Der Morgen nach dem Regen - Melanie Levensohn - E-Book

Der Morgen nach dem Regen E-Book

Melanie Levensohn

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Beschreibung

Johanna und ihre Tochter Eisa stehen sich schon lange nicht mehr nahe – Eisa hat nie überwunden, dass ihre Mutter früher beruflich viel unterwegs war und wenig Zeit für die Familie hatte. Viele Jahre später erbt Johanna das Haus ihrer Tante Toni am Rhein, wo sie und Eisa herrliche Sommer miteinander verbracht haben. Als Eisa sie dort besucht, stellen sie sich endlich der Vergangenheit – und Johanna offenbart ihrer Tochter ein
schwerwiegendes Geheimnis.

Ein bewegender Roman über die Zerrissenheit einer Frau zwischen der Leidenschaft für ihren Beruf und dem Bedürfnis, für ihre Familie da zu sein, über tief sitzenden Schmerz, Schuld und Versöhnung – vor großartigen internationalen Settings.

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Seitenzahl: 555

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Cover

Titel

Melanie Levensohn

Der Morgen nach dem Regen

Roman

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

Erste Auflage 2024Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

© Stefanie Naumann, generiert mit Adobe Firefly Generative AI

eISBN 978-3-458-78134-9

www.insel-verlag.de

Widmung

Für meine Mutter

Motto

Es war, als lebte sie ein halbes Leben, das an keinem Ort ganz vollständig war.

Sofía Segovia, Das Flüstern der Bienen

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Prolog

Johanna, Den Haag 2013

Kapitel 1

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 2

Elsa, Den Haag 2023

Kapitel 3

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 4

Elsa, New York 2002

Johanna, New York 2002

Kapitel 5

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 6

Johanna, Jerusalem 2002

Kapitel 7

Elsa, Sankt Goar 2023

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 8

Johanna, New York und Amman, Jordanien 2003

Kapitel 9

Elsa, Sankt Goar 2023

Kapitel 10

Johanna, New York und Monrovia, Liberia 2003

Kapitel 11

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 12

Elsa, Sankt Goar 2023

Johanna, Sankt Goar 2023

Kapitel 13

Elsa, Sankt Goar 2023

Johanna, Sankt Goar 2023

Danksagung

Informationen zum Buch

Der Morgen nach dem Regen

Prolog

Johanna, Den Haag 2013

Den Mantel eng an mich gepresst, drückte ich mich auf einen freien Platz in der letzten Reihe. Hier hinten war gut. Hier blieb ich unbemerkt. Niemand würde meine Tränen sehen, falls sie kamen, und ich könnte während der Verhandlung kurz hinausgehen, ohne zu stören.

Der Raum war brechend voll, das versammelte Publikum mir von meinen früheren humanitären Einsätzen engstens vertraut. Journalisten vor aufgestellten Kameras, Diplomaten und Repräsentanten internationaler Organisationen in dunklen Anzügen, dazwischen Vertreter von NGOs in Jeans und Sweatshirt. Einen Augenblick lang dachte ich wehmütig an diese Zeit zurück. Als ich noch brannte für das, was ich tat. Als Julian noch da war und mein Leben voller Möglichkeiten.

Die Luft im Zuschauerraum war warm und von leisem Gemurmel erfüllt. Ich hörte Englisch, ein wenig Französisch und zwischendurch liberianisches Kreol. Jemand räusperte sich, irgendwo raschelte Papier.

Ich wusste nicht, was mich erwartete und wie ich darauf reagieren würde. Aber ich kannte mich. Das unruhige Klopfen zwischen meinen Rippen, die kalten Hände, das Ziehen im Bauch. Vorboten des Schmerzes, der tief in mir saß, wie ein Gefangener, jederzeit bereit auszubrechen.

Mein Blick wanderte zu der dicken Glaswand, die den Zuschauerbereich vom Verhandlungssaal trennte. Schusssicheres Panzerglas, hatte ich gelesen. Auch die dickste Wand würde mein Herz nicht schützen können.

