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Auf dem Dorf kommen die Leichen wenigstens an die frische Luft! Glaubenthal: Umgeben von ausgedehnten Wäldern liegt es in einer sanften, von wildromantischen Schluchten durchzogenen Hügellandschaft. Doch der schöne Schein trügt – dieses Dorf hat es in sich! Das bekommt auch Hannelore Huber auf der Beerdigung ihres Mannes zu spüren. Groß war die Vorfreude auf ein beschauliches Leben in Harmonie: endlich Witwe. Nun aber muss sie auf ihre alten Tage auch noch Ermittlerin werden. Denn im Sarg ruht, wie sich zeigt, nicht ihr Ehegatte, sondern eine falsche Leiche ... Thomas Raab erzählt mit großartigem schwarzem Humor, wie sich die grantige Huberin auf die Suche nach dem verstorbenen Ehegatten begibt und zu ermitteln beginnt. Unterstützung erhält sie dabei ungebeten von einer fremden rotzfrechen Göre, die zumindest einen vielversprechenden Nachnamen trägt: Glück.
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Seitenzahl: 384
Thomas Raab
Frau Huber ermittelt Der erste Fall
Roman
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Thomas Raab
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Stückwerk
1 Jetzt spielen sie wieder
1 Ein Tag, so wunderschön wie heute
2 Und sie bewegt sich doch
3 Immer so
4 Der alte Holzinger gibt nach
5 Heilige Marianne, bitte für uns
2 Die Dreifaltigkeit des Brucknerwirts
6 Im Namen des Vaters …
7 … und des Sohnes …
8 … und des Heiligen Geistes …
9 … Amen
3 Witwen, Wölfe, Waffenmuster
10 Wo wir uns finden
11 Freiwild
12 Ich glaub, er mag dich
13 Jürgen und sein Gold
14 Nicht getroffen
15 Earl Grey und weiche Eier
16 Liebstöckel und Gerste
17 ABS und LAS
18 Nichts verleiht Flügel
4 Von überall jemand ist keiner zu wenig
19 Der Flaschengeist
20 Weiße Pferde
21 Immer noch
22 Benedikt und sein großer Fang
23 Unterwegs
24 Moor im Hemd
25 … und er lacht trotzdem
26 Moreen im Kleid
27 Plusquamperfekt
28 Plötzlich irgendwo auf sicher 1748 Meter
29 Das große Feuerwerk
5 Trautes Heim …
30 Kurti und sein Schutzengel
31 Nino
32 Rührung
33 Die 0,8 Mikrosiemens des Waldhonigs
34 Unterberger ohne Sattler
35 In der Ferne
36 Liebe eben
37 Vogelbeeren auf Sankt Helena
38 Echte Wärthe
6 … Glück allein
39 Sag die Wahrheit
40 Rupert und der Schweiß
41 Ja natürlich
42 Tschilp und Piep
43 Forever Young
44 Alles, was bleibt
45 Freunde
46 Und sie bewegt sich doch
7 Hannelore, hilf
47 Alles dreht sich
48 Maximilian und das Schwarze Meer
49 Gefallener Engel
50 Hanni, Dähle und der Schmerz
51 Antonia in China
52 Die Früchte der Akademie
53 Marianne und der Duft des Neuen
54 Die Weisheit des Alters
8 Und über Glaubenthal geht die Sonne auf
55 Du bist du
56 Ein Tag, so wunderschön wie heute
57 Tanz der Glühwürmchen
58 Hinter dem Hozilont geht’s weiter
Inhaltsverzeichnis
Gefüllte Meerschweinchen in Peru.
Angebrütete Hühnereier auf den Philippinen.
Stierhoden in Spanien. Alles Delikatessen.
Und möglicherweise könnte in einem unerforschten Winkel Papua-Neuguineas sogar dieser rechte Unterschenkel samt rotem Kniestrumpf und Haferlschuh als Leckerbissen durchgehen. Hier allerdings, unweit des Glaubenthaler Naturlehrpfades, hat nur einer seine Freude: »Elender Teufel!«
Laut die Stimme, grob. Dazu das grelle Leuchten einer Taschenlampe. Hektisch durchschneidet es die Dunkelheit. »Gleich fährst du zur Hölle.«
Sinnlos natürlich. Klingt ja auch wirklich nicht besonders einladend, abgesehen davon hat dieser elende Teufel das Hören betreffend generell so seine Probleme. Zugewachsen die Ohren, verfilzt die Haare, und der Jüngste ist er auch nicht mehr. Entsprechend versunken, zärtlich fast, rückt er seinem Fundstück, beginnend bei der großen Zehe, nun zu Leibe, denn gut abgehangen kaut sich anders.
»Fuß!«, kommen die Stimmen immer näher, als wüsste man von seinem Fundstück. Also hoch, einen Teil dieses zähen Happens in sein teils zahnloses Maul klemmen, die Witterung aufnehmen, das Leder, die Fäulnis, den Tabak, und davon. Humpelnd wie eh und je, mit verknöcherter Hüfte, blindem rechten Auge, vernarbtem Leib, aber glücklich.
Endlich frei, der Kette entkommen. Und weder der durch den Wald hallende Schuss noch der schneidende Schmerz können ihn aufhalten.
Inhaltsverzeichnis
So vergnügt wie an diesem Morgen ist die alte Huber schon lange nicht mehr aufgestanden. Ausnahmsweise einen Schuss Eierlikör hat sie sich zur Feier des Tages in den Löskaffee gekippt, das Küchenfenster geöffnet, tief eingeatmet und zufrieden über das Dorf gesehen.
Von der aufgehenden Sonne in frische Farbe getunkt, lag es gleich einem Juwel zu ihren Füßen, und nicht einmal die samt Elektrorollstuhl vor dem Gartenzaun stehende Antonia Bruckner und deren monotoner Zuruf »Du Mörderin. Du Mörderin!« konnten ihr die gute Laune verderben. Einfach das Transistorradio hat sie aktiviert.
»Das Schönste im Leben ist die Freiheit,
denn dann sagen wir: Hurra«
fand da irgendeine Göre genau die richtigen Töne, dazu die sanfte Stimme Roy Blacks. Passender hätte dieser Tag wohl kaum beginnen können. Schwarz eben, wie auch die alte Huber selbst. Ihre Strümpfe, die Schuhe, das Kleid. Ein herrlich vielversprechendes Schwarz, lebensbejahend wie der einsetzende Refrain:
»Schön ist es, auf der Welt zu sein,
wenn die Sonne scheint für Groß und Klein.
Du kannst atmen, du kannst gehen,
dich an allem freu’n und alles sehn.«
Gut, mit der Freude und dem Gehen war das für Hannelore Huber bisher nicht ganz so einfach, trotzdem gab es in ihren Augen zumindest landschaftlich betrachtet keinen besseren Ort, um jemals schöner auf der Welt zu sein als genau hier. In Glaubenthal.
Umgeben von ausgedehnten Wäldern liegt diese Streusiedlung inmitten einer sanften, von wildromantischen Schluchten durchzogenen Hügellandschaft. Allein stehende Häuser und Bauernhöfe, die sich wie die Glieder einer Perlenkette den einen Hang hinunter, an der alten Sommerlinde samt Kriegerdenkmal vorbei und auf der Gegenseite wieder hinauf Richtung Pfarrkirche schlängeln. Für die alte Huber das Wahrzeichen dieser Gegend. Nicht aus katholischen, sondern botanischen Gründen, weil Zwiebelturm. So eine Zwiebel nämlich ist das reinste Wunderding. Antibakteriell, entgiftend, schleimlösend, schmerzlindernd, entzündungshemmend. Wer allerdings ihren Geruch und die Tränen nicht erträgt, dem bleibt der ganze Zauber verborgen.
Und ähnlich verhält es sich mit Glaubenthal.
