. Diesmal landet der Möbelrestaurator Willibald Adrian Metzger in der Literaturbranche. Und Schuld daran ist Hansi Woplatek, der Sohn seiner Stammfleischerei. Der Bub will zur Schande des Vaters nämlich weder Rindviecher filetieren, noch Würste stopfen, sondern Schriftsteller werden. Kein Wunder, wenn es dann trotzdem ziemlich blutig zugeht. Ja und dann wär da eben noch das Gfrett mit der Liebe …

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Thomas Raab

Der Metzger

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Thomas Raab, geboren 1970, lebt nach abgeschlossenem Mathematik- und Sportstudium als Schriftsteller, Komponist und Musiker mit seiner Familie in Wien. Zahlreiche literarische und musikalische Nominierungen und Preise, zuletzt »Buchliebling« 2011 und Leo-Perutz-Preis 2013. Die Kriminalromane rund um den Restaurator Willibald Adrian Metzger zählen zu den erfolgreichsten in Österreich. Zwei davon wurden im Sommer 2014 für die ARD-Degeto mit Robert Palfrader in der Hauptrolle verfilmt.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. KapitelEpi-Prolog
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1

Ein Wettkampf ist es irgendwie immer, olympisch sogar, da braucht sich kein Mensch dieses Planeten extra erst mühselig für irgendwelche Sommer- oder Winterspiele zu qualifizieren. Geboren werden reicht. Ab dann gilt der Komparativ:

Schneller, höher, weiter.

Größer und stärker wäre natürlich auch nicht schlecht.

Dümmer möglicherweise nicht ganz so gut. Wobei, in Kombination mit wohlhabender ist es dann wieder egal, das sticht ja sowieso alles aus.

Das Leben ist ein ständiges Ausscheidungsrennen, nicht nur vorne weg, auch hinten raus, zuerst in die Windel, dann in den Flach- oder Tiefspüler, schließlich als Komplettpaket in die Grube, und reichen die drei Steigerungsstufen nicht aus, hat es noch eine weitere auf Lager. Auf erstens, hoch, folgt zweitens der Komparativ, höher, dann drittens der Superlativ, am höchsten, und schließlich viertens: der Degenerativ.

Ist ja schließlich kein Spaß mit der Höhenkrankheit. Da glaubt sich der Aufsteiger noch euphorisch siegessicher und erreicht den Gipfel doch nur als verwirrter Kotzbrocken. Je weiter oben nämlich, desto dünner die Luft, und nachhaltiger Sauerstoffmangel schlägt sich bekanntlich aufs Hirn, Langzeitschäden nicht ausgeschlossen.

 

Diesbezüglich hat es den Woplatek senior, Wurstkaiser dieser Stadt, ziemlich deftig erwischt, was keineswegs an seiner Geisteskraft liegt. Blöd wär er ja nicht. Sein gigantisches Ego ist das Problem. Eines, das ihn zwar weit hat kommen lassen, trotzdem kann ein Mensch so gscheit ja gar nicht sein, als dass mit einem nur noch auf sich selbst gerichteten Blick langfristig kein handfester Trottel aus ihm würde.

Und weil Heinz Woplatek sich selbst so gern sieht, sehen ihn gezwungenermaßen auch so gut wie alle anderen. Seine Bekanntheit liegt sicher bei um die neunzig Prozent, denn erstens nimmt er sein Abendessen prinzipiell auf diversen Society-Veranstaltungen zu sich, zweitens scheint der arme Woplatek, wie die Mücke dem Licht, der Anziehungskraft jeder Fernsehkamera hilflos ausgeliefert, und drittens bewirbt er sein Unternehmen ganz im Stile eines Spitzenkandidaten, Immobilienmaklers, Schönheitschirurgen oder Dentisten: mit der eigenen, bildbearbeiteten Visage.

Eines Tages wird es wohl von den Plakatwänden dieses Landes nicht mehr herablächeln:

Alles Wurst. Woplatek for everyone

Sondern:

Ihm ist nix wurscht. Woplatek for Präsident

Dem Willen des Heinz Woplatek sind Grenzen eben fremd.

Ebenso seiner Kühlkette. Kein Zeltfest, kein Stadtfest, kein Sportfest, kein Parteitag ohne Woplatek-Würste und natürlich Woplatek-Logo: ein gelbes W auf rotem Hintergrund. Völlig unnötig, sich erst mühselig in den Handstand zu schwingen, der offenkundige Affront, der Frontalangriff auf das Schnellfutterketten-M ist auch so gut zu erkennen.

Ein Held dieser Stadt ist er, der Woplatek Heinz, der die Tradition des einfachen Bürgers, in Soßen getunkt und mit Schwarzbrot serviert, salonfähig hat werden lassen, ein Mann des Volkes.

Denn auch er hat klein begonnen, in der Fleischerei seines Vaters, Kaiserstraße 17, nicht mit Schnuller oder Beißring, sondern mit Speckschwarte im Mund. Zwischen der Frischwurstvitrine und dem Fleischwolf stand sein Stubenwagen. Irgendwann stand er selbst darin und kam trotzdem weit herum, zumindest kulinarisch, eine Scheibe Kalbspariser in der Hand, oder Wiener, oder Polnische, oder Ungarische Salami, oder Prager Schinken, egal, Hauptsache Fleisch. Die Gitterstäbe seines Laufstalles glänzten dank seiner stets speckigen kleinen Finger. Der Überzug der Stubenwagen-Matratze: Selchgeruch. Die frische Wäsche an seinem Körper: Selchgeruch. Das mütterliche und väterliche Bukett: Selchgeruch. Der Duft seines Lebens also: Selchgeruch.

Bald band er sich folglich selbst die Schürze um, stopfte Würste, unermüdlich, Jahr um Jahr, wuchs immer mehr aus seiner Haut heraus und in die der Krainer, der Klobasa, der Frankfurter hinein, stopfte sie mit allem, was ihm nur an Resten in die Finger kam, übernahm die Firma, stopfte weiter, und eines Tages mit dabei seine fleißige erste Ehefrau Marianne. Er der Kraftprotz, sie die zierliche Kundin, herrliche sechsundzwanzig Jahre jung, hingezogen sowohl in Richtung Debreziner als auch deren Hersteller. Und blöd ist er ja nicht, der Woplatek Heinz, hat er also zugelangt, sich einfach genommen, was da so unübersehbar ihre fleischlichen Gelüste über die Frischwurstvitrine schob. In puncto Selbstbewusstsein lässt sich bei dem Eins-neunzig-Koloss ja von Geburt an kein Mangel erkennen. Seit Übernahme des Familienbetriebes hängt die Zeile »Heimat bist du großer Söhne!« eingerahmt in seinem Büro. Und ja, damit meint der Woplatek Heinz bis zum heutigen Tag schon schön sich selbst. Und nein, niemals würde er da auch nur ein Wort daran ändern wollen, geschweige denn sich einen andersgeschlechtlichen Nachwuchs wünschen. Genauso ein großer Sohn musste also her, auf dass sich das beste Fleischgemisch dieses Landes nicht nur dank der Kühl-, sondern auch der DNA-Kette einwandfrei weiterverbreiten könne.

Folglich hob Marianne in diversen Mittagspausen die blutige Schürze und ließ ihren Heinz darauf hoffen, das entstehende Produkt möge ihm möglichst die Spiegelung seiner selbst bescheren.