Dahinter erstreckte sich der Gerichtssaal, ein riesiger, fensterloser Quader. Elsas Reich. Neonröhren erleuchteten das schlichte, sandfarbene Dekor. Alles wirkte weit weg, unwirklich. Die hohen Wände mit den Glasschlitzen, hinter denen sich die Dolmetscher auf einen langen Arbeitstag vorbereiteten; die erhöhte Tischreihe für die Richter; die beiden Fahnen mit dem Emblem des Gerichtshofes.

Nichts an der neutralbeigen Atmosphäre des Saals ließ die Brutalität der Worte vermuten, die hier in wenigen Minuten gesprochen werden würden. Fröstelnd presste ich die Arme fester an den weichen Stoff meines Mantels.

Einen solchen Fall habe es noch nie gegeben, hatte ich während der Taxifahrt hierher im Radio gehört. Es ging um die Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Liberia, aber das wusste ich natürlich. Zum ersten Mal stand ein ehemaliger Kindersoldat vor Gericht, zum ersten Mal umfasste ein Fall achtzig Anklagepunkte, und zum ersten Mal wurde jemand eines Verbrechens bezichtigt, das an ihm selbst begangen worden war: Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten.

Die Schlagzeilen über den Prozess waren wie wilde Hunde. Von überall her sprangen sie mich an. Aus den Kurznachrichten auf meinem iPhone, den Zeitungen im Frühstücksraum meines Hotels, dem Fernseher auf meinem Zimmer. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich ihnen nicht entkommen.

Ich wollte ihnen nicht entkommen. Nicht heute. Schließlich war ich wegen Elsa hier.

Elsas erster Prozess am Internationalen Strafgerichtshof, dachte ich bewegt, während ich meine kalten Finger aneinanderrieb. Jahrelang hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet. Und jahrelang hatte ich auf diesen Moment gewartet, auf die Chance, ihr wieder näherkommen zu dürfen.

Vor rund einem Monat rief sie mich aus heiterem Himmel an und bat mich, der Verhandlung beizuwohnen: »Niemand kennt die damaligen Zustände in Liberia so gut wie du, Mutter.«

Hinter ihrer Bitte steckte selbstverständlich ein anderer Grund. Sie wollte mir zeigen, was für eine gute Strafverteidigerin sie geworden war. Dass sie es geschafft hatte. Ich war stolz auf sie, dankbar für ihren Anruf. Nach einer langen Zeit, in der sie sich immer mehr von mir distanziert hatte, durfte ich endlich wieder an ihrem Leben teilhaben. In freudiger Erwartung, sie zu sehen, nahm ich mir ein paar Tage Urlaub und setzte mich ins Flugzeug nach Amsterdam. Wegen eines Termins in New York, der nicht zu verschieben war, konnte ich erst zum zweiten Verhandlungstag erscheinen. Aber das war nicht weiter schlimm, ich hatte die Eröffnung in den Medien mitverfolgt.

Die Begrüßung am Flughafen holte mich auf den Boden der Realität zurück. Kühl und förmlich trat Elsa mir entgegen, ihre Umarmung war steif, als begrüßte sie eine Fremde. Sie hatte abgenommen und sah müde aus. Ob sie genug aß? Ich versuchte, mir meine Sorge und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wollte ihr Zeit geben, sich wieder an mich zu gewöhnen.

Noch während wir auf den Ausgang zusteuerten, erklärte sie, dass sie ein Hotel für mich gebucht hatte. Ihre Wohnung sei zu klein, sie brauche ihren wenigen Platz, ihren Schlaf. Es störte mich nicht. Im Gegenteil, ich verstand ihre Ausflüchte, teilte ihre Angst vor der plötzlichen Nähe.

Ich wollte alles verstehen. Alles richtig machen. Und trotzdem konnte ich mich nicht mit ihrer Rolle als Strafverteidigerin abfinden. Schon während des Fluges hatte ich an nichts anderes gedacht. Meine Tochter verteidigte einen Menschen, der Mord, Sklaverei und Vergewaltigung zu verantworten hatte. Das war ihr Job als Strafverteidigerin, als Teil eines funktionierenden Rechtsstaats, und in jedem anderen Fall hätte ich das unbedingt befürwortet.

