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Thomas Raab

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Beschreibung

Frühling in Glaubenthal – Da wird nicht nur der Spargel gestochen ... Wie froh wäre die alte Huber, wenn jemand käme und erklärte: »April, April! Alles nur ein Scherz!« Aber stattdessen wird es wieder bitterernst im sonst so beschaulichen Glaubenthal. Ein Mörder treibt sein Unwesen, und das Beuteschema scheint klar: je älter, desto besser. Kurz vor ihrem 75. Geburtstag ist das keine gute Nachricht für die Huberin. Folglich krempelt sie die Ärmel hoch und nimmt die Sache selbst in die Hand. Mit dabei: der fesche Bäckermeister Peter. Was Hannelore gar nicht so lieb ist, denn der »hübsche Pezi« war ihr nie so ganz geheuer … »Grandiose Krimiunterhaltung aus Österreich – für alle Fans von Rita Falk und Wolf Haas!« ARD Buffet

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Seitenzahl: 301

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Thomas Raab

Peter kommt später

Frau Huber ermittelt. Der dritte Fall

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Thomas Raab

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Thomas Raab

Thomas Raab, geboren 1970, lebt nach abgeschlossenem Mathematik- und Sportstudium als Schriftsteller, Komponist und Musiker mit seiner Familie in Wien. Zahlreiche literarische und musikalische Nominierungen und Preise, u.a. den »Buchliebling« 2011 und den Leo-Perutz-Preis 2013. Die Kriminalromane rund um den Restaurator Willibald Adrian Metzger zählen zu den erfolgreichsten in Österreich. Zwei davon wurden bereits für die ARD verfilmt. Außerhalb der Metzger-Reihe erschien 2015 der vom Feuilleton hochgelobte Serienmörderroman »Still. Chronik eines Mörders«. 2017 wurde Thomas Raab mit dem erstmals verliehenen Österreichischen Krimipreis ausgezeichnet. »Peter kommt später« ist nach »Walter muss weg« (2019) und »Helga räumt auf« (2020) der dritte Band der Bestsellerreihe um die Ermittlerin Hannelore Huber.

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Über dieses Buch

Frühling in Glaubenthal – Da wird nicht nur der Spargel gestochen …

Der April neigt sich dem Ende, und der Frühling beginnt gleich mit mehreren bösen Überraschungen: Erst verschandeln die hässlichen Bürgermeisterwahlplakate das ganze Dorf, dann liegt auch noch die alte Brucknerwirtin leblos mit dem Gesicht im Kaiserschmarren. Das geht noch als Unfall durch, auch wenn es einen verdächtigen Einfluss auf den Wahlausgang hat, denn die Tote ist justament die Mutter des Gewinners.

Als kurz darauf aber die zweite Glaubenthalerin – Tante Herta, die Dorfälteste – aus dem Leben befördert wird, muss Hannelore Huber wieder einmal die Ärmel hochkrempeln. Denn hier besteht kein Zweifel: Es war Mord. Das Messer steckt noch in der Leiche. Während die örtliche Polizei wieder einmal mit großem Engagement in die falsche Richtung ermittelt, bekommt die alte Huber Hilfe von unerwarteter Seite: Keinem scheint Tante Hertas Tod so nahezugehen wie Peter Pointner, dem schönsten Bäcker weit und breit. Rührend einerseits. Doch ganz geheuer ist Hannelore Huber die Sache nicht. Denn ein so freundlich-charmanter Schwiegermuttertraum wie heute war der »hübsche Pezi« nämlich nicht immer …

Inhaltsverzeichnis

Widmung

I APRIL, APRIL

1 Lionel

II GUGELHUPF

2 Wer A sagt, kann auch A sagen

3 Hanni

4 Tratschweib gegen Pegelsäufer

5 In Schale

6 Märchenprinz

7 Fetter Köder

8 Schmalzgebäck

9 Ihab

III ARMIN

10 Nils

11 Agente Investigativo

12 Von Mafia, Liebe und Totenkopf

13 Hopp Hopp

14 Weidewirtschaft

15 Und sie bewegt sich doch

16 Das große B

17 Piss off

18 Armin

19 Dreiersitzbank

20 Paris

21 Überall und Nirgendswo

22 Herta

23 Die Feuerwehr ist da

IV DER LETZTE MOHIKANER

24 Spatzl

25 Adventskalender

26 My Life

27 Zimtschnecke

28 Fleisch …

29 Feldstudien

30 Achluophobie

31 Grado

V MY HOME IS MY CASTLE

32 Caruso

33 Prinz Eugen

34 Deine Freunde

35 G’spritzt

36 Weiberwill

37 Stein um Stein

38 G’raucht

39 Freiheit

VI WIEDER DA

40 Alfred

41 Pony und Kleid

42 Bodyguard

43 Hat die Bäuerin zu viele Kilo …

44 Quarthefte, liniert, mit Korrekturrand

45 Zeit

46 Zwei Geld

47 Traum und Wirklichkeit

48 Es werde …

49 Honig

50 Der Aufsichtsrat

51 FSK 18

52 Hufeisen

53 Ewiges Kind

Dank

Erinnerung an Morgen

IAPRIL, APRIL

1Lionel

Kaiserschmarrn.

Rund um ihn nur Kaiserschmarrn.

Ein Königreich für Cremespinat und Haferschleim.

Futtertechnisch einer seiner schlimmsten kulinarischen Albträume, dieser Hüttenfraß. Seit Kindertagen schon.

Kaiserschmarrn. Klingt, als stamme er aus Großmutters heimlichem K&K-Kochbuch: Rezepte aus der Kannibalen-Küche.

Kapitel: Resteverwertung Hochwohlgeborener.

Von Blaublutwurst über Esterházy-Schnitzel, Kavalierspitz in Blaufränkischem gedünstet, Freiburger Fondue, Sissi-Schnitten und Prinzenrollen, in diesem Fall als butterweiche Jungfrau-Rouladen, bis Eierspeise in jeder erdenklichen Ausführung und natürlich Kaiserschmarrn nach Habsburger Art: Man nehme zwei Kilo Bauchfleisch vom Feinsten …

Und jetzt steckt er selbst mittendrin, bis zur Brust. Als Strafverschärfung gespickt mit Rosinen und eingeschneit mit Staubzucker! Schwere Schritte sind es, die ihn durch die blasse, handwarm flaumige Masse vorwärtsbewegen, immer der Nase nach. Denn etwas stimmt hier nicht. Etwas fehlt. Kein penetrantes Eier-Butter-Vanille-Aroma hängt wie sonst in der Luft. Kein süßlicher Duft, der ihm bereits vor dem ersten Bissen den Brechreiz hochsteigen lässt.