Folglich haben zwar die Bäume dieser Region noch kaum ein Waldsterben gesehen, den Dörfern aber gehen schön langsam die Einwohner aus. So auch heute. Hannelore stört das natürlich nicht, denn wie gesagt: Wer die Zwiebel nicht schätzt, soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Ein paar Minuten lang ist sie noch auf ihrer Eckbank sitzen geblieben, das tägliche Kreuzworträtsel vor Augen, den Sparkassen-Kugelschreiber in Händen. Leider vergeblich, elende vier/senkrecht: ›Nicht leicht, aber erdet selbst den Abgehobenen‹.
Dann wurde es Zeit aufzubrechen, schnell noch die frischen Erdbeeren aus den Blumenkisten zu ernten und schließlich den Weg hangabwärts in den Mehrzwecksaal der ehemaligen Volksschule, sprich die Aufbahrungshalle, anzutreten. Das hat sich eben so ergeben. Dort der Großbrand, hier die Schulschließung, und mehr Beerdigungen als Geburten gibt es ja ohnehin, also passt das ganz gut.
Beschwingt dabei ihr Schritt, der Gehstock nur Attrappe, Placebo, Werkzeug, und ja, kurz kam der alten Huber unterwegs sogar ein Lächeln aus. Und das will was heißen bei Mundwinkeln, die sonst kaum über die Waagrechte hinausragen. War ja auch kein lustiges Leben bisher. Genau dieser betrübliche Zustand sollte sich nun grundlegend ändern. So zumindest ihre Hoffnung.
»Schön ist es, auf der Welt zu sein,
sagt die Biene zu dem Stachelschwein.
Du und ich wir stimmen ein,
schön ist es, auf der Welt zu sein.«
Strahlend blau der Himmel. Alles duftet, weil Spätfrühling, alles in Schale geworfen, protzt vor Farbe. Bis auf die nach Mottenkugeln und mehrfach getrocknetem Schweiß riechenden schwarzen Flecken natürlich. Sind ja schließlich jede Menge Glaubenthaler in Trauer-Adjustierung auf den Beinen, verbreiten feierlich den Dunst des Lebens. Die Säure, den Moder, das Herbe.
Der Anzug des ehemaligen Volksschuldirektors Friedrich Holzinger zum Beispiel könnte komplett ohne Holzinger drinnen auf so ein Begräbnis gehen, und jeder hier wüsste auf Anhieb: »Ah, der alte Holzinger!« Höchstwahrscheinlich ließe sich der vergrabene Holzinger selbst dann noch finden, wenn das gesamte Friedhofsareal planiert wäre und ein Einkaufszentrum draufstünde. Momentan aber bewegt er sich noch auf eigenen Beinen, schleppend, wie die übrigen Glaubenthaler auch. Vorne die Blasmusik, dahinter das Haflingergespann mit Eichentruhe, schließlich der ganze Tross Lebender. Und bei einer derartigen Affenhitze büßt selbst der größte Atheist seine Sünden ab, denn steil ist der Weg von der Aufbahrungshalle hinauf Richtung Pfarrkirche samt umliegendem Friedhof. Auch genannt Abendland. Westen eben, wie die Sonne, Untergang, Finsternis, Erde zu Erde, Staub zu Staub.
Es folgen der Gottesdienst, die sinnentleerten Worthülsen des Dorfpfarrers Ulrich Feiler, die pfundschwere Müdigkeit, das letzte Geleit hinaus in die pralle Mittagshitze, der Beisetzungsakt.
Eine schier endlose Prozedur also, die an diesem sonnigen Tag nun endlich ihrem Ende entgegengeht. Nur noch versenkt werden muss er, der Sarg, bevor dann zügig der Retourweg in Angriff genommen und endlich das wahre Ziel dieses ganzen Aufmarsches erreicht werden kann: Die Dreifaltigkeit des Brucknerwirts, sprich Leberknödelsuppe, Schweinsbraten, Schwarzwälder Kirschtorte. Amen.
Das hat sie ja noch nie verstanden, die alte Huber, warum bei Hochzeiten zur Feier des Tages mehrstöckige Torten angeschleppt werden, so monströs, Jahrzehnte später liegen da noch trümmerweise ganze Geschosse in den Tiefkühltruhen herum, bei Scheidungen aber gibt es nicht einmal Blechkuchen. Völlig absurd, denn ginge es allein nach den Gesichtern, sind ja die unglücklich Verheirateten im Vergleich zu den glücklich Getrennten deutlich in der Überzahl. Findet dann aber so wie heute eine trostlose Ehe nicht dank Scheidungsrichter, sondern beispielsweise vermittels Hirnschlag oder Verkehrsunfall ihr lang ersehntes Ende, rückt gleich das halbe Dorf aus, Blasmusik und Ausspeisung inklusive. All das im Schneckentempo, die Schultern hängend, die Mundwinkel sowieso, weil groß in Jubel ausbrechen lässt sich ja Anbetracht einer so frischen Leiche nicht. Und wirklich schade ist das vor allem für die alte Huber selbst, denn die heute zur Versenkung bestimmte Eichentruhe beherbergt eine längst fällige Fracht: Walter.
Ihren Gemahl.
Für Hannelore von Anfang an ein grober Rechtschreibfehler. Seit ihrer Vermählung schon steht hier der Buchstabe H an völlig falscher Stelle. »Geh mal!«, muss es heißen. Befehlsform.
Nur leider: Walter Huber wollte sich zeitlebens nie etwas sagen lassen, schon gar nicht von einer oder, noch schlimmer, seiner Frau – und blieb. Hartnäckig. Dreiundfünfzig Ehejahre, um genau zu sein.
»Na, dann gibste ihm eben den Laufpass!«, so die schwachsinnige Empfehlung der hiesigen Gemischtwarenhändlerin Heike Schäfer, die ja in Wahrheit ebenso hiesig ist wie im Winter ihre Erdbeeren, im Sommer ihre Ananas und ganzjährig ihr Rat.
In so einer kleinen ländlichen Gemeinde wie Glaubenthal käme es nämlich als Frau und zugleich Angehörige der Nachkriegsgeneration einem Hochverrat gleich, genau jenen Mann zu verlassen, der dem hilfsbedürftigen Weibchen einst in den harten Zeiten des Wiederaufbaus ein Dach über dem Kopf, einen Herd und selbstverständlich auch jede Menge Selbsterfüllung geschenkt hatte. Hausarbeit also. Oh Herz, was wolltest und willst du gefälligst mehr.
Worttreue und folglich Dankbarkeit sind somit oberstes Gebot, bis dass der Tod seines Amtes als Scheidungsrichter waltet.
Eine elend lange Warterei, die natürlich gewaltig ins Auge gehen kann. Braucht einem ja beispielsweise nur das eigene Ableben dazwischenzukommen.
Insofern wähnt sich die alte Huber, nun endlich vor dem offenen Grab stehend, als wahres Glückskind, sogar zu Gott findet sie zurück, und sollte sich gewaltig täuschen.
Drei Tage ist es her. Da nahm er mittels eines Telefonanrufes zu ihr Kontakt auf. Gott.
Sie mochte ihn noch nie, diesen eitlen Pfau mit seinem stets akribisch, schmierig nach hinten gekämmten Haar, langen, geschmeidigen Fingern, seiner drahtigen Figur. Viel zu groß, viel zu braun gebrannt, viel zu geschniegelt für seinen Beruf, denn wenn es nach der alten Huber ginge, sollte sich seine Heiligkeit ja zwischen den Sprechstunden nicht selbstgefällig die Frisur samt Kragen richten, sondern in erster Linie gründlich auf seine Patienten schauen. Kurt Stadlmüller also war am Apparat.
»Hallo, Hanni!«
Schweigen.
»Ich bin’s, dein Bürgermeister!«
Wieder Schweigen.
