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Flirrende Hitze über Glaubenthal, da brennen schon mal die Sicherungen durch. Ein neuer Fall für Hannelore »Hanni« Huber des österreichischen Bestsellerautors Thomas Raab. Eigentlich hat sich die alte Huber von Herzen auf den Sommer gefreut. Herrlich ist das, wenn endlich wieder haufenweise Glaubenthaler in den Urlaub verschwinden! Eine paradiesische Stille legt sich über die Postkartenidylle, überall himmlische Ruhe. Bis auf den Friedhof, denn da ist plötzlich Akkordarbeit angesagt. Pünktlich zum Schulschluss braut sich etwas zusammen, werden Jauchegruben mit Planschbecken verwechselt (†) und steckt eine Leiche im Stroh. Ja, ganz richtig gelesen: Stroh. Genau genommen: im Strohballen. Die gewaltige Hitze steigt nämlich nicht nur den Rindviechern zu Kopf, sondern auch den Einheimischen. Was für die alte Huber ja durchaus dasselbe ist. Insbesondere wenn es um die Praxmosers und Grubmüllers geht. Seit zwei Generationen innig verfeindete Familien, die nun die Gunst der stillen Stunden nutzen, ihrer Zwietracht freien Lauf zu lassen. Und Hanni Huber stößt nicht nur höchstpersönlich auf weitere Leichen, sondern auch auf ein zauberhaftes Schattenwesen im Blumenkleid: Helga. Mit großartigem schwarzem Humor und düsterer Fabulierlust schickt Thomas Raab seine Ermittlerin in die Schusslinie zweier Familien. Und am Ende der Geschichte wird im beschaulichen Glaubenthal nichts mehr sein, wie es mal war.
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Thomas Raab
Frau Huber ermittelt Der zweite Fall
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Thomas Raab
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Motto
1 Der Schatten
1 Ein Dorf ohne Männer
2 Adam und der letzte Mensch
3 Die schönste Freude
4 Volker gegen Gottlieb
5 Huitzilopochtli
6 Irmi, Egon und das Rot
7 Rotzpipn und Spaßtee
8 Und ewig lockt …
9 Tante Lotte
2 Billard um halb zehn
10 Bella Marie
11 Die Grubmüllerin
12 3-2-1 Schmalsprech
13 Bloßsprechung
14 Abendstille
3 David Copperfield
15 Das kleine Schwesterlein
16 Die Brielmaierin
17 Ohne Schilling nach Guangdong
18 Brauneder, bitte kommen
19 Nur Verdruz
20 Etikettenschwindel
21 Friedensgrüße
22 Auf ein Wort
4 Moby Dick
23 Gummibärli haben
24 Pfiaschis
25 Das Duell
26 Der Hammer
27 Im Tal der donnernden Hufe
28 So eine Hetz
29 Pepi muss weinen
30 Selig, die …
5 Der Mann ohne Eigenschaften
31 Robin Hood
32 Musil
33 Django
34 Gesagt, getan
35 Oberbruck
36 Die Kraft des Glaubens
37 Subtraktion
6 Pippi Langstrumpf
38 Nur ein Spiel
39 Aller guten Dinge
40 Once upon a Time
41 Was ein Mann muss
42 Nur Kälte
43 Rocky 1–6
44 Das Heil
45 Der Schmetterling
46 Die Auferstehung
7 Auf fremden Pfaden
47 Der Turm
48 Die sieben und der eine
49 Schuldbekenntnis
50 Weltenbummler
8 Vom Winde verweht
51 Venedig
Inhaltsverzeichnis
Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen.
Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916)
Inhaltsverzeichnis
Mit bloßen Händen.
So hat er sie getötet.
Hat zuvor noch seine Schuhe und Socken ausgezogen, die Hosenbeine und Hemdsärmel hochgekrempelt, sich in die Ache gestellt und gewartet. Regungslos. Dort, wo das Kehrwasser eine fast glatte Oberfläche in den reißenden Fluss legt. Gewiss konnte er sein Spiegelbild darin erkennen. Wie in all den Jahren
aus dem Kind ein Knabe,
aus dem Jungen ein Jugendlicher,
aus dem Großbauern ein Greis geworden war.
Anfangs an der Seite seines Vaters, dann allein, dann an der Seite seiner Kinder, dann wieder allein.
Das Leben gibt und nimmt.
Alles.
»Bleib im Schatten, dann kommen sie ganz von selbst. Und sie verstecken sich gern«, so die Worte des Vaters, seine Arme dabei in das eiskalte Wasser gestreckt, Handfläche zu Handfläche. »Ein Brotlaib muss dazwischen Platz haben! Und jetzt Mund zu.«
Rundum diese Stille. Nur das Rauschen des Flusses, sein gleichmäßiges Atmen. Die bald steifen Zehen, Finger. Egal. Den Schmerz missachten, ausharren und den richtigen Moment erkennen. So lautete die Lektion.
Und sie kamen tatsächlich.
Bachforellen.
Schwammen gegen die Strömung auf ihren Tod zu, benötigten nicht lange, um gutgläubig in den lauernden Händen keine Gefahr mehr zu sehen, sondern nur noch Geborgenheit.
Blitzschnell sein Zupacken.
Ohne Mitleid, ohne Stolz, ohne bewundert werden zu wollen.
Keine Zeit dafür. »Greifen und sofort werfen, verstehst du, der Rest erledigt sich von selbst!«
Es blieb nie bei der einen, die ans Ufer geschleudert so lange um ihr Leben rang, bis aus dem Zappeln nur noch ein verzagter Flossenschlag wurde, ein apathisches Maul auf, Maul zu, ein letztes Zucken. »Warum glotzt du ihnen beim Krepieren zu, was soll das bringen? Mach lieber weiter.«
Genauso wird nun auch er zugrunde gehen.
Das Gezappel, aussichtslose Hoffen, letzte Zucken.
Und all das, ohne dabei wegsehen zu müssen.
Was das bringen soll?
Genugtuung.
Inhaltsverzeichnis
Sie hätte es auf ihre alten Tage einfach besser wissen müssen, die gute Hannelore. Zurückhaltender sein, vielleicht sogar im Nachhinein auf ihren verstorbenen Ehemann Walter hören, denn: »Kein Mensch, der halbwegs was in seinem Schädel hat, legt sich mit einem Grubmüller an. Das geht nur nach hinten los!«, so seine Worte. Jede Menge Ärger wäre ihr erspart geblieben. Aber nein.
Was hat sich die alte Huber auch groß erwartet?
Dass sich die Genetik selbst austrickst, ausnahmsweise ein Depp nach erfolgreicher Fortpflanzung nicht gleich den nächsten Deppen in die Welt setzt, und der dann den nächsten, und nächsten und nächsten? Viel verlässlicher als im Hause Grubmüller kann eine Erbfolge ja kaum gelingen, da schraubt doch ein vernünftiger Mensch jegliche Erwartungshaltung automatisch ganz nach unten!
