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Gesundheitszustand während Kur rapide verschlechtert: Ein Toter schwimmt am Beckengrund! Der Sonnhof – ein Ort der Entspannung? Das Kurbad: ein Ort, an dem man sich so richtig treiben lassen kann. So auch der Plan von Danjela Djurkovic, die sich bei gutem Essen, Physiotherapie und Massagen von einer Verletzung erholt. Richtig treiben lässt sich allerdings ein Toter, der am Grund eines Beckens umherdümpelt. Nackt! Sofort ruft sie ihren Willibald Adrian Metzger zu Hilfe. Der entfernt sich zwar ungern von seiner Werkstatt und noch unwilliger von der Stadt, seiner Danjela aber kann er nichts abschlagen. Der Metzger hat es eigentlich schon geahnt: Die Familien hier am Land verstecken Leichen nicht nur im Keller. Und auch nicht immer im Ganzen. Als ein Ring samt Finger auftaucht, ist endgültig klar: Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Und dann gibt es da auch noch ein Haifischbecken … Der Metzger – ein Original Der Metzger, das ist einer, der alte Dinge liebt und den auch du liebgewinnen wirst, weil er selbst ein bisschen was von einem schrulligen, aber sehr besonderen Möbel hat. Als Restaurator kennt er die Schönheit eines Gegenstands, wenn dessen abgenutzte Oberfläche eine Geschichte erzählt. Er ist einer, der gerne allein ist, manchmal allerdings war er auch einsam, bevor Danjela in sein Leben trat und es heller und schöner machte. Er ist einer, der in der Schule gemobbt wurde, weil er zu klug und zu weich war für die wilden Bubenspiele am Pausenhof. Einer, der gerne Rotwein trinkt, mitunter viel zu viel. Doch auch, wenn mit dem Wein manchmal die Melancholie kommt, weiß er um die schönen Seiten des Lebens. Und um die lustigen. Vor allem aber ist der Metzger einer, dem das Verbrechen immer wieder vor die Füße fällt, manchmal stolpert er sogar mitten hinein. Und dann muss er, sehr zu seinem Leidwesen, aber zur Freude einer großen Leserschaft, die gemütliche Werkstatt verlassen und Nachforschungen anstellen … Der Raab – ein Kultautor Der Raab, das ist einer, der einen unverwechselbaren Stil hat, den du sofort wiedererkennst. Schräger Humor, authentische Charaktere, Wortwitz, feine Gesellschaftskritik; vor allem eine extrem gute Beobachtungsgabe und zugleich die Fähigkeit, die Beobachtungen treffend-komisch aufs Papier zu bannen, das ist die Mischung, die ihn so erfolgreich gemacht hat. Beim Lesen wirst du es manchmal schwer haben, zu entscheiden, ob du gespannt der Auflösung entgegenfiebern oder dir lieber doch möglichst viel Zeit lassen möchtest, um das Lesevergnügen voll auszukosten.
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Seitenzahl: 389
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Thomas Raab
Der Metzger geht fremd
Kriminalroman
„Wer keine eigenen Entscheidungen treffen will, den treffen die Entscheidungen der anderen.“
„Das größte Schwein ist der Mensch“, hat seine Mutter immer gesagt. Mittlerweile weiß der Metzger, wie sehr diese Erkenntnis vor allem das Schwein beleidigt. Ganz abgesehen davon: So eine Sau schwitzt nicht, sie legt sich niemals ungeschützt in die Sonne, und es entspricht ihrem natürlichen Verhalten, immer dasselbe Plätzchen zum Erledigen ihres Geschäfts zu frequentieren. Menschen hingegen hinterlassen es überall, mit Vorliebe im Leben der anderen.
Eine Wagenladung Krempel, die bei Nacht und Nebel in einen fremden Sperrmüllcontainer hätte wandern sollen, kann also durchaus vom rechten Weg abkommen und sich als kleines Häufchen Elend vor die Werkstatt eines Restaurators verirren. Fluchend betrachtet Willibald Adrian Metzger das Werk seiner Artgenossen. Wenn unter all dem Ramsch, den er bisher mühselig mit seinem Freund, dem Hausmeister Petar Wollnar, und dessen Pritschenwagen zu entsorgen hatte, wenigstens ein einziges Mal eine Rarität zu finden gewesen wäre! Aber nein, die Menschen überlegen sich eben nicht nur sehr genau, was sie wegschmeißen, sie sind in ihrem Überfluss auch noch geizig. In Kellern oder auf Dachböden vermodernde wertvolle Antiquitäten gäbe es nämlich zuhauf.
So nimmt der Tag also seinen unerfreulichen Lauf, jetzt, wo dem Willibald beruflich ohnedies gewaltig der Hut brennt. Es dauert, bis all der Unrat in den Hof geräumt ist, und wie der Metzger schließlich schweißgebadet das vorletzte Stück, eine tapezierte Kastentür, anhebt, eröffnet sich ein unverhoffter Anblick. Da amüsiert sich das Schicksal heute ja offenbar ganz besonders auf seine Kosten, so ein entsetzliches Abfallprodukt der Sechzigerjahre anzuliefern. Eines, das er aus Geschmacksgründen eigentlich gerne wegschmeißen würde, aus beruflichem Ethos aber nicht wegschmeißen darf. Für den Müll ist dieser hässliche schwarz lackierte Barschrank mit schwenkbarer weiß beschichteter Deckplatte, integriertem Kühlschrank und versenkbarem Tablett eindeutig zu schade.
Jetzt hat er also sein Fundstück.
Widerwillig schleift der Metzger diese ihm zugedachte Designernotdurft in seine Werkstatt und widmet sich endlich seiner Arbeit. Und die könnte unerfreulicher nicht sein.
„So etwas mach ich nicht!“, wäre die richtige und vor allem ehrliche Antwort gewesen. Aber nein, ein: „Gerne, Frau Pollak“ ist es geworden. Was hätte er auch tun sollen?
Ein Restaurator muss sich um jeden seiner Auftraggeber bemühen, vor allem um die einträglichsten. Und weil das eben so ist bei den großen Geschäften, dauert es nicht lange, und es geht los mit den kleinen Gefälligkeiten: „So viel lassen wir bei Ihnen herrichten. Da bin ich mir ganz sicher, Sie können diese Kleinigkeit zwischendurch einfließen lassen!“, hat sie herablassend gemeint, die Frau Pollak. Das Einzige, was Willibald Adrian Metzger während der Arbeit zwischendurch einfließen lässt, ist ein gutes Achterl Rotwein.
Außerdem, was heißt Kleinigkeit? Gerade die Kleinigkeiten samt der dafür notwendigen Feinmotorik kosten einen Restaurator Zeit, auch wenn, wie in diesem Fall, das Ergebnis unnötiger nicht sein könnte. Der Metzger wüsste sich nämlich wirklich eine sinnvollere Tätigkeit, als mühsam zwei abgebrochene Pfeile eines geschnitzten, an einen Stamm gefesselten heiligen Sebastian nachzubilden, nur damit der arme Kerl, wenn er als originelle Fünfziger-Überraschung in die Kanzlei Dr. Michael Pollak darf, einen schönen amtlich durchbohrten Eindruck hinterlässt.
Jetzt legt der Metzger aber grundsätzlich eine Gründlichkeit an den Tag, da könnten sich jene großen Zauberer, die innerhalb einer Legislaturperiode staatliche Gelder gründlich ins Nichts verschwinden lassen und wie aus dem Nichts diesen Geldern folgen, ein Beispiel nehmen. Folglich ist es am Spätnachmittag vorbei mit seiner Geduld. Verärgert schmeißt er das kleine Schnitzeisen auf die Werkbank, blickt sich mürrisch um, sieht den längst fälligen Gründerzeit-Schreibtisch einer verliebten Witwe, den wartenden Biedermeiersekretär eines ehemaligen Obersten und – den Barschrank.