»Hannelore! Bist du dran!«
»Rufst du mich grad an oder auf?«
Kurt Stadlmüller ist der in Glaubenthal praktizierende Allgemeinmediziner, muss man wissen. Dorfarzt und Bürgermeister in Personalunion, kurz genannt: Bürgerdoktor. Ein Umstand, der informationstechnisch günstiger kaum sein kann. Sprechstunden, Hausbesuche, Leichenschau. Da lernt man seine Pappenheimer nämlich gründlich kennen. Und weil es der Herrgott in Weiß mit seiner Schweigepflicht ähnlich genau nimmt wie der hiesige Gottesdiener in Schwarz, sprich Pfarrer Ulrich Feiler, mit dem Beichtgeheimnis, hat ihm die ohnedies so wortkarge Hannelore nichts mehr zu sagen.
»Ganz schön schlecht schaust du aus!«, musste sie vergangenen Herbst notgedrungen in seinem Wartezimmer Platz nehmen, zwischen der Schleimbeutelentzündung des Postlers Emil Brunner und dem Nesselausschlag der Pfarrersköchin Luise Kappelberger.
»Dass du schlecht ausschaust, hab ich g’sagt!«, so ebendiese erneut, mit gewohnt feindseligem Unterton. Worauf sich die alte Huber zu einem heftigen Hustenanfall hat hinreißen lassen und entsprechend schnell an die Reihe kam. »Darfst vor, dann bist schneller wieder weg!«
Seit Wochen schon ausgehöhlt war ihr Zustand, energielos. Der Kopf schwer, Appetit und Schlaf zu finden ebenso, dazu eine Dauererkältung, Halsschmerzen, jedes Hausmittel sinnlos, sogar ihr Johanniskraut.
»Das wird wie beim Eselböck Alfred und der Schäfer Heike etwas Bakterielles sein«, so Doktor Stadlmüller. »Ich verschreib dir ein Antibiotikum. Außerdem tippe ich zusätzlich auf ein seelisches Tief. Kummer. Hast du schon mit Walter gesprochen?«
Hannelore verstand die Frage nicht. Als wäre für den großen Kummer dieser Ehe extra noch ein Gespräch nötig gewesen.
»Mit Walter? Worüber? Ob er zur Abwechslung zu Hause einen Finger rührt, anstatt mit dir beim Brucknerwirt oder weiß der Teufel wo herumzuhocken?« Beste Freunde eben, die beiden.
Und offenbar verstand auch Kurt Stadlmüller diese Antwort nicht, griff nur in seinen Medikamentenschrank.
»Ich geb dir versuchsweise etwas mit.«
»Spinnst du jetzt komplett! Hanf-Öl?«
»Kein Mensch wird dich verhaften, Hanni. Ist legal, frei von Suchtstoffen, lässt deine innere Unruhe verschwinden, fördert den Schlaf und wirkt als natürlicher Stimmungsaufheller besser als dein Johanniskraut. Kannst du beruhigt nehmen, dann wird das alles ein bisschen erträglicher. Auch dein Mann.« Gemeint hat er allerdings: ›Auch für deinen Mann!‹, diese Ausgeburt der Niedertracht.
Denn keine paar Tage später kam Walter die zweite Nacht hintereinander schon nicht nach Hause. Also ist sie anstandshalber zum Brucknerwirt hinuntermarschiert, die alte Huber. Ein Mindestmaß an Sorge füreinander gehört sich eben sogar in der schlechtesten Ehe, außerdem wäre es nicht das erste Mal gewesen, wenn der Stammtisch auch als Sterbebett hätte herhalten müssen. Entsprechend groß ihre Anspannung bei Betreten der Gaststube.
Völlig umsonst, denn dort saß er dann auf seiner Eckbank. Walter. Ein Frühstücksbier vor, Kurt Stadlmüller neben und offenbar jede Menge Groll in sich. Schwere Gewitterwolken hingen da noch in der Luft, so viel erkannte die alte Huber schon allein an den verbissen in ihre Richtung starrenden Gesichtern, musste also gerade ziemlich heftig gekracht haben zwischen den beiden.
»Und?«, brach sie das Schweigen: »Bist du jetzt endgültig hierher übersiedelt?« Nur da kam kein Wort zurück, wurde durch sie hindurchgesehen, als stünde nicht einmal ein Niemand hier, sondern nur das Nichts. So etwas trifft.
Sprachlos ist sie wieder hinaus, die in den Rahmen gedonnerte Tür ihr einziger Kommentar, hinterdrein zuerst Walters Gebrüll: »Ich hab geglaubt, du nimmst jetzt Haschischtropfen zur Beruhigung!«, dann die Stimme des Bürgerdoktors: »Ein elender Sturkopf bist du, Walter!« und schließlich die Brucknerwirtin Elfie: »Was nimmt die Hanni?«
Und weil Elfie Bruckner, die Pfarrersköchin Luise Kappelberger und die Gemischtwarenhändlerin Heike Schäfer hier der aktuelle Dienst sind, die örtlichen Tagesthemen, Zeit im Bild, verbreitete sich die freudige Nachricht ruckzuck in ganz Glaubenthal: »Die alte Huber schluckt jetzt Drogen gegen ihren Grant. Hoffentlich hilft’s!« Kein Wort mehr hat sie seither mit diesem Kurpfuscher Stadlmüller gewechselt.
Bis eben zu diesem Anruf vor drei Tagen.
»Es ist etwas passiert, Hannelore!«
»Wird das jetzt ein Quiz? Also red. Fällt dir ja sonst nicht so schwer!«
»Etwas wirklich Schreckliches!« Überraschend kleinlaut sein Tonfall. Dazu ein Schlucken, das nervöse Schmatzen eines trockenen Rauchermundes, und endlich die Fortsetzung.
»Ich bin gerade bei der Marianne, wenn du weißt, was ich mein.«
Natürlich ein Hohn, diese Feststellung. Möglicherweise wüsste der eine oder andere Glaubenthaler bei Ban Ki-moon nicht weiter, Anne-Sophie Mutter, Lang Lang oder Kurz sogar. Marianne aber kennt hier jeder, dieses zwischen Sankt Ursula und Glaubenthal gelegene Provinzpuff. Mutterseelenallein wartet es auf weiter Flur, und wenn die Nacht einbricht, schimmert der umliegende Raps nicht mehr goldgelb, sondern kirschrot. Sogar die sanfte grüne Hügelkette dahinter leuchtet noch in einem herrlichen Rosa. Bunte Welt.
»Stell dir vor, Hanni. Die haben mich angerufen, weil, weil … Der Walter. Er liegt hier! Bist du noch in der Leitung?«
»Gleich nicht mehr!«
»Verstehst du denn nicht?«, kam Doktor Stadlmüller endlich auf das Wesentliche zu sprechen. »Dein Mann ist –«
Tot also.
Nicht durch Verkehrsunfall oder Gehirnschlag, sondern laut ärztlicher Diagnose beides. Die zentrale Gefäßerweiterung hier, die finale Gefäßverengung dort. Ekstase und Ex. Höhepunkt und Punkt. Blöde Geschichte.
Ein Schock natürlich, so eine Neuigkeit. Und demütigend obendrein. Ohnedies schon eine Ehe führen, jede Schmeißfliege erfährt zu Hause deutlich mehr Aufmerksamkeit, und dann stirbt der werte Gemahl als Draufgabe auch noch in den Armen einer Prostituierten. Grund genug, den Göttergatten posthum gehörig zum Teufel zu schicken. Hannelore aber kam es trotzdem so vor, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun, als liefe gerade das Transistorradio, und ein Nachrichtensprecher würde von dem Schicksal eines ihr unbekannten Pianisten berichten, seinem Spaziergang, dem Gehsteig, der Häuserzeile, dem herabstürzenden Stutzflügel. Unpersönlich zwar, und doch irgendwie: »Ach herrje! Wenigstens ein schneller Tod!« Beim besten Willen wusste sie also nicht, was sagen, wie reagieren.