Nur leider.
Und jetzt hat sie das Malheur.
Es war ein sonniger Nachmittag im Vorfrühling dieses Jahres, das Wurzelgemüse frisch gesät, die ersten Stecklinge eingepflanzt, als sie wie so oft auf ihrer Hausbank saß, den Schweiß auf der Stirn, die Beine angenehm schwer, das Gemüt entsprechend leicht.
Ausnahmsweise ein kühles Zwickl hatte sie sich zwecks Erfrischung aus dem Keller geholt, naturbelassen und ungefiltert, so wie in gewisser Weise auch die alte Huber selbst.
Ein wenig müde war sie, aber zufrieden. Von Grund auf und aus gutem Grund. Da muss ein Mensch schon ein bisschen dankbar sein, wenn ihm nach dreiundfünfzig Ehejahren das Glück zuteil wurde, als genau jene Hälfte dieses Bundes hervorzugehen, die den anderen überlebt. Die bessere Hälfte also.
»Prost, Walter!«, hob sie also ihr trübes Kellerbier gen Himmel, den Blick dabei auf dieses herrliche Panorama gerichtet, ihre Heimat. Die dichten Wälder, sanften Hügel, an deren Hängen sich die Streusiedlung Glaubenthal mit all ihrer Schönheit, ihren Menschen, ihrem Treiben erstreckt. Wunderbar war das: aus der Ferne dabei sein können, gern auch mit Feldstecher, sich aber aus reinstem Anstand der eigenen Restlebenszeit gegenüber diesen ganzen Zirkus dort unten ersparen: die Aasgeier, Blindschleichen, Drecksäue, Gewitterziegen, Giftschlangen, Hausdrachen, Hornochsen, Lackaffen, Neidhammel, Rindviecher, Schafsköpfe, Schluckspechte, Schweinigel …
Nein, Streichelzoo ist das keiner hier.
»Was meinst du, Walter? Können uns alle gestohlen bleiben, oder?« Und so nett, direkt friedliebend diese Idee auch sein mag, praktisch hapert es mit der Umsetzung ganz gewaltig, vor allem, wenn dann umgekehrt die größten Affen ganz von selbst daherkommen. So wie eben an diesem Nachmittag in Gestalt der männlichen Grubmüllers.
Von Hannelores Hof ausgehend wohnt diese Bagage mit ihren Säuen hangabwärts drunten im Glaubenthaler Graben, und auch wenn da gottlob ein gutes Stück dazwischen liegt, um sich den Anblick zu ersparen, hören kann die alte Huber diese Saubande natürlich trotzdem. Nur die Männer, versteht sich. Hannelores verstorbener Ehemann Walter hatte dazu einmal bei Tisch in nüchternem Tonfall, den Kopf regungslos über die Tageszeitung gebeugt, die Theorie geboren: »Grubmüller hätt dich garantiert keiner geheiratet. Weil die Brüllaffen suchen sich ihre Weiber nach den Stimmbändern aus, das sag ich dir. Da wird vor jeder Hochzeit ein Vorsprechen veranstaltet, und wer dann am allerwenigsten den Mund aufbekommt und gegen jedes Mauserl den Redewettbewerb verliert, wird genommen, weil anders gibt’s das nicht!«
Nichts natürlich für die Ohren einer Alice Schwarzer, so eine Bemerkung, für die gute Hanni aber trotzdem lustig, ja Labsal sogar, denn viele Momente des gemeinsamen Lachens gab es in dieser Ehe nicht.
Bereits aus weiter Ferne konnte die alte Huber den rot-weißen Steyr Terrus CVT, ein Kraftpaket von einem Traktor, schon kommen sehen. Nicht wie sonst mit weit überhöhter Geschwindigkeit, eine Staubwolke hinter sich, sondern deutlich gemächlicher, einen eifrig sprühenden Güllewagen im Schlepptau. Grad, dass der guten Hannelore auf ihrer Hausbank keine Dusche verpasst wurde.
Entsprechend energisch schoss es auch aus ihr heraus, naturbelassen und ungefiltert, wie eben ihr Zwickl:
»Ja, spinnst du jetzt komplett!«
Hinter dem Steuer Adam Grubmüller, das jüngste männliche Mitglied der Schweinebauernfamilie. Fünfundzwanzig Jahre alt, mit Sechzehn bereits zwei Meter hoch gewesen, seither nur noch in die Breite gewachsen. Schräg daneben, auf dem Beifahrersitz, der Uraltbauer, Johann Grubmüller, ein Lagerhauskapperl auf seinem Kopf.
Großvater und Enkelsohn also.
Eine Traumpaarung der Niedertracht.
In diesem Fall sogar erstaunlich, denn so ein Güllewagen wäre dem alten Grubmüller bis vor kurzen niemals in die Scheune, geschweige denn auf die Wiesen und Felder gekommen.
»Aufhören, Herrschaftszeiten noch einmal!«, legte Hannelore noch an Lautstärke zu. »Ich glaub, ich seh nicht recht!«
»Wirklich!«, blieb Adam Grubmüller schließlich stehen: »Dann würd ich an deiner Stelle zum Optiker Pachlmeier nach Sankt Ursula fahren!« Was für eine Frechheit! Und wäre die alte Huber keine Dame und ihr Testosteronhaushalt noch in passablem Zustand gewesen, hätte sich die Flasche Zwickl zielsicher auf den Weg gemacht. So flogen nur die Worte: »Du kannst doch nicht direkt vor meinem Haus mit der Spritzerei anfangen!«, deutete die alte Huber hinter sich. »Ich wohn hier. Und die Wies’n da wurde noch nie gedüngt!«
»Noch nie? Na, dann wird es höchste Zeit!«, wollte er schon weiterfahren. Und nichts an der nun einsetzenden Stimme seines Großvaters klang vielversprechend: »Hast nicht g’hört, Adam! Die Huberin stört sich an der Landluft!«
Indirekte Kommunikation also. Seit Jahren schon sprach der alte Grubmüller kein Wort mehr mit ihr, obwohl er fast regelmäßig vorbeikam und sich auf seinen mitten in der Wiese abgestellten grünen, bulligen Kurzschnauzer T180 setzte. Kein lackierter Hund, sondern der erste österreichischen Dieseltraktor der Nachkriegszeit. Unter Sammlern ein Prunkstück, hier nur noch der traurige Schatten seiner selbst. Von der Witterung stark mitgenommen, Frostschäden, Dellen, Löcher. Eine Rostschüssel also. So wie der darauf hockende alte Johann Grubmüller selbst.