Und weil sich so ein Stiefkind ja hervorragend dazu eignet, für diverse Unannehmlichkeiten sein Köpfchen hinhalten zu müssen, beschließt der Restaurator, nach einem Tag voll ärgerlicher Zeitvergeudung, entsprechend Hand anzulegen. Wie besessen beginnt er also die Deckplatte aufzupolieren. Der Schweiß tropft ihm von der Stirn, als säße er in der Sauna auf dem obersten Bankerl. Hurtig bewegen sich seine kräftigen Arme über die Oberfläche, bis er schließlich seinem Spiegelbild gegenübersteht: wohlbeleibt, in der zweiten Hälfte seines Lebens und allein. Bis auf das Alter hat er alles sich selbst zu verdanken, sein Übergewicht und sein Strohwitwerdasein.
Niedergeschlagen macht er sich nach getaner Arbeit auf den Heimweg. Es folgen eine ausgiebige Dusche, die nichts von seiner Schwermut wegwäscht, und ein diesbezüglich, so hofft er zumindest, erfolgreicherer Blaufränkischer. Willibald Adrian Metzger hockt in seinem Chesterfieldsofa und bemitleidet sich selbst. Mit dem Alleinsein ist es anders als mit dem Radfahren. Es ist verlernbar, und bei plötzlichem Auftreten bringt es uns aus dem Tritt. Niemals hätte er sich in seiner erst kurz zurückliegenden Existenz als Einzelgänger vorstellen können, eines Tages mit so einem Auf-sich-selbst-geworfen-Sein nichts anfangen zu können. Die Schulwartin Danjela Djurkovic und er leben zwar nicht zusammen, füllen ihre eigenen Kühlschränke und Speisekammern, haben zwar die Ersatzschlüssel zur Wohnung des anderen, sehen sich beinah täglich, nächtigen trotzdem unter der Woche jeder für sich im eigenen Doppelbett, und doch sind sie verbunden mit einer nicht mehr wegzudenkenden Selbstverständlichkeit, mit einer Ahnung von „Bis dass der Tod euch scheidet!“.
Wie sehr er sie vermisst. Denn jetzt ist sie weg, die Djurkovic, genauso wie ihr Hund, und dem Metzger bleiben nur das Selbstmitleid, der Rotwein und die Arbeit.
Was gibt es Schöneres als den geregelten Müßiggang, als die servierte Befriedigung aller Grundbedürfnisse inklusive professioneller medizinischer Betreuung? Und all das mitten im Grünen, vor glasklarem Binnengewässer am Fuße silbrig glänzender Berge.
Natürlich gibt es etwas Schöneres. Etwas Schöneres gibt es immer, und wenn etwas zur Gewohnheit wird, ist es ohnedies vorbei mit der ganzen Pracht. Frühstücks-, Mittags- und Abendbüfett, Massage-, Physio- und gelegentliche Psychobehandlungen, lupenreiner Satellitenempfang von über dreihundert Sendern, Leseecken mit breit gefächertem Lektüreangebot, ein monströses Doppelzimmer mit Traumbad inklusive Whirlpool, getrenntem Schlaf- und Wohnraum, beide mit märchenhaftem Blick auf den glasklaren See, und dazu jede Menge alleinstehender Männer – all das wird durchaus jenem Bild gerecht, welches sich Danjela Djurkovic in vergangenen Zeiten vom Paradies auf Erden so ausgemalt hat. Da gab es allerdings den Metzger noch nicht.
Und jetzt?
Jetzt hockt sie da, allein, am Ende der Welt, zwischen gigantischen Nadelhölzern inmitten betagter Herren, die mit jeder Geste den Eindruck erwecken, sie müssten die Bereitwilligkeit zum ungezügelten Beweisakt ihrer immer noch intakten Manneskraft zur Schau stellen.
Partnervermittlung ist ja keineswegs dem Grundsatz der Freiwilligkeit untergeordnet, viel eher gilt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das fügt dir jemand anderer zu.“
Das beginnt bei krampfhaft nach Ehepartnern suchenden Müttern, geht über den missionarischen Eifer ungefragt kuppelnder Freunde und endet beim ärztlichen Verordnungsschein zum Kuraufenthalt.
Begeistert war sie also nicht über diese Zuweisung, die Djurkovic, vor allem nach ihrem ohnedies so langen Spitalsaufenthalt: „Gerade jetzt, wo bin ich zu Hause bei diese Metzger-Einzelgänger! Is nix gut, vielleicht kriegst du wieder Gusta auf Einsiedelei?“ Verschmitzt und mit unterwürfigem Blick hat die Danjela dem Willibald zugelächelt, vielleicht in der Hoffnung auf ein: „Bleib doch zu Hause, die beste Kur erhältst du ohnedies bei mir!“
Ohne Erfolg. Die alternative Metzger-Antwort dürfte ihr aber dennoch trotz der vorhandenen Nüchternheit irgendwie geschmeichelt haben: „Glaub mir, bevor ich dich nach einer Kur sitzen lass, passiert das eher umgekehrt!“ Als hätte der Willibald bereits geahnt, wie sehr bei so einem Erholungsaufenthalt in der Wildnis das Wildern im Zentrum steht.
Die ersten zwei Wochen waren also für die Djurkovic trotz himmlischer äußerer Bedingungen die Hölle. So viele Komplimente, Aufwartungen und Einladungen, allesamt vorgetragen mit schmierigem Lächeln, hat die Danjela selbst in ihren besten Jahren nicht erhalten. Alles, was sie bisher dabei empfunden hat, war eine tiefe Sehnsucht nach einer Welt ohne Zahnprothesen.
Wenigstens fehlt es der Djurkovic nicht am Mut zur Lücke. Bei Gruppentherapien, diesem Schaulaufen vor versammelter Klientel, bleibt ihr Platz in der Reihe der angetretenen Teilnehmer leer. Da unternimmt sie lieber einen Spaziergang oder einen kurzen Badeausflug.
Schwimmen geht die Djurkovic mittlerweile ausschließlich in den See, auch wenn der in diesem bis jetzt kläglich versagenden Sommer nur knapp an der Einundzwanzig-Grad-Marke kratzt. In das Becken des hauseigenen Hallenbads mit seinen unzähligen Sprudeln und Springbrunnen setzt sie nämlich keinen Fuß mehr, die Danjela, denn wer niemanden zum Kuscheln findet, kuschelt dort mit den Düsen.
Prof. Dr. Berthold, medizinischer Leiter des Kurhotels Sonnenhof, dem selbst angesichts seines Räusperticks ein betreuter Urlaub in einem Psychosomatik-Therapiezentrum recht guttäte, hat der Djurkovic zwar während eines Vieraugengesprächs streng erklärt, die Unterwassertherapie mit ihrer einzigartigen Mischung aus Auftrieb und Widerstand sei eine der Grundsäulen der Rehabilitation. Die Danjela hat daraufhin jedoch gemeint: „Grund für meine Widerstand, Herr Doktor, ist gerade wegen einzigartige Auftrieb! Bei dem, was da kommt an Oberfläche oder was schwimmt in Wasser, bin ich mehr krank nach Wassertherapie als vor Wassertherapie!“
Was den einzigartigen Auftrieb betrifft, wird die Djurkovic noch ganz schön ins Strudeln kommen, auch ohne Düsen.
Zum Glück hat da am dritten Tag ihres Aufenthalts eine Düse der ganz anderen Art ihre Bahn gekreuzt: Helene Burgstaller. Und das beinah im rechten Winkel. Denn bei der mit geschlossenen Augen durchzuführenden einbeinigen Gleichgewichtsübung im Gymnastikraum ist dieses schlagfertige Prachtweib nach einigen verzweifelten Ruderbewegungen quer auf der ausgerollten grünen Schaumstoffmatte vor der Djurkovic zum Liegen gekommen.
„Schade, dass wir sind nur Frauengruppe, hätten Männer sicher große Freude mit so bereitwillige Umfaller auf Matratze!“
„Das wäre für mich dann allerdings wieder eine Übung mit geschlossenen Augen. Denn mit offenen ist mir in diesem Haus die Aussicht auf Sie bedeutend lieber!“, so die Antwort der Burgstaller und der Beginn einer wohltuenden, von übereinstimmendem Sarkasmus dominierten, sehr begrenzten Lebensabschnittspartnerschaft.
Seither betreiben die beiden zu zweit, in einem Eck des gigantischen Speisesaals sitzend, als kleinstmögliche Selbsthilfegruppe dreimal täglich eine nicht zu überhörende Unterhaltungstherapie, lautstark ihre eigene Grundsäule der Rehabilitation demonstrierend: Lachen ist die beste Medizin.