Anders Bürgerdoktor Stadlmüller: »Keine Sorge, Hanni, ich regle das schon. Diskretion wird hier großgeschrieben, und die blöde Nachred braucht keiner. Wir erzählen einfach, Walter wäre bei einem Waldspaziergang verstorben und ich hätte ihn beim Joggen gefunden. Das glaubt jeder. Du kannst dich auf mich verlassen!«
Beinah ein Lacher wäre ihr ausgekommen. Diskretion? Sich verlassen können? Auf Kurt Stadlmüller? Ein Wunder wäre das. Und wenn schon Wunder, dann wohl eher Lourdes, Fátima, Bern, aber garantiert nicht Glaubenthal. In Windeseile würde hier der Spott umgehen: »Habt ihr schon gehört. Der Huber Walter hat sich zu Tode spaziert, waagrecht! Schöner kann Mann nicht sterben.«
Und je länger die alte Huber den Bürgermeister da reden hörte, desto klarer wurde ihr: Alles nicht wichtig. Das Bordell, der Betrug, die Kränkung. Ob Kurt Stadlmüller schweigt oder spricht, die Glaubenthaler trauern oder lachen, selbst wenn von nun an möglicherweise jede Menge hoffnungsfrohe Ehefrauen ihre Männer mit ein paar Marianne-Gutscheinen überraschen. Egal.
Das Glück hat schließlich viele Gesichter, und nein, darunter müssen zwingenderweise nicht immer nur lebendige sein. Hoch lebe das Etablissement Marianne. Ein Ort allergrößter Befriedigung, zuerst für Walter, und von nun an auch für Hannelore selbst.
»Sag mir, wie sie heißt.«
»Wer?«
»Die Dame, bei der es passiert ist!«
»Warum willst du das wissen?« Die pure Angst lag da plötzlich in der Stimme des Bürgermeisters. Sein nervöses Schmatzen wie ein Maul voll bittrer Medizin. Herrlich, um nachzusetzen, Druck zu erzeugen: »Sag mir, wie sie heißt, oder ich bestell mir ein Taxi und komm!« Dann endlich: »Svetlana!«
Das musste sein. Aus Anstand dieser Frau gegenüber. Denn wenn schon ein Dankgebet, dann wissen, an wen!
Gelobt sei Svetlana, in Ewigkeit, Amen.
Und jetzt also steht sie hier, die alte Huber, nach drei intensiven Tagen der Begräbnisvorbereitung, der Rennereien, der fehlenden Zeit, um nachzudenken, zur Ruhe zu kommen, hört Pfarrer Feiler Abschied nehmen von: »… unserem Walter. Gott, der Vater, der Allmächtige hat ihn in seiner großen Güte inmitten des Wunders der Natur so friedlich, ja liebevoll zu sich geholt. Möge er …!«, und erstaunlicherweise fehlt es in den Köpfen der Glaubenthaler offenbar an schmutzigen Assoziationen, ist kein schäbiges Grinsen zu sehen und somit ein Wunder geschehen. Oh heiliger Stadlmüller, bitte für uns.
Und sie sieht noch viel mehr. Sieht den alten Bibliothekar Alfred Eselböck den Blick wie stets zu Boden richten. Sieht dann doch die Traurigkeit in manchen Gesichtern, das Grübeln, Erinnern, Vor- und Zurückblättern, wie viele Seiten hält es noch bereit, das Buch des eigenen Lebens. Sieht den hiesigen Totengräber Pavel nicht. Sieht auch die Pfarrersköchin Luise Kappelberger keine ihrer obligaten Tränen vergießen, weil Grippe und bettlägerig. Sieht dafür das leise Schluchzen einer ihr fremden, rund fünfzigjährigen Frau in Reihe eins, mit schwarzem biederen Kleid, schwarzem Hut, Rosenkranz in der Hand, fast könnte man meinen, sie wäre die Witwe. Sieht ein Stück dahinter einen riesenhaften, kahlköpfigen Muskelberg mittleren Alters, mit kantigem Gesicht, klaffender Narbe auf der rechten Wange, verspiegelter Sonnenbrille, engem schwarzem Anzug und einem Strauß roter Rosen in der Hand. Vielleicht einer von Walters ehemaligen Arbeitskollegen, Männer unter sich, was weiß man schon. Sieht hinüber zur Ruhestätte ihres Vaters, spürt seine beiden Hände die ihre umfassen, wie sich plötzlich alles dreht, Dorffest, erster Mai, unter ihr die Pflastersteine des Kirchenplatzes, der Walzer, rundum die tanzenden Erwachsenen, und mittendrin sie und ihr »Papa, Papa, stellen sie den Baum wirklich auf, nur weil ich heute Geburtstag hab!«
»Aber natürlich, mein Engel, ganz allein für dich!«
Heimat, Wärme, Liebe, das alles war ihr Vater für sie, und kurze Zeit später nur noch verblassende Erinnerung, Bewohner des Jenseits. Zumindest Letzteres gilt nun auch für Walter Huber.
Nur noch zwei Taue halten seinen Sarg über der offenen Grube, der Schwerkraft ausgeliefert. Am hinteren Seil der kräftige Birngruber Sepp, Sohn des Großbauern Sepp Birngruber und Enkel des Altbauern Sepp Birngruber. Ihm gegenüber der Biobauer Franz Schuster, nicht grad die besten Freunde. Vorne der alte Holzinger und Bürgermeister Kurt Stadlmüller höchstpersönlich als Ersatz für Bestatter Albin Kumpf, ein Saufkopf vor dem Herrn. Kaum eine Ecke hier in Glaubenthal gibt es, in der Albin nicht schon unauffindbar seinen Rausch ausgeschlafen hätte. Auch heute scheint ihm offenbar das eigene ausführliche Nickerchen wichtiger als die letzte Ruhe des Walter Huber.
Und so sehr sich die gute Hannelore dagegen sträubt, spürt sie nach diesem wunderbaren befreienden Morgen nun plötzlich doch eine Schwere in sich, als würde es gleich auch einen Teil ihrer selbst mit in die Tiefe ziehen.
Ist es die spürbare Erschöpfung? Viel geschlafen hat sie letzte Nacht ja nicht. Ist es das schwüle Wetter? Oder doch das Herz?
»Schwerkraft!«, flüstert sie nachdenklich. Wenn ein ganzes Leben abwärtsgeht, endgültig verschwindet; wenn ein Partner, der zwar jahrelang weggewünscht wurde, nun auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung auf bessere gemeinsame Zeiten mitnimmt.
›Schwerkraft!‹, wiederholt sie in Gedanken, um dann ein ›Elender Mistkerl!‹ nachzusetzen. Schickt ihr da also tatsächlich der werte Gemahl aus dem Jenseits noch eine letzte rührende Hinterfotzigkeit, ein Zeichen, ganz im Sinne von: ›Na schau, hast mich ja doch zu etwas gebraucht!‹.
Denn auch wenn sich die beiden schon seit Jahren nicht mehr viel zu sagen hatten, lag da stets dieses Kreuzworträtsel auf dem Küchentisch, diese unausgesprochene Übereinkunft. Tag für Tag. Nie wurde nebeneinander Platz genommen, es gemeinsam ausgefüllt, sondern ausschließlich in einsamen Momenten der Sparkasse-Kugelschreiber ergriffen, wie in einer Wahlkabine, und erst mit diesen unsichtbar vereinten Kräften aus den leeren Kästchen zuerst ein langsam wachsendes Geflecht verbundener Worte und schließlich ein fertiges Ganzes.
Nicht schlecht waren die Hubers da zu zweit, wirklich nicht schlecht. Allein aber: traurige Angelegenheit. Und jetzt also hilft er noch ein letztes Mal mit, dieser sture Bock, ringt der guten Hannelore einen Funken Trauer ab. Elende vier/senkrecht.
›Nicht leicht, aber erdet selbst den Abgehobenen‹.
Schwerkraft eben.
Ein Taschentuch presst sich die alte Huber zwecks Tarnung vor ihr Gesicht, ein Hüsteln aus sich heraus – nicht weinen, nur nicht weinen, es wäre nicht richtig –, den Kopf dabei leicht gesenkt, den Blick aber gehoben, über das behelfsmäßige Holzkreuz, die Trauergemeinde, das ganze Dorf hinweg, hinüber zu ihrem kleinen Bauernhof. Ja, ihr Hof von nun an.