Nur ist das in diesem Fall mit der Ähnlichkeit nicht einmal annähernd so vorhersehbar wie bei einem Gugelhupf. Eher Kategorie Popcorn. Da platzt etwas auf und dann: Überraschung. Wobei, so überraschend ist es natürlich auch wieder nicht, wenn in einer Familie, in der sich ohnedies alles nur noch um die Würste dreht, dann eben auch ein ordentliches Würstel dabei herauskommt.

Kurz: Hansi Woplatek.

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2

Es war ein Wintertag, wie ihn die Stadt sonst kaum zu sehen bekommt. Die geparkten Autos nur noch sanfte, weiße Hügelketten.

Die Gehsteige nur noch schmale Schneisen.

Die sich darauf begegnenden fremden Menschen kurzfristig Vertraute.

Willibald Adrian Metzger kann sich gut daran erinnern, sieht sich heute noch mit knirschenden Schritten durch diese ihm vertraute Gasse schlendern, die Bäume wie in den Himmel ragende Zuckerwatte, sieht die Kundschaften aus seiner Stammfleischerei Woplatek, Kaiserstraße 17, aus und ein marschieren, dicht an dicht, Steppjacke an Lodenmantel, jede mit einer Tüte in der Hand und einem Grinsen im Gesicht.

Und als er selbst eintrat, vor dem Schaukasten Aufstellung nahm, wurde auch ihm ein ebensolches Papier-Stanitzel über die Kühlvitrine gereicht: »Ein Bub, Willi. Es ist ein Bub. Jetzt hab ich als gelernter Fleischhauer endlich auch so einen Metzgerjungen, wie du einer bist.« Die reinste Glückseligkeit lag da feierlich ausgebreitet in dem speckigen Gesicht des frisch zum Vater gewordenen Heinz Woplatek.

»Hans soll er heißen. Zur Feier des Tages gibt’s ein paar Grammeln extra. Und nicht unterwegs alle wegnaschen, gell, weil da wird dir sonst schlecht.«

Klingt nach Bevormundung. Und ja, er war damals in gewisser Weise eben selbst noch ein Bub, der Metzger, obwohl längst ausgewachsenes Mannsbild und Restaurator. Nur was blieb ihm, dem Scheidungskind, der er mit seiner werten Frau Mama unter einem Dach wohnte und sich folglich für sie verantwortlich fühlte, schon anderes übrig. So oft hätte er da gar nicht selbst die Wäsche waschen, das Gulasch kochen, die Socken stopfen, die Unterhosen bügeln können, um nicht allein durch diese Lebenssituation zum ewigen Muttersöhnchen degradiert zu werden. Eine Situation, die es ihm natürlich verunmöglichte, ein Frauenherz für sich zu erobern, auch wenn ihm seine Mutter nichts inniger vergönnt hätte.

Jedenfalls stand er also an diesem Wintertag in der Fleischhauerei, hörte Heinz Woplateks schrillen Tenor: »Wart, Willibald, ich zeig dir was, ganz exklusiv!«, sah den backfrischen Vater hinter dem Vorhang verschwinden und kurz darauf wieder hervortreten, wie einen Zirkusdirektor in die Manege.

In seinen Händen der Thronfolger Hans höchstpersönlich. Ein kleines, zartes, stilles Kind. Wehrlos emporgehalten, bis zu den von der Decke baumelnden Dauerwürsten: »Was für ein Prachtkerl, oder? Seit du ein Baby bist, kenn ich dich jetzt schon, Willi, und hoffentlich wird der Hans eines Tages genauso ein netter und kräftiger Bursche, wie du einer bist!«

Kräftig im Sinne von überfettet, denn was der Metzger damals bereits um seine Hüften trug, fand einzig in den Augen des ebenso wuchtigen Fleischers Heinz Woplatek Anerkennung. Vielleicht, weil dieser schon über Jahre hinweg an Willibalds Breitenwachstum durchaus auch ein paar Scheiben beizutragen gewusst hatte, Anfütterung also sowohl im kulinarischen als auch klassischen Sinn: ein Radl Extrawurst zum sofortigen Verzehr, ein paar Gramm Salami mehr ins obligate Jausensemmerl und später dann unter Gebrauch des Elektromessers: »Probier schnell, ganz frisch!«, Kümmelbraten, Geselchtes, Stelze, je nachdem.

Ja, damals hatte Heinz Woplatek eben noch ein gutes Herz zu bieten, nicht nur, was die tierischen Innereien betraf.

Das sollte sich ändern.

Denn Willibald Adrian Metzger blieb auch nach dem Tod seiner Mutter ein treuer Stammkunde, sah folglich den Säugling Hans immer mehr zu einem Hansi heranwachsen − und Heinz Woplatek verfallen. Von genetischer Übereinstimmung nämlich keine Spur. Zierlich blieb der Junge, erwies sich handwerklich begabt wie ein Rauhhaardackel zum Gleitflug, wurde kein Fleischfresser, sondern verschlang Bücher. Vaterfreuden sehen anders aus, denn was bitte soll ein Wurstfabrikant mit einer derartigen Nachkommenschaft schon groß anfangen? Und Heinz Woplatek behielt diese Sorgen keineswegs für sich, auch nicht in aller Öffentlichkeit: »Muss ich den Wappler als meine Sekretärin anstellen oder was? Weil, wem bitte soll ich eines Tages die Firma übergeben? Ihm? Ich lass mir ja auch von einem Bandwurm kein Flugzeug bauen und flieg damit.« Hansi saß derweil in einem der unzähligen Hinterzimmer der Fleischerei, las und schwieg, wie auch sonst die meiste Zeit.

Gelegentlich spazierte das schweigsame Kind mit dem ebenso schweigsamen Willibald Seite an Seite durch die Gassen, der eine in die Schule, der andere in die Werkstatt, Gleichklang in Schritt und Atem, seltsame Nähe. Ein einziges Mal nur griff die kleine Hand nach der großen, kurz, bis Hansi der Irrtum bewusst wurde, er zurückzuckte. Für den Metzger ein unvergesslicher, wunderbarer Irrtum, eine Ahnung, ein Hauch Erzeugerstolz. Fühlt es sich so an? Vater und Sohn?

Ja, und einige Male wurden daraus Verabredungen: »Der Hansi will mich heute Nachmittag in der Werkstatt besuchen kommen, darf er?«

Er durfte, saß dann dort in einer Ecke, sah dem Restaurator zu, schlief hin und wieder ein oder dachte nach, las ein Buch oder bekritzelte einen Notizblock, und gelegentlich hieß es aus Marianne Woplateks Mund: »Willibald, der Hansi würd sich gern wieder einmal nicht nur bei uns in der Fleischerei die toten Tiere ansehen, sondern auch die lebenden. Nur wir haben keine Zeit. Könntest du vielleicht ausnahmsweise?«

Er konnte. Immer wieder. Und dann spazierten die beiden zwischen Dickhäutern und Siebenschläfern, zwischen Polar- und Savannenbewohnern, zwischen Säugern und Insekten durch den städtischen Zoo, einerseits wie Freunde, andererseits wie Schicksalsgenossen, beide allein und doch zusammen. Zwei fixe Zielkoordinaten gab es dabei immer. »Willst du wieder eine Runde Ponyreiten?«, nannte zuerst der Metzger die seine, und im Anschluss an diesen Ritt, der nicht einmal ein Trab war, kam von Hansi stets ein »Gehen wir wieder zu Egon in den Schatten!«.