Kurz beugte er sich zu seinem Enkel, flüsterte ihm ins Ohr, und zauberte Adam ein Lächeln ins Gesicht. Und ehe sich’s die alte Huber versah, nahmen die beiden schon grußlos den Rückweg Richtung Glaubenthaler Graben in Angriff, dort wo der Hof der Schweinebauernfamilie liegt. An sich ein Grund zur Freude, die gute Hannelore aber wusste sofort: Die Affen würden wiederkommen, mit einer maßgeschneiderten Gehässigkeit im Gepäck.
Keine viertel Stunde später war es dann soweit, zwar ohne alten Grubmüller, dafür mit neuem Anhänger. Mächtig das Erscheinungsbild, bedrohlich. Eine ungeeignetere Gerätschaft, um Wiesen welche Pflege auch immer angedeihen zu lassen, gibt es nicht. Insofern war die Frage der alten Huber: »Was soll das werden?« eine rein rhetorische.
»Ich überleg noch, ob ich nach Gold schürfen oder nach Öl bohren soll. Oder passt dir das jetzt auch nicht«, kam es zurück, während sich die horizontalen Stehmesser eines vierscharigen Pfluges gnadenlos in die Erde gruben und alles Grün verschwinden ließen. Logisch konnte die alte Huber jetzt nichts mehr auf ihrer Hausbank halten. »Aber nicht, dass du mir deinen Futtermais vor die Nas’n setzt!«, schrie sie Adam Grubmüller hinterher.
»Na, dann sag mir doch einfach, was wir dir auf unserm Grund denn Schönes anpflanzen dürfen, Huberin: Lavendel aus der Provence, Tulpen aus Amsterdam. Marihuana, vielleicht, zur Beruhigung!« Aus. Schluss. Finito. Mehr gab es von seiner Seite nicht mehr zu sagen.
Und hätte Gott je einen solchen Adam als ersten Menschen erschaffen, es wäre gewiss auch der letzte gewesen.
Gewachsen ist der Mais jedenfalls, als wäre die Niedertracht eine auch auf Pflanzen übertragbare Krankheit, Panorama Adieu.
Mit oder ohne Feldstecher.
So also zogen die Monate März, April, Mai, großteils auch der Juni über das Land, haben den alte Traktor hinter dem Futtermais verschwinden und die Aussichten der alten Huber immer düsterer werden lassen. Vorbei ihr herrlicher Blick über die Gegend, ob bei Tag oder Nacht, egal. Der ganze Horizont eine haarige Angelegenheit. Nur noch Buschwerk. Logisch, wenn ihr seither die wildesten Fantasien durch den Kopf gehen, diesen Grubmüller-Haufen anständig zur Hölle fahren zu lassen.
Ja, und wie es scheint, verfügt der Teufel über verdammt gute Ohren.
Denn mittlerweile hat er den alten Grubmüller zu sich geholt, und viel boshafter hätte es der alten Huber auch in ihren schönsten Träumen gar nicht einfallen können.
Es soll nicht lange gedauert haben, kein Strampeln, kein Schreien, keine Handabdrücke an der schmierigen Betonwand, keine Spuren also eines chancenlosen Versuchs, hinauf bis an den Beckenrand zu kommen, während sich das Bewusstsein verabschiedet. Kohlendioxid, Ammoniak, Methan und vor allem der Schwefelwasserstoff. Riecht zuerst nach faulen Eiern und dann gar nicht mehr, lähmt den Geruchsnerv. Das reinste Gift.
Auf Nimma-Wiedersehen.
Aber es gibt auch die schnelle Variante. Und für die hat der alte Grubmüller sich entschieden. Einfach ins Freie wird er spaziert sein inmitten dieser Tropennacht, vielleicht Sternderln schauen, vielleicht der Prostata wegen sein Revier markieren, vielleicht Schlafwandeln, was weiß man schon, und dann: zack, hinein und weg.
Tragisch natürlich.
Viel hat die gute Hannelore ja zuerst nicht mitbekommen. Irgendwann in der Nacht war sie von zwei Schüssen aus ihrem ohnedies so leichten Schlaf gerissen worden. In der Großstadt hätte man gleich zum Hörer gegriffen und das nächste Einsatzkommando auf den Plan gerufen. Nicht so in Glaubenthal. Hier sind Schüsse eine ähnliche Besonderheit wie Tauben in Venedig oder die Dosen-Ananas auf der Pizza Hawaii. So ein Mensch lebt eben nicht vom Brot allein, die Sau muss drauf! Und deshalb war sie dann auch rasch wieder eingeschlummert.
Sogar als in aller Herrgottsfrüh dieser Wirbel drunten im Glaubenthaler Graben ausbrach – »der Großvater, der Großvater!«, dieses Geschrei –, wäre sie nicht im Traum auf die Idee gekommen, das Haus zu verlassen. Bringt ja nichts! Was hätte sie denn schon Großartiges sehen sollen, außer diese elenden Maisstauden. Ja, und eine gewaltige Hatscherei nur des alten Grubmüllers wegen wollte sie auch nicht zurücklegen.
Verdrängen ließ sich der Lauf der Glaubenthaler Dinge allerdings auch für die alte Huber nicht. Denn kaum saß sie vor ihrem Löskaffee, Schnittlauchbrot und weichgekochtem Frühstücksei, klingelte es Sturm, verlässlich wie seit Jahrzehnten schon, stets mit demselben Läuten: ihr betagtes grünes Wahlscheibentelefon. Die Stimme am anderen Ende allerdings jung.
Aufgeregt, putzmunter und erhellend obendrein:
»Frau Huber, Frau Huber, hast du schon gehört!«
»Ja, guten Morgen Amelie, es ist 7 Uhr früh, solltest du nicht gleich im Schulbus sitzen?«
»Wir haben heut eine Stunde später!«
Eine Wohltat ist das, trotz Hannelores düsteren Aussichten. Nicht nur, weil Amelie Glück mittlerweile die Einzige hier in Glaubenthal ist, die von sich aus diese Nummer wählt, sondern weil dann für die alte Huber trotz Maisfeld die Sonne aufgeht.
Und alles Weitere rührt sie jetzt auch nicht grad zu Tränen.
»Der alte Grubmüller ist tot, weißt du das?«
»Hab ich mir gedacht. Und wie?«
»Die Mama sagt immer, ich soll aufpassen, und jetzt ist genau sowas passiert!« Kinder und der Spannungsbogen.