Ihr Garten. Ihr Wald. Ihr Vieh.
Ihr Leben.
Flieg, Maikäfer, flieg.
Und für Walter Huber beginnt die Reise abwärts.
»Hörst du, Mama. Jetzt spielen sie wieder!«
»Willst du dich auf meine Knie stellen? Dann siehst du besser.«
»Das tut dir aber weh!«
»Du weißt doch, ich spür dort nichts.«
»Fast.«
»Stimmt. Fast nichts. Nimm ruhig mein Fernglas und schau durch, ich halt dich fest. Und? Siehst du etwas?«
»Alles, Mami!«
»Fein, mein Engel.«
»War das ein wichtiger Mensch, der Herr Huber?«
»Für uns schon. Und für andere offenbar auch. Den Mann dort auf dem Hügel oben zum Beispiel.«
»Der den Kopf so einzieht wie eine Schildkröte?«
»Ja, genau. Ich glaub fast, das ist ein bekannter Politiker und wird sicher eines Tages mindestens Minister.«
»Ein richtiger Mister? So wie unsere Mister und Missis Bücher. Ein Mister Vielfraß, oder Mister Kitzel, oder Fies, Tipptopp, Quatschkopf, Hüpf, oder …?«
»Alles auf einmal vielleicht!«
»Sind deshalb so viel Leute auf dem Friedhof? Viel, viel mehr als bei Oma?«
»Nein, nicht deshalb. Auf dem Land kommt eben das halbe Dorf zu so einem Begräbnis, das ist hier Tradition. Stell dir einmal vor, es wäre bei Oma auch die halbe Stadt gekommen, dann …«
»Was ist das, ein Tration?«
»Tradition ist, wenn ich etwas immer mache, weil das schon Oma immer so gemacht hat …«
»Keine Rosinen in den Apfelstrudel? Oder am Abend eine Geschichte vorlesen?«
»Ja, genau – oder zu Weihnachten immer aus Mitleid den hässlichsten Christbaum kaufen und ihn so lange schmücken, bis gar kein Baum mehr zu sehen ist.«
»Wie unser letzter mit fünf Spitzen!«
»Und zwei verwachsenen Stämmen!«
»So wie wir!«
»Ich liebe dich, weißt du das? Also – und wenn du das alles dann später auch immer genauso machst und irgendwann dann deine Kinder …«
»Ich will doch einmal keine Kinder!«
»Das hab ich in deinem Alter sicher auch gesagt und mir dann doch nichts sehnlicher gewünscht als dich. Also, wenn du das auch alles immer so machst und dir zum Beispiel eines Tages deine fünfjährige Tochter sagt, sie will keine Kinder, aber dann trotzdem so einen Engel bekommt, dann nennt man das Tradition.«
»Glaubst du, Mama, haben uns die Menschen dort auf dem Friedhof auch so lieb, wie uns die Oma lieb gehabt hat oder die Frau Yüksel und die Beate?«
»Wer soll dich bitte nicht lieb haben können. Wirst schon sehen, wenn du dann das Kuvert vom Wirt abholst, wie die sich alle freuen!«
»Aber dich sollen sie doch liebhaben, die Leute, Mama.«
»Das wird schon klappen.«
»Und wenn nicht? Wenn wir hier trotzdem ganz alleine bleiben? Kann dann die Frau Yüksel nachkommen und die Beate? Oder gehen wir wieder zurück?«
»Zurück nicht. Aber wir können ja sonst überall hingehen. Jetzt jedenfalls sind wir einmal hier. Und ich glaube, einen viel schöneren Ort finden wir so schnell nicht.«
»Genau. Und Haustier haben wir auch schon eines. Können wir ihn behalten, Mama?«
»Auf gar keinen Fall. Und auch wenn wir ihm seinen Schwanz verarztet haben, er sich sogar von dir streicheln und diesen kaputten Socken werfen lässt, will ich nicht, dass du mit ihm allein bist. Hast du verstanden?«
»Mama, Mama, schau! Ich glaub, da passiert was.«
»Wo willst du hin?«
»Ich soll doch das Kuvert holen gehen?«
»Später. Und jetzt komm zurück, aber pronto, pronto! Amelie!«
»Ich pass schon auf …«
So, wie das Leben mit einem gellenden Geschrei beginnt, endet es hier in Glaubenthal traditionsgemäß auch.
Laut. Unerträglich laut.
In den Augen der alten Huber ein finaler Reanimationsversuch, ein schrilles: »Lazarus, komm heraus!«, denn wer sich durch dieses elende Geschmetter der Blasmusik nicht aus seiner letzten Ruhe bringen lässt, der kann nur tot sein.
»Ab!«, gibt Friedrich Holzinger, ebenso traditionsgemäß, endlich das Kommando. In seinem mehrfach durchgeschwitzten Anzug steht er an der Grubenkante, ein paar Fliegen auf Schultern, Achseln, Rücken, lässt bedächtig den Sarg gen Grubenboden rutschen, und wenn es einen Nachteil an Brauchtum gibt, dann jenen, dass so mancher Brauchtumspfleger allein aus Altersgründen bald selbst Pfleger braucht. Ungewohnt bleiern scheint ihm das speckige Tau in seinen knorrigen Händen zu liegen. Die zentimeterlangen Augenbrauenbüsche senken sich angestrengt gen Nasenrücken, den Schweiß drückt es ihm aus den Poren, und die alte Huber wundert sich.
Ein ziemlich kleiner magerer Mann war ihr Walter, stets darauf bedacht, sein Gegenüber auf Augenhöhe herunterzubekommen, sprich ein paar Köpfe einzukürzen. Selbsterhöhung durch Fremderniedrigung. Ganze Familien, Länder oder gleich der komplette Globus mussten da schon den Schädel hinhalten, nur weil sich so ein einzelner Giftzwerg nicht richtig auswachsen durfte. Nie wird Hannelore vergessen, wie Walter unmittelbar vor der Trauung angekündigt hatte, ihr während der Zeremonie zwar den Ring anstecken, aber explizit das: »Sie dürfen die Braut jetzt küssen!« verweigern zu wollen. »Weil, soll ja weder eine Turnübung noch Volksbelustigung werden, ich auf Zehen, du mit Buckel!« Nein, Liebesheirat war das keine.
Friedrich Holzinger jedenfalls wirkt, als wäre in den Sarg noch jemand dazugelegt oder der Hohlraum ausgestopft worden. Mit irgendeinem Sondermüll vielleicht. Kaum noch halten kann er die Kiste. Ein Umstand, der sich bei Schräglage natürlich nicht verbessert.
»Gst! Kurt!«, wirft er zuerst dem Bürgermeister, dann der alten Huber einen besorgten Blick zu, da raufen sich auf seinem Anzug schon ein paar Fliegen mehr um die besten Plätze. Doch Kurt Stadlmüller reagiert nicht. Für Hannelore keine Überraschung. Denn wäre der amtierende Bürgermeister auf den ehemaligen Volksschuldirektor wenigstens halbwegs gut zu sprechen, würde er ihn ja zumindest »Vater« nennen. So aber kommt ihm bestenfalls nur ein ›Er‹: »… hat ja meine Mutter damals nicht geheiratet!« aus. »Und ›Er‹ hat sich nie für mich interessiert, warum also plötzlich jetzt? Nur weil ›Er‹ alt geworden ist?«
Das kommt eben auf den schlechtesten Dorffesten vor, wenn zu später Stunde keiner mehr weiß, wie viel eigentlich schon getrunken wurde, da finden dann kurzfristig sogar jene Körper zueinander, die sich ohne eine stattliche Ladung Alkohol niemals hätten riechen können. Und ohne eine derartige Biologie, so vermutet die alte Huber zumindest, wäre Glaubenthal wahrscheinlich längst ausgestorben.