Ein großer, von dichten Föhren geworfener Schatten. Darunter eine Bank. Dort, wo sich selbst an sonnigen Wochenendetagen aus Gleichgültigkeit kaum ein Mensch hin verirrte, saßen die beiden dann, glücklich, schweigsam, vor diesem, im hintersten Winkel liegenden, hohen Gehege mit seinen eng stehenden schwarzen Eisenstangen, bis über Lautsprecher die Sperrstunde verkündet wurde. Hier bleibt kein Kind stehen, kein Erwachsener, hier gibt es für den schnellen Blick nichts zu erkennen, außer die im Sand liegenden toten weißen Mäuse. Nur das genaue Auge entdeckt ihn, ganz oben, verborgen im dürren Geäst, regungslos, passiv, weil nachtaktiv.

Egon, so sein Name.

Tiergruppe: Eule.

Seines Zeichens Habichtskauz.

Lebenserwartung: 20 Jahre.

Und Hansi wollte es hören, ein ums andere Mal, stupste seinen Sitznachbarn an, heimlich fast: »Und wenn er nicht gefüttert wird, wie würde er jagen gehen?«

»In der Nacht!«, flüsterte der Metzger zurück: »Ganz still bleibt er sitzen, so wie jetzt, beugt seinen Kopf hinunter, spreizt die Gesichtsfedern, und kaum sieht oder hört er seine Beute, lehnt er sich vor, waagerecht fast, lässt sich fallen, breitet seine Flügel aus, fliegt und fliegt und fliegt, lautlos. Dann schnappt er zu.«

Und wie das Amen im Gebet immer die gleiche Frage: »Muss er wirklich zwanzig Jahre in diesem Käfig bleiben, er hat doch gar nichts getan! Wann lassen sie ihn frei und darf er endlich fliegen?«

Ein wenig kam es dem Metzger damals schon so vor, der kleine Hansi könnte dabei auch von sich selbst gesprochen haben.

 

So vergingen die Jahre, wuchs alles heran, das Kind, das Geschäft, der Konflikt. Und wie gesagt: Reichen die drei Steigerungsstufen nicht aus, hat das Leben noch eine weitere auf Lager.

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3

Der Komparativ:

Heinz Woplatek baute mit Hilfe seiner emsigen Gemahlin Marianne das Unternehmen aus, eröffnete den ersten Würstelstand, und auch beim kleinen Hansi tat sich etwas auf. Die Bauchdecke.

Das ist eben nichts für einen zarten Bubenkörper: mit einem als Indianergewehr zweckentfremdeten Schweinsschlögel auf imaginäre Cowboys schießen. Und bum, Leistenbruch, dermaßen herausragend, aus dem Mund der australischen Turnusärztin war nur noch ein ehrfürchtiges »Ayers Rock!« zu hören.

Der Superlativ:

Heinz Woplatek übernahm mehrere kleine Konkurrenzbetriebe, ließ innerhalb der Stadtgrenzen seine roten Würstelstände aus dem Boden schießen, und auch beim nicht wirklich größer werdenden Hansi schoss etwas Rotes heraus. Blut.

Das ist eben nichts für so ein zartes Bubenhanderl, erstmals des Vaters Wunsch auszuführen: »Jetzt leg endlich deine gschissenen Bücher weg und stopf ein paar Würsterln, sonst tuscht’s!«, und beim Füllen einer eigenen Kreation, vegetarisch natürlich, Kaiserschmarrn-Reste des Vortages in Kombination mit Powidl und Rum, irrtümlich dann doch ein Stückerl Fleisch mitfaschieren. Wodurch die väterliche Sorge nicht kleiner wurde und sich in Gegenwart des Kunden Willibald Adrian Metzger beispielsweise folgendermaßen zum Ausdruck brachte: »Hat eh schon zwei Linke, der Sautrottel, und jetzt fehlt ihm der rechte Daumen! Schleppen kann er nix, Fleisch frisst er keines, wenn das nicht aufhört mit seiner Leserei, wird er schasaugert auch noch. Was bitte soll ich mit dem Blindgänger einmal anfangen?«

Sprachlos war er natürlich, der Metzger.

 

Mit elf Jahren gab der kreative Woplatek-Nachwuchs Hansi dann schließlich selbst die Antwort, zu Ehren des Vaters.

Fünfundvierzig Jahre war Heinz Woplatek an diesem Tag alt geworden, die Fleischerei mit Lampions geschmückt, ein Gläschen Prosecco für die Kunden, dazu hausgemachte Husarenkrapfen.

»Dann prost, Herr Woplatek!« Der Metzger stand gerade als einzige Kundschaft in der Fleischerei, mit dabei ein frisch angestelltes, großgewachsenes, sehr fleischlich und kräftig wirkendes Lehrmädchen, vom Chef liebevoll als »Heast Madel!« benannt, da stürmte der kleine Hansi herein, den wuchtigen Schulranzen auf seinen schmalen Rücken geschnallt. Und er trug ihn aufrechter als sonst, alles Gebückte an ihm schien wie weggeblasen.

Sichtlich aufgeregt nahm er an der Seite des Restaurators vor der Frischwurstvitrine Aufstellung, blickte mit strahlenden Augen durch die Glasscheibe zu seinem Vater empor und sprach in dessen Gegenwart mit einem Schlag so viel wie zusammenhängend nie zuvor in seinem Leben: »Weißt du Papa, was ich grad gelernt hab? Dass mein Taufname ›Johann‹ auf Russisch ›Iwan‹ heißt!«

»Und? Soll ich dich jetzt als Hansi der Schreckliche anreden, oder was!«, war die Antwort, gespickt von einem Lacher, des eigenen großartigen Witzes wegen.

»Nein, Papa, aber ich hab mir gedacht, wenn ich groß bin, dreh ich den Nachnamen um und nenn mich statt Woplatek Hansi einfach Ketalpow Iwan!«

Da war es dann für Heinz Woplatek natürlich schlagartig vorbei mit dem Spaß. Hinter der Vitrine kam er hervor, baute sich vor seinem Hansi und neben dem Metzger auf, die Hände in die Hüften gestützt, den Kopf gesenkt, als stünde er vor einem Urinal, und nahm zielbewusst wie einen der blauen Toilettensteine seinen Sohn ins Visier.

»Und dann? Was willst du dann werden? Zuhälter? Ringer im Fliegengewicht? Eishockeyspieler? Maximal als Puck, so wie du ausschaust.«

»Schriftsteller, Papa. Ich will Schriftsteller werden! Das geht auch mit neun Fingern.«

»Was willst du werden? Sozialhilfeempfänger? Auf meine Kosten? Sicher nicht!«, schwoll das durch die Schläfen plätschernde Aderbächlein des schlagartig erröteten Heinz Woplatek zu einem mächtigen Strom heran. Der Metzger trat sicherheitshalber ein Stückchen nach hinten, und der sanftmütige Hansi rang um Worte des Trostes:

»Aber Papa, ich hab geglaubt, du freust dich an deinem Geburtstag, weil dann musst du dich für mich nicht mehr schämen! Verstehst du denn nicht, ich heiß ja dann gar nicht mehr Woplatek, sondern hab den für einen Schriftsteller eh viel gscheiteren Namen, einen Künstlernamen eben: Iwan Ketalpow!«

Kein guter Trost.