Und weil aus diesem Winkerl ein stetes Prusten und Gackern über die Köpfe der Anwesenden hinwegfegt, hat sich der Bekanntheitsgrad der beiden mittlerweile flächendeckend auf den Speisesaal und somit das gesamte Kurhotel ausgebreitet.
Was abermals zu einem Gespräch, diesmal unter sechs Augen, mit Prof. Dr. Berthold und einer weiteren Ergänzung der Djurkovic-Rehabilitationsgrundsätze geführt hat: Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich völlig ungeniert. Bei Danjela betrifft diese Schamlosigkeit hauptsächlich die Einhaltung, oder eigentlich die Nichteinhaltung, der Hausordnung. Ungeniert im eigentlichen Wortsinn leben nach wie vor eher die triebgesteuerten Kurgäste. Und während die Allgemeinheit zu später Stunde in den Gemeinschaftsräumen herumhängt, an der Hausbar ein Gläschen trinkt oder sich zur Ruhe oder wohin auch immer legt, durchquert die Djurkovic heimlich das leere Hallenbad, schleicht durch den Wellnessbereich, betritt den angrenzenden Ruheraum, setzt sich mutterseelenallein in eine der fulminanten Entspannungsliegen und beobachtet die Fische in dem überdimensionalen Salzwasseraquarium. Seit dem zweiten Abend ihres Aufenthalts betreibt sie diese kleine Unanständigkeit gegenüber der Sperrzeit des Badebereichs.
So auch heute. Eine beinah gespenstische Stille liegt über dem spiegelglatten Schwimmbecken. Dezent quietschend verhallen die Schritte ihrer Gummibadeschlapfen über den sauberen Steinboden. Auffällig sauber, wie Danjela Djurkovic mit ihrem diesbezüglich professionellen Auge bemerkt. So eine Schulwartin ist nämlich nicht nur Stiegenhausdirektorin, Schlapfensheriff oder Nikotinspitzel, sondern auch noch die Putzfrau ihrer Arbeitsstätte – ein wahres Multitaskingtalent. Durchaus mit Bewunderung für die Gründlichkeit der hiesigen Reinigungskräfte registriert die Djurkovic, dass da kein Tropfen am Boden neben dem Schwimmbecken übersehen wurde. Staubtrocken und blitzblank glänzen die braunmelierten Natursteinplatten. Dann öffnet sie die Tür zum Ruheraum und begrüßt die Fische. Die Lautlosigkeit hat etwas beinah Hypnotisches. Einige der kleineren Fische verharren in einer regungslosen Position im Wasser und treiben still über dem nachgebauten Korallenriff. Sie scheinen mit offenen Augen zu schlafen. Oder zu meditieren?, geht es der Djurkovic durch den Kopf. Ihren Körper hat sie mittlerweile mit seiner ganzen Schwerfälligkeit der Entspannungsliege anvertraut. Warum treiben Fische nicht an Oberfläche? Wovon träumt so eine Viecherl, wenn schläft? Wie lange lebt so eine Fisch? Kann Fisch sehen aus Aquarium, bis zu mir?
Anton & Ernst – Die Erste
Anton: Ernst, mir ist schlecht!
Ernst: Na, das ist ja nichts Neues!
Anton: Was Neues? Hast du nicht selbst behauptet, in unserer Situation auf etwas Neues zu hoffen wäre völlig schwachsinnig?
Ernst: Stimmt. Nur mittlerweile glaub ich, mit einem gehörigen Dachschaden hättest du es garantiert wesentlich leichter als mit deiner ständigen Raunzerei – und ich auch! Jeden Tag ist irgendetwas anderes! Einmal sind es Kopfschmerzen, dann Verdauungsprobleme, gestern war es Zahnweh, dann hast du Angst vor Selbstverlust, und seit Neuestem bist du einsam. Einsam! Obwohl ich da bin! Äußerst schmeichelhaft! Aber egal, ich kann mir’s ja nicht aussuchen. Also, lieber Anton, warum ist dir schlecht? Hast du Hunger?
Anton: Du wirst doch wohl nicht ernsthaft annehmen, dass mein Körper bei dieser miesen Verpflegung, die uns der kümmerliche Glatzkopf mit seinen abstehenden Ohren zum Fraß vorwirft, noch so was wie Hunger kennt? Schlecht ist mir vom ewigen Rundherum! Es ist alles immer dasselbe, tagaus, tagein! Und übr…
Ernst: Und? Glaubst du, draußen ist es anders? Abgesehen davon, kannst du ja jederzeit die Richtung ändern und gegen den Strom schwimmen, den übrigens wir selber erzeugen. Ich kann dir aber jetzt schon versichern, es wäre wieder nur dasselbe Rundherum! Selbst die größten Revoluzzer landen irgendwann in der trostlosen Kreisbewegung des Alltags, in der wir uns alle so lange unaufhaltsam immer mehr dem Abfluss nähern, bis wir schließlich blubbernd im schwarzen Nichts verschwinden.
Anton: Was für ein Genuss, mit dir an der Seite dem Siphon entgegenzusteuern! Da geht es dann gleich noch ein bisserl schneller abwärts. Nur zur Information, lieber Ernst: Bevor ich so eine Lebenseinstellung vertrete, bin ich lieber ein Jammerlappen, das kannst du mir glau…
Ernst: Auch nur zur Information, lieber Anton: Du hast dich dank mir gerade vom wehleidigen Weichei zum genügsamen Sensibelchen gewandelt. Das kostet dich eine Runde!
Anton: Ha, das mit der Runde ist witzig. Linksherum oder rechtsherum?
Ernst: Die Richtung ist völlig egal, ihrem Blick entkommst du auf keinen Fall. Da, schau raus, beim Fenster. Sie ist wieder hier. Wie verloren sie doch in ihrem Liegesessel hockt. Glaubst du, sie will zu uns herein? Da sind wir dann zu dritt!
Anton: Aber nicht lange! Das wäre dann nämlich einmal wirklich etwas Neues, zumindest kulinarisch!
Ernst: Da hast du recht. Einmal sündigen würde der Linie nicht schaden!
Anton: Wieso sündigen?
Ernst: Schau sie dir doch an. Gesund ist der Happen garantiert nicht. Ein Bomberl für den Cholesterinspiegel!
Zwei deutlich größere Fische sind es, die wie Fremdkörper ruhelos ihre Kreise ziehen, viel zu kleine Kreise in einem für sie immer noch viel zu kleinen Becken. Die Djurkovic kommt aufs Neue aus dem Staunen gar nicht heraus. Einem Staunen über die Dekadenz des Menschen. Denn aus Danjelas bodenständiger Perspektive gehört da schon eine Abgehobenheit in besonders sauerstoffarme Sphären dazu, zwei Schwarzspitzenriffhaie, ausnehmend wendige und flinke Dauerschwimmer, die in der Bewegung fressen und schlafen, hinter Panzerglasscheiben einzupferchen, auf dass sie jämmerlich ihrem trostlosen Ende entgegenplanschen.
Jeden Abend kommt sie also hierher, um sich diesem gespaltenen Zustand zwischen Mitleid und Faszination auszusetzen, und jeden Abend geht sie auf sonderbare Weise innerlich ruhig und traurig zugleich zurück auf ihr Zimmer.
„Wenigstens zwei Haifische von selbe Sorte sind in Aquarium!“, hat sie dem Willibald erschüttert erzählt und hinzugefügt: „Ganz in Gegenteil zu mir: Bin ich nämlich nur eine Solofisch in komische Sonnenhof-Biotop, weil mich Mann, der mich hat lieb, geschickt hat allein in so entsetzliche Schlamassel. Na, wann kommt jetzt strenge Willibald heimsuchen Strohwitwe? Wann?“
Das war am zweiten Abend. Nach fast zwei Wochen Aufenthalt ist er noch immer nicht hier gewesen, der Metzger. Viel zu tun hat er in seiner Werkstatt, das weiß sie, keinen Führerschein hat er, das bedauert sie, und abwechselnd mit ihrer Freundin Zusanne Vymetal passt er auf den Hund auf, das freut und ärgert sie zugleich. Wer kann schon vorhersehen, dass eines Tages doch noch ein menschlicher Partner daherkommt und einen emotional aufsteigen lässt wie einen Heißluftballon. Da ist so ein Hunderl wahrlich ein Sandsack für jede Art spontaner Höhen- oder gar Abflüge.