»Eisen!«, schnuppert er. »Es riecht nach Eisen!«

Bis an den Rand seiner Silit-Silargan-Professional-Stielpfanne – Höchstleistung für natürlichen Geschmack – müht er sich, wirft einen Blick über die Kante hinaus, sieht ein rubinrotes Meer aus Zwetschkenröster und erkennt seinen Irrtum.

Blut. Überall Blut.

Dickflüssig, gestockt, durchzogen mit großen Brocken, kein Fruchtfleisch, sondern …

»Weg!«, brüllt er. Nur noch weg hier. Losstarten, sofort. Als Passagier des eigenen Kochgeschirrs. Mit seiner fliegenden Unterpfanne in die Sterne. Silit Reisen Interstellar, kurz SIRI.

»Hoch mit dir, los!« Die ersten Signaltöne des Bordcomputers dudeln ihm ins Ohr, klingen wie Musik. Eindeutig der Schmachtfetzen Hello von Lionel Richie.

»Hey SIRI, hebe ab!«, brüllt er, »Los, hoch, hoch!«

»Hallo? Alles in Ordnung?«

»Flieg, flieg …«

»Kollege Swoboda?«

 

Schweißgebadet reißt es Wolfram Swoboda empor. Orientierungslos. Es braucht ein Weilchen, bis er aus seinem gigantischen Kaiserschmarrn-Spaceshuttle wieder in sein Schlafzimmer zurückkehrt und nur das Übliche darin erkennt: diese Marter, fast jede Nacht. Ewig hat er nicht geträumt, und nun folgt wie aus heiterem Himmel seit Wochen schon ein nächtliches Abenteuer dem nächsten.

»So ein Schmarrn!«, blickt er auf sein Handy. »Wer spricht?«

»Unterberger-Sattler hier!«

»Um halb vier?«

Logisch hätte er sie an ihrem personalisierten Klingelton erkennen müssen.

Hello, is it me you’re looking for?

Allein diesen Lamourhatscher zu hören, versetzt ihn mittlerweile in Wallungen. Von ihrer Stimme ganz zu schweigen. Keine einzige Nachricht seiner Mailbox hat er gelöscht. Angelika Unterberger-Sattler, von ihm stets nur Untersattler genannt. Und wenn sie eine Ahnung hätte, woran er mittlerweile dabei denkt. Untersattler. So gern wüsste er es, wie, wie … Ach Angi.

Ihretwegen hat Wolfram Swoboda die letzten drei Jahre dreißig Kilo abgespeckt. Er fing zu joggen und auf dem Hometrainer zu hocken an, hört Musik, mit der er rocken kann, isst Brot mit Roggen dran, zieht täglich frische Socken an …

»Muss ich mir Sorgen machen, Herr Kollege?«

»Nicht um mich! Haben S’ schon auf die Uhr g’schaut, Untersattler? Es gibt Leut’, die schlafen um diese Zeit.«

»Es gibt aber auch Leut’, die haben ständig Hunger, Blähungen, verlangen permanent nach Aufmerksamkeit, und damit sind ausnahmsweise einmal nicht Sie gemeint, Kollege Swoboda! Obendrein bekommt der Willi grad seine Backenzähne!«

Der Willi also, Gschrapp Nummer zwei. Und wenn’s halb drei wäre oder halb fünf, für seine Untersattlerin ist ihm jede Stunde recht. Obendrein, wenn sie ihn so wie grad von einem seiner ständigen Albträume erlöst.

»Mein Anruf ist dienstlich, Herr Kollege.«

»Wieso dienstlich?«, fragt er und denkt: Schad! Ein Schluck aus der Wasserflasche neben seinem Bett löst ihm ein wenig den Geist, samt trock’ner Zunge: »Ihr aktueller Einsatz hat einen Namen und heißt nicht zufällig Mutterschutz, Untersattler!«

»Die Zeiten für uns Frauen haben sich aber verändert, Swoboda. Wissen S’ ja eh: die Gleichberechtigung. Da heißt es im Mutterschutz schön auch an den Vaterschutz denken. Drum hab ich meinen Mann zu seiner Mama übersiedeln lassen, damit wir keine Belastung mehr für ihn sind und er in Ruhe seinen Roman fertig schreiben kann!«

Martin Sattler. Das Paradebeispiel eines Blutegels. Ein Dauerleidender. Lässt sich aus Mitleid heiraten, natürlich von einer fähigen gestandenen Frau, die einem anständigen Beruf wie dem der Ordnungshüterin nachgeht, ergo ordentlich einstecken kann und fleißig Geld nach Hause bringt. Und was macht der nutzlose Schmarotzer? Hängt ihr Kinder an, und anstatt für seine Familie zu sorgen, sattelt der Sattler zu allem Überfluss auf Schriftsteller um. Als ob’s nicht schon genug Schund gäb auf dieser Welt. Logisch schreibt er blutrünstige Krimis und die Morde allesamt aus den Erzählungen seiner Frau ab, ebenso die Ermittlungsstränge, grad dass er nicht die Klarnamen verwendet. Fantasieloser Blindgänger. Jämmerlich, das alles.

»Haben S’ ihn also endlich rausg’schmissen?«, freut er sich und kann ihr Schmunzeln ebenso hören wie sie hoffentlich seine Gedanken:

Ach, Untersattler, die Türen zu meinem trauten Heim stehen Ihnen jederzeit offen. Wir können anfangs sogar getrennt schlafen, wenn Sie das wollen. Und selbst wenn wir zusammen oder gar miteinander schlafen, können Sie mich selbstverständlich noch Swoboda und ich Sie Untersattler nennen. Und Sie müssten vorher keinen Ihrer Gschrappen loswerden! Auch wenn die Hosenscheißer nicht mit meinem Erbgut gesegnet sind: Ich mag sie ja trotzdem. Gottlieb den ersten, Winfried den zweiten, und der dritte wird hoffentlich ein Mäderl!

»Also, Untersattler. Wann ist die Scheidung? Ich bring die Torte!«

»Das passt schon, Herr Kollege. Als Schwangere mit zwei Kleinkindern fühlt sich das doch gleich deutlich besser an, so ganz ohne Hilfe!«

»Das glaub ich bei Ihrem Mann aufs Wort!«

Jetzt lachen sie beide. Wolfram Swoboda in seinem Bett, Angelika Unterberger-Sattler neben dem Küchentisch der alten Brucknerwirtin. Ja, man versteht sich blind.