»Kurt!«, legt Friedrich Holzinger nun an Lautstärke zu. »Gib Seil, der kippt uns sonst!« Der Bürgermeister aber wirkt wie gelähmt, starrt entsetzt in die Ferne, das Tau zwischen seinen langen Fingern fixiert, und flüstert: »Kurti!«
Worauf auch die beiden Herrn am hinteren Seil, Sepp Birngruber und Biobauer Franz Schuster, zuerst den Blick, schließlich vor Schreck ein wenig den Sarg heben. Denn jetzt sehen auch sie ihn. Diesen ramponierten und zerrupften Jungen. Dreckig seine Erscheinung, die Kleidung zerrissen, Schürfwunden an Armen und Beinen. Völlig außer Atem müht er sich den Kiesweg entlang, der steile Anstieg liegt ihm schwer in den Knochen, eine malträtierte rote Seifenkiste in der rechten, eine Hupe in der linken Hand. Hörbar. Trotz Blasmusik.
Und der alten Huber schwant Übles.
Kurti Stadlmüller ist im Anmarsch. Rein optisch das absolute Gegenteil seines groß gewachsenen, schlanken Herrn Papa. Klein, fett, lethargisch. Von Zucker gemästet, steht ihm die Vernachlässigung also ins Gesicht geschrieben. Hirntechnisch aber kannte die Natur kein Erbarmen.
Der große Kurt und der kleine Kurti. Armselig.
Da weiß die gute Hannelore nämlich auf Anhieb Bescheid, wenn der Vater dem eigenen Nachwuchs nicht nur seine Gene, sondern auch gleich noch denselben Vornamen verpasst. Ein ganz übler, widersinniger Brauch in ihren Augen. Humbug. Übergeht ja auch kein Bauer oder Gärtner mit Verstand bei seinen Kulturpflanzen die nötige Fruchtfolge, baut also beispielsweise nach der Erdapfelernte gleich wieder Erdäpfel an. Außer er will vorsätzlich dabei zusehen, wie Jahr um Jahr alles immer kränklicher wird, ertragsschwächer, kurz: nichts Besseres mehr nachkommt. Bruchlandung also vorprogrammiert. So wie auch an diesem für Hannelore launigen Morgen.
Wie gesagt, so vergnügt war sie schon lange nicht mehr aufgestanden. Und ja, möglicherweise muss rückwirkend die Mengenangabe des konsumierten Eierlikörs ein wenig nach oben korrigiert werden, nur spielt das in diesem Fall natürlich keine Rolle. Die Entscheidung, sich ihres Gehstockes zu bedienen, traf sie trotzdem absolut nüchtern, sprich rational. Kann ja keiner wissen, wie sehr sich der Stadlmüller junior weigert, aus seiner Seifenkiste zu springen.
»Bremsen!«, ruft ihm die alte Huber nämlich regelmäßig zu, und das seit Monaten.
»Bremsen? Das sind entweder Blutsauger oder irgendwas für Mädchen!«, kommt es als Antwort stets retour. Keine gute Idee. Denn wenn Routine einen treuen Gefährten hat, dann die Vorhersehbarkeit. Hannelore also weiß Bescheid, kennt den Ablauf haargenau. Immer wieder nämlich schiebt der Bursche seine rote Seifenkiste den Hügel hinauf, pausiert entsprechend oft dabei, stopft sich gleich zwei Stück seiner Wunderdroge ins Maul, linke Backe, rechte Backe, beste Freunde der Zahnarztinnung, Werthers Echte, lässt den goldenen Verpackungsirrsinn, Plastik und Alu, einfach zu Boden fallen, marschiert weiter und feuert seine abgelutschten Bonbons per Steinschleuder auf alles, was sich bewegt, Regenwürmer, Schmetterlinge, Rotkehlchen, sogar ein paar Schäfchenwolken hat er probiert, der Depp. Vor dem Waldrand bezieht er dann endlich sein imaginäres Starthäuschen, setzt den Helm auf, aktiviert die darauf montierte Kamera, und los geht der Spaß. Die Reifen graben sich in den Schotterweg, die Steinchen schleudert es wie Geschosse gen Himmel, die panisch davonlaufenden Hausgänse und Hühner verdammen einmal mehr die Evolution, denn einfach Abheben, Wegfliegen, Freisein, alles nur noch graue Erinnerung.
Kurti Stadlmüller hingegen lebt seinen Traum, durchquert das hubersche Anwesen, die Hühner legen aus lauter Angst schon keine Eier mehr, und peilt die Glaubenthaler Hauptstraße an. Unter sich sein selbst gebautes Geschoss, über sich der wolkenlose Himmel, in sich die Sonderbewilligung des Walter Huber, sprich das stets wortlose Nicken und Handheben. Heute früh allerdings vor sich: die alte Huber höchstpersönlich. Wie gesagt, die Vorhersehbarkeit.
»Aus der Bahn, aber schnell! Das wird gleich ein neuer Rekord!«, so sein Gebrüll, dazu das Betätigen der Hupe. Nur leider. Sonderbewilligung abgelaufen. Schluss mit der Raserei, ein für alle Mal. Den Hühnern endlich wieder ihr Revier, ihre Eier, ihren Frieden. Höchste Zeit also, dem Stock die Gelegenheit zu bieten, sich nicht nur als Geh-, sondern auch Bremshilfe zu bewähren. Umgedreht hat sie ihn, die alte Huber, mit dem Handstück das quer über den Feldweg führende Regengitter aus seiner Rinne gehoben, und den Dingen ihren Lauf gelassen. Entsprechend der Zuwachs an Höhe und Lautstärke in der so glockenklaren, kindlichen Stimme: »Gib das wieder rein, du, du …! Mein Papa hat recht, du bist ein böses Weib!«, sah Kurti Stadlmüller das Unausweichliche auf sich zukommen.
Wobei, ausgewichen ist er ja dann doch. Rennfahrer eben.
Das Lenkrad hat er verrissen, die Seifenkiste auf die frisch gemähte Wiese umgeleitet, und lustig ist das nicht, denn auf der Spitze eines Hügels reichen schon ein paar Meter Richtungsänderung, um dann unten ganz woanders rauszukommen, in anderen Dörfer, Tälern, Ländern sogar. Direttissima ging es mit Kurti Stadlmüller abwärts in Richtung Glaubenthaler Graben. Ein mit Himbeerstauden verwachsenes Prunkstück seiner Art und in dieser sanft hügeligen Gegend sozusagen die letzte Steigerungsstufe von Steilhang. Vielleicht wird ja eines Tages zusätzlich noch ein bisschen Berg aufgeschüttet und extra eine nach Olympia nie wieder nutzbare Olympia-Abfahrt gebaut.
Entsprechend die Geräuschentwicklung des kleinen Kurti. Und imposantere Bilder hat ihm seine Helmkamera wahrscheinlich noch nie zuvor geliefert.
»Halt!«, überschlägt sich nun seine Stimme: »Die alte Huber hat mir mit ihrem Gehstock! –«, und das war es dann auch schon mit der Brüllerei. Abrupt bricht er ab. Ebenso die Blasmusik.
Denn Friedrich Holzinger kommt ein Schrei der Verzweiflung aus. Und nicht nur das. Viel länger nämlich kann er den frei schwebenden Walter, oder was da sonst noch alles in der Kiste steckt, beim besten Willen nicht mehr halten.
Dann geht es abwärts.
Hände, die gefaltet werden, sich vor die Augen legen, an die Wangen greifen, Grabsteine klammern. Die fremde Dame in Reihe eins bekreuzigt sich wieder und wieder, ganz rot schon ihre Stirn.
Und für die gute Hannelore ist es mit der Freude vorbei.