Den sollte sie jetzt auch schön langsam machen.
Die Zeit vor dem Aquarium ist einmal mehr wie im Flug vergangen: Dreiundzwanzig Uhr zeigt ihre Armbanduhr. Schläfrig steht sie auf, verlässt den Ruheraum, durchquert den Wellnessbereich, betritt abermals das Schwimmbad und geht aufmerksam durch die Halle.
Die Gartenbeleuchtung wirft von außen Licht durch eine überdimensionale, direkt an den gegenüberliegenden Beckenrand angrenzende Glasscheibe und legt ein einladendes Glitzern auf die Wasseroberfläche. Nachtschwimmen könnte ja durchaus etwas Schönes sein, nur eben nicht unbedingt in diesem Becken, geht es Danjela durch den Kopf. Dann zuckt sie zusammen. Ein runder Schatten schimmert aus der Tiefe empor.
Vorsichtig beugt sie sich hinunter und fixiert diesen dunklen Fleck, der regungslos am Grund des Beckens in seiner Position verharrt.
Dann kann sie alles erkennen. Dunkel sind nur die Haare, ganz im Gegenteil zum dazugehörigen Körper. Es gibt also noch andere Individualisten, die den Öffnungszeiten ein Schnippchen schlagen. Wie eine versunkene marmorne Statue liegt der Körper im Wasser, schwach hebt er sich in seiner Nacktheit vom Weiß der Fliesen ab. Einige Zeit starrt Danjela Djurkovic noch angespannt, auf irgendeine Regung wartend, ins Schwimmbecken, dann wird ihr klar: Mehr als dieses Weiß wird sich langfristig von den Bodenplatten auch nicht mehr abheben. So lange bleibt keiner unter Wasser, außer er ist tot.
Von einer seltsamen Gelassenheit erfasst, steuert sie mit ruhigem Schritt einen der roten Knöpfe an der Wand des Hallenbads an und hält die Notglocke lange gedrückt. So lange, bis dort, wo der Warnton ankommt, klar wird: Es ist etwas passiert.
Dann nimmt sie Tempo auf, knirschend wälzen sich ihre Badeschlapfen über den immer noch staubtrockenen Boden. Gehetzt verlässt sie den Badebereich. Erst in der Nähe der Rezeption versucht sie bedächtiger durch das Haus zu schlendern, um in Anbetracht ihres eigenen verbotenen Ausflugs keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Am Gang nähern sich aufgeregte Stimmen. Zwei Angestellte laufen an ihr vorbei. Ein Stein fällt ihr vom Herzen, sie muss nichts weiter unternehmen.
Eine Viertelstunde später trifft der Notarztwagen ein. Danjela Djurkovic tritt vom Fenster ihres Zimmers 3.14 im dritten Stock zurück, legt sich aufs Bett, nimmt ihr Mobiltelefon und drückt die Kurzwahltaste zwei.
Es ist kurz vor Mitternacht, der Metzger wird schweißgebadet aus seinem Sommernachtstraum gerissen. Eigenhändig von Danjela Djurkovic vor der Geschenkübergabe speziell für ihre Anrufe ausgewählt, ertönt der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn-Bartholdy.
Auch Felix Mendelssohn wäre jetzt wohl schweißgebadet und würde dem 21. Jahrhundert schockiert seinen Sommernachtstraum entreißen. Das Display des Metzgers zeigt: „Beste Frau für Willibald“.
„Ist alles eingespeichert, was notwendig! Brauchst du nur einschalten. PIN-Code 8317. Kannst du leicht merken, weil umgedreht gelesen heißt: LIEB. Darfst du nur drehen ab, wenn bin ich bei dir!“, hat die Djurkovic mit einem verliebten Lächeln verkündet.
Gut, sie hat es lustig gemeint, aber lustig ist das nicht, einem bekennenden Handy-Verweigerer ein solches liebevoll vor den Latz zu knallen. Gehorsamstreu schleppt der Metzger nun dieses Terrorgerät mit sich herum und sieht einmal mehr seine Theorie bestätigt: Je freier der Mensch, desto größer seine Bereitschaft zur selbst verursachten Geiselhaft. Ein Mobiltelefon nimmt dem Menschen schleichend die Fähigkeit, ungestört allein sein zu können, und lässt ihn quasselnd vor sich selbst davonlaufen, jedes drängende Problem ausbreitend: „Was mach ich denn jetzt, ich hab doch ein stilles Mineralwasser bestellt, und das servierte sprudelt?“ Die Welt ist umsponnen mit einem Netz ständiger Offenbarungen und erfüllt von einem Ruf nach unmittelbarer Aufklärung, in den Augen des Willibald jedoch ganz im Sinne Immanuel Kants: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Das von Kant verwendete Wort „Leitung“ betrachtet der Metzger in diesem Zusammenhang als atemberaubend visionär.
Danjela Djurkovic beschränkt sich zum Glück auf durchaus nette, kurz gehaltene und vor allem einmalige Tagesendberichte. Außerdem hat sie erklärt, ein ständiges Hin-und-her-Versenden von Kurzmitteilungen käme erst gar nicht in Frage und wäre langfristig eingeführt nichts anderes als die unsoziale Einladung, aus Desinteresse oder mangelnder Courage mit dem anderen irgendwann gar nicht mehr sprechen zu müssen. Weitaus häufiger als zur Liebes- und Sympathiebekundung werde dieses dämliche Herumgetippse nämlich genutzt, um doch noch das letzte Wort zu haben, Lügen zu verbreiten, Termine abzusagen, Mitarbeiter zu kündigen und Beziehungen zu beenden, kurz, um sich zu schreiben, was man nicht sagen will. Heilfroh ist er, der Willibald, dass er sich diese Fingerübung erspart.
Besorgt hebt der Metzger ab, wobei ihm einmal mehr bewusst wird, dass die Entwicklung der Sprache nicht immer mit dem Entwicklungstempo der Technik mithält. „Abheben“ kann man ein Mobiltelefon nicht, nur auf diese winzige Taste mit dem grünen Hörersymbol drücken, und das ist für Mobilfunkanfänger zu vorgerückter Stunde wirklich keine Kleinigkeit.
„Ja, Danjela! Ist was passiert, geht es dir nicht gut?“ „Nicht so gut, nein.“
Der Metzger weiß es, er weiß, dass er längst schon einen Besuch zumindest hätte ankündigen müssen. Und jetzt sieht er am anderen Ende der Leitung, die in Wahrheit genauso wenig eine Leitung ist, wie man das Mobiltelefon abheben kann, auch noch das moralisch Unausweichliche auf sich zukommen. Dem Ruf seines Herzens entsprechend, reagiert er prompt: „Ich werd dich am Wochenende besuchen kommen, Danjela. Bevor du dir den Trost woanders suchst! Versprochen.“
„Musst du nicht, hast du gerade so viel Arbeit!“
Wehe, man nimmt sich diese verbal dargebotene Freiheit und setzt so ein „Musst du nicht“ in die Tat um. Augenblicklich wird da ein beleidigtes „Brauchst du auch nicht mehr“ draus. Versteht sich von selbst, dass der Metzger die einzig angemessene, ja einzig mögliche Reaktion eines wahrhaftig Beziehungswilligen abliefert: „Stimmt schon, Fräulein Djurkovic, dass ich nicht kommen muss. Aber wollen tu ich, wollen!“
Leider kann der Metzger jetzt nicht sehen, wie zufrieden sich die auf ihrer Zwei-mal-zwei-Meter-Matratze liegende Danjela aus der Rücken- in die Seitenlage dreht und mit der freien Hand das Kopfkissen der leeren Bettseite an ihre üppige Brust drückt.