Auch wenn der Spaß nun sein Ende nimmt.

»Also, was ist passiert?«

»Die Brucknerwirtin ist tot.«

»Welche Brucknerwirtin? Die junge oder die alte?«

»Die Antonia. Mit achtundsiebzig.«

»Die alte also. Und deswegen rufen S’ mich an? Oder hat ihr Elektrorollstuhl plötzlich auf 78 Km/h beschleunigt?«

»Achtundsiebzig ist aber wirklich kein Alter heutzutage, Herr Kollege, das sollten Sie sich kurz vor Ihrer Pensionierung zu Herzen nehmen! Also: Die Brucknerwirtin hat mich gleich angerufen, und …«

»Als Tote? Gehen die da oben mit der Zeit? Frisch empor in den Himmel und schon gibt’s so ein hässliches Emporia-Wertkartenhandy?«

»Sie übertreffen sich als Alleinunterhalter heut mal wieder selbst. Die Junge natürlich! Laut Schwiegertochter, der Brucknerwirtin Elfie, ist die alte Brucknerwirtin also in ihrem Abendessen erstickt und …«

»In?«, unterbricht Wolfram Swoboda neuerlich, »Sie meinen wahrscheinlich an ihrem Abendessen!«

»Nein, ich mein schon in! Kopf eingetunkt. Und …«

Wie eine Erleuchtung strahlt Wolfram Swoboda nun sein Handydisplay entgegen und öffnet ihm die Augen: »Untersattler. Sie Wahnsinnige. Das schreit nach Rache. Ein blöder Schmäh ist das alles, oder? Hab ich recht?«

In nüchternem Tonfall setzt Angelika Unterberger-Sattler fort: »Der 1. April war vor zwei Wochen, auch ein Samstag, heut ist Samstag, der 15. April. Also kein Aprilscherz. Leider! Die Brucknerwirtin regt sich irrsinnig darüber auf, den Doktor Stadlmüller nicht erreicht zu haben, vielleicht hätte der als Hausarzt ja noch etwas tun können. Weiters spricht sie den Verdacht aus, es könnt ein Mord gewesen sein.«

»Eröffnet die Elfie jetzt auch noch ein Detektivbüro?«

Und wenn sie lacht, lacht auch alles in ihm, sogar der Wolf ohne Ram dahinter, der Boda (spanisch: Hochzeit) ohne Swo davor sowieso, sein ganzes Wolfram-Swoboda-Ich und -Überich.

»Vielleicht können S’ ja dann bei ihr anfangen, Chef, wenn Ihnen in der baldigen Rente langweilig wird!«

»Mir würd aber viel lieber mit Ihnen nicht langweilig werden, Untersattler!«, läge es Swoboda auf der Zunge und weiß der Teufel wo noch, trotzdem wird es nur ein: »Ich vermute, fürs Ermitteln hab ich dann keine Zeit, weil, wenn sie weiter so emsig Kinder in die Welt setzen, Untersattler, werden Sie mich dringend als Leihopa brauchen. Also weiter: Ich vermute, Sie sind dann auch gleich hin zur Brucknerwirtin, anstatt mich anzurufen, weil Sie wohnen ja quasi ums Eck, wenn ich mich nicht irr. Wobei: Irr ist’s schon. Ein Rätsel ist mir das, wie Sie von Sankt Ursula in diese Einöde ziehen konnten.«

»Vielleicht hatte ich einfach genug Metropolenluft geschnuppert? Ein bisschen Ruhe wird mir jedenfalls nicht schaden, Herr Kollege. Ich wart jetzt kurz auf Sie, damit alles schön so bleibt, wie ich es vorgefunden habe, dann muss ich zurück zu den Kindern, bevor mir noch eins aufwacht.«

 

Und hier steht er nun und traut seinen Augen nicht. Ein wenig mit der Angst bekommt er es schon. Nicht dass ihm da auf seine alten Tage noch ein paar hellseherische Talente einschießen. Weil lustig ist so eine Gabe nicht, plötzlich unterscheiden zu müssen, welches Hirngespinst jetzt prophetisch war und welches eben nicht.

Der Anblick dieses Gesamtkunstwerkes hat jedenfalls schier Unheimliches an sich: Mit dem Kopf vornüber auf die Tischplatte gekippt sitzt Antonia Bruckner in ihrer ebenerdigen Wohnung. Ein kleines Ausgedinge gleich hinter der Brucknerwirt-Küche. Ihr Gesicht steckt tief versunken in einer vollen Silit Silargan Professional. Das allein ist schon ein Zufall sondergleichen. Alles Weitere ist aber noch unglaublicher. Denn in der Pfanne:

Kaiserschmarrn.

Grauenhaft nach abgekühltem Kaiserschmarrn stinkender Kaiserschmarrn. Irgendjemand, so ist sich Elfie Bruckner sicher, hat ihrem Ehemann, dem völlig am Boden zerstörten Dorfwirt Toni Bruckner, die Mutter und somit ihr, Elfie selbst, die Schwiegermama ermordet. Sich angeschlichen, den leider schon recht dementen Kopf der Antonia in die Silit Professional gedrückt und sie an der Henkersmahlzeit ersticken lassen. Auch wenn Toni Bruckner das für absolut unwahrscheinlich hält: »Ich will das nicht glauben, Elfie, die Mama war schwer krank, hat eh schon immer alles vergessen, vielleicht ja sogar das Atmen. Nur, nur …« Das Sprechen fällt schwer.

 

»Was denn?«

»Nur an eines hat sie immer gedacht und darum gebeten. Dass sie eines Tages nicht in einer Kiste beerdigt wird, sondern in eine U-U-Urne will –!« Nur noch Tränen. Und das einen Tag vor dem Urnengang hier in Glaubenthal. Bürgermeisterwahlen.

Grausame Welt.

Mitte-rechts-konservativ gegen weniger-konservativ-dafür-noch-weiter-rechts. Und bevor in Glaubenthal eine dritte Partei ernsthaft Fuß fassen kann, wird hier noch der Königspinguin heimisch.