Aber es ging um Liberia. Mit diesem Land verband ich zutiefst Persönliches, das ich mit niemandem teilen konnte, vor allem nicht mit Elsa. Bilder, die mich verfolgten, und eine Schuld, so groß und unvorstellbar, dass ich fast daran zerbrochen wäre.

»Vergiss nicht, dass mein Mandant selbst als Kind entführt und versklavt worden ist«, betonte Elsa während der Zugfahrt von Amsterdam nach Den Haag, als ahnte sie, was in mir vorging.

Sie war davon überzeugt, dass der Angeklagte nicht bestraft werden durfte für Taten, deren Opfer er selbst gewesen war.

Ich sagte nichts dazu, versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es hinzunehmen.

Ich hatte nur meine Erinnerungen. Elsa hingegen hatte sich monatelang intensiv mit dem Fall beschäftigt und besaß Informationen, über die sie nicht sprechen durfte. »Er hat nur das getan, wozu man ihn gezwungen hat.«

So war sie eben – unvoreingenommen und empathisch. Jede Seite habe ein Recht, gehört zu werden, sagte sie immer. Sie dafür zu kritisieren, stand mir nicht zu. Es war ihr Leben. Ihre Karriere. Es war richtig. Und dennoch …

Die Frau neben mir fingerte an der Spracheinstellung ihres Kopfhörers herum. Plötzlich sprangen zwei junge Männer, die in der ersten Stuhlreihe gesessen hatten, auf und schlugen mit den Fäusten gegen das Panzerglas. »Massenmörder«, rief der Größere von ihnen, »Sklavenhalter«, der andere. Ihr Protest dauerte nur wenige Augenblicke, dann erschienen bewaffnete Sicherheitsmitarbeiter und geleiteten die Männer nach draußen.

Unter uns und für die Zuschauer nicht sichtbar saßen die Zeugen, wusste ich von Elsa. Eine Schutzmaßnahme, denn nur so konnte ihre Anonymität gewahrt werden.

Als die roten Leuchtziffern der digitalen Wanduhr auf 9:00 umsprangen, begann der Großbildschirm, der schräg neben der Panzerglaswand hing, zu flimmern. Im Gerichtssaal öffnete sich eine Seitentür, Kläger und Verteidiger schritten in den Raum, um ihre Plätze einzunehmen. Die Kläger links, das Verteidigungsteam mit Elsa auf der rechten Seite.

Ich hatte nur Augen für meine Tochter. Wie schön sie war, in ihrer schwarzen Amtstracht mit dem weißen Jabot. Selbstsicher und stolz, in ihrem Gesicht keine Spur von Nervosität. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht.

»All rise, veuillez vous lever«, rief der Saaldiener in sein Mikrofon. Elsa und die anderen erhoben sich. Aus den Lautsprechern im Zuschauerraum drang das scharrende Geräusch sich verschiebender Stühle.

Mit wehenden Roben betraten die Richter den Verhandlungssaal. Mein Blick sprang zwischen der Nahaufnahme auf dem Bildschirm und dem Gesamtbild, das sich hinter der Glaswand abspielte, hin und her. Ich musterte den Angeklagten, der leicht versetzt hinter Elsa Platz nahm. Er war vielleicht Mitte dreißig, nur ein paar Jahre älter als sie, und hatte weiche, ebenmäßige Gesichtszüge. Als Einziger im Gerichtssaal trug er weder Robe noch Uniform, sondern einen Anzug, dazu ein hellblaues Hemd mit weinroter Krawatte. Er sah nicht aus wie ein Mensch, der Frauen vergewaltigte oder Männern die Arme abhackte, wenn sie nicht gehorchten. Nicht wie einer, der damit angab, wie viele Kinder in seiner Brigade für ihn kämpften. Aber wie sollte so jemand schon aussehen?