Beinah hätte sie dank ihrer aufwühlenden Vorfreude das eben Geschehene vergessen, wäre da nicht berechtigterweise die folgende Frage aufgetaucht: „Jetzt erzähl mal, verlassenes Prachtweib, warum geht es dir zu so später Stunde nicht gut?“
„Na, geht mir eigentlich eh gut in Vergleich zu Mann, der gerade geschwommen in Schwimmbassin, wie bin ich gegangen von Liege zurück in Zimmer. Nackert!“
„Was, du bist nackt vom Ruheraum in dein Zimmer gegangen?“, erhebt der Metzger erstaunt seine Stimme.
„Bist du gefallen aus allen Wolken! Mann war nackert in Schwimmbassin. Nackert und tot!“
„Du meine Güte!“ Der Metzger kommt ins Stocken: „Was, was, was … Hast du wen verständigt?“
„Notfallknopf! Rettung gleich gekommen, obwohl, viel hat nicht mehr retten können, die Rettung!“
Dann schildert die Djurkovic ausführlich, wie prächtig das alles harmoniert und entsprechend aufs Gemüt schlägt: eine als Kuranstalt getarnte Partnervermittlungsbörse in einer völlig verlassenen Gegend inmitten eines weitläufigen Waldgebiets am Ufer eines einsamen Sees. Da könne man ja nur ins Wasser gehen.
„Morgen bin ich da“, kommentiert der Metzger diese schaurigen Aussichten, ohne sich im Klaren zu sein, was das rein logistisch für ihn bedeutet.
„Keine Kleider, Willibald. Sind nicht einmal Bademantel und Handtuch gelegen in Hallenbad, oder Wassertropfen! Muss er gekommen sein wie geschaffen von Herrgott. Entweder wegen Techtelmechtel oder wegen Selbstmord oder mit Leichentransport wegen Matrosenbeerdigung!“
„Danjela! Da ist einfach wer ertrunken, und du hattest leider das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Mehr ist das nicht.“
„Falsche Ort zu falsche Zeit kann auch sein richtige Ort zu richtige Zeit!“
„Du hast aber nicht vergessen, was dich überhaupt in dieses noble Kurhotel gebracht hat, oder? Das war ausschließlich der falsche Ort zur falschen Zeit.“
Vielleicht hilft der Tod, um zu vergessen. Um vergessen zu werden, hilft er nicht. Selbst ohne greifbaren Nachlass bleibt das unwiderrufliche Vermächtnis der Erinnerungen. Der Rest ist nichts als eine optische Täuschung. Ein Mensch in seiner fleischlichen Form entzieht sich der Sicht und nimmt alles Unausgesprochene mit, auf immer und ewig. Dieses endgültige Schweigen rückt all jene, die schon zu Lebzeiten nahe waren, noch näher heran, und die, deren Gegenwart wie ein Schatten über dem Leben der anderen lag, schieben sich weiter vor die Sonne. Niemand verschwindet, nur weil er gestorben ist. Es gibt keinen Weg, den Erinnerungen zu entkommen, sie heften sich hartnäckig den Lebenden an die Fersen. Sich nicht von ihnen überholen zu lassen, sondern beharrlich einen Schritt vor den anderen zu setzen, darum geht es.
Genauso hatte er seine Richtung gefunden. Allein. Um für andere gestorben zu sein, ist der Tod nicht nötig. Nichts ist ihm schwerer gefallen als der Kampf der Konsequenz gegen die Trägheit, als der standhafte Blick auf das Gute. Der Mensch entdeckt immer ein Haar in der Suppe, selbst wenn er dazu sein eigenes hineinwerfen muss. Alles war gut.
Bis zu diesem Tag.
Eines der in diesem Fotoalbum archivierten Gesichter war plötzlich leibhaftig vor ihm aufgetaucht. Mächtige Arme stemmten einen sehnigen Körper mit einer einzigen fließenden Bewegung auf den Steg. Genauso hatte er ihn in Erinnerung: schwimmend. Zwei Züge unter Wasser, dann einatmen. Das war sein Rhythmus. Während am Ufer ein Leben stattfand, in dem gegen das Ertrinken gekämpft wurde, zog er in unbeirrbaren Zyklen seine Kreise, wie eine Raubkatze, die stumpfsinnig die Gitterstäbe entlangschreitet. Diese Gitterstäbe waren sein freier Entschluss, errichtet, um die anderen auszusperren und ihrem Schicksal zu überlassen. Er war mitten unter den Seinen, Tag für Tag, hat mit ihnen am Tisch gesessen, sie leben und leiden gesehen und war doch nicht vorhanden als Mensch, nur als Maschine. Keiner wäre damals so gebraucht worden wie er. Er, der jede Bezeichnung verdient bis auf diese eine. Bis auf Vater.
Mit in sich gekehrtem Blick ging dieser Mann, der ihm zum Leben verholfen und ihn unmittelbar danach dem Leben überlassen hat, an ihm vorbei, als genau der Fremde, der er auch war. Lange ist er einfach nur dagestanden, unfähig zu jeder weiteren Bewegung, versteinert, mit pochendem Herzen. Vergangenheitsbewältigung funktioniert nur dann, wenn die Vergangenheit auch gefälligst dort bleibt, wo sie hingehört. Nun hat ihn die Erinnerung überholt.
Die nächsten Tage verbrachte er versuchsweise so wie sonst. „Es ist nichts geschehen!“, war sein tägliches Nachtgebet. Doch nichts war in Ordnung.
Er musste es ihr erzählen. Ihr, der all seine Liebe gehört. Nur ein Jahr ist sie jünger als er, und doch sind sie beide ein ganzes Leben voneinander entfernt.
Zweimal telefonieren sie täglich. Einmal morgens, einmal abends. Das gehört schon zur Gewohnheit, egal, was andere darüber denken. Jeder von beiden lebt sein eigenes Leben, und doch sind sie miteinander verwoben und gleichzeitig gefangen, auf ewig. Alles lässt sich ändern, die krumme Nase, das zu kurze Bein, nur die eigene Herkunft, die nicht. Sie bleibt eingebrannt bis zum letzten Tag.
Eines Abends jedoch brach es aus ihm heraus. Er erzählte ihr von ihm, und dieses eine Mal, nur dieses eine Mal, war sein zweiter Anruf einer zu viel. Aufrichtigkeit kann ganz schön viel anrichten, den trittsichersten Menschen in die Knie zwingen.
Sie schwieg.
„Bist du noch dran?“ Er musste sich wiederholen: „Bist du noch dran?“
„Ja, ich bin dran!“, war ihre Antwort, und während er diesen Satz hörte, wurde ihm klar: Jedes dieser Worte trifft auf ihn selbst zu, mit erschreckender Präzision.
Er ist an der Reihe.
Bis zum Bahnhof ist es ja noch gegangen, da gab es den Kofferraum des Taxis, auch im Zug und im Bus bestand die einzig wirklich schwierige Aufgabe darin, dieses Monstrum zu verstauen, aber jetzt, mitten im Niemandsland, spürt er es gewaltig, sein gigantischen Gepäckstück.
Was hätte er nachts zwischen eins und halb zwei in Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Reise auch anderes tun sollen, der Metzger, als wahllos irgendwelche Kleidungsstücke direkt aus dem Schrank in den Koffer zu befördern, klarerweise zusammen mit drei Flaschen Rotwein.
Jetzt steht er also hier am Eck einer Kreuzung, wie abgegeben und vergessen, und außer dem Schild mit der Aufschrift des Zielorts ist weit und breit kein Haus in Sicht, nur Landschaft: linker Hand Wald, soweit das Auge reicht, rechter Hand ein mit Heuhaufen überzogener Hügel inklusive ansteigendem Schotterweg und direkt vor der Nase des ratlosen Willibald dieser Wegweiser: „Pension Regina, ein Kilometer!“, liest der Metzger sich selbst samt der bestimmt artenreichen Fauna ungläubig vor und spickt die Erinnerung an Frau Marianne im Fremdenverkehrs- und Reisebüro von vorhin mit ein paar gesalzenen Verwünschungsgedanken. Genauso unterkühlt wie ihre Arbeitsstätte hat sie ihm nämlich erklärt: „Privat, nicht zu teuer und nicht zu weit weg? Da fällt mir eigentlich nur die Hackenberger Regina ein!“
Als hätte sich die Unterkunftswahl der sportlichen Frau Marianne beim Anblick ihres sichtlich übergewichtigen Kunden ohne Mitleid von missionarischem Eifer leiten lassen, zeigt der Wegweiser von allen möglichen Himmelsrichtungen ausgerechnet zur Hügelspitze. Von „gut erreichbar“ kann für einen beleibten Fußgänger also beileibe nicht die Rede sein.