»Gscheiterer Name, sagst du! Und das an meinem Geburtstag.«

Beim »Ketal« war die rechte Hand des Heinz Woplatek bereits so hoch erhoben, da musste der Hansi gar nicht erst lange überlegen, was bei »pow« folgen würde. Ein Glühbirnenwechsel auf jeden Fall keiner. Ein Ausgehen des Lichtes schon eher.

»Was bitte passt dir Fetzenschädel an Woplatek nicht? Stolz kannst sein drauf. Hörst du: stolz.«

Und aus dem »pow« wurde zuerst ein von rechts kommendes Zisch, weil rechtzeitig abgeduckt, dann ein von links kommendes Patsch, weil der Vater natürlich zwei kräftige Pranken sein Eigen nannte, wodurch es schlagartig vorbei war, sowohl mit der Unversehrtheit der durch die Luft fliegenden, grauen, kindlichen Brillenfassung als auch mit der Stammkundschaft des Willibald Adrian.

Keinen Fuß hat der Metzger jemals wieder auch nur in die Nähe dieser Fleischerei gesetzt. Ein schmerzhafter Verlust, auch des kleinen Hansi wegen, denn viel schneller noch, als das Bürschchen irgendein schriftstellender Iwan werden konnte, griff sein zornerfüllter Vater zur Feder und schrieb dieses missratene Kind in die Waldschule, ein abgelegenes Vollzeit-Internat ein, Geld genug hatte er ja. Dort übergab er ihn, auf dass sich diese Zeit zwecks Mannwerdung und Abhärtung besonders nachhaltig ins Gedächtnis brenne, in die Obhut eines guten Freundes aus Bundesheerzeiten, des als Schleifer verrufenen Deutsch- und Turnlehrers Richard Vogel, und wurde schließlich zu genau dem, der er heute ist:

Der Degenerativ:

Der Auslagerung des eigenen Kindes nämlich folgten drei, wie es scheint, für älter werdende Männer fundamentale Einsichten:

Die Einsicht des unaufhaltbaren Verlustes der eigenen Jugend.

Die Einsicht, diesem Verlust trotzen zu müssen, folglich dringend einen Neuwagen und natürlich eine neue Haarfarbe zu benötigen, von strohblond bis pechschwarz ist alles möglich.

Die Einsicht, sich selbst neu finden und zu diesem Zweck intensiv suchen gehen zu müssen: in Renate Hödlmüller, wie einst Marianne sechsundzwanzig Lenze jung, die Haut so glatt wie die Hochglanzseiten eines Thailand-Urlaubsprospekts, der Duft Pfirsich-Zitrone-Vanille. Und so herausstechend war das Odeur der Wohlgemeinten, da hatte der herbe Selchgeruch, sprich die mittlerweile von ihrer schweren Arbeit ausgemergelte, deutlich ältere Marianne Woplatek, weder ein Leiberl mehr noch ein überzeugendes Dessous auf Lager.

Dann ging alles ruckzuck:

Kurzes mediales Aufwallen, weil Woplatek-Scheidung ohne Rosenkrieg, und wen interessiert das dann? Marianne durfte das alte Fleischereigebäude, Kaiserstraße 17, behalten, dem Wurstkaiser Heinz aber wurde die Kaiserstraße zu wenig, er sehnte sich nach einem Schloss, sprich einer herrlichen Villa.

Längeres mediales Aufwallen, weil Woplatek-Hochzeit mit Buhlschaft Renate Hödlmüller, die mindestens seine Tochter hätte sein können.

Geburt des Woplatek-Sohnes Konrad.

Selbstmord der geschiedenen Marianne. Sprung vom Dach, klugerweise ein Hochhaus, also auf Anhieb tödlich. Der Zweitfrau Renate, geborene Hödlmüller, kam diese Beförderung nicht ungelegen, denn somit war sie mit einem Schlag die einzig lebende weibliche Woplatek. Ja, und für Heinz bedeutete der Verlust seiner Ex-Frau vor allem den Wegfall seiner Zahlungspflichten.

Kurz: Besser hätte es nicht laufen können.

Anders bei Hansi, wie der Metzger eines Nachmittags erfahren sollte, denn Kontakt hatte er ja keinen mehr. Nur stand ihm da plötzlich vor einer auf Rot gestellten Fußgängerampel das »Heast Madel!« gegenüber, Woplateks einstiges Lehrmädchen, mittlerweile eine wuchtige, kräftige, durchaus hübsche Frau, die den Metzger betroffen auf den neuesten Stand brachte.

Kam eben nicht von ungefähr, des Hansis Sehnsucht, der schreibenden Zunft angehören zu wollen, denn wie gesagt: Reden war seine Sache nicht. Folglich beschloss er eines Tages, den Fängen dieses Psychos, dieses pädagogischen Totengräbers Richard Vogel, zu entfliehen, aus dem Internat aus- und in die Villa seines von ihm verachteten Erzeugers einzubrechen, offiziell Zugang hatte er ja keinen mehr. Dort betrat er das zu diesem Zeitpunkt leere Kinderzimmer seines Halbbruders Konrad, streckte sich auf dem Teppich aus, tibetanische Hochlandwolle, und verlieh seiner Trauer, seiner Wut, seinem an den Vater gerichteten Schuldspruch mittels Durchtrennung beider Pulsadern Ausdruck.

Im Gegensatz zu Hansi Woplatek besaß die Putzfrau natürlich einen Schlüssel, worauf der ungebetene Gast nicht beerdigt, sondern ebenfalls befördert wurde, zuerst in die Notaufnahme, dann in die Psychiatrische.

Ein einziges Mal soll ihn sein Vater dort besuchen gekommen sein, nicht etwa, um seinem Sohn Trost zu spenden, sondern um die unvergessliche Botschaft zu hinterlassen: »Gratuliere! Bist du also im Gegensatz zu deiner Mutter sogar für einen Selbstmord zu blöd. Schaut sicher vertrauenerweckend aus: kein rechter Daumen mehr, dafür Schnittnarben auf den Unterarmen. Und unbedingt die tibetanische Hochlandwolle hast du dir zum Sterben aussuchen müssen! Der Teppich ist ruiniert. Jetzt sag mir bitte: Warum tust du so was? Warum versaust du mir alles? Macht dir das Spaß?«

Dem einstigen Lehrmädel standen die Tränen in den Augen, wie sie da auf offener Straße dem Metzger davon erzählte, und es war ein seltsamer Anblick, denn so stille Tränen, in einem so regungslosen Gesicht, hatte der Restaurator noch selten gesehen, als wollte sie sich all die in ihr schlummernde Wahrheit, den eigenen Chef Heinz Woplatek betreffend, mit aller Kraft verkneifen. Stockend dazu ihre Stimme, denn nur noch zwei Sätze soll Hansi seinem Vater gegenüber über die Lippen gebracht haben.