Der präsidierende Richter, ein stattlicher Mann mit dunkelblondem Haar und randloser Brille, begrüßte die Anwesenden. Dann wandte er sich an den Angeklagten: »Mr.Akerele, Sie behaupten, Sie verstünden die Anklage nicht. Erinnern Sie sich daran, Folgendes gesagt zu haben, ich zitiere: ›Dass ich die Anklageschrift gelesen und verstanden habe‹?«

Der Großbildschirm zeigte Akerele. Der Liberianer blinzelte unsicher in den Saal, während ein Dolmetscher die Frage in seine Sprache übersetzte. Dann räusperte er sich.

»Ich habe die Anklageschrift verstanden, Euer Ehren, aber nicht die Anklagepunkte gegen mich. Ich bin ein Opfer dieser Verbrechen gewesen und bestreite sämtliche Anklagepunkte.«

Ich knetete das Kabel meines Kopfhörers. Wie konnte er so etwas behaupten? Und wie viel davon stammte aus der Feder von Elsa und ihrem Team?

Das Sprechen kostete Akerele sichtlich Mühe. Auf seinem Gesicht hatten sich Schweißperlen gebildet. Er legte die Hand auf die Stirn.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Richter.

Wie gebannt starrte ich abwechselnd auf den Bildschirm und hinunter in den Gerichtssaal, zu Elsa. Ihre Miene war unbeweglich.

»Mir ist … geht gleich wieder«, murmelte Akerele, nach Atem ringend. Er griff sich an seine Krawatte, lockerte den Knoten und öffnete den obersten Hemdsknopf. Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen hinter mir.

»Sie plädieren also auf nicht schuldig in allen achtzig Anklagepunkten?«, fragte der Richter weiter.

»Ja«, gab Akerele zurück und befreite seinen Hals von dem eng sitzenden Hemdkragen.

Da sah ich sie: drei Quer- und vier Längsstreifen, rot wie Blut. Das Tattoo hatte sich genauso tief in meine Erinnerung eingebrannt wie auf Akereles linke Halsseite.

Ich begann, am ganzen Körper zu zittern. Etwas Eisiges legte sich auf meine Kehle und schnürte mir den Atem ab. Der Gerichtssaal verschwamm vor meinen Augen.

Ich war wieder zurück am Ort des Verhängnisses. Erlebte den Moment, der meine Schuld besiegelt und mein Leben zerstört hatte, erneut.

Dann sah ich nichts mehr.

Kapitel 1

Johanna, Sankt Goar 2023

»Höher, Hanni, höher«, keuchte Toni schräg über mir, während sie nach einem Ast griff und sich weiter nach oben hangelte. Die Zweige knackten, Blätter raschelten. »Gleich haben wir’s geschafft.«

Ich presste mich an den Stamm der riesigen Buche und blinzelte nach unten. Wie Spielzeugmöbel standen die Gartenstühle im Gras, ihre roten Sitzkissen waren zu winzigen Punkten geschrumpft. So hoch hatten wir uns noch nie gewagt. Fünfzehn Meter? Zwanzig?

Ein leichter Windhauch bewegte die Zweige, vereinzelte Sonnenstrahlen blitzten durch das Laub. Die Luft roch nach Sommer und Freiheit. Ein summendes Glücksgefühl erfasste mich. Die Welt gehört den Mutigen, sagte Tante Toni immer. Ich reckte das Kinn der Sonne entgegen und lauschte dem Flüstern der Blätter.

»Grandios!«, stieß die Tante über mir aus. »Von hier aus kann man bis zur Loreley sehen!«

»Ich komme«, rief ich ihr vergnügt zu und packte den nächsten Ast, um mich ein Stück höher zu schwingen.

Schon verblasste das Bild. Grau senkte sich der Himmel über mich, Regen klopfte auf meine Schultern. Die Buche stand im Vorgarten, einsam und stolz, als hätten wir sie nie erklommen. Tränen traten mir in die Augen und vermischten sich mit den Regentropfen auf meiner Haut.