Ein Marsch von fünfhundert Metern bergauf und dann fünfhundert Metern bergab ist bereits eine kleine Herausforderung für den Metzger. Für den Metzger mit Koffer allerdings ist diese Strecke ein ausgedehnter Kreuzweg. Vor allem, weil ihm als Dauerjackettträger in all seiner Pein keine Sekunde der Gedanke kommt, dieses ablegen zu können. Sein Jackett wird liebevoll halbjährlich in die Reinigung getragen, spannt bedenklich um den Bauch und hat dunkelbraune Lederflecke auf den Ellbogen, was ja heute durchaus eine modische Note darstellt, zum Zeitpunkt der Anbringung auf dem graubraun melierten Stoff hingegen als rein restauratorische Zwangsmaßnahme gedacht war.
Ermattet, durchgeschwitzt und kurzatmig wie ein Pekinese am Abrichtplatz erreicht Willibald Adrian Metzger an diesem frühen Samstagnachmittag seine Unterkunft.
Die Frühstückspensionsbetreiberin Frau Regina Hackenberger begrüßt ihn überschwänglich, als wäre er einer der regelmäßig wiederkehrenden schwäbischen Stammgäste. Dann folgt eine Abfolge vielsagender Bemerkungen: „Na, Sie sind ja ziemlich erschöpft, nicht? Ohne Auto und dann so ein unglaublich großer Koffer! Bleiben Sie gar länger als drei Nächte? Hoffentlich ist in Ihrem Koffer auch leichtere Bekleidung, wir haben Hochsommer, nicht? Keine Sorge, die Sachen von meinem Mann müssten Ihnen passen. Glauben Sie mir, ein wenig Bewegung an der frischen Luft, und der kleine Hügel herauf wird ein Kinderspiel, nicht?“
Um Gottes willen, denkt sich der Metzger, ein „Nicht?“-Mensch! Während das englische „Isn’t it?“ durchaus Charme versprüht, ist das deutsche „Nicht?“ von der ganz unguten Sorte. Ein „Nicht“, das eigentlich für die Beschreibung einer Verweigerung oder Ablehnung vorgesehen war, stattdessen als Untermauerung der eigenen Ausführungen an ein Satzende anzuhängen beeinträchtigt den Gesprächspartner erheblich darin, das eben Gehörte zu verneinen, und fordert stets neue Informationen. Einen offenkundigeren Beweis hochgradiger Neugierde und bestätigungssüchtiger Rechthaberei gibt es kaum.
Das könnte anstrengend werden!, denkt sich der Metzger.
„Und, haben Sie schon ein paar Ausflugsziele?“
„Ich will nur in die Kuranstalt, deshalb bin ich hier.“ „Es gäbe da aber schon einiges …!“
„Nur in die Kuranstalt!“, wird die Hausherrin freundlich, aber bestimmt unterbrochen.
„Da werden Sie auf jeden Fall viel Bewegung haben, denn ohne Auto ist das ein ziemliches Stück, das sag ich Ihnen. Etwa fünf Kilometer, ganz schön weit für einen Stadtmenschen, nicht?“
Der Metzger erblasst. Also auch „nicht zu weit weg“ war eine Lüge, was den Willibald sofort zu dem Gedanken veranlasst, Frau Marianne könnte von „privat, nicht zu teuer und nicht zu weit weg“ einzig das „privat“ wörtlich genommen haben.
Freunderlwirtschaft kommt in den schlechtesten Familien vor.
Beim Anblick hängender Schultern und eines bekümmerten Eindrucks erwacht nun intuitiv der Hackenberger-Beschützerinstinkt: „Das geht schon, Sie werden sehen. Wenn Sie wollen, können Sie gerne das Rad von meinem Mann verwenden, der braucht es ohnedies nie. Schade, wenn so ein Rad nur herumsteht, nicht? Sie finden es hinten in der Scheune, bitte einfach nehmen. Ab der Bundesstraße geht es dann eh nur mehr leicht bergab!“
Was hin leicht bergab geht, geht zurück bekanntlich leicht bergauf. Es dauert ein wenig, bis beim Metzger das Angebot durch den innerlich schlagartig errichteten Hackenberger-Schutzwall bis zur Vernunft vordringt. Dann meint er lächelnd: „Das Rad wäre sicher einen Versuch wert – nicht?“
Zwei Zimmer befinden sich im ersten Stock, eines davon bekommt der Metzger. Dusche und WC sind am Gang, und laut Frau Hackenberger ist der Gast im zweiten Zimmer ein durchaus reinlich wirkender Mann.
Mit großer Sehnsucht nach Stille bezieht Willibald Adrian Metzger einen recht entzückenden mit dunklem Holz vertäfelten Raum, ausgestattet mit einem dunkelroten, beinah antiquarischen Polstersessel, einem alten Tischchen mit Hocker, einem Kleiderkasten, einem Kreuz, zum Glück ohne leidenden Jesus, roten Vorhängen und einem rot-weiß kariert überzogenen Bett ohne Kopf- und Fußteil – sehr zur Freude des im Schlaf Schutz suchend in Richtung Ober- oder Unterrand wandernden Willibald.
Schwungvoll hievt er den Koffer auf die Matratze. Zum letzten Mal war dieses erinnerungsbeladene Erbstück in Verwendung, als er schweren Herzens eine für ihn niemals vorstellbare Ankündigung seiner Mutter in die Tat umsetzen musste. Am Bahnhof ist er gestanden, neben ihr, lange Zeit hat sie geschwiegen, nur um in diese Stille hinein den Koffer in die eine und ihn an die andere Hand zu nehmen: „Eines Tages wirst du damit den Inhalt meiner Garderobe zur Altkleidersammlung bringen. Irgendwann tragen dann sie uns, die Dinge, die wir durchs Leben schleppen!“ Kaum einer seiner Wege bisher war schwerer gewesen.
Und während der Metzger ganz in Gedanken an seine Mutter den Inhalt des Koffers aufs Bett entleert, fällt als Letztes, als würde etwas von den Toten zu den Lebenden zurückkehren, ein kleiner Gegenstand aus einem der unzähligen Fächer.
Ergriffen und fassungslos sitzt der Metzger auf einem Bett in der Fremde und starrt in seine Kindheit. Die Nagelzwicke seiner Mutter!
Wie hat er es gehasst, wenn die linke ihrer ansonsten so zärtlichen Hände der Reihe nach jeden seiner kleinen Finger fest umklammerte, als wären sie Reckstangen, Schneebesen oder Zahnbürsten, nur damit die rechte in aller Ruhe all das wegzwicken konnte, was der kleine Willibald so gerne selbst abgebissen hätte.
„Wehe, du fängst mir mit dem Nägelbeißen an!“, wurde er auch noch verbal bedroht, und da es sonst von mütterlicher Seite so gut wie nie ein „Wehe, du …!“ gab, war dieses eine umso wirkungsvoller. Ihr „So mittellos können wir gar nicht sein, Willibald, dass wir keine gepflegten Hände zusammenbringen; Verwahrlosung fängt mit den Händen an!“ hört der Metzger heute noch. Und das sieht man seinen Händen, in denen er nun gerührt dieses geschichtsträchtige Teil hält, auch jetzt noch an, obwohl er sich bisher hartnäckig gegen den Einsatz dieses Hilfsmittels gesträubt hat.
Gedankenverloren beginnt er nun, am Bett hockend, seine Nägel zu bearbeiten. Begleitet von diesem vertrauten bedrohlichen Geräusch springen die Nagelteilchen in hohem Bogen quer durchs Schlafzimmer, und dem Willibald wird klar: Wenn man über den heimtückisch verstreuten kleinen spitzen Verschnitt hinwegsieht, ist die Dienstleistung der Nagelzwicke ganz schön beachtlich.
Die wird noch viel beachtlicher werden.