 

»Ein Mord!«, hat Wolfram Swoboda nun mit seiner Kollegin via Videotelefonie Kontakt aufgenommen: »So eine rege Fantasie will ich haben. Obendrein, wo drunten in der Gaststube kein Mucks zu hören war. Niemand ist plötzlich eilig davon! Kein Stammgast hat was Verdächtiges gesehen, nicht mal ein fremdes Gesicht!«

»Wir dürfen trotzdem nichts übersehen, Chef. Wenn sie ebenerdig wohnt, vielleicht ist jemand über das Fenster eingestiegen. Schauen S’ vielleicht draußen nach!«, kommentiert Angelika in die Swoboda-Stöpsel hinein, während Wolfram den Tatort absucht.

Und voilà.

»Ich glaub’s nicht!«

»Sie müssen die Linse hinhalten!«

»Da liegt eine Herrenuhr im Gemüse!«, wird Wolfram Swoboda zuerst fündig, dann übermütig: »Mit unterschriebenem Lederarmband! Na, das passt ja!«, hält er den Schriftzug in seine Handykamera.

»Da steht Peter drauf, mit irgendeinem Gekritzel dahinter. Wieso passt das?«

»Das ist eine Originalunterschrift, Untersattler!«

»Ja, und? Oder ist sie von Peter Hase, Peter dem Grausamen, dem Gerechten …«

»Dem Großen, Untersattler. Von Peter Alexander. Was sagt Ihnen das?«

»Wer um Himmels willen ist Peter Alexander?«

»Meine Güte, das war der begnadetste aller Enter…«

»War ein Schmäh! Also wenn Peter Alexander nicht extra von den Toten auferstanden ist, um die achtundsiebzigjährige Antonia Bruckner vor ihrem Fenster ein bisserl zu entertainen, dann gehört die Uhr seinem größten Fan!«

Richtig euphorisiert ist er jetzt. Wolfram Swoboda.

Immer eine Freude, wenn das eine derart wunderbar ins andere greift und plötzlich Sinn ergibt. So wie es Elvis- und Michael-Jackson-Imitatoren gibt, ist der geistig ein wenig schmalspurbegabte, feinmotorisch aber durchaus talentierte Motorsägenschnitzer und Gleitschirmflieger Waldemar Wurm, sprich der hiesige Dorfsonderling, eben nicht nur ein glühender Verehrer des amtierenden Bürgermeisters Doktor Kurt Stadlmüller, sondern ein Peter-Alexander-Plagiat. Da glauben dann selbst die Eingefleischtesten unter den Katholiken ein paar Minuten nicht mehr an die Auferstehung, sondern Wiedergeburt!

»Und das einen Tag vor den Bürgermeisterwahlen. Hoffentlich hab ich meine Handschellen im Wagen!«

»Handschellen? Schön!«, haucht ihm Angelika in seine Stöpsel, und Wetten traut sich Wolfram Swoboda jetzt keine abzuschließen, wie lang er es noch schafft, so passiv zu bleiben.

 

Prinzessinnen gibt es, die müssen eben gerettet werden.

6 Tage später

IIGUGELHUPF

2Wer A sagt, kann auch A sagen

So angeheitert wie an diesem Morgen ist die alte Huber schon lang nicht mehr vor ihrem Kosmetikspiegel gesessen, die Lesebrille auf der Nasenspitze, die Pinzette in der Hand.

Ausnahmsweise mit einem Schuss Eierlikör als Mutmacher hat sie das nächste Glas Prosecco verlängert, ihren Philips-Phonokoffer-Plattenspieler von der jahrelangen Last seines Häkeldeckchens befreit und Caterina unter die Nadel gelegt.

Aus rein medizinischen Gründen.

Das einzig patente aller Medikamente gegen trübe Momente ist eben die Valente. Punkt. Da breitet sich die ersehnte Leichtigkeit dann ganz von selbst aus, wie eine hochansteckende Genesung. Obendrein zupft es sich mit Trallala im Blut und Cha-Cha-Cha in den Ohren gleich deutlich leichter.

Bab, bab, bab, bab, ba-bab-bab-bab:

Am Strand von Florida ging sie spazieren

Und was sie trug, hätte keinen gestört.

Nur eine einsame, piekfeine Lady

Fiel bald in Ohnmacht und war sehr empört.

Acht, neun, zehn, na, was gab›s denn da zu seh’n?

Wahrscheinlich deutlich mehr g’sunde Leut’, denkt sich Hannelore. Also wäre der frisch abgesetzte Ex-Bürgermeister und Allgemeinmediziner Kurt Stadlmüller nicht schwer gekränkt auf die Idee gekommen, mit seinem Sohn Kurti auf unbestimmte Zeit in den Urlaub abzurauschen.

ORDINATION BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN

Vertretung: Gruppenpraxis Brucknerwirt

So steht es auf seiner Haustür, gefolgt von einem Postskriptum, da muss es der Herr Doktor schon wieder recht lustig gehabt haben.

PS: Wer braucht schon Spritzen und Tabletten,

wenn Schweinebraten und Koteletten,

Gammelfleisch in den Bouletten,

Schnitzel, Pommes und Kroketten,

herausfrittiert in alten Fetten,

Schnaps zum Bier mit Zigaretten

und irgendwann die Sterbebetten

Euch fix vor jeder Krankheit retten?

Gruß an alle Marionetten

von Kurt und Kurti aus Manhattan

»Deine A-A-Reime sind für die Toilett’n – sprich für’n A!«, hat ihm eine anonyme Hand, die dank Schweinsklaue als garantiert männlich identifiziert wurde, daruntergeschrieben. Logisch samt Postskriptum. »PS: Wer A sagt, sollte lieber auch B sagen!«

Inhaltlich leider ein Eigentor. Vor allem für jene, die A) akut einen Arzt brauchen und B) bisher jederzeit mit Kurt Stadlmüllers Hilfe rechnen konnten. Egal ob wochenends oder während seines Urlaubs, den er meist zu Hause verbrachte.

 

»Und jetzt Manhattan! Nicht grad hinter der nächsten Hügelkett’n!«, blickt die gute Hannelore mit ihrer Pinzett’n in der Hand aus dem Küchenfenster.

Dicht wie ein Betrunkener hängt noch der Nebel vor den Fenstern, stülpt seinen Tarnmantel über die Dächer und lässt die weit in das Land hineinreichenden Höfe der Streusiedlung Glaubenthals verschwinden.

Jedes Kommen, jedes Gehen ein heimliches.

Einzig die Musik trägt es lautstark über die Wiesen und Felder bis in das nahe gelegene Hochmoor hinaus.

Schlagerwelle mit Schwefelduft. Rundum schlohweiße Schleier. Wer sich da verirrt, dem hilft auch die Valente nichts.