Meine geliebte Tante Toni, dachte ich, warum, verdammt noch mal, bist du nicht mehr da?

Ich holte tief Luft und wischte mir über die Augen. Dann zog ich den Schlüsselbund, den Herbert, der Testamentsvollstrecker, mir geschickt hatte, aus der Tasche und öffnete die Tür.

Wenn ich früher dieses Haus betreten und die Flurtapete mit dem goldenen Lilienmuster erblickt hatte, war jedes Mal ein innerer Druck von mir abgefallen. »Willkommen daheim«, hatten die Lilien geflüstert und mir freundlich ihre Köpfe zugeneigt.

Sofort tauchte wieder das Gesicht der Tante vor mir auf, hörte ich ihr herzliches Lachen, mit in den Nacken geworfenem Kopf. Ihr ehrlich erstauntes »Mensch, Hanni, bist du groß geworden«, bevor sie mich sanft durch den Flur schob und die altmodische Behaglichkeit des Hauses mich in sich aufnahm.

Tonis Möbel erzählten Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, als man noch mit D-Mark bezahlte und in Berlin die Mauer stand. Es duftete nach frisch gemahlenem Kaffee, Speick-Seife und den kleinen Lavendelsäckchen, die sie überall in den Schränken aufbewahrte.

Heute nicht. Statt des gewohnten Duftgemisches empfing mich ein kalter, leicht muffiger Geruch, als sei seit Langem nicht mehr gelüftet worden. Im Flur herrschte Dunkelheit. Bereits im Vorgarten hatte ich bemerkt, dass sämtliche Fensterläden geschlossen waren. Das Haus trauerte.

Ich knipste das Licht an und strich mit dem Finger über die goldenen Lilien. Sie klebten an der Wand, zu ewiger Blüte erstarrt.

Nun würde ich also in diesen Wänden wohnen – zwischen Erinnerung und Neubeginn, zwischen gestern und morgen. Wie Toni es sich gewünscht und in ihrem Testament bestimmt hatte. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, also hatte ich das alte Haus am Rhein geerbt. Nach dreißig Jahren Rastlosigkeit in New York war ich in meine stille, schöne Heimat zurückgekehrt. Das Frührentenpaket bei den Vereinten Nationen hatte ich unterschrieben, meine Wohnung in Manhattan verkauft.

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ob die Entscheidung richtig gewesen war? Würde ich die Langsamkeit, die den Alltag der Menschen in Deutschland bestimmte, wieder erlernen können? Mich an Ladenschlusszeiten und Feiertagsträgheit gewöhnen, so wie früher?

»Natürlich wirst du das«, hörte ich Tonis Stimme im Geiste sagen – leise, aber bestimmt. »Du bist hier doch glücklich gewesen.«

Ich schob die Hände in die Manteltaschen. Sie hatte recht. In den letzten Jahren in New York war meine Sehnsucht, wieder in Deutschland zu leben, immer stärker geworden. Während ich von meinem Fenster im fünfunddreißigsten Stock den rauschenden Verkehr tief unter mir betrachtet hatte, hatte ich von dem mächtigen Rheintal mit seinen Steilhängen, wo die Weinreben auf handbeackerten Terrassen wuchsen, geträumt. Vom Geruch reifer Mirabellen in Tante Tonis Garten, vom Blick über den Fluss und vom Geschmack von Apfelpfannkuchen. Diese kleinen Dinge meiner Kindheit, die mich durch mein Leben getragen hatten – ich wollte wieder dauerhaft von ihnen umgeben sein. Ohne Tonis Erbe hätte ich diesen Schritt zurück vielleicht niemals gewagt.

»Manchmal muss man dich eben zu deinem Glück zwingen«, meinte Toni. In ihrer Stimme schwang Schalk mit.

»Wie gut du mich kennst«, flüsterte ich den Lilien zu.

Nachdem ich meine beiden schweren Koffer über die Türschwelle gewuchtet hatte, suchte ich zuerst das Badezimmer auf, um mir die Hände zu waschen.