Nach einer ausgiebigen Dusche in der engen und bei jeder Berührung der Duschwand scheppernden Nasszelle macht sich der Metzger auf den Weg, natürlich in frischer Kleidung, natürlich mit Rad, natürlich ohne zuvor den Reifendruck überprüft und die Sattelhöhe eingestellt zu haben. Der erste Fünfhundert-Meter-Anstieg wird schiebend zurückgelegt, man will ja nichts übertreiben, dann bringt der Metzger mit einem schmerzhaften Übergrätschen der Mittelstange den Körper in Abfahrtsposition, steigt ins linke Pedal, bemerkt, dass das Rad leicht zu rollen beginnt, steigt ins rechte Pedal, bemerkt, dass das Rad beschleunigt, sucht mit seinem Gesäß den Sitz, bemerkt, dass sich dieser auf Höhe des Kreuzbeins in seinen Rücken bohrt, streckt sich hoch, um aufzusitzen, sitzt auf und bemerkt, dass seine Füße kaum noch die Pedale berühren, bemerkt, dass die Landschaft neben ihm in bedenklich hoher Geschwindigkeit vorüberzieht, bringt das rechte Bein zwecks Einleitung eines Bremsmanövers in die richtige Position, steigt beherzt in die Bremse und bemerkt schließlich nach einigen panischen Wiederholungen desselben Vorgangs, dass das Rad wahrscheinlich alles hat, nur keinen Rücktritt. Was bedeutet, dass jedes weitere hektische Nachhinten-Treten genauso viel bringt, als würde er nach vorn in die Luft pusten. Wer so wie der Metzger noch nie zuvor mit den Fingern gebremst hat, wird im Zustand einer Heidenangst alles tun, nur nicht mit den Fingern bremsen. „Abspringen oder mit aller Kraft die Lenkstange festhalten?“, geht es ihm durch den Kopf.
Trotz des aller Voraussicht nach bevorstehenden chirurgischen Eingriffs entscheidet sich der Metzger aus emotionalen Gründen für die zweite Lösung.
In der Ferne taucht der Wegweiser zur Pension samt der T-Kreuzung zur Hauptstraße und dem dahinter liegenden Waldgebiet auf. Dann übernimmt der Verstand das Hirn, reißt den Lenker scharf nach links und runter vom Schotterweg. Der Metzger kommt in den Genuss des vorderen Stoßdämpfers, steuert das Rad kontrolliert über die holprige Wiese, setzt sich auf den Sattel, nimmt die Füße von den Pedalen, spreizt die Beine seitlich vom Rad ab und schließt die Augen.
Prof. Dr. Winfried Berthold hat sie alle nach dem Frühstück im Speisesaal antreten lassen, hinter sich das gesamte Personal, vor sich die Kurgäste. Streng erhebt er, natürlich nach mehrmaligem Räuspern, seine Stimme: „Meine Damen und Herren – mhhhmh –, ich weiß, dass hier viele von Ihnen glauben, Sie seien zum Vergnügen in dieser Kuranstalt – mhhhmh. Und vergnügen sollen Sie sich ja auch!“ Einer kurzen Gedankenpause folgt die deutlich lautere Fortsetzung der Ansprache: „Aber Grundlage dieses Vergnügens ist immer noch die Einhaltung der vorgeschriebenen Therapie, der festgelegten Termine und vor allem der Hausordnung!“
Stumm werden erstaunte Blicke der Sorte „Ich doch nicht!“ im Saal ausgetauscht, während der medizinische Leiter des Hauses energisch fortsetzt: „Und glauben Sie mir, wir haben uns bei alldem etwas gedacht – mhhhmh. Unser Ziel ist es, dass Sie gesünder und erholter nach Hause kommen –“
Es folgen eine weitere Unterbrechung, ein tiefes Luftholen mit anschließender Atempause und das Heraustreten der Adern auf seiner Stirn.
Dann brüllt er: „– und nicht tot!“
Ein Raunen geht durch den Saal.
„Noch nie ist in meinem Haus jemand umgekommen, und noch nie habe ich ein derart undiszipliniertes Publikum gehabt wie zurzeit, mit den daraus resultierenden Beschwerden der Ärzte und Therapeuten. Gestern Nacht wurde Herr August-David Friedmann nackt im Schwimmbecken aufgefunden. Ertrunken!“
Abermals erheben sich gedämpft die Stimmen.
„Ich weiß nicht, was manche hier treiben, aber ab jetzt, meine Herrschaften, werde ich über jeden, der hier vom Kurs abweicht, eine Beschwerde genau an die Stellen schicken, die Ihnen Ihren noblen Kuraufenthalt hier finanzieren. Das Schwimmbad ist bis auf Widerruf geschlossen!“
Mit diesem Satz knallt er hinter sich die Tür zu.
Das war wohl längste störungsfreie Berthold-Sprachbeitrag überhaupt, denkt sich die Djurkovic und bemerkt abermals, wie schon während ihrer Gespräche mit dem Professor, dieses seltsame Kratzen im Hals.
Noch bevor aus dem betretenen Schweigen ein Stimmengewirr wird, sind die Djurkovic und die Burgstaller aus dem Speisesaal hinaus.
„Recht so, dass denen jetzt mal ordentlich der Kopf gewaschen wurde!“, meint Helene Burgstaller.
„Stimmt schon, nur glaub ich, ist auch aus mit unsere Extrawürste! Müssma gehen wahrscheinlich in Gruppentherapie. Glück ist nur, dass Schwimmbad gesperrt!“
„Na, Weiberheld war der ja keiner, der Friedmann“, beginnt die Burgstaller nun das eigentliche Thema in Angriff zu nehmen, „kann ich mir nicht vorstellen, dass bei dem auch nur eine der brünstigen Damen zu einer Notlandung angesetzt hätte. Das war doch der Glatzerte, der im Speisesaal immer allein und stocksteif beim Tisch neben dem Ficus gesessen ist und jeden Tag im See schwimmen war, bei jeder Temperatur, oder? Können Sie sich den auf einem nächtlichen Ausflug im Schwimmbad vorstellen? Nackt?“
Vorstellen hätte sich das die Djurkovic garantiert nicht können. Nur von „vorstellen“ kann ja bei ihr nicht die Rede sein.
„Hören Sie auf, will ich nicht denken an so was. Pfui! Aber haben Sie recht, Friedmann hat gefunden Schwimmbad genauso grauslich wie wir, außerdem Friedmann und Weiberheld passt zusammen wie ausgezogene Apfelstrudel und Essiggurkerl.“
Die Burgstaller muss hellauf lachen, was die aus dem Speisesaal herausströmenden Patienten natürlich entsprechend honorieren: „Pietätlos!“, „Unmöglich!“, „Primitiv!“, „Typisch!“, „Menschen gibt es!“ sind nur Auszüge der Kommentare. Auszüge, weil, wenn einer wo seinen Senf dazugibt, auch gleich alle anderen auf die Tube drücken: Es kann eben nicht scharf genug sein.
Scharf genug können sich die Anschluss suchenden Damen dieser Anstalt gar nicht mehr herrichten, weil sich so ein Todesfall nämlich ganz schlecht auf die Potenz der noch lebenden Männchen auswirkt. Richtig erschüttert hat es die Herren, dieses endgültige Untertauchen des August-David Friedmann. Die Djurkovic versteht ja überhaupt nicht, was die Damen hier an den Männern so anziehend oder ausziehend finden. Nicht im Traum käme ihr da auch nur ein Einziger in den sündigen Sinn. Natürlich ausgenommen ihr wunderbarer Physiotherapeut Jakob Förster, der einzige männliche Lichtblick an diesem Ort der Verdammnis, mit seinen tiefgründigen dunklen Augen und seinen begnadeten Händen. Nur zählt Jakob Förster nicht, denn von Unerreichbarem lässt es sich leicht und vor allem guten Gewissens sündig träumen.
Nachdem endlich wieder Ruhe eingekehrt ist und in den Zimmern die Fernseher laufen, laufen die Djurkovic und die Burgstaller in die Arme von Prof. Dr. Winfried Berthold.