Wer hingegen grad bis zur Unterlippe versunken jeden Millimeter seines Lebensweges zu schätzen lernt, dem wird zum Abschied als leises Servus ein würdiger Ohrwurm und letztes schönes Hirngespinst geboten.

Es war ihr Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strandbikini.

Er war schick und er war sehr modern.

Ihr Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strandbikini,

ja, der gefiel ganz besonders den Herr’n.

Eins, zwei, drei, na was ist denn schon dabei?

Und selbstverständlich singt sie längst mit, die angedudelte alte Huber, leise zwar, dafür textsicher, zupft da, zupft dort und hört Carusos verspäteten Morgengruß.

Hannelores stolzer Italiener.

Farbschlag Schwarz-Weiß-Columbia.

So selbstbewusst tiefenentspannt ist das liebe Vieh, da sitzt sie meist schon bei ihrem Frühstückskaffee, schlummert er immer noch auf seiner Holzstange, das Köpfchen unter den Flügeln, den Körper eng an das Federkleid seiner Lieblingshenne, der braunen Adele, gepresst. Ja, und heute ist die alte Huber sogar dem Streber-Gockel des Schusterbauern zuvorgekommen, ein Sulmtaler, blau-silber-weizenfarbig, so früh stand sie bereits unter ihrer obligaten Wechsel-Dusche, heiß-kalt, Blutgefäße und Blutdruck frotzeln, Kreislauf und Stoffwechsel ankurbeln. Alles nur, um gut in Schwung und keinesfalls ins Strudeln zu geraten.

Gut Ding will bekanntlich Weile haben.

Ja, und ungut Ding braucht Zeit.

Richtig viel Zeit.

Gibt schließlich Übungen, da fehlt es ihr mittlerweile gewaltig an Routine. Sie schlägt ja auch keine Räder oder Purzelbäume mehr, durfte weder als dreijährige Hanni die Kreissäge noch als zehnjährige Hannelore das Jagdgewehr bedienen. Wofür also hätte sie sich umgekehrt mit ihren bald fünfundsiebzig wieder als Prinzessin verkleiden sollen?

Und vor allem für wen?

Der in Glaubenthal nach wie vor als erstrebenswert geltende Bund der Ehe liegt bereits erledigt hinter ihr, Gemahl Walter folglich unter der Erde, ja, und so ein Liebhaber, sprich maroder Witwer, wie sich beispielsweise die ehemalige Pfarrersköchin Luise Kappelberger seit Ableben ihres Lebensgefährten Pfarrer Ulrich Feiler einen hält, kann ihr sowieso gestohlen bleiben. Halbwegs reinlich wäre er ja, der Hermann Windisch, und garantiert die bessere Wahl als irgend so ein hatscherter Casanova, dem im plötzlichen Bewusstsein der eigenen Endlichkeit die Sehnsucht nach Ganztagsbetreuung durch seine knirschenden Hüften schießt! Gockel kommt der alten Huber jedenfalls keiner mehr ins Haus, Caruso draußen in seinem Hühnerstall reicht da völlig. Und so ein Hahn lässt sich notfalls ja wenigstens prächtig weiterverarbeiten, weil gut beieinander ist der Hermann Windisch nun wirklich nicht mehr.

Ein Großeinkauf bei HSG sozusagen. Der Shoppingkanal des Alters.

Hört schlecht – Sieht schlecht – Geht schlecht.

»Wenn schon Pflegestufe, dann maximal die eigene, nicht wahr!«, hebt sie ihr Glas und prostet der Dame vis-à-vis entgegen. Reaktion darauf gibt es natürlich keine, was soll aus einem Kosmetikspiegel schon groß zurückkommen außer dem Blick auf sich selbst, und der hat es durchaus in sich.

Cha-Cha-Cha.

Die Caballeros am Copacabana,

die rannten ihr immerzu hinterher,

da lief sie weg und vor Schreck gleich ins Wasser.

Dabei ertrank sie beinah noch im Meer …

Acht, neun, zehn, na, was gab’s denn da zu seh’n?

Ihr ansonsten in die Stirn gezogenes schwarzes Kopftuch hat sie gegen ein rosa-grün gestreiftes ausgetauscht, es sitzt locker hinterm Haaransatz; die stets glatt geföhnten, zu einem strengen Knoten geflochtenen Haare, nun luftgetrocknet zu exakt denselben Locken gekringelt wie schon vor siebzig Jahren; ja, und weil sich ihr Prosecco-Spritzer weiter zugunsten des Eierlikörs verbessert hat, ist auch noch das dunkelblaue Kittel- dem altrosa-grün geblümten Wickelkleid mit Bindegürtel gewichen.

Ja, ja, der Übermut.

»Hilft ja alles nix!«, beendet Hannelore Huber folglich die mühselige Prozedur, leert zügig ihr letztes Glas und schlüpft in ihre knöchelhohen Schnürschuhe. Nicht dass ihr noch das Zaudern und schließlich Kneifen kommt.

Denn Spaß wird das jetzt keiner.

Als hätte der unerfreuliche Ausflug am letzten Wahlsonntag nicht schon gereicht, muss sie nun neuerlich ins Dorf hinunter. Und diesmal ist die Aufgabenstellung weitaus komplizierter. Diesmal nämlich heißt es nicht, sich aus zwei angebotenen Übeln für das kleinere zu entscheiden, sondern drei ungute, möglicherweise pikante Aufgaben erledigen.

EINS: Der Kappelberger Luise eins auswischen, weil zum Spaß schmeißt sich die alte Huber ja schließlich nicht so in Schale.

 

ZWEI: Den hiesigen Märchenprinz besuchen und der Dorfältesten Herta Wohlmuthseder ihren gewünschten Geburtstagskuchen besorgen.

 

DREI: Den neuen Bürgermeister Toni Bruckner, diesen Muttermörder, aufhussen, vor seiner Nase mit einem fetten Köder die Angel werfen.

Ja, Muttermörder.

Da ist die alte Huber nämlich schon zu lange auf dieser Welt, um sich einreden zu lassen, es könnte ein Zufall gewesen sein, wie da einen Tag vor dem Urnengang das Leben der greisen Brucknerwirtin Antonia justament in ihrem ausgekühlten, heißgeliebten Kaiserschmarrn endet. Und prompt wird auch der Dorftrottel Waldemar Wurm, der wohl glühendste Verehrer des Bürgermeisters a.D. Kurt Stadlmüller des Eintunkens bezichtigt. Grund: Seine im Vorgarten gefundene signierte Peter-Alexander-Uhr. Weshalb indirekt auch Kurt Stadlmüller selbst unter Verdacht steht. Anstiftung zum Mord. Er, der stets erreichbare Hausarzt, an diesem Abend aber ausnahmsweise tatsächlich nicht im Dienst und auf Besuch seiner eigenen Wahlkampf-Abschlussveranstaltung. Klarerweise nicht drunten in der Gaststube seines Konkurrenten Toni Bruckner, sondern drüben auf Burg Ebersfeld in der neu eröffneten Wacholder-, Wein- und Käse-Bar namens Gin, Vino & Veras Kas, angelehnt an

IN VINO VERITAS

Im Wein liegt die Wahrheit.