Alles in diesem Raum war froschgrün – Fliesen, Wände, Handtücher. Toni hatte kräftige, Licht schluckende Farben geliebt, und als Kind fand ich sie viel schöner als das langweilige Beige im Haus meiner Eltern. Aber als ich nach so vielen Jahren wieder auf der dunkelgrünen, plüschigen Fußmatte stand und mich wie auf dem Grund eines Fischteichs fühlte, wurde mir klar: Dieses Grün musste weg.

Ich drehte den altmodischen Wasserhahn auf. Zuerst spuckte er nur ein paar rostrote Spritzer aus, doch kurz darauf rieselte warmes Wasser über meine Hände.

Beim Abtrocknen sah ich mich um. Wie unzeitgemäß und abgenutzt alles war. Durch die emaillierte Badewanne zogen sich Risse, das ovale Waschbecken war stark zerkratzt, und von der Wand über der Toilette löste sich die grüne Tapete. Hoffentlich versteckte sich dahinter keine undichte Rohrleitung. Hier stand dringend eine Renovierung an.

Ich hängte das Handtuch zurück und stieg die alte Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Nachdem meine Tante und Otto vor über einem halben Jahrhundert hier eingezogen waren, hatten sie die Schlaf- und Badezimmer in das etwas dunklere Erdgeschoss und den Wohnbereich mit Küche nach oben verlegt, um die herrliche Aussicht, die sich dort von allen Zimmern bot, auch tagsüber genießen zu können. Die Stufen ächzten unter meinen Schritten, so wie Toni in den letzten Jahren, als das Treppensteigen immer beschwerlicher für sie geworden war.

Oben angekommen, ging ich in die Küche, öffnete die Fensterläden und sah mich um.

Der Raum wirkte kalt und unbewohnt. Das große runde Keksglas auf der Anrichte, seit eh und je mit Tonis selbstgebackenen Makronen und Mandeltalern gefüllt, enthielt nichts als ein paar Krümel. Der Esstisch, auf dem sich sonst Rezepte, Einkaufslisten und Gedichtbände stapelten, war bis auf ein einziges Buch leergeräumt, die Stühle ordentlich unter den Tisch geschoben.

Wieder fiel mir das verbrauchte Mobiliar auf. Der klotzige Kühlschrank, der laut brummte, die hellbraunen Schränke mit dekorativen Einfräsungen, die gehäkelten Gardinen. Früher hatte ich all das geliebt. Es gehörte zu Toni wie ihr Lachen. Aber jetzt würde ich hier leben. Und ich brauchte eine moderne Küche.

Mein Blick heftete sich auf den elfenbeinfarbenen Bosch-Herd. Er stammte noch aus den siebziger Jahren, hatte hervortretende Kochfelder und riesige Drehknöpfe. Als kleines Mädchen hatte ich darauf meinen ersten Schokoladenpudding von Dr.Oetker gekocht, mehlig und voller Klumpen, weil ich mich mit den Maßen vertan hatte.

Mit seinen verkrusteten Rändern und der dunklen Backofenscheibe war der Herd nie besonders ansehnlich gewesen. Sonntagmorgens jedoch, wenn ich Toni ehrfürchtig dabei zusah, wie sie hier ihre berühmten Apfelpfannkuchen zubereitete, verwandelte er sich für mich in einen Altar.

Weich und süß schmeckten ihre Pfannkuchen, nach einer Welt voller Wunder, nach Unbeschwertheit und Schulferien, die nie vergehen durften.

»Der Trick ist ein großzügiger Schuss Sprudelwasser«, erklärte Toni augenzwinkernd, während sie die dickflüssige Masse in eine Gusseisenpfanne füllte. »Die Kohlensäure macht den Teig so fluffig.« Ich prägte mir ihre Worte und Bewegungen genau ein, als verriete sie mir ein kostbares Familiengeheimnis.

Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, und gemeinsam beobachteten wir den kreisrunden Fladen, der in schäumender Butter brutzelte und sich goldgelb färbte. Die Äpfel hatten wir kurz vorher von den Bäumen gepflückt, in schwindelerregender Höhe. »Da hängen die besten«, behauptete sie.

Ein zarter Karamellduft breitete sich in der Küche aus. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich konnte es kaum erwarten, mir ein Stück in den Mund zu stecken.

Viele Jahre später stand Elsa hier, so wie ich damals, im Nachthemd und mit schief geflochtenen Zöpfen, und wartete auf den ersten Bissen aus der heißen Pfanne.

»Pusten, mein Schatz, sonst verbrennst du dir die Zunge!«, rief ich warnend.

»Weiß ich doch, Mama.«

Elsa. Ob sie glücklich war in Den Haag? Ich wünschte es ihr so sehr.

Mein knurrender Magen holte mich in die Wirklichkeit zurück. Seit dem Frühstückssnack kurz vor der Landung in Frankfurt heute Morgen hatte ich nichts mehr gegessen. Ich zog die Kühlschranktür auf und entdeckte ein angebrochenes Senfglas, zwei Flaschen Apfelsaft und eine Packung Butter, seit Wochen abgelaufen. Ich warf die Packung in den Müll und schaute ins Vorratsspind. Toni hatte immer irgendwo eine Notration Butterkekse aufbewahrt. Aber ich fand nur ein paar Tüten mit Backpulver und Pfefferkörnern.

Dann musste ich nachher eben einkaufen gehen. Zu Fuß waren es höchstens zwanzig Minuten bis in die Altstadt, ein kleiner Spaziergang am Rhein entlang würde mir nach dem Flug gut tun.

Ich verließ die Küche und betrat das Esszimmer, ein heller Raum mit weiß verputzten Wänden, der durch eine breite Schiebetür mit dem Wohnzimmer verbunden war. Toni und ich hatten nie an dem langen Kirschholztisch mit den beiden Auszugsplatten gesessen, sondern es uns lieber in der Küche gemütlich gemacht.

Die Vorhänge waren zugezogen. »Theatervorhänge« nannte ich sie als Kind, weil sie so schwer und dunkelrot waren. Ich schob sie zur Seite. Dann öffnete ich das Fenster, stieß die Läden auf und blickte über die weitläufige Wiese hinter dem Haus, die sich bis zum Nachbargrundstück erstreckte. Das Gras war hoch und zerzaust, überall hatten sich Unkraut und wilde Blumen ausgesät. Dazwischen standen die alten Obstbäume, Mirabellen, Pfirsiche und Äpfel. Auch um sie schien sich länger niemand mehr gekümmert zu haben. An den Stämmen rankten Moose und Flechten empor, das Blattwerk war dicht und die Äste in alle Richtungen gewachsen. Manche bogen sich so tief nach unten, dass sie fast den Boden berührten. In den letzten Jahren hatte Toni keine Kraft mehr gehabt, selbst im Garten zu arbeiten, und der Gärtner, der bis zu ihrem Tod gekommen war, schien nur das Allernötigste erledigt zu haben.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolkendecke war aufgerissen, erste zarte Sonnenstreifen brachen hindurch. Es roch satt und feucht, nach nassem Laub, Gras und Flieder. Ein Windhauch strich über mein Gesicht. Wie angenehm, der Schwüle in New York entkommen zu sein, wo um diese Jahreszeit schon die Klimaanlagen ratterten.

»Mairegen bringt Segen«, sagte Toni. »Und jetzt raus mit dir zum Sauerstofftanken.« Sie nahm meine Hand, und wir stürmten barfuß nach draußen.

»Wer zuerst am Gatter ist«, schrie ich lachend, machte mich von ihr los und rannte, so schnell ich konnte. Unter meinen Füßen pikte das nasse Gras, Vögel stoben vor uns auf.