»Was denn, Amelie!«
»Stell dir vor: In die Jauchegrube ist er gefallen!«
Jetzt heißt es ja, Schadenfreude wäre die schönste Freude, und selbstverständlich ist so eine Haltung langfristig nicht die gesündeste Lebenseinstellung, manch einer glaubt sogar, sich dadurch denkbar miese Karten für sein Karma, das nächste Leben oder Jüngste Gericht einzufangen. Trotzdem hat die alte Huber den Verdacht, es muss ein Mensch gelegentlich auch schon ein bisserl lachen dürfen, gern auch bösartig, denn was bitte bliebe ihm denn sonst noch übrig als ausgleichende Gerechtigkeit. Erwachsene Männer, die ein ganzes Land aufhussen, zu vertrottelt aus der Geschichte zu lernen, ähnlich der Gülle in den Jauchegruben ihr lähmendes Gift verstreuen, sich dabei fühlen wie russische Zaren, und dann gehen sie sabbernd vor lauter Gier, besoffen und koksend obendrein einer falschen Oligarchennichte trotz deren schmutzigen Zehennägeln auf den Leim. Da darf man doch dann bitte ein wenig schadenfroh sein.
Ja, und wenn ein im Grund seines Herzens boshafter Mensch seiner Umgebung die Gülle nur so um die Ohren pfeffert, bis ins Schlafzimmer sogar, und dann selbst darin baden geht, wird der Papiertaschentuchverbrauch hier in Glaubenthal jetzt auch nicht nur der Traurigkeit wegen in die Höhe schnalzen. Wenn auch hinter vorgehaltener Hand, jeder in seinen eigenen vier Wänden natürlich, denn wie gesagt: »Kein Mensch, der halbwegs was in seinem Schädel hat, legt sich mit einem Grubmüller an!«
Und nein, so wird es nicht bleiben.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Kollege Swoboda, so früh schon in Amt und Würden, oder haben Sie gleich hier auf der Dienststelle übernachtet?«
»Ich wüsste nicht, was an diesem Morgen schön sein sollte, Untersattler!«
»Na, dann sehen Sie doch einfach mich an!«
»Na, dann sind S’ froh, dass ich kurzsichtig bin. Außerdem, was soll das, es ist gleich 9 Uhr?«
»Zeit, Herr Kollege. Zeit ist relativ. Und Sie schauen definitiv so aus, als wäre es jetzt 6 Uhr und Sie um 5 schlafen gegangen. Also: Was ist los?«
Viel ist los. Er soll also die Untersattler anschauen, um zu sehen, was schön ist! Na, bravo! Will sie mit ihm anbandeln? Ihn in die leer stehende Zelle für Untersuchungshaft schleppen und dort untersuchen? Wolfram Swoboda ist zwar, was das andere Geschlecht betrifft, allein schon aus profanster Notwendigkeit wirklich kein Kostverächter, einfach zugreifen, wenn sich die Gelegenheit bietet, Angelika Unterberger-Sattler, kurz Untersattler, aber könnte wahrscheinlich nicht einmal er sich schönsaufen. Und das trotz seiner bereits bedenklich lang anhaltenden Zwangsdiät.
»Keine Sorge. Irgendwann erwischt es aus hormonellen Gründen jeden. Und es ist ein Teufelskreis. Die ausbleibende Erektion, die fehlende Lust, und was der Körper nicht nutzt, baut er ab. Use it or lose it. Gilt für das Gehirn, die Muskeln, die Potenz. Sie sollten wieder regelmäßiger onanieren!«, hat ihn sein Urologe zwar zur Beruhigung wissen lassen, mit welcher Rasanz es ab Fünfzig aufwärts allerdings abwärts geht, wurde Wolfram Swoboda verheimlicht. Einzig die Uhren, die Harnröhre und der Nasenhaartrimmer laufen da noch auf Hochtouren. Erbärmlich ist das.
»Aber es gibt natürlich Abhilfe, Herr Swoboda, sogar für Sie, weil Sportler wird aus Ihnen ja vermutlich keiner mehr!«
Folglich schmiert er sich seit Neuestem Testosterongel um die Hüften und schluckt wie die Rindviecher auf den Weiden emsig Schmetterlingsblütler, sprich Bockshornklee, in seinem Fall als Kapseln. Verbesserte Vitalität und Manneskraft wird ihm dadurch versprochen, doch alles, was sich seither gesteigert hat, sind die Ausgaben. Schenkt dir ja keiner, den Dreck, schon gar nicht die Krankenkassa. Ja, seine Not könnte größer kaum sein, und dennoch: Angelika Unterberger-Sattler geht sich einfach nicht aus, dazu hat er die Größe nicht. So tief zu sinken käme ihm, selbst bei aller Liebe, niemals in den Sinn, denn sinken müsste in diesem Fall ja sie, um auf seine 162 cm, verteilt auf 120 Kilo, zu kommen.
Ein Tête-à-Tête, sprich Gspusi, wäre weder gut für sein Karma noch für die Würde, und Kind hat sie seit Neuestem auch eins. Nein danke.
»Was wollen Sie eigentlich ständig hier, Untersattler, mitten in Ihrer Karenz? Ihren Gschrappen als Findelkind abgeben, weil er seinem Vater so ähnlich schaut!«
»Na, bumm. Sie sind heut stutenbissig, Herr Kollege. Schlecht geschlafen oder mit dem falschen Fuß aufgestanden?«
»Na, dann sagen Sie mir doch bitte, welches der beiden Beine im Nachhinein das richtige gewesen wär. Schließlich bin ich dank Ihnen zum Babysitten gezwungen!«
Und jetzt schaut sie wie ein Autobus, die Untersattler. Herrlich.
»Ich könnt mich nicht erinnern, Herr Kollege, wann sie bei mir als Babysi …«
»Den Brauneder mein ich, nicht Ihren Gartenzwerg!«
Und jetzt lacht sie aus voller Brust, die Untersattler, noch herrlicher, weil volle Brust sogar im wahrsten Sinn des Wortes und natürlich völlig unwissend, wie sehr Wolfram Swoboda dieses Lachen abgeht. Und gut, ihre Brust in seiner Augenhöhe war ihm auch schon des Öfteren ein paar nette Gedanken wert.