Ungespitzt rammt es die Eichentruhe in den Boden, kopfvoran. Dumpf der Einschlag, dazu das Raunen der Glaubenthaler. Kurz verharrt der Sarg, senkrecht, wie ein Minutenzeiger auf der Zwölf, dann kippt er an die Grubenwand, bleibt in Schräglage hängen, und ein Albtraum wird Realität. In Zeitlupe fast gleitet der Deckel aus seinem Rahmen, mischt eine Alkoholfahne unter den Weihrauchnebel. Ungepflegte nackte Füße werden sichtbar, behaarte Beine, kräftige Oberschenkel, dazwischen eingeklemmt eine offene Whiskyflasche. Es folgt das Modell einer sehr lose sitzenden Feingerippten, erschreckend ausgeleiert der Eingriff, darüber der mächtige Bierbauch, darauf offene rote Rosen, in der rechten Hand ein Handy. Schließlich rutscht der Deckel zur Seite, legt ein vor Schrecken entstelltes Gesicht frei, und die sonst so standfeste alte Huber kommt gehörig ins Wanken. Auf ihren Gehstock muss sie sich stützen, mit beiden Händen.
Und gut ist das, denn diese fremde, witwenhafte Frau in Reihe eins verliert zuerst ihre Gesichtsfarbe, dann das Gleichgewicht. Als würde sie dem Schrecken ins Auge blicken, weicht sie zurück, stürzt zu Boden. Auch Pfarrer Feiler kann sich mit geisterhafter Blässe kaum noch auf den Beinen halten.
Kurt Stadlmüller hingegen schmeißt sich voll Diensteifer in die Grube. Wutentbrannt dabei sein Gebrüll. »Sag bist du des Wahnsinns! Hast du eine Ahnung, was deine elende Sauferei hier anrichtet!«
Kein Spaß natürlich für all jene, die in Anbetracht solch außergewöhnlicher Ereignisse zu weit entfernt stehen, da lässt es sich schlecht in die Tiefe blicken.
Folglich darf sich die alte Huber in Reihe eins bald über Gesellschaft freuen. Kann man den Glaubenthalern natürlich nicht übel nehmen, tut sich ja sonst nicht viel in dieser Gegend. Immer lauter dabei die Stimmen.
Von hinten nach vorne: »Und wer liegt da jetzt drinnen?«
Von vorne nach hinten. »Dreimal dürft ihr raten. Das letzte Mal hab ich ihn bei mir im Stall zwischen der Alma und Zitta gefunden!«
Von oben nach unten: »Du Depp, hättest dich fast von dir selber bestatten lassen!« Von unten nach oben aber nur Stille.
Und immer enger schiebt sich der Kreis.
Das Unglück vor ein paar Wochen drüben beim Hoberstein kommt der guten Hannelore in den Sinn. Da der Abgrund, dort die Herde Lorenz-Schafe, bis dato unerklärlich die Gründe des Absturzes. Folglich lässt sie der Traube Schaulustiger den Vortritt, zieht sich zwar zurück, hört aber trotzdem Bürgerdoktor Stadlmüller handfeste Behandlungsmethoden ergreifen, dem Klang nach zu urteilen Ohrfeigen: »Jetzt halt uns nicht zum Narren, Kumpf, und hör auf mit dem Blödsinn!«
Und von Bestatter Albin Kumpf zum Narren gehalten zu werden, steht in Glaubenthal auf der Tagesordnung. Er, die Frohnatur, der Schelm, der Kasper. Und das seit Kindesbeinen an.
Kam in Glaubenthal der Tod, schlichen auf andächtig leisen Sohlen zwar zuerst die Kumpf-Eltern in die Stube, gebückte, graue Gestalten mit stets trauriger Miene. Dahinter aber trat das Leben ein, frech, ungestüm, ohne Berührungsängste, hantierte mit den Verstorbenen, als wären sie Puppen, knüpfte den greisen Männern Zöpfe, kämmte den alten Mütterchen die Damenbärte, band wie üblich die herabhängenden Kinnladen hoch, bewegte sie dabei, sprach mit ihnen, erzählte Witze, und manch Glaubenthaler wollte ein letztes Lächeln in den auf ewig erstarrten Gesichtern entdeckt haben. Aus dem Kind Albin wurde nach Beerdigung seiner Eltern der Künstler Kumpf, gutmütig, liebevoll, gewitzt. Der Tod seine Leinwand, das Leben der Anstrich, die Leichen wie wiedererweckt. Wunderschöne, friedlich schlafende Gesichter.
Ein entsprechend der Auftragslage bald heruntergekommener Künstler. Vorbei die Zeiten, als dort das Ende kam, wo es mit der Geburt seinen Anfang nahm, die Arbeit, das Geld in der Region blieb. So also wurde der stets alleinstehende Albin Kumpf immer untätiger, versoffener, fetter, verlor aber seine gute Laune nicht. Sogar bloßgestellt zu werden, war ihm gleich: »Jaja, lacht mich nur aus, weil wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich nämlich. Ganz zuletzt sogar. Landet schließlich jeder eines Tages pudelnackt in aller Hässlichkeit auf meinem Tisch. Mehr bloßgestellt geht gar nicht!«
Hat ihm leider nichts genutzt. Der Schelm geht auch als Schelm zugrunde. Zwar hebt Pfarrer Ulrich Feiler noch seine kräftige Stimme, versucht sein Möglichstes: »Albin! Komm heraus.«
Lachhaft natürlich. Das hätte ihm die alte Huber nämlich gleich sagen können: Ulrich Feiler ist kein Pseudonym für Jesus Christus, Albin nicht Lazarus, selbst ein Extraständchen der Blasmusik bliebe wirkungslos.
»Er ist tot!«, findet Kurt Stadlmüller endlich die richtige Diagnose.
Und über das schmutzige Gesicht des kleinen Kurti zieht sich eine helle Spur. Unaufhörlich kommen sie.
Stille Tränen.
»Weinen Sie?«
»Nicht wirklich, Kollege Swoboda. Gräser. Sind leider keine Freunde, der Mai und meine Pollenallergie!«
»Man muss ja auch schließlich nicht mit jedem Freundschaft schließen. Also, was stören Sie mich?«
»Es wäre wegen dem Liebesnest!«
»Was wäre denn damit? Ist Ihr Mann, der liebe Martin, auf Dienstreise, und jetzt wollen S’ mich zu sich nach Haus einladen? Oder brüten Sie neben Ihrer Pollenallergie sonst noch etwas aus, Kollegin Unter-, Ober- –«
»Da muss ich nichts mehr ausbrüten, ist ja schon geschlüpft und ausgeflogen, die Dame! Also was machen wir jetzt mit Svetlana!«
Nur weil die Wachzimmer der Umgebung auf eines zusammengelegt wurden, bedeutet das noch lange nicht, die Dienststelle hier in Sankt Ursula wäre größer geworden.
Heißt ja auch schließlich: zusammenlegen. Sich also zu zweit oder mehrt ein Bett teilen. Und genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn wie gesagt:
Nur weil die Wachzimmer der Umgebung auf eines zusammengelegt wurden, bedeutet das des Weiteren noch lange nicht, es wären gleich alle Beamten mit übersiedelt.
Platzmangel sieht folglich anders aus. Außer natürlich auf den Schreibtischen. Da stapelt sich die Arbeit.
Und hier kommt wieder das Bett ins Spiel, denn heillose Überforderung macht müde. Hundemüde.
So viel Kaffee kann Wolfram Swoboda also an diesem Vormittag gar nicht trinken, um seinem Körper so etwas wie Elan einzuimpfen. Lebensfreude verspürt er ohnedies nur mehr an zwei Tagen pro Jahr.
Erstens: Wenn ihm der Mechaniker Gregoric wieder die Prüfplakette auf die Windschutzscheibe seines alten BMW 3.0 csi Coupé, Baujahr 1975 klebt.
Zweitens: Wenn ihm seine Tochter Stefanie, Baujahr 1985 und wohnhaft in Stockholm, den einzigen Besuch des Jahres abstattet. 26.12. Stefanitag. Ein Segen also, der Stefanitag, weil ohne, keine Stefanie. »Frohe Weihnachten, Papa.«
24.12., 25.12, und 27.12. bis über Silvester werden dann natürlich bei ihrer Mama verbracht. Scheidung, verdammte. Er hätte ins Bordell gehen sollen, wäre ihn billiger gekommen.
Entsprechend niedrig folglich seine Reizschwelle.