Schön weit weg also, um kommod aus der Schusslinie zu sein, wenn der Parteifreund Waldemar Wurm hier in Glaubenthal das schäbige Kaiserschmarrn-Attentat verübt.

Logisch gewinnt dann tags darauf der Brucknerwirt die Wahl und holt nach Jahrzehnten endlich wieder das Bürgermeisteramt zurück in seine Familie.

Kurzum: Sie ist schon deutlich lieber ins Dorfzentrum spaziert, die alte Huber. Und das will was heißen, denn gern war sie noch nie dort unten. Folglich darf sich auch so ein Schuss Eierlikör ausnahmsweise auf das ein oder andere Glas Prosecco aufspritzen lassen.

Man gönnt sich ja sonst nichts.

Und Frau noch viel weniger.

Cha-Cha-Cha.

3Hanni

Endlich ist sie aufgebrochen.

Heute, an diesem 21. April.

Hertas neunundneunzigstem Geburtstag.

Der Nebel hat ein kleines erstes Fenster geöffnet. Deutlich kann er durch sein Fernglas beobachten, wie sie den schmalen Pfad zwischen den Feldern ins Dorf hinab unterwegs ist. Bierflaschenhoch bereits die Wintergerste, weit ausschwingende Blätter, die Hannelores Schnürstiefeletten verschwinden lassen, das Braun des Ackers verdecken. Ein wenig wackelig wirkt ihr Schritt, aber beschwingt.

 

Müde ist er, nach dieser harten Nacht. Kein Schlaf. Kein Nachlassen. Kein Zögern.

Ein Fest hätte es werden sollen.

Ein großes Fest im kleinen Rahmen. Eine Freudenfeier.

Auf das Leben anstoßen. Einmal noch.

Nicht so wie es Kinder meinen: Noch einmal, noch einmal, noch einmal! Sondern ein letztes Mal.

Sich wiedersehen. Die Gemeinschaft spüren.

Sich als Teil der anderen erleben. Als wesentlich, nicht nur für sich allein. Es wertschätzen, was war, was gelungen und vielleicht auch was geworden ist. Einander danken, wenn nötig einander um Vergebung bitten. Und es ist anders gekommen.

Völlig anders.

Nicht das Leben wurde gefeiert, sondern der Tod betrauert.

»Geh jetzt Leni, du musst hier weg. Ich kümmere mich um alles.«

»Aber was ist mit Hanni. Wir müssen ihr sagen, was sie erwartet. Sie einweihen.«

»Müssen wir nicht. Niemanden wird es erfahren.«, war seine Antwort. »Alles hat sich nun verändert, und die Dinge werden ihren Lauf nehmen. Vielleicht bringt es Gutes. So wie der Frühling.«

Seine Zeit.

 

Kaum eine Phase des Jahres sehnt er so herbei wie diese. Wenn er auch ohne Kalender weiß: Der April ist bald überstanden.

Die Pointner Bettina steht wieder bauchfrei neben der Glaubenthaler Bundesstraße und verkauft aus ihrem schäbigen Holzhäuschen heraus den ungarischen Spargel als biologisch einheimischen. Die Jägersleut’ schießen sich emsig für ihre Maiböcke auf Wildschweine warm. Die Nationalisten hissen gar nicht so heimlich ihre Flaggen und Fähnchen. Die Allergiker niesen. Die Triebe sprießen. Die Sprühregner gießen.

Rundum schließen die Hecken ihre letzten lichten Stellen, spannt der Frühling sein üppig grünes Tarnnetz aus, und wenn das kein Segen ist, was dann?

Ein Dorf, das bereits zu Kaiserzeiten als Streusiedlung gewachsen und mehr als ein Jahrhundert später immer noch eine Streusiedlung geblieben ist, will eben mit seiner Geselligkeit, seiner Weltoffenheit nicht groß in die Geschichte eingehen. Groß sind hier nur die Geheimnisse und Distanzen zwischen den einzelnen Adressen. Wer da mit dem Vorhaben »Seid fruchtbar und mehret euch!« außer Haus geht, kommt in den meisten Fällen gleich gar nicht mehr zurück.

So wie Heike Schäfer, die Eigentümerin der hiesigen Gemischtwarenhandlung. Nur der Gaudi halber ist sie letzten Sommer fünfzig Kilometer weit in die Disco DreamOngefahren. Motto der Paartanzveranstaltung: Die 70er für 50plus. Getroffen hat sie dort den verzweifelten Ferdinand Schubert. Seines Zeichens wohl Legastheniker: »Ist das nicht der Abend: Die Fünfziger für Siebzig-Plus?« Herzergreifend. Slowfox. Rumba. Langsamer Walzer. Und offenbar fühlten sich die zwanzig Jahre Unterschied für Heike Schäfer bald ziemlich nahe an. Besser einmal zehn davon gemeinsam als beide einsam. Neues Leben irgendwo, die Gemischtwarenhandlung geschlossen.

Prächtigere Voraussetzungen, um in aller Ruhe endgültig auszusterben, könnte es für ein Dorf kaum geben.

 

Seinen Feldstecher muss er auf die Oberkante des halb geöffneten Seitenfensters legen. Zu schwer fällt es ihm sonst, still zu halten, sein Zittern zu kontrollieren. So lange waren sie verschwunden, und nun sind sie wieder zurück, mit aller Wucht:

Die Wut. Die Angst. Die Ohnmacht.

»Bist ein guter Mensch!«, flüstert er der wieder im Nebel verschwindenden Hannelore zu.

Weiches Herz in rauer Schale. So treu und verlässlich ist sie das letzte Jahr für Herta herummarschiert, weil Herta selbst nicht mehr konnte. Zu abgelegen ihr mächtiger Vierkanter, der Wohlmuthseder-Hof. Zu uneben das Gelände, zu unwahrscheinlich die Aussicht, mit ihrem Rollator den einzigen Nahversorger im Umkreis von fünf Kilometern, sprich Heike Schäfer, ohne Rettungseinsatz zu erreichen.