»Jetzt sind Sie nicht so ungerecht, Herr Kollege, der Neue ist doch entzückend!«
»Entzückend? Der Brauneder? Ein Trottel ist das! Wissen Sie, was heut Nacht los war? In aller Früh hat mich der Glaubenthaler Bürgermeister Kurt Stadlmüller aus dem Schlaf gerissen, weil es einen Toten gibt, also hab ich den Brauneder hingeschickt. Keine dreißig Minuten später hat mich so ein Kasperl von der Freiwilligen Feuerwehr Glaubenthal angerufen, ich möge doch bitte kommen, weil den Brauneder, jetzt wo sie die Leiche herausfischen wollen, vor lauter Kotzerei wahrscheinlich gleich der Notarzt abholen muss. Also bin ich dann nach Glaubenthal und um Acht erst wieder zurückgekommen, während sich der Brauender in der Stadlmüller-Praxis eine Infusion genehmigt hat und jetzt zu Hause ausschläft. Und da fragen Sie sich, warum ich müd bin!«
»Ich frag mich eigentlich nur, welche Leiche da wo herausgefischt wurde, und warum der Brauneder umkippt.«
»Der Grubmüller aus seiner Jauchegrube. Und der Brauneder verträgt offenbar die Landluft nicht, den Güllegestank.«
»Welcher Grubmüller? Da gibt es leider einige davon!«
»Sein Sohn, der Ulrich, ist grad auf einer Landwirtschaftsgeräteschau und nicht erreichbar, sein Enkelsohn, der Adam, hockt vor Trauer blunzenfett beim Brucknerwirt. Ergo: die Rostschüssel, Untersattler. Der alte Johann! Ziemlich beschissenes Ende, wenn Sie mich fragen!«
Und jetzt lacht sie wieder, verdammt noch mal.
Die ganze Freud ist ihm seit ihrer Anwesenheit mittlerweile an seinem Beruf verloren gegangen. Vielleicht war er ja einst ein Polizist, der seiner Berufung folgen musste, heut ginge er am liebsten in selbige, würde heftigen Einspruch erheben gegen sich selbst, wenn er nur könnte, diese Lebensentscheidung revidieren, das Gesetz hüten zu wollen. Tag für Tag zählt er genau diese Tage herunter. Endlich in Rente gehen, gern schon früher, sich eine Kugel einfangen, selbstverständlich nur als Streifschuss, seinetwegen auch in Form eines klitzekleinen Herzinfarkts, dann Reha und baba.
Er arbeitet daran.
»Mich beschäftig eher Ihr beschissener Zustand, Herr Kollege. Sind Sie krank, oder warum der viele Schweiß?«
»Haben Sie schon auf den Thermometer geschaut!«
»Das Thermometer, Herr Kollege, oder der Temperaturmesser! Und dass es ihnen so dreckig geht, wird wohl eher an Ihrer Verfassung liegen! Sie sind zu dick. Viel zu dick. Sie sollten zu mir turnen kommen.«
»Das Thema Turnen übergeh ich. Und meine Verfassung liegt hinter mir im Regal, Untersattler. Besonders den Artikel 1 kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Und der lautet wie?«
»Das Recht geht vom Volk aus.«
»Und jetzt sagen Sie mir, wie mein zweiter Vorname lautet, den kennen Sie doch, oder?«
»Natürlich!«
»Also bitte, ich höre!«
»Wolfram Volker Swoboda!«
»Ganz genau. Und von wem geht jetzt das Recht aus?«
»Vom Volker! Sehr schwach!«, nimmt sie nun ihr Kind aus dem Buggy und setzt es ihm auf den Schoß: »Bitteschön. Wer ist hier wirklich Herr über Recht und Ordnung! Als Katholik werden sie sich seinen Namen ja hoffentlich gemerkt haben?« Und logisch fängt der Kleine jetzt nicht zu brüllen an, wenn er mit seinen festen Händchen eine derart weiche Brust zu fassen bekommt, da kann sogar die Mutter schwer mithalten.
»Ja, grüß dich, Jesus Unterberger-Sattler?«
»Leider daneben.«
»Na dann eben Christus Untersattler-Berger?«
»Nächstes Minus. Sie werden an Ihrem Stolz noch zerbrechen, Herr Kollege, denn Sie wissen es natürlich genau!«
»Ach ja, der Gottlieb!«
»Der Volker kann gegen den Gottlieb baden gehen. Gott und lieb in einem Wort. Das nenn ich eine kluge Namensgebung.«
»Ein armer kleiner Kerl bist du, Gottlieb, dich mit deinen 14 Monaten schon ansprechen lassen zu müssen als wärst du ein emeritierter Bischof oder pensionierter Lateinlehrer. Ein alter Mann eben.«
»Na, dann werden Sie beide sich ja blendend verstehen, Kollege Swoboda! Und wie ist der alte Grubmüller tatsächlich in die Grube gefallen? Wer hat ihn reingestoßen?«
Sie kann es nicht lassen, sogar außerhalb ihrer Dienstzeit. Hat ihm die letzten Wochen immer wieder ein bisschen auf die Sprünge geholfen, die richtigen Fragen gestellt, den groben Raubüberfall irgendeines nie gesehenen hundertprozentigen Ausländers als Kapitalbeschaffung des eigenen Sohnes bei seinen alten Eltern enttarnt, einen Streit zwischen zwei Elektrofahrzeugbesitzern vor der einzigen Tankgelegenheit Sankt Ursulas mit einem Verteilerstecker geregelt und gleich ums Eck in einem Hinterzimmer eine Babygymnastikgruppe eröffnet.
»Ich glaub eher, Ihnen fällt in Ihrer Karenz grad die Decke auf den Kopf, Untersattler! Niemand hat ihn reingestoßen. Er ist ersoffen oder erstickt. Nicht einmal der Ast, der neben ihm geschwommen ist, konnte ihn retten.«
»Niemand hat ihn also umgebracht? Bravo. Vielleicht war’s ja der Ast! So wie bei Ödön von Horváth auf den Champs-Élysées?«
»Ja, lieber Gott, das sind Fragen«, wendet sich Wolfram Swoboda amüsiert dem kleinen Untersattler auf seinem Schoß zu. »Was für ein Adeliger auf welchem See?«
»Ödön von Horváth! Der wurde in Paris von einem herabfallenden Ast erschlagen. Jugend ohne Gott? Sagt Ihnen das nichts?«
»Na sicher sagt uns das was, Gottlieb, oder? Gibt ja keine Ministranten mehr. Wirst du mal ein Ministrant, ja, dududu …!«
»Glaube, Liebe, Hoffnung!«, lacht sie wieder, samt Sohnemann sogar, und wenn Angelika Unterberger-Sattler nicht sofort damit aufhört, wird Wolfram Swoboda sie gleich mitsamt Nachwuchs für ein paar Tage in die Ausnüchterungszelle stecken, nur um die beiden einfach bei sich zu haben, »Kasimir und Karoline. Geschichten aus dem Wienerwald!«
»Wir wissen auch eines, oder, Gottfried?«
»Gottlieb!«
»Armes Kind!«
»Na, da bin ich jetzt gespannt, Herr Kollege!«
Also packt Wolfram Swoboda sein Fachwissen aus. Schließlich ist kürzlich zu später Stunde so ein alter Schinken im Patschenkino gelaufen. Eine öde Horváth-Verfilmung mit Peter Weck in der Hauptrolle und Heidelinde Weiss, Ernst Waldbrunn, Regie Michael Kehlmann, Vater so eines Daniels.