Satz Nummer eins: »Mir geht es richtig dreckig, du kannst dich also freuen, Papa!«

Als Antwort kam pure Verachtung: »Da freu ich mich vor allem für dich, Hansi. Weil, korrigier mich bitte, falls ich im Geschichtsunterricht nicht richtig aufgepasst haben sollte, aber Dreckiggehen, Depressionen und ein gescheiterter Selbstmordversuch sind doch wunderbare Zutaten für jemanden, der Schriftsteller werden will, oder? Sozusagen eine Win-win-Situation. Ach ja, und Mittellosigkeit ist doch auch ein Berufsmerkmal? An deiner Stelle würd ich also das Haus verkaufen und mir eine Zweizimmerwohnung nehmen, weil von mir bekommst du keinen Cent mehr. Wir sind fertig miteinander.« Und ruckzuck peilte Heinz Woplatek die Tür an, vielleicht auch beflügelt durch den Abschiedsgruß seines Sohnes, sprich Satz Nummer zwei: »Dann sehen wir uns das nächste Mal also bei einer Beerdigung.«

 

Besonders lange sollte es bis zu diesem Wiedersehen nicht dauern.

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4

Jetzt

»Es tun.

All die Wünsche langer Nächte, wenn mit geschlossenen Augen, in die Decke vergraben, doch kein Schlaf zu finden ist, stumme Streitgespräche geführt werden mit jenen Menschen, in deren erdrückender Gegenwart ansonsten das so notwendige Aufbäumen ausbleibt, die Gegenwehr, der Widerspruch. Menschen, die anderen alles nehmen und dafür nichts als Unrecht, Leid bringen.

Menschen, die Freundlichkeit empfangen, obwohl ihnen Verachtung zustünde.

Widerliche Menschen, bösartige, feindselige.

Menschen, die es einfach verdienen.

Es tun.

Und keine Ausflüchte suchen.

Nicht wie sonst feig zu Hause aus Stofffetzen für jeden Kandidaten zuerst Puppen basteln und diese dann Schritt für Schritt durchbohren, Messer, Nadeln, Spickeisen. Extremitäten abtrennen, Schnitte zufügen, bis die Wattefüllung herausquillt, und schließlich jede einzelne verbrennen.

Nicht so.«

23 Uhr. Er musste das Buch weglegen, konnte nicht schlafen, wälzte sich von seiner Seite des Bettes auf die andere, die leere, die namenlose, denn da liegt niemand. Niemand mehr, und wer weiß, ob jemals wieder. Und es ist in Ordnung so. Lieber auswärts hundert Euro gut investieren, für ein paar Minuten Befriedigung, als ein Leben lang draufzahlen.

Oder noch besser: rund zwanzig Euro investieren, und mindestens einen ganzen Abend lang zu Hause seiner größten Lust frönen. Der Leselust. Die Liebe seines Lebens wohnt zwischen zwei Buchdeckeln.

So dachte er zumindest bisher.

Und nun wurde er betrogen, von dieser Lektüre, hatte kaum das erste Viertel gelesen, starrte bis Mitternacht fassungslos an die Decke, in seinem Kopf ein Feldzug, eine gnadenlose Schlacht gegen alles und jeden. Zwischen Mitternacht und ein Uhr ging er noch eine Runde spazieren, wollte der Marter seiner Gedanken entkommen. Und jeder der Schritte sinnlos. Kaum zu Hause, nahm er es erneut zur Hand, las wieder und wieder diese eine Seite anstelle der Widmung:

»Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Roman sind frei erfunden, jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.«

Trank danach seine Flasche Whiskey aus, brach kurz weg.

Um 3 Uhr nachts kam der Schweiß.

Alles durchnässt. Wieder derselbe Traum: sein ewiges Scheitern, die lachenden Gesichter.

Also weiterlesen oder, noch besser, das Hörbuch einlegen:

»Es tun.

Brutal. Erbarmungslos.

Kein Holz hacken gehen, keine Sandsäcke schlagen, keine Stundenläufe absolvieren, sich nicht abreagieren an falscher Stelle, sondern es zulassen, genau dort, wo der Zorn auch hingehört. Niemandem nur den Tod wünschen, sondern ihn auch schenken.

Und nicht glauben, es wäre ungebührlich.

Nicht glauben, es wäre krank, überhaupt an so etwas zu denken.

Nicht glauben, es gäbe keine anderen, unbescholtenen, ehrbaren Bürger mit ähnlichen Ideen, die nicht Absolution suchen für ihre düsteren Fantasien. Wenn es nachts in Duschtassen, Badewannen nur so prasselt, haben sich Menschen entweder geliebt oder wollen schlaflos ihre innere Zerrissenheit abspülen, ihre Bosheit, ihre dunkle Fratze.

Nur, Wasser nützt nichts.

Also aufhören, sich einzureden, in jedem Menschen stecke auch das Gute, sondern auch die Rache als das Gute verstehen, auch die Mordlust, es sich zugestehen, sich nicht verlogen alles schönreden bis zum eigenen Untergang, sondern endlich verstehen, die Aufgabe lautet: er oder du. Sie oder du. Und wenn nicht du übrigbleibst, sind es er oder sie, deine Feinde.

Willst du alles aufgeben, alles verlieren, um derentwillen? Wenn ja, dann such dir einen Strick, sofort, nimm dir ein Gewehr, setze es an deine Brust, und erlöse die Welt von deiner Feigheit. Frieden ist kein Ausdruck lahmenden Tatendrangs.

Für Frieden muss gesorgt werden. Nicht in Gedanken, nicht mit Gebeten, nicht in deinem Bett, mit geschlossenen Augen und vergraben unter der Decke.

Sondern vor deiner Türe.

Es tun.

Jetzt.«

Um 3 Uhr 15 ging er duschen, bis 3 Uhr 30, bis das Wasser des Boilers eigenständig von heiß auf warm auf kalt wechselte, doch er stieg nicht aus der Wanne, sondern blieb stehen, bis 3 Uhr 35, in dem scharfen, eisigen Strahl, die Finger klamm, aber der Geist wach.

Hellwach.

Um 4 Uhr öffnete er eine neue Flasche Whiskey, hörte weiter, bis der Morgen kam, ging den ganzen Tag durch die Stadt, von einer Buchhandlung zur nächsten, sah es gelegentlich in der Auslage, dieses Buch, sah dazu sich selbst, gespiegelt in der Glasscheibe, und wusste mit einem Schlag, was zu geschehen hat.

Es tun. Das Pferd von hinten aufzäumen.

Jetzt.

Brutal. Erbarmungslos.

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5

Pferd, bitte. Mit scharfem Senf und Pfefferoni!«

Das ist natürlich ein Pech: seit dem Frühstück keinen festen Bissen zu sich nehmen, dann nach intensivem Arbeitseinsatz von der angebeteten Holden, Danjela Djurkovic, telefonisch den klaren Auftrag bekommen: »Nimmst du mit vier Käsekrainer von Zawodnik, weil is Kühlschrank zu Hause leer wie Hirn von millionenschwere republikanische Präsidentschaftskandidaten!«, hungrig die Straße überqueren, brav in die fünfköpfige Reihe Wartender eintreten und schließlich zusehen dürfen, wie sich justament der Vordermann den einzigen auf der Karte ausgewiesenen Appetithemmer kredenzen lässt − zumindest was die Geschmacksnerven des Restaurators Willibald Adrian Metzger betrifft.

»Kann ruhig eine schöne, dicke Scheibe sein. Und ein Bier dazu.«

Als gäbe es nichts anders!