Also hat Hannelore der längst zur Freundin gewordenen Dorfältesten Grundnahrungsmittel aus dem Hofladen des Schusterbauern gebracht; Obst, Gemüse, Kräuter aus dem eigenen Garten; Eier aus Carusos Hühnerstall. Hat sie versorgt mit Eingemachtem, Gekochtem, Gebackenem.

So auch heute. Ein Kronberger-Gugelhupf zu Tante Hertas Geburtstag soll es sein. Ein erheblicher Aufwand, ja Umweg für Hanni wird es werden. Nur ist auch der Umweg ein Weg.

 

Seine Augen brennen, das so scharf reflektierende Weiß lässt ihn blinzeln. Und doch hält er stand, will nichts versäumen. Wie oft noch wird er diesem Wunder, dieser Verwandlung zusehen können, wenn sich die letzten Nebelschwaden verziehen, die Sonne durchbricht und dieses Land beleuchtet, wenn alles den Anschein erweckt, Glaubenthal wäre jene Idylle, nach der sich die Verlorenen sehnen, die Getriebenen, die Verdammten.

Um zur Ruhe zu kommen.

Frieden zu finden. Erlösung.

Alles Illusion.

 

Mit weit überhöhter Geschwindigkeit sticht der Kronberger-Bus aus dem Wald, rast wie üblich die Bundesstraße entlang auf Glaubenthal zu. Unwissend, welcher Stein dadurch ins Rollen gebracht, welche Gerölllawine losgetreten wird.

Zeit auch für ihn aufzubrechen.

Schön gemächlich.

Denn an sich selbst kommt auch der Schnellste nicht vorbei.

4Tratschweib gegen Pegelsäufer

Sie hat ja mit vielem gerechnet, die alte Huber, in kürzester Zeit aber dermaßen die Nase voll zu haben, übertrifft nun wirklich ihre kühnsten Erwartungen.

Was waren das einst noch für herrlich naturbelassene Zeiten, als hier in Glaubenthal an jeder Ecke ein Misthaufen in Höhe und Breite schoss, je größer der Umfang, desto besser. Die ganze Gegend hat danach gerochen. Ja, und wer den größten und schönsten vor seinem Hof liegen hatte, wurde auch als der potenteste Bauer geachtet. So simpel, so effizient.

Scheiße als Statussymbol quasi.

Auf derart schlichte Ideen kann natürlich auch nur ein Mann kommen, und wenn sie ehrlich sein soll, die alte Huber: Die einfachsten Einfälle sind zwingend nicht immer nur die schlechtesten. Denn eine Duftwolke hängt nun zwecks weiblicher Standesbekundung über dem Hauptplatz, als wären in der Parfümerie Schmalzl drüben in Sankt Ursula alle Fläschchen explodiert.

Unerträglich, der Geruch, penetrant. Und nicht nur das.

Zig Glaubenthalerinnen haben sich hübsch gemacht zwischen Kriegerdenkmal und Sommerlinde eingefunden. Wo sollen sie auch sonst hin? Seit die Gemischtwarenhandlung Schäfer endgültig ihre Pforten geschlossen hat, öffnet sich eben nur noch zweimal wöchentlich das örtliche Einkaufsparadies, sprich die Schiebetür des weißen Kronberger-Busses, und gibt dem Zentrum kurzfristig seinen Mittelpunkt zurück. Dienstags und freitags. Feilgeboten werden frisches Brot und knackiges Gebäck, Semmeln, Salzstangerln, Vinschgerl, Kornspitz, mürbe Kipferl und weiß der Himmel was. Dazu Grundnahrungsmittel à la Milchprodukte, in Plastik eingeschweißter Scheibenkäse und Wurstaufschnitt, Marmelade, Aufstriche.

Gaifahren eben. Wenn der Kronberger-Bus durch die Gegend fährt, von Haus zu Haus, abgelegene Höfe versorgt, alten, kranken, weniger mobilen Menschen, Alleinstehenden ohne Führerschein, Müttern mit ihren Babys den weiten Weg zum nächsten Supermarkt erspart. Auch genannt Bauern-Gai. Aus dem Altdeutschen Gau. Region, Revier, Bezirk.

Wer hier im Dorf das Wort nicht kennt, ist garantiert noch keine zwölf Jahre alt. Alle anderen, die sich mit einem fahrbaren Untersatz auf die Straße wagen, egal ob Roller oder E-Scooter; Radl oder e-Bike; Moped, Maschin’ oder KFZ, durften sich bereits von der hiesigen Polizei in Gestalt von Wolfram Swoboda oder Angelika Unterberger-Sattler mit folgenden Worten auf ihre Fahrtauglichkeit überprüfen lassen: »Bevor ich dich ins Röhrl blasen lass, wiederholst du mir folgendes kleines Gedicht, und zwar hochdeutsch und deutlich:

Heut’ kommt der Hans zu mir!,

freut sich die Lies’.

Ob er aber über Oberammergau

oder aber über Unterammergau

oder aber überhaupt nicht kommt,

das ist net g’wiss!

Wird das unfallfrei nachgesprochen, heißt es mit ein bisschen Glück weiterfahren. Wehe aber, es wird ein »Obaübaabaobamagau« draus .

Kennt hier in Glaubenthal also von zwölf bis hundert aufwärts jeder, diesen launigen Kanon. Im Liederblatt der Hitlerjugend, 3. Jahresband 1937, stand er außerdem. Ja, und gar nicht so wenigen hier in der Gegend wäre beispielsweise so ein Pongau, Pinzgau, Lungau, Flachgau, Tennengau ohne Pon, Pinz, Lung, Flach und Tennen vorne dran immer noch das Liebste.

Gau. Als regionale Organisationseinheit der NSDAP.

GAU. Nicht umsonst zugleich die Abkürzung für größter anzunehmender Unfall. Ja, und für Hannelore Huber beginnt nun ein Abenteuer, dessen Auswirkungen in gewisser Weise in ihren persönlichen Super-GAU münden werden.

Zögerlicher als geplant nähert sich die alte Huber nun Glaubenthals Hauptplatz. Ein auf Anhieb ungutes Gefühl erfasst sie, bereits schon aus der Ferne beäugt. Von leeren, toten Augen. Was einzig an den immer noch zuhauf herumstehenden Plakatständern mit immer noch denselben beiden G’sichtern liegt.