»Ein Dorf ohne Männer. Da bleiben die Herren weg, weil ihnen die Frauen zu hässlich sind.«
»Ich staune, Herr Kollege. Und es passt zu dem, was ich Ihnen eigentlich sagen wollte.«
Und logisch geschieht nun, was wie das Amen im Gebet stets passiert, wenn Wolfram Swoboda gegenüber einer Frau sein Herz öffnet. Er wird verlassen.
»Der Gottlieb fährt jetzt mit seiner Mama eine Woche zu seiner Oma in die Stadt!«
»Jetzt!«
»Ferienbeginn, die ganze Stadt leert sich, wann soll man sonst hin!«
Und ausnahmsweise verschlägt es Wolfram Swoboda die Sprache.
»Die Welt steh nicht mehr lang!«, ist die alte Huber gerade weit über ihren eigenen Schatten gesprungen, hat sich Kopftuch, Kittelkleid, die Kompressionsstrümpfe und das knöchelhohe Schuhwerk angelegt, ihre 4K-Ausrüstung sozusagen, den Gehstock geschnappt und auf den Weg gemacht. Nur ein Ziel vor Augen.
Amelies Anruf gut und schön, nur hilft das natürlich alles nichts, die gute Hannelore ist ja schließlich auch nur ein Mensch.
Opfer ihrer selbst. Elende Neugierde.
Ein klassisches Eigentor, denn immerhin wollte sie es nach Walters Tod ja genauso. Den ganzen Haufen drunten im Dorf so gut es geht meiden und ihre Ruhe. Da ist es den Glaubenthalern und Innen natürlich nicht übelzunehmen, wenn sich dieses Verhalten langfristig nicht nur als Einbahnstraße erweist, sondern auch seine Gegenrichtung bekommt. Wie man in den Wald ruft, so hallt es zurück. Und wenn nicht, dann eben nicht.
Viel mehr Menschen als Amelie Glück und die Post kommen also von sich aus gar nicht mehr auf Hannelores Hügel herauf, und bei der Langsamkeit des Postler Emil Brunner kann sie auch gleich jede x-beliebige Hotline anrufen und den ganzen Vormittag in der Warteschleife verbringen, um an Neuigkeiten zu gelangen.
Warm strahlt ihr um diese frühe Stunde die Hauptstraße ins Dorf hinunter bereits entgegen. Zu Mittag könnte sie auf dem Asphalt ihr weiches Frühstücks- zu einem Osterei werden lassen, so eine Affenhitze hat es zurzeit, ja und wenn die Erzählung stimmt, ist kürzlich der Gummipfropfen des Gehstocks vom Dorfältesten Alfred Eselböck während des Gehens auf dem Dorfplatz picken geblieben. Ein paar Deppen, die sich an diesem Rekordsommer erfreuen, gibt es zwar immer noch, die Bauernschaft aber und jeder andere Mensch mit Hirn sehnt sich nur noch nach Regen, kühlen Nächten, seligem Schlaf.
Ein Elend ist das. Die Hitze und die Krampfadern. Vor allem nachts. Die Fußgelenke, Unterschenkel, Kniekehlen, ein Ziehen, Brennen, Pulsieren. Da sind die Schritte ins Dorf hinunter wahrlich kein Vergnügen.
Folglich ist die alte Huber schon äußerst wohl temperiert, wie sie das Schaltzentrum des Glaubenthaler Informationsaustausches erreicht, sprich die Gemischtwarenhandlung Schäfer.
Kurz zupft sie noch ihr Kopftuch zurecht, ist ja doch jedes Mal wie das Absolvieren einer Gastrolle in einem bestens eingespielten Theater, öffnet die Tür. Und wie durch ein Wunder gehört die Bühne ihr.
Niemand da.
Klein ist der Raum, bestehend aus drei schmalen Gängen vollgeräumt mit Ware, als wäre einer der vielen Containersupermärkte hier hereingeschrumpft worden, die sich am Stadtrand drüben in Sankt Ursula aneinanderreihen wie Schuhkartons. Schachtelweise Wassermelonen stehen auf dem Boden und scheinen noch darauf zu warten, eingeschichtet zu werden. Nur wohin? Daneben stapelweise Bierkisten.
Wie gesagt, niemand hier. Allein ist sie aber nicht, denn aus dem Hinterzimmer sind Stimmen zu hören.
»Guten Morgen?«, wartet die gute Hannelore ein wenig ab, schlendert herum, nimmt, was sie brauchen kann, sieht sich um und bleibt stehen.
Kurz mal nicht aufgepasst und zack, biste glücklich!
So steht es auf einem Metallschild hinter der prall gefüllten Wurst- und Fleischvitrine. Ein Spruch, der zwar den darin liegenden Produkten nichts mehr nützt – außer es gibt ihn wirklich, den Rinder-, Schweine- und Hühnerhimmel –, doch die Kundschaft wird erinnert, das Leben nicht immer nur von der tragischen Seite zu betrachten. Ein schöner Spruch, kluger Spruch, die alte Huber mag ihn einfach, weil er eben nicht dozierend daherkommt, als Zeigfinger oder Klugscheißerei wie die meisten Lebensweisheiten ähnlichen Inhalts, sondern nur mitteilt: »Entscheide dich, ganz wie du willst. So oder so. Jederzeit. Und wenn du willst, dann eben auch so.«
Ja, und wie es scheint, nehmen sich ein paar Damen im Hinterzimmer dieses Ansinnen grad sehr zu Herzen, denn es wird gelacht. Inbrünstig sogar.
»Guten Morgen!«, legt die alte Huber an Lautstärke zu und ihre Einkäufe zur Kassa. »Ist heut alles gratis oder muss ich zahlen?«
»Da kannste wetten, dasste zahlen musst, Hanni!«, kommt es retour und Gemischtwarenhändlerin Heike Schäfer hinter einem Vorhang hervor. Kichernd. In ihrer Hand eine dieser kleinen Schaumwein-Glasflaschen, auch genannt Piccolo, deren schnuckelige Größe, ähnlich wie ein Kölsch, den Durstigen vortäuschen soll, in Wahrheit eh grad nix zu saufen. Prost. Ja, und wie es scheint, ist Heike Schäfer diesem faulen Trick bereits ordentlich auf den Leim gegangen, denn von Spurtreue kann keine Rede mehr sein. Da wird ihr die eigene Gemischtwarenhandlung gleich um einiges größer erscheinen, wenn sie die Gegend weiter in derartigen Schlangenlinien erkundet.