Ich sah, wie Tonis bunter Rock an mir vorbeiflog und ihr geöffnetes Haar auf ihren Schultern auf und ab hüpfte. »Ich bin schneller«, rief sie, die Arme in die Luft gestreckt.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und spannte meinen Körper an. Frühlingsluft drückte sich in meine Lungen. Schon hatte ich sie eingeholt. Dicht an dicht liefen wir das letzte Stück, bis ich mit wenigen Metern Vorsprung das Gatter als Erste erreichte. »Gewonnen«, keuchte ich triumphierend. Toni nickte lächelnd, bevor ihre zarte Gestalt im Gras entschwand.

Die Sonne trat nun ganz hinter den Wolken hervor. Müde blinzelte ich in das kräftige Sonnenlicht, dann schloss ich das Fenster wieder und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. An der Wand neben der Schiebetür hing immer noch die kleine, gerahmte Bleistiftskizze von Tonis Haus, die mein Vater vor vielen Jahren angefertigt hatte. Die Striche gerade und steif, so wie er selbst gewesen war.

Wir hatten uns nie nahegestanden. Dennoch bereute ich es in diesem Moment, dass meine Mutter und er meine Rückkehr nicht mehr miterlebten. Sicher hätten sie sich gefreut, auf ihre alten Tage ihre einzige Tochter wieder in der Nähe zu wissen.

Ich ging ins Wohnzimmer, das zur Straße zeigte. Auch hier war alles verdunkelt. Voller Vorfreude zog ich die Gardinen auf. Und da lag er, der Rhein, majestätisch, in der Sonne glitzernd.

Ich öffnete die beiden großen Flügeltüren und trat auf den großzügigen Balkon, das Herzstück des Hauses. Ein weiter Blick über die rechte Rheinseite bot sich mir, so atemberaubend schön, dass er sich seit Kindertagen in mein Herz geprägt hatte. Ein Frachtschiff glitt lautlos durchs Wasser. Ringsherum die grünen, rollenden Hügel, auf denen sich Rebstöcke in geometrischen Linien in die Höhe zogen, als seien sie mit dem Lineal gesetzt worden.

Wie sehr hatte ich mich nach dieser Aussicht gesehnt, nach der stillen Tiefe dieser Landschaft und den sanften Bewegungen des Flusses. Diese Hügel waren meine Heimat. In ihnen fühlte ich mich geborgen.

Das einzig Beständige in meinem Leben war der Verlust gewesen. Aber hier, vor dieser gewaltigen Kulisse, musste ich erkennen, dass es wohl doch Dinge gab, die ewig währten.

Ich sah zur Burg Katz hinüber, einer Zollburg aus dem vierzehnten Jahrhundert. Stolz ragte der hohe Hauptturm aus der steinernen Festung hervor. Das dunkle, mysteriöse Gemäuer, das für Besucher nicht zugänglich war, hatte schon immer eine besondere Faszination auf mich ausgeübt.

»Erzählst du mir eine Geschichte über Burg Katz?«, bat ich Tante Toni jeden Abend vor dem Zubettgehen.

»Na, über wen möchtest du denn heute etwas hören?«, fragte sie dann, während sie die Decke über mir ausbreitete. »Den Burgherren mit dem gebrochenen Herzen, die beiden tapferen Ritter oder die clevere Magd?«

Wie gebannt lauschte ich ihrer feinen Stimme, die sie meisterhaft zu verstellen wusste. Erst wenn das Geschehen ein gutes Ende gefunden hatte, konnte ich einschlafen.

Nachdem ich eine Weile an der Brüstung verharrt hatte, ging ich zurück ins Wohnzimmer.

An der Wand neben der Tür stand der schwarz lackierte Bechstein-Flügel, ein altes Familienstück, das Toni wie ihren Augapfel gehütet hatte. Eine feine Staubschicht überzog das glänzende Holz. Ich setzte mich auf den Hocker, klappte den Deckel hoch und legte meine Hand auf die Tasten.

»Nicht vergessen, den vierten Finger aufs B, Hanni«, rief Toni von irgendwoher. »Sonst kommst du nicht bis zum C.«

Langsam spielte ich die F-Dur-Tonleiter über zwei Oktaven, achtete auf den Fingersatz.

Zu Hause