Einmal abgebildet der Brucknerwirt, wie er in weißer Kochschürze auf irgendwelche Gäste zuspaziert, zwar niemand aus dem Dorf, aber doch recht lebensnah, weil durchweg Rentner. Launig sitzen sie vor ihren teils leeren Krügerln und lächeln ihm erwartungsvoll entgegen. Wahrscheinlich bringt er grad Nachschlag oder serviert seine beliebten Schnitzelsemmeln. Darunter der Wahlslogan: Einer, der auf unsere Werte schaut. Das ist mein Bürgermeister. Gäriges und Gebackenes. Werte eben.

Einmal der Bürgermeister und Dorfarzt in Personalunion, Bürgerdoktor Kurt Stadlmüller. Sein Slogan: Einer, der am Boden bleibt. Das ist mein Bürgermeister. Künstlich lächelnd steht er leger gekleidet, sprich mit weißem Hemd und grauem Sakko, in seiner Praxis, einen unbekannten Gschrappen huckepack. Spitzenidee natürlich, sich extra ein ausgeborgtes Kind aufzuladen, um anderen grinsend zu dokumentieren, ja eh schön bodenständig geblieben zu sein. Bravo.

Ein Plakat also dämlicher als das andere und doch verdammt übereinstimmend. Wer da warum bei wem abgeschaut hat, bleibt ein Rätsel, auch wenn der Dorfälteste Alfred Eselböck dafür eine Erklärung hat: »Wahrscheinlich waren beide Kandidaten bei demselben Politberater auf Häfenbesuch?«

Ja, und auch die alte Huber wird nun betrachtet, als wäre in irgendeinem Knast grad Hofpause und sie die einzig Neue.

»Wer ist die Trulla?«

»Hams dem Feichtinger endlich eine Ganztagshilfe g’schickt?«

»Oder dem Birngruber Sepp so eine ausm Katalog?«

»Ich könnt wetten, ich hab die schon mal g’sehen?«

Dann endlich. Spargelprinzessin Betti Pointner sorgt für Erlösung: »Des ist doch die Huberin! Ja, griaß di, Hanni. Was für eine Freud! Bist auf Shopping-Tour?«

»Griaß di, Pointnerin! Freu dich halt nicht zu früh, weil Spargel kauf ich dir keinen ab!«

Lautstark Bettis Lachen: »Das weiß ich doch, du Geizkragen bist ja nicht einmal beim Sparverein!« Ein erstes gelöstes Kichern auch in der Menge, dazu ein mehrstimmiges:

»Griaß di, Huberin!«, »Ja, Hanni!«,

»Lang nicht g’sehen!«, »Geht’s leicht Semmeln holen?«

»Und ihr seid’s leicht der Zoll? Weil’s alles so genau wissen wollt«, will die gute Hannelore hurtig als Letzte in der Reihe Aufstellung nehmen, da saust ihr vor der Nase der Brunner Klaus vorbei. Älterer Sohn des hiesigen Postlers Emil. Grad, dass er ihr nicht über die Schnürschuhspitzen fährt, mit seinem Enduro-Plagiat. Eine Elektro-Kraxn.

»Ja, Herrschaftszeiten, will’st mich umbringen?«

Ein Elend so was. Sogar die Halbstarken mit ihren einst auffrisierten, hysterisch aufheulenden Mopeds, deren bedrohliches Heranrollen schon aus weiter Ferne zu orten war, haben die Vorteile der Lautlosigkeit entdeckt. Dennoch geht Klaus Brunner hier als Rowdy durch. Ein Fleischerlehrling. Sechzehn, breitschultrig, muskulös, stets durchgehend in schwarz gekleidet, nur das »N« am Rand seiner schwarzen Sneaker ist ein weißes. Tschick-Stummel, Energiedrink-Dosen, Bierflaschen die in der Gegend herumliegen, Kaugummis die am Boden Kleben, Speichelbatzen die herumhängen, alles seines – so das gewiss berechtigte Vorurteil. Dennoch scheint es bei so manchem im Dorf längst vergessen, wie wenig Licht es nach Heben der getönten Plexiglas-Front des entsprechenden Vollvisierhelme einst in der eigenen Birne wurde.

»Wo ist denn der Eselböck? Der sitzt doch immer unter der Linde vor seiner Bücherei!«, ruft Klaus nun unter seinem Kopfschutz heraus, entsprechend die Antworten aus Hannelores Hintergrund. »Willst dir leicht was für Erstleser ausborgen?«

»Immer noch besser als für Letztklassige!«, zieht Klaus davon. So blöd war die Antwort jetzt nun auch wieder nicht, denkt sich die alte Huber, dreht sich um – Und logisch kommt, was kommen muss.

5In Schale

Luise Kappelberger und ihr Schatten sind im Anmarsch.

Wobei von Marsch keine Rede sein kann, denn wie gesagt. Großeinkauf bei HSG. Hört schlecht – Sieht schlecht – Geht schlecht.

Hermann Windisch. Einstiger scharfsichtiger Oberförster der Burg Ebersfeld und somit irgendwie adäquater Nachfolger von Pfarrer Feiler. Spitzname: Der Aufsichtsrat. Mittlerweile Brillen wie Flaschenböden. »Schnapsglasn« werden sie in Glaubenthal liebevoll genannt. Wenn er nicht grad bei Luise nächtigt, präpariert er in seiner Jagdhütte erlegte Tierchen, und ja, da kann es dann sogar ohne Alkoholisierung durchaus vorkommen, dass so ein Mader-Obergestell irrtümlich mit dem Untergestell einer räudigen Fuchse versehen wird, oder sich so ein Biber aus Bisamratte, Fischotter und überfütterte Hauskatze zusammensetzt.

»Na bitte, Mandi, ich hab’s dir ja g’sagt«, schiebt Luise ihren Neuen nun durch die Gegend, »so viel Leut’ sind schon da. Aber nein. Du wolltest ja nicht folgen!« Lauter wird die Stimme, auf dass sie auch schön Gehör findet: »Du hättest z’haus bleiben sollen, mit deiner Hüftn!« Noch lauter: »Dort, schau, nach dem Blumenkleid stellen wir uns an. Jetzt komm, Mandi!«

Das muss man natürlich mögen, sich, ohnedies nicht grad mit Größe beschenkt, als »Mandi« bezeichnen und dann noch herumschieben zu lassen. Ruckzuck steht der hatscherte Hermann Windisch entsprechend angestupst hinter Hannelores Wickelkleid, und seine Domina Luise Kappelberger direkt daneben.