Und nicht nur sie. Ähnlich angeheitert auch die übrige Gefolgschaft. So sind es in kürzester Zeit vier Damen, die den Gemischtwarenladen nun beleben. Drei davon, zumindest gemäß Renate Hausleitner, in den besten, ja goldenen Jahren einer Frau, sprich zwischen 40 und 55:
Nummer 1: Gemischtwarenhändlerin Heike Schäfer, alleinstehend und darum besonders glücklich – so zumindest ihre öffentlich verkündete Lüge.
Nummer 2: Schusterbäuerin Rosi, geborene Grubmüller, verheiratet mit Schusterbauer Franz. Glücklich? Mal so und mal so und aktuell grad so, weil ja ihr seit Jahren schon geschmähter Vater Johann Grubmüller nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ein Umstand, der ihr offenbar derart zu Herzen geht, als wäre einem ihrer beiden Kinder die Luftmatratze zerplatzt.
Nummer 3: Renate Hausleitner höchstpersönlich, Obfrau der hiesigen Patchworkgruppe, frisch geschiedene Haus- und Exfrau des äußerst wohlhabenden Anlageberaters Jürgen Hausleitner und folglich als einzige tatsächlich glücklich. Arbeiten muss die Gute schließlich ihren Lebtag nicht mehr. Ein Hoch auf alle Männer, die dann eben einer Piccolina auf den Leim gehen, sich vortäuschen lassen, grad eh mit nix Ernsthaftem loszuziehen, und dann ruckzuck alles los sind.
Ja, und eben Hannelore Huber, und somit die einzige Person, der es aktuell tatsächlich auch darum geht, hier etwas einzukaufen. Es wächst zwar viel in ihrem prächtigen Garten, nur leider kein Salz, kein Bier, keine Streichhölzer und keine Kreuzworträtselhefte.
»Ja, hallo, Hanni! Hast schon g’hört. 37 Grad soll’s heut bekommen. Körpertemperatur«, begrüßt sie Renate Hausleitner, als ob nichts wäre, und begibt sich mit ihrer Piccolo-Flasche in der Hand vor das angenehm überschaubare Angebot an Milchprodukten. »Wenn es noch länger so heiß bleibt, kannst du den Gang hier vor deinem Kühlfach als Stellplatz vermieten, Heike«, und es schüttelt sie vor Lachen.
»Jetzt siehste aus wie auf deiner neuen Vibrationsplatte!«, wird zurückgelacht. Und ganz kennt sich die alter Huber nicht aus. Warum diese Überdrehtheit, Berauschung, schon in aller Früh?
»Drüben in Mexiko hätten die Inka-Indianer dem Hupochi aus lauter Dankbarkeit schon ein paar Leut geopfert. Das Herz frisch herausgerissen in den Himmel gehalten, so, schau«, nimmt nun auch Schusterbäuerin Rosi mit dem aufgeschnappten Halbwissen eines ihrer beiden schulpflichtigen Kinder an dem Gespräch teil, streckt schwankend ihren Prosecco in die Luft, »bumm, bumm bumm!«, und nur allein vom Lachen können ihre Augen nicht gar so gerötet sein, da ist sich die alte Huber sicher. Sieht alles weniger nach Über-den-Durst-, als nach Über-die-Traurigkeit-getrunken aus. Und das ist auch gut so, denn immerhin war Johann Grubmüller ja doch ihr Vater.
»Der Hupochi, Hanni?«, kommt sie nun auf die alte Huber zu. »Kennst du den?«
»Huitzilopochtli, Rosi, wenn du den Sonnengott der Azteken meinst, und es tut mir –!«
»Huitzilopochtli! Lernt man das in deinen Kreuzworträtseln?«, unterbricht die Schusterbäuerin mit durchaus hörbarer Gekränktheit, setzt sich auf eine der Bierkisten, flüstert: »Einen Regengott bräuchten wir grad dringender!«
»Da haste recht, Rosi! Wär das dann alles, Hanni?«, tippt Heike Schäfer in Ermangelung eines Förderbandes und Scanners die Artikel mit flinken Fingern händisch in die Kassa. »Magst dir noch ne neue Neue Post mitnehmen, Hanni, oder das alte Neue Blatt?«, und sie wirkt ein wenig gehetzt, »oder die aktuelle Brigitte? Interessiert dich die?« Barbara, Donna, Emma, Elle, Grazia, Laura, Lisa, Petra, Tina. Neuigkeiten von Frauen für Frauen gibt es zuhauf. Die alte Huber aber will nur eine: »Mich interessiert eher die Rosi!«
»Ich!«, schreckt die Schusterbäuerin auf. »Wieso ich!«
»Ja, du. Weil es mir leidtut. Hab schon gehört. Mein Beileid zum Tod deines Vaters!«
»Beileid!«, leert sie ihre Flasche in einem Zug. »Das braucht dir nicht leidtun, Hanni, grad dir nicht! Um den ist nicht schad. Das war kein Guter. Und jeder im Dorf weiß, dass der Mais vor deinem Haus nicht von selber g’wachsen ist!«
Manchmal ist er eben doch ein Zaubertrank, der Alkohol, löst die Zunge, und das Gemüt, denn jetzt weint sie, die Schusterbäuerin, still, die Hände dabei fest um ihre Piccoloflasche gelegt, direkt die Knöcheln drückt es ihr heraus. Und auch im Hintergrund strahlt der Hausleitner Renate das Kühlregal offenbar plötzlich zu wenig jener nötigen Wärme ab, die sie bräuchte, denn hurtig verschwindet sie im Gang, beschriftet mit »Süß- und Backwaren«.
Die alte Huber will es dennoch wissen.
»Ist trotzdem bitter, in so eine Jauchegrube zu fallen. Das wünscht man seinem größten Feind nicht.« Ein Weilchen dauert es, bis eine der Damen die richtigen Worte findet.
»Gefallen!«, kommt es zuerst nur schmatzend hinter der Schokolade hervor, »ich würd eher vermuten gestoßen!«, und schließlich steckt die gesamte Hausleitner Renate ihren Kopf neben den Regalen heraus. »Vor der Jauchegrube sind Pferdeäpfel gelegen, dazu Hufabdrücke. Nur haben die Grubmüllers zwar einen ganzen Stall voll Schweinen –!«
»Einige davon leben sogar im Haus!«, unterbricht Rosi Schuster.
»– Ganz genau, Rosi. Gaul läuft dort aber kein einziger herum. Was sagt dir das, Hanni?«
»Was soll mir das sagen!«, kennt sich die alter Huber nicht recht aus.
»Na, wer hat ein Pferd und könnte einem da einfallen, wenn der alte Grubmüller in seiner Jauchegrube landet!«
Ein wenig fühlt sich die alte Huber nun, als säße sie vor einem ihrer Rätselhefte, wenngleich diese Aufgabe nun natürlich wesentlich leichter ist. Feindschaft gibt es hier in Glaubenthal ja jede Menge, aber in diesem Fall wird wohl der Severin Praxmoser gemeint sein. Der Vater von Anita Grubmüller und somit Schwiegervater von Ulrich Grubmüller, Johann Grubmüllers Sohn.