»Wo ist jetzt das Problem!«
»Na, die ganze Geschichte, Kollege Swoboda!«
»Ich wiederhol mich ja nur ungern, aber: Wo ist jetzt das Problem?!«
»Ich würde dem gern nachgehen, Herr Kollege!«
»Sie würden mir dann aber auf den Sack gehen, Frau Kollegin. Das Thema ist gegessen. Und: Hunger? Hier, frische Kronberger Krapfen, fünf zum Preis von vier. Greifen Sie zu!«
Ein Feinschmecker der deutschen Sprache ist Wolfram Swoboda also nicht, eher deftige Hausmannskost. Und die braucht es auch dringend, denn diese kleine Plastikbox auf dem Nachbarschreibtisch, mit in Längsstreifen geschnittenen Karotten, Gurke, Paprika kann er nicht mehr sehen. Ohnedies kaum neue Männer dazubekommen, und dann justament eine Frau. Vegetarierin obendrein.
»Nein danke, Kollege Swoboda. Wollen Sie dafür ein wenig von mir? Ich teile gerne.«
»Ihr Kaninchenfutter? Maximal das Kaninchen. Nach zwei Stunden bei 200 Grad. Und dazu ein guter Rotwein. Also Prost, Kollegin Unterberg-Irgendwas.«
»Unterberger-Sattler!«
Unterberger-Sattler auch noch dazu, sich also für eine Person gleich zwei Namen merken und aussprechen müssen. Jackpot.
Und aufmüpfig ist sie obendrein.
»Wo waren wir stehen geblieben. Genau: auf Ihren Sack gehen. Will ich natürlich nicht, Herr Kollege. Muss ja gewaltig wehtun. Andererseits …«
»Sind wir jetzt lustig, Untersattler!«
»Unterberger, dann Sattler. Und weil Sie schon so schön das Thema Sack ins Spiel gebracht haben, Herr Kollege, darf ich mich gleich wiederholen: Da wäre also die Sache mit der Prostituierten Svet…!«
»Und? Das ist ein freier Mensch, kann also tun und lassen, was sie will!«
»… Svetlana Putin!«
»Putin. Find ich immer noch lustig! Glauben Sie, die beiden sind verwandt?«
»Ich vermute, Herr Kollege, sie hat nicht direkt mit dem russischen Präsidenten zu tun, außer dass Svetlana aus Moskau stammt und dem Wladimir Wladimirowitsch sicher gefallen würde, natürlich vorausgesetzt, sie singt ihm nicht in einer Kirche vor, oben ohne! Sehr lustig also! Und abgängige, möglicherweise ermordete Prostituierte sind ja überhaupt ein Heidenspaß, nicht wahr!«
Sie ist wahrscheinlich schon unsympathisch auf die Welt gekommen, diese Untersattlerin, und jeder auf der Säuglingsstation musste ein Auge auf sie werfen, nur um dann gleich eine doppelte Freude mit dem eigenen Kind zu haben, da ist sich Wolfram Swoboda sicher.
»Frau Kollegin: Svetlana Putin ist keineswegs abgängig, sondern einfach nicht mehr heimgekommen. Ist ein Unterschied. Vielleicht hat sie ja der Kreml extra einfliegen lassen, weil es dem Wladimir auf Dauer zu fad ist, beim Onanieren zwar ständig voll Bewundern seinen eigenen Namen zu stöhnen, aber nicht wirklich ein Echo zu bekommen. Ganz abgesehen davon, dass sich ja Svetlanas Arbeitgeberin Marianne Salmutter bis jetzt keine Sorgen um sie macht.«
»Wie ekelhaft Sie sind, Herr Kollege. Und hab ich gerade gehört: heimgekommen? Sie bezeichnen die Marianne, dieses Drecksloch, für die Mädchen tatsächlich als Zuhause? Ein Bordell ist kein Zuhause, außer für Sie vielleicht, sondern –«
»– ein Arbeitgeber, der seinen Angestellten einen Lebensunterhalt und auch eine Unterkunft bietet. Wir sind hier schließlich in keinem Russenmafia-Viertel, wo Menschenhandel betrieben wird oder irgendwelche Toten versenkt werden mit Betonschuhen, sondern in Sankt Ursula samt Umkreis. Die Marianne heißt also deshalb Marianne, weil Marianne Salmutter vor zwanzig Jahren beschlossen hat, nicht mehr dabei zusehen zu wollen, wie sich da ein paar Drecksbauern vor lauter Samenstau an jungen Mädels, wie sie selbst eines war, vergreifen, so viel zu Drecksloch, sondern …«
»Von der Sal- also zur Puffmutter. Oh heilige Mutter Marianne, bitte für uns! So sehr kümmert sie sich um ihre Mädchen, dass sich erst ein Friedrich Holzinger aus Glaubenthal bei uns melden muss, wenn eines verschwindet!«
»Was sind wir hier? Ein Vermittlungsbüro, das irgendwelchen alten Lustmolchen die Lieblingsnutten zusammensammelt?«
»Solche Lustmolche wie den alten Holzinger kann sich dieses Land nur wünschen, der leistet wichtige Sozialarbeit.«
»Marianne Salmutter auch. Die weiß schon, wann sie sich Sorgen machen muss. Wenn mir hier also jemand komisch vorkommt, dann dieser heilige Holzinger.«
»Herr im Himmel!«
»Wenn Sie beten wollen, gerne. Ihr Sozialarbeiter Holzinger hat angerufen. Drüben in Glaubenthal wollten sie grad wen beerdigen, der sich aber als jemand anderer herausgestellt hat! Ich hab die gesamte Trauergemeinde unter Aufsicht des Pfarrers ins Wirtshaus geschickt, und der Bürgermeister wartet mit den drei Sargträgern beim Grab auf uns.«
»Uns? Sie wollen sagen: auf mich. Oder?«
»Genau, schauen Sie sich das an. Und danach fahren Sie gleich rüber zum Hoberstein. Da soll es in der Nacht eine Schießerei gegeben haben, und aus dem Wald hat man Geschrei gehört! Und bitte aufpassen hinter dem Steuer. Ein paar Orientierungsläufer sind dort unterwegs. Nicht, dass Sie mir jemanden über den Haufen fahren!«
»Wär das dann alles? Soll ich für Sie zwischendurch vielleicht noch einkaufen gehen, ein orthopädisches Sitzkissen besorgen und aus dem Kronberger einen Kaffee holen?«
»Ein Raumteiler wäre praktisch, Untersattler, dann Berger.«
»Wie gesagt: Unterberger, dann –«
»Auf was warten Sie.«
»– dann Sattler.«
»Na, dann reiten Sie eben nach Glaubenthal. Aber Galopp!«
Inhaltsverzeichnis
Schwarzbraune Holzdielen über dunkelgrünem Plastikboden.
Schwere rote Vorhänge, dahinter trübes Glas.
Ausgebleichte Tischtücher mit staubig matten Stoffblumen.
Fettverschmierte Salzstreuer, darin längst ergrauter Reis.
Ein Gedicht. Willkommen beim Brucknerwirt.
Alleinstehend liegt der Gasthof an der Dorfstraße direkt neben der Ache. Herrlich der Ausblick, wie im Grunde überall in Glaubenthal. Nur könnte dieser Ausblick natürlich noch eine Spur herrlicher sein, müsste der ein oder andere beim Ausblicken nicht justament das Häuschen von dem einen, das Grundstück von dem anderen oder überhaupt gleich den einen oder anderen höchstpersönlich sehen. Da schlummern eben von Generation zu Generation weitergegebene Konflikte tief in den Genen, und selbst wenn die Ursache dieser Konflikte keiner mehr kennt, die Glut flammt gelegentlich doch wieder auf, weil:
A. Hunger, sprich unterzuckert.
B. Nimmersatter Durst, sprich blunzenfett.
… ist der Vater des Zorns,
treibt den Wolf aus dem Wald
und hat ein scharfes Schwert.
In diesem Sinne guten Appetit und eine friedliche Mahlzeit.«