Unmengen verschiedenster Würstel brutzeln da Haut an Haut, wie zu Ferragosto an der Adria in der prallen Hitze, und auch der schwitzende Laib Leberkäs kann sich inmitten seines gläsernen Schauofens über Isolation nicht beklagen. Rundum Artgenossen. Käs-Leberkäs, Paprika-Leberkäs, Chili-Leberkäs, Puten-Leberkäs, Pferde-Leberkäs, Bauern-Leberkäs – wobei hier, sehr zur Freude eines ganzen Berufsstandes, einzig der Bauern-Leberkäs nicht gleichzeitig eine Inhaltsangabe der verarbeiteten Zutaten darstellt. Anders jedoch der an vorletzter Stelle ausgewiesene Posten der Speisekarte.

Er ist sich der Absurdität dessen ja völlig bewusst, der Metzger, denn wenn schon Fleischfresser, warum dann Kuh und Schwein, aber kein Ross? Nur, was nutzt schon die lupenreinste Logik, wenn ihr der Bauch nicht folgen will. Es wurde ja auch einst in seiner Kindheit auf den Wochen-, Jahr- oder Weihnachtsmärkten weder das Kalb noch das Ferkel, sondern eben das Pony geritten, ganz zu schweigen von seinem täglichen Schulweg vorbei an dem offenen Garagentor und dem herauswinkenden, buckligen Kutscher Herrn Friedrich samt aufrechter Stute Erna, das Schaubild wahrer Freundschaft. Ja, und wenn schon Freundschaft, dann natürlich nicht zu vergessen der alte Schwarz-Weiß-Fernseher und das darin dauergepiesackte Viecherl Black Beauty. Ganze Nächte hat er durchgeheult, der Willibald, rotzig sein Polster, verschwitzt das Leintuch. Da wird es dann langfristig ziemlich schwer mit Fohlenschnitzel und Pferde-Leberkäs.

»Der Nächste, bitte!«

Überhaupt wird es schwer, denn der Gusto auf die Käsekrainer ist dahin.

»Oh, der Herr Nachbar! Was darf es denn sein?«

Unschlüssig steht der Restaurator vor einer der letzten verbliebenen alten Labe-Stationen dieser Stadt namens: »Zawodniks Heiße«.

Seit sich beinah flächendeckend diese roten Woplatek-Kästen mit ihrem gelben W über die heimischen, heruntergewirtschafteten Würstelstände gestülpt haben, wie das Spiderman-Kostüm über den Wurm Peter Parker, verwandelte sich auch der Eigentümer seiner Bude, der alte Erich Zawodnik, in einen Superhelden, auf dass niemals ein Woplatek aus ihm werde. Was hatte er denn auch sonst in seinem Leben? Da war die Frührente, das Nichts, die Leere, der Traum einer kleinen Imbissstube, die Übernahme dieses Würstelstandes, das mehr schlecht als recht laufende Geschäft. Ja, und dann kam, wie eine Seuche, Heinz Woplatek. Zawodnik aber hielt dagegen, wie das kleine gallische Dorf da und der große Caesar dort. Also Sparbücher plündern, Komplettrenovierung, gold-braune Außenfarbe, edles Ambiente, Alu-Stehtische, ausladende Überdachung, Heizstrahler, kein zu verzehrendes Würstel muss hier in Regen, Schnee und Kälte stehen. Wirklich kalt ist bei Zawodnik nur das Bier, wohlgemerkt aus der Flasche, denn so lautet sein Motto: »Dosenfutter gibt’s nur beim Woplatek!« Und dann erzählt er von den glücklichen, in seinen Würsten steckenden Freilandschweinen und Almrindern, von dem Bauernbrot, preist seine selbst gezogenen saftigen Paradeiser an, die es einzeln zu erstehen gibt.

Und es funktioniert, das Geschäft läuft wie geschmiert. Da gleitet hochfrequentiert Fleischliches durch die speckigen Finger des Erich Zawodnik wie sonst nur ein paar Ecken weiter im Laufhaus Erika. Egal wie lang die Schlange auch wird, Zawodnik behält seine Ruhe, verdirbt den unfreundlichsten Menschen die miese Laune, Erderwärmung der anderen Art. Nur selten, dass sich seine, wie ein U inmitten der Stirn plazierte, beinah lächelnde Narbe in Falten legt, zu einem erstaunten O verbindet oder zu einem skeptischen V verjüngt: »Bin als Kind durch eine Glastür gefallen!«, erklärt er stets dazu, und gerade diese Schramme gibt seiner so freundlichen Ausstrahlung erst das gewisse Etwas, lässt eine subtile Bedrohlichkeit durchschimmern und verleiht seiner stoischen Gelassenheit die nötige Ausstrahlungskraft. Mehr Zawodniks braucht die Welt! Nur ein Lächeln, ein Schmäh, dazu ein Griff mit der Holzzange ins Einmachglas. Das Glück ist eben kein Vogerl, sondern ein Essiggurkerl aufs Haus.

Lang also ist die Schlange. Menschen, vorwiegend Männer, egal welchen sozialen Standes, welchen Alters, welcher Herkunft und natürlich Verfassung. Und je fortgeschrittener die Stunde, umso geduldiger die Wartenden. Für derartige Entspannung ist es aber offenbar noch nicht spät genug. Der Imbiss muss also seinem Dasein als Fastfood gerecht werden. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Da bleibt die Unschlüssigkeit des Restaurators nicht lange unkommentiert.

»Sind S’ kurzsichtig oder wollen S’ die Speisekarten auswendig lernen?« Getragen, beinah selbstverliebt wirkt der aus dem Hintergrund vernehmbare Ton, als entspringe er trotz leichten Dialekteinschlags den Stimmbändern eines Schauspielers, Synchronsprechers − und eine Schärfe steckt darin, da kann sich das Fleischmesser des Erich Zawodnik noch ein Beispiel nehmen. Scharf durchaus auch im Sinne des ausgeströmten Atems. Alkohol. Hochprozentig. Whiskey vielleicht.

Anfangs noch verdutztes Stillschweigen auf Seiten des Restaurators, folglich wird zumindest verbal weiter in den Rücken gefallen: »Sind S’ also nicht nur kurzsichtig, sondern auch noch schwerhörig! Und jetzt warten S’ auf einen ordentlichen Behinderten-Rabatt, oder was?«

Doch so aggressiv, angriffig der Ton auch ist, es wundert den Metzger nicht. Denn trotz Prachtwetter hängt eine seltsame Übellaunigkeit, ja Aufgeladenheit über den Dächern und verwandelt die Stadt in ein explosives Tiefdruckgebiet. Amerikanische Waffengesetze in Kombination mit der hiesigen Verdrossenheit, und die Straßen wären mittlerweile menschenleer. Seit bald drei Wochen bereits zeigt der Himmel splitterfasernackt sein intimstes Blau, die Sonne all ihre Freizügigkeit, und genau dieser heitere Zustand scheint vielen Menschen das Unerträgliche, ja Anrüchige zu sein. Wer bitte verkraftet schon so viel an Wunscherfüllung: Im Winter die Sehnsucht nach Sommer, im Frühling die Vorfreude auf und die Einkäufe für den Sommer, und dann, Wunder, kommt dieser Sommer tatsächlich, wolkenlos, lustvoll, herrlich heiß, und zur völligen Überraschung auch noch mitten im August. Was zu viel ist, ist eben zu viel. Also wird gejammert, über die Hitze im Speziellen, über das Wetter im Allgemeinen. Und darüber jammern, dass es immer etwas zu jammern gibt und wie furchtbar anstrengend nicht nur dieses Jammern, sondern im Grunde eh alles ist, geht ja sowieso immer. Nein, lustig ist das nicht. Schon gar nicht, wenn es auch des Abends kaum abkühlt, die Luft und somit Gereiztheit hartnäckig in den Zimmern hängt, wie Schnupfenviren in Schnauzbärten.