»Na, das wird dann noch lustig!«, blickt die alte Huber ziemlich treffsicher in die Zukunft und diese liegt näher als gedacht.
»Übrigens, Hanni, du hatschst aber ordentlich!«, scheint Heike Schäfer das Thema wechseln zu wollen. »Da kommen die Varizen ordentlich ins Schwitzen, bei solchen Hitzen!« Kurz muss sie sich ein wenig über ihr Witzen zerkugeln, dann setzt sie fort: »Die Krampfadern, oder? Wie bei mir! Kannste überhaupt schlafen? Nich, oder? Hier, nimmste den Sonnentor Durchschlaftee Happiness. Schenk ich dir ne Packung!« Und loswerden will sie die alte Huber offenbar auch. Mit Tee gegen ihre Schmerzen: Grüner Hafer, Salbei, Bohnen – und Johanneskraut, Ginkgo, Hopfendolden, Kamille und Hanfblätter! Die reinste Geschäftemacherei.
»Danke dir, Heike. Aber das ist, glaub ich, eher eine Nahrungsergänzung für Pferde!« Aber vielleicht muss man das Zeug ja heimlich rauchen und nicht trinken, um wenigstens die angekündigte Happiness zu spüren.
»Ja, Huberin!«, öffnet sich die Tür, Pfarrersköchin Luise Kappelberger tritt ein, und wenn das für die gute Hannelore kein Aufruf ist, schleunigst das Weite zu suchen, was dann.
Angenehm still ist es.
Nur vom Brucknerwirt kann sie das Grölen des Grubmüller Enkels aus dem Gaststubenfenster herüberhören. Beunruhigend vielversprechend: »Ich bring ihn um!«
Muss also wieder einmal jemand um sein Leben fürchten. Keine Besonderheit natürlich, insbesondere wenn diese Drohung aus Adams wahrscheinlich gerade zu einer hasserfüllten Fratze entstellten Visage wem auch immer ins Gesicht geschmettert wird. Dem halben Dorf hat er auf diese Weise wahrscheinlich schon seine Sympathien bekundet.
Erwischen würde er momentan aber keine Menschenseele.
Denn verlassen wie üblich zeigt sich Glaubenthal um diese Zeit. Die Kinder und Jugendlichen sind in der Schule, die Pendler ausgeflogen, die Bauern auf den Feldern. Und brennt die Vormittagssonne so gnadenlos herab wie in diesem Augenblick, suchen auch die Alten, Hausfrauen, Mütter mit ihren Kleinkindern kaum noch den Weg ins Freie. Die Fensterläden verriegeln und Hitze draußen halten, lautet die Devise.
Völlig zurecht.
»Na, so blöd muss man einmal sein!«, liegt der alten Huber ihre Dummheit entsprechend gewichtig in den Armen.
Chancenlos war sie. Diesem plötzlich ausbrechenden Kaufrausch ausgeliefert, dieser hundsgemeinen Ansammlung direkt neben der Ausgangstür.
»Drei Meter, sagst du?«
»Mit Kurbel sogar, Hanni. Den kannste prächtig hinter die Hausbank stecken!« Ein Muss also.
»Ich hab auch einen, Huberin. Den Roten.«
»Gibt ja auch keine anderen Farben mehr!«
»Ist jedenfalls spitze!«
»Hör auf, Luise! Dann kauft sie doch keinen mehr!«, kam auch Renate Hausleitner amüsiert hinter ihrem Regal hervor. »Und wenn doch, führ ich dich rauf!« Nicht dass hier in Glaubenthal die Angst vor Verkehrskontrollen eine große wäre, die alte Huber aber wollte sich trotzdem in keinen von deutlicher Prosecco-Glückseligkeit gesteuerten Wagen setzen.
»Das schaff ich schon.«
»Aber da haste dann viel zu tragen, Hanni!«
»Lass sie, Heike, das ist schließlich die Huberin, die kann sich doch selber gut einschätzen, nicht wahr!«, hatte Luise Kappelberger unter ihren frisch aufgeföhnten Dauerwellen im Vorhinein schon einen Spaß. So ist das eben: Sturheit schmerzt. Immer.
Sechs Kilo liegen der alten Huber nun in den Armen, die Erfüllung eines Wunschtraumes. Endlich auch im Sommer tagsüber auf der Hausbank sitzen können, ohne sich einen Sonnenstich zu holen. Ein Sonnenschirm also. Wie der von Luise Kappelberger rot. Und quasi geteilt.
Ein Halbkreis. Der Stiel auf der einen Seite, den halben Schirm dann von sich gestreckt. Ein wenig wie der gigantische Straußenfederfächer über dem Schädel irgendeines orientalischen Paschas sieht das aufgespannten dann aus. Und sie hält sich tapfer, die gute Hannelore, schleppt die Trophäe ihrer zukünftigen Glückseligkeit den Hügeln hinauf, vorbei an der Weide des Schusterbauern.
»Grüß dich, Hanni, hast dir eine Lanze gekauft oder wirst jetzt Speerwerferin!«
»Passt lieber selber beim Werfen auf, Schusterbauer!«
Und in der Tat, auch Franz Schuster hat alle Hände voll zu tun, die Hemdsärmel hochgekrempelt, seine Irmi neben sich. Er und sie. Ein Herz und eine Seele. Liebe eben. Und wer noch nie in Irmis große, braune, treue Augen gesehen hat, der versteht diese Liebe auch nicht. Bis zur Hälfte jedenfalls hat sie ihrem Schusterbauern den massigen Schädel des hoffentlich bald komplett gekalbten Egons schon zur Welt gebracht, insgesamt ein gewaltiger Brocken, zukünftiger Zuchtbulle womöglich, und falls nicht, dann wenigstens gut marmoriertes Ochsenfleisch. Medizinballgroß bereits der Weg ins Freie. Schmerzhaft allein das Zusehen. Die tapfere Irmi aber gibt trotzdem weder ein Muh und Mäh natürlich schon gar keines von sich.
»Tut mir leid mit deinem Schwiegervater!«
»Wieso!«, scheint sich Franz Schuster nicht auszukennen.
»Der alte Grubmüller! Das ist doch dein Schwiegervater, oder, und …!«
»Ach so, das meinst du. Brav Irmi, komm, immer weiter pressen!«, wendet er sich wichtigeren Dingen zu, und der alten Huber wird klar: Wer sich schon zu Lebzeiten keine Freunde gemacht hat, braucht sich auch nach seinem Tod keine großen Sorgen machen, es könnten dann plötzlich ein paar mehr werden.