„Mhhhmh – das trifft sich gut, meine Damen, kommen Sie doch gleich einmal mit – mhhhmh – mhhhmh!“
Ein Büro erzählt viel über seinen Besetzer. Mahagoniholz, wohin man sieht, die Bücherregale, der Schreibtisch, die zwei davorstehenden Besucherstühle, auch der wuchtige Schreibtischsessel. Und der Glaskasten. In dem stehen keine Trophäen, Prestigeobjekte, Pokale oder in Alkohol eingelegte Körperteile, sondern Lokomotiven. Ob Dampf-, Diesel- oder Elektrolok, aus Blei, Glas, Metall, Holz, aus Knetmasse vom jüngsten Enkel, aus Ton vom ältesten. Der reinste Wagenschuppen, dieser Glaskasten, zur Verdeutlichung eines der kuriosesten tierischen Rückstände der Entwicklung vom Tier zum Menschen: des Sammelns!
So ein Viecherl weiß wenigstens: Es sammelt für sich, seinen Partner und seinen Nachwuchs, um im Winter nicht vom Fleisch zu fallen. Menschen hingegen sammeln zwar auch, um sich beispielsweise mit Gleichgesinnten auszutauschen, mit dem einen gravierenden Unterschied zum Tierreich: Die Gleichgesinnten, die dieses Sammeln interessiert oder die davon etwas haben, sind mit verschwindend geringer Häufigkeit die eigenen Partner.
„Sie gehören also zusammen, Sie beide – mhhhmh?“ Es wird genickt.
Professor Berthold betrachtet seine zwei geladenen Gäste, die betrachten ihn ebenso. Schweigend.
Dann meint er ruhig: „Soso. Na, jetzt sind wir wenigstens unter uns – mhhhmh! Ich weiß – mhhhmh –, dass gerade Sie beide das alles hier als unglaublich lustiges Kasperltheater betrachten – mhhhmh!“
Wieder folgt ein schweigsames gegenseitiges Betrachten, wobei der Djurkovic auffällt, dass der Herr des Hauses erstens nervös sein dürfte und zweitens von ihnen beiden deutlich länger Helene Burgstaller fixiert, die da mit ihrem kecken Pferdeschwanz einen ebenso kecken Blick zurückschickt. Wenn Prof. Dr. Berthold allerdings annimmt, mit dieser Eröffnung beiden Damen etwas Respekt ins Gesicht zaubern zu können, hat er sich getäuscht. Seelenruhig sitzen sie auf ihren Stühlen und halten seiner Fleischbeschau stand.
„Frau Djurkovic und Frau Burgstaller, jaja!“, setzt er fort.
„Jaja!“, antworten die beiden im Chor, und wie es der Teufel so will, kann sich die Burgstaller abermals ihr Lachen nicht verkneifen.
„Wissen Sie was – mhhhmh: Mir sind Patienten, die alles und jeden offensichtlich als Kasperltheater betrachten und trotzdem zumindest teilweise ihren Pflichten nachkommen, bedeutend angenehmer als die vordergründig freundlichen und dann heimlich hintertriebenen – mhhhmh. Die Damen werden ja nicht annehmen, dass sich noch keiner der anderen Kurgäste bei mir über sie beschwert hätte, oder? Da fühlt sich so mancher offensichtlich zu genau beobachtet – mhhhmh. Und genau deshalb hab ich Sie zu mir gebeten: Was bitte geht da draußen so vor sich? Wer hat was mit wem, und wer hatte was mit Herrn Friedmann?“
Beinah unerträglich ist es, dieses durch Professor Bertholds akustischen Reiz verursachte Kratzen im Djurkovic-Hals. Dankend nimmt sie die Frage zum Anlass, einen als Lachen getarnten Huster loszuwerden: „Aber Herr Doktor, komm ich mir gerade vor wie ausspionierte Spion. Ist aber schnell alles gelegt auf Tisch, weil, wissen Sie, hat irgendwie jeder was mit jede. Oder besser gesagt, hat jeder, der was will, mit jeder, die was will. Ist hier ein wenig wie in Swingerklub.“
Jetzt lacht auch der Berthold.
„Ich sag Ihnen jetzt was unter der Hand – mhhhmh: Wenn da wirklich wer gemeinsam mit Herrn Friedmann baden war, dann hat diese Person nicht einmal die Courage besessen, den Todesfall persönlich zu melden, sondern offenbar alle seine Sachen gepackt – mhhhmh – und während der heimlichen Flucht den Notfallknopf gedrückt. Die würd ich mir gern zur Brust nehmen, diese Person – mhhhmh!“
Und wäre die Danjela nicht absolut überzeugt, dass Prof. Dr. Winfried Berthold von ihrem nächtlichen Ausreißer garantiert nichts wissen kann, könnte sie sich durch seinen etwas zu langen Blick, der nicht ihren Augen gilt, mit dem „zur Brust nehmen“ durchaus angesprochen fühlen.
„Das kann ich mir vorstellen!“, meint Helene Burgstaller, beugt sich kokett lächelnd ein wenig vor und liefert den Beweis, dass der Herr des Hauses in Anbetracht dieser deutlich strafferen Merkmale einer ausgeprägten Weiblichkeit noch erheblich eindringlicher starren kann.
Werd ich Lustmolch kleine Schrecken einjagen!, denkt sich die Djurkovic, räuspert sich auffällig laut, fixiert suchend die aufgescheuchten Augen und fragt: „Haben Sie genug geschaut? Und trotzdem nix gefunden?“
Ein bisserl rot wird er jetzt, der Herr Professor, was die beiden Damen natürlich höchst amüsiert. Dann folgen die erlösenden Worte: „Keine Handtuch oder Bademantel, auch nix in Ruheraum oder Garderobe?“
„Nichts – mhhhmh!“
„Vielleicht ist Unfall nicht richtige Idee?“
„Wie meinen Sie das?“
Jetzt ist Professor Berthold wieder ganz konzentriert. „Kann ja auch gewesen sein Vorfall mit ein wenig Sterbehilfe!“
„Sie meinen Absicht? – Mhhhmh – besser gesagt: Mord?“
Keinem ist mehr zum Lachen.
„Das Letzte, was ich in meinem Haus brauch, ist die Polizei und so eine blöde Geschichte. Verbreiten Sie Ihre Phantasien um Gottes willen nicht außerhalb meines Büros, Frau Djurkovic – mhhhmh: Herumschnüffeln muss hier wirklich niemand.“
Bei „schnüffeln“ wirft er Helene Burgstaller einen kurzen Blick zu: „Mhhhmh – immerhin geht es auch um die Intimsphäre meiner Gäste.“
Es folgt das nächste Augenspiel in dieselbe Richtung: „Und da zählt mein Grundsatz: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – mhhhmh!“
Und während sich beim Ritardando des Wörtchens „heiß“ zwei Blicke finden, wird der unbeachteten Djurkovic bewusst, wie gänzlich dieser Berthold-Grundsatz ihren eigenen Prinzipien widerspricht.
Der Metzger ist also in den Genuss des vorderen Stoßdämpfers gekommen. Zuerst technisch, dann kulinarisch. Vom Technischen ist er lückenlos überzeugt, vom Kulinarischen kann er das leider nicht behaupten.
Problemlos konnte der Metzger bei seinem beabsichtigten wilden Ritt über die holprige Wiese dank der Federung kontrolliert sein Ziel ansteuern. Der Heuhaufen hat dann bremstechnisch auch nichts zu wünschen übrig gelassen, beinah abrupt ist das Rad zum Stillstand gekommen. Nicht jedoch Willibald Adrian Metzger: Der ist mit aufgerissenem Mund, festgekrallt am Lenker, im flüchtigen Handstand gelandet und körperlich komplett überfordert aus dieser ungewohnten Position, begleitet vom Knistern des Heus, über den Lenkervorbau zum rettenden Stoßdämpfer hinuntergeglitten, um beiläufig in denselben zu beißen, womit es also mit der Lückenlosigkeit sein Ende hatte.
Wenigstens ist nicht das Leben verloren, sinniert er versunken im Heu vor sich hin, wie es ihm so ungewohnt beim Mund hereinzieht, ein Vorderzahn reicht aber auch. Der hat sich halbiert, genau unterhalb der Nerven.
Schmerzfrei, bis auf das leicht aufgeschürfte Nasenbein, befreit sich der Metzger aus dem Haufen, ganz dem Gedanken ausgeliefert: Hab ich ihn jetzt verschluckt oder nicht? Für die Beantwortung dieser Frage wird er sich allerdings noch etwas gedulden müssen.