»Jetzt machen S’ hier endlich weiter, verdammt!«, legt die Stimme im Rückgrat des Restaurators nun an Lautstärke zu, dazu ein Zischen, zwei Mal, nur verkehrt herum, als würde sich der Kerl ein paar hartnäckig zwischen den Schneidezähnen sitzende Speisereste in den Rachen saugen, holzige Mango oder zähe Flugentenbrust vielleicht.

Konfliktlösung, so lautet die Devise im Budeninneren: »Zur Abwechslung vielleicht eine Burenwurst, Herr Metzger? Die sind heut ganz frisch.«

»Na hoffentlich ist hier alles frisch!«, drängt sich der Hintermann nun in den Vordergrund. Aufrecht, großgewachsen, hager die Gestalt. Unangenehm das Auftreten. Unberechenbar, auch dank Alkoholisierung. Eine Ausstrahlung, die auf Anhieb Überlegenheit zum Ausdruck bringt, Beklemmung verbreitet.

»Bis zwei Uhr hat die Bude hier offen, da können S’ noch ein bisserl nachdenken!«, wird nun mit spitzen, weit ausgefahrenen Ellbogen vor dem Metzger Aufstellung genommen, eine lederne Aktentasche auf die Budel gestellt und mit einer zusammengerollten Tageszeitung, die allein zu halten schon den Anstrich des Intellektuellen verleiht, auf den Leberkäse gedeutet.

»Also, Zawodnik, den Gaul da am Schneidbrettl lassen S’ gleich liegen und um drei Scheiben zum Mitnehmen schlanker werden! Ich hab’s eilig.«

»Offenbar sehr eilig!«

Der Metzger nickt: »Ist schon recht!«

»War wohl ein harter Tag?«, bemüht sich Zawodnik um Entschärfung, während er bedächtig die bestellten Scheiben vom Leibe trennt.

Doch vergeblich. Beißend der Ton, gemein.

»Und das rentiert sich, Zawodnik, Ihren Würstelstand auch noch als Zweigstelle für Gesprächstherapie zu betreiben?« Dazu wieder dieses unappetitliche, wie ein Morsezeichen erklingende, zweimalige Sauggeräusch, Schnitzelflachsen oder Erdnusssplitter vielleicht, »lang lang«, ein M also, für Maria oder Miguel.

Und der Metzger muss lächeln. Denn dieses furchteinflößende Abbild eines Feldmarschalls, eines Großinquisitors, mit leichtem Buckel, hätte sich gar nicht erst groß in den Vordergrund schieben müssen, um von ihm erkannt zu werden.

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6

Einen wunderschönen guten Abend, Herr Hofer!«, entkommt es dem Restaurator ausgesprochen höflich. Gibt ja auch keine größere Gemeinheit dem Grant gegenüber als Freundlichkeit. Wobei, so viel muss der Fairness halber schon gesagt sein, ein nicht unerheblicher Anteil berechnender Pflicht steckt auch dahinter, denn besagter Riese namens Hofer ist einer seiner Stammkunden, denkbar schwierig, im Grunde unerträglich, aber eben auch einträglich. Nur ein paar Ecken weiter wohnt er inmitten dieses Grätzels, meidet aus reinster Bequemlichkeit Ausflüge an den Stadtrand samt den dort herumstehenden überheizten Einrichtungshaus-Containern und legt sich folglich, sozusagen im Vorbeispazieren, sein Mobiliar in dem kühlen Gewölbekeller des Restaurators zu, Gratislieferung inklusive. Sogar die Putzfrau hat er sich während eines Werkstattbesuches auf diese Art unter den Nagel gerissen, ihr beim Bodenwischen auf den Hintern gedeutet und wissen wollen: »Und? Sauber?«

»Wer?«

»Na die? Kann sie auch mehr als Werkstatt und ist verlässlich?«

»›Die‹ heißt Olga Mitrovic, putzt auch in meiner Wohnung und spricht fließend Deutsch!«

Da könnte sich seine Danjela noch ein Beispiel nehmen.

»Na dann, Frau Mitrovic, nächste Woche Montag, 8 Uhr?«

Und Hofer bekommt, was er will.

Ähnlich verfährt er in puncto Nahrungsaufnahme. Schnell muss es gehen.

Da ist es also auch wirklich keine Besonderheit, wenn Willibald Adrian Metzger nun vor der Durchreiche der Zawodnikschen Würstelbude steht und auf Hofer trifft.

Miguel Maria Hofer, um genau zu sein.

»Aha! Der Herr Metzger also!«, gibt dieser nun ohne den geringsten Ansatz einer peinlichen Berührtheit von sich. »Ich hab meine Brille zu Hause liegen lassen. So wie offenbar auch Sie? Oder ergötzen Sie sich an der hohen Literatur der Speisekarte?«

Dazu wieder ein Hinwenden in Richtung Würstelbude:

»Übrigens Zawodnik, Curry schreibt man mit Doppel-r.«

»Na, da bin ich ja heilfroh, bei der Debreziner kein Doppel-p erwischt zu haben! Vielen Dank, Herr Hofer, wird korrigiert. Und meine Hochachtung«, bleibt Zawodnik die Ruhe in Person, »weil, wenn ich meine Brille wo liegen lass’, könnte ich das alles nicht mehr lesen!«

Er weiß eben, was seine Kunden haben wollen, in Hofers Fall: Recht, Huldigung inklusive, und natürlich das letzte Wort: »Ich hab ja mein Hirn nicht vergessen. Eine Speisekarte, die sich so oft ändert, wie die Erdumdrehung ihre Richtung, kann ich längst auswendig. Und wenn wir schon dabei sind, Zawodnik, die ›Peperoni‹ können S’ ruhig auf ›Pfefferoni‹ ausbessern, wir sind hier ja schließlich bei uns daheim!«

Wo immer auch dieses »bei uns« sein soll. Bei dir oder mir oder ihr oder ihm oder euch? Der Metzger weiß es nicht.

Und Amen!, denkt er sich.

Gott hat sich, so muss Miguel Maria Hofer wohl der festen Überzeugung sein, auf diese Erde herniederlassen, und zwar als Miguel Maria Hofer höchstpersönlich. Das Wort ist also Fleisch geworden. Wahrlich sogar. Und jetzt steckt ihm ein Lacher im Hals, dem Metzger, denn der Vergleich könnte zutreffender nicht sein.

Miguel Maria Hofer nämlich ist Germanist. Ein Fachmann seiner Zunft, nicht einer, der alte Meister obduziert, sondern die Gegenwart filetiert. Das Jüngste Gericht. Kurz: Literaturkritiker.

Kein Wendehals, kein Grashalm, sondern ein Stahlbetonpfeiler. Einer, der felsenfest, wie die in Stein gemeißelten Gebote, seine Meinung offenbart und keine andere gelten lässt. Da braucht es natürlich nicht lange, sich wohltuend von den Arschkriechern dieser Welt zu unterscheiden. Und weil dem unberechenbaren Menschen von vornherein mehr Ehrerbietung entgegengebracht wird als dem berechenbaren, wurde die wandelnde Sprengladung Hofer zu dem, der er heute ist. Was Pisa für die Schule, Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s für den Staat, ist Hofer in gewisser Weise für die Literatur.

Und hätte sich Hofer bei seinem Erstbesuch in der Restauratoren-Werkstatt nicht gleich selbst vorgestellt, der Metzger wüsste bis heute nichts von seinem Glück.

»Interessant! Haben Sie die alten Schinken hier in Ihren Biedermeier-Regalen wirklich alle gelesen, oder handelt es sich nur um Dekoration?«, lautete die Frage.

»Erwischt! Was Literatur betrifft, bin ich leider ähnlich bewandert wie die Eiger-Nordwand. Und Sie?«

»Ich!« Und es handelte sich um ein höchst erstauntes »Ich!«, eines, als müsste ein Eskimo die Frage beantworten, ob er schon einmal den Schnee gesehen hätte, oder ein Tuareg den Sand.

»Dann meiden Sie also auch Ausflüge in Richtung Tageszeitungen, Radio oder Fernsehen?«

»Weil?«

»Weil Sie mir dann die Frage, ob ich lese, nicht stellen würden!«

Und dann hat er sich vorgestellt, der werte Herr Hofer, hat inmitten des Gewölbekellers zu erzählen begonnen, mit tragender, sonorer Stimme, als stünde er auf den Brettern eines Staatstheaters, taufrisch den Iffland-Ring an einem seiner Finger.

Ein Monolog. Anfangs begeistert. Über das Lesen fiktionaler Stoffe. Freiheit, die sich auf Schenkel, Tischplatten, Nachtkästchen, Badetücher, Ohrensessel, Sitzgarnituren legen, in Koffer, Taschen, Mäntel stecken, auf Einkaufs- und Wunschlisten schreiben lässt: »Und diese Freiheit bedeutet Verantwortung.«

Dann hob sich Hofers Stimme, färbte sich sein Haupt, schwollen ihm die Adern des Zornes, und Willibald Adrian Metzger war nicht nur heilfroh, in einer anderen Branche tätig zu sein, sondern wusste auf Anhieb: Den Alkoholiker Hofer zum Feinde haben, das geht wohl nicht nur Hofer selbst mächtig an die Leber.

 

»Ihr Leberkäs!«, übergibt Zawodnik nun die Folie und erhält ein: »Bitte schreiben Sie’s auf, ich hab heut kein Bargeld dabei!«

»Sie sind doch sonst im Austeilen so großzügig!«, kann sich Zawodnik nicht verkneifen, und Miguel Maria Hofer beweist seine Schlagfertigkeit: »Dafür hab ich im Einstecken noch Lernpotenzial! Also, Zawodnik, geben S’ mir ein Bier dazu!«

Und dieses Lernpotenzial sollte er nun umfassend ausschöpfen können.

»Wiedersehen!«, ringt er sich noch ab, mitsamt einem professorenhaften »Und Sie wissen, was zu tun ist, Zawodnik?«.

Ein devotes Nicken auf der Gegenseite, dazu ein: »›Curry‹ und ›Pfefferoni‹. Ich nehm es mir zu Herzen. Welch Ritterschlag, mit meiner Speisekarte nun den Reihen der von Ihnen besprochenen Texte anzugehören!«

Und ganz wunderbar ist es für den Metzger nun zu beobachten, wie des Hofers Stolz noch ein Stück über sich hinauswächst: »Da haben Sie recht, Zawodnik! Und sei es der schlimmste Verriss!«

Und genau der trifft nun auch Hofer höchstpersönlich.

Doppelt sogar.

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7

Sein Abendmahl in Händen, zündet sich Hofer gierig, nervös fast, eine Zigarette an, blickt auf die Uhr, will die Straße überqueren, schulgemäß, bewegt also während des Gehens den auf langem Halse ruhenden schmalen Schädel, zuerst schau links, dann schau rechts. Und dieses »rechts« scheint es ihm angetan zu haben, denn erneut reißt es seinen Kopf nun in dieselbe Richtung. Was ansonsten als Bemühen plumper Schauspielkunst eine Art Erstaunen, ein »Huch, was seh ich denn dort!« zum Ausdruck bringen soll, ist bei Hofer offenbar ernst. Unverblümt sein zweiter Blick einer wunderschönen, herrlich anzusehenden Frau entgegen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht sie im Rampenlicht einer Straßenlaterne. Dezent kniefreies Röckchen, keine Strümpfe, hohe Schuhe, enge, weit aufgeknöpfte Bluse, und darunter kein junges Pupperl, sondern eine reife Dame Mitte vierzig, wie ein französischer Filmstar, Kurzhaarschnitt, rostbraun die Farbe, dazu ein kräftig dunkelroter Lippenstift, freier, graziler Nacken, aufrechte Haltung, zehn Jahre Ballettschule mindestens. Fast erwartungsvoll nickt sie Miguel Maria Hofer zu, ein Gruß offenbar, und blickt dabei auf einen Zettel.

Wallendes Männerherz, was willst du mehr.

Randstein jedenfalls keinen. Da stoßen dann vor lauter lüsternem Blick die langen, dünnen Kritikerbeine koordinativ an ihre Grenzen. Hofer strauchelt, vor aller Augen, lässt somit einen Funken Menschlichkeit durchblitzen, greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Rücken, ein Verriss also, heftig wohl, doch er hält sich aufrecht. Um einen Hofer zu Fall zu bringen, braucht es schon deutlich mehr. Und dieses Mehr lässt nicht lange auf sich warten.

»Passen S’ auf!«, brüllt Erich Zawodnik.

 

Ein Moped nähert sich mit hysterisch brüllender Jugend, sprich ein Möchtegern-Paris-Dakar-Teilnehmer auf einer in Richtung Enduro auffrisierten 50-ccm-Lärmbelästigung, dem zuvor aber noch die viel schwerere Rallye weg von Mami und Papi hinein ins eigene Leben bevorsteht. Worauf sich Hofer irritiert dieser akustischen Luftverpestung zuwendet. Und weil so ein Mensch natürlich kein Hammerhai ist, es ihm folglich an Rundblick mangelt, sieht Hofer somit den wie aus dem Nichts gegen die Einbahn herannahenden Kleintransporter nicht, der nun auf seine Rückseite zusteuert. Die Frischfleischbelieferung der Stadt. Ein Kleintransporter, rot lackiert, mit gelbem W auf der Seitenwand, und ohne Getöse. Der Nachschlag für die Woplatek-Stände also, und er kommt seit neuestem auf leisen Sohlen, folglich medial hochgejubelt, weil zeitgemäß, weil umweltbewusst, weil eben Elektro-Laster. Ist natürlich ein bisserl wie der Smoking darüber und der Sprenggürtel darunter, einen der Emissions-Kaiser der Menschheit, nämlich den täglichen Fleischfresserwahnsinn, abgasfrei von A nach B transportieren zu wollen. Die reinste Augenauswischerei. Nur, was tut man nicht alles zwecks Aufmerksamkeits-Erregung.

Wobei, von Aufmerksamkeit kann nun wirklich nicht die Rede sein. Gibt ja dank der Geräuschentwicklung eines Elektrofahrzeuges wirklich keinen hörbaren Grund, sich umzudrehen. Gesund für die Umwelt, definitiv aber ungesund für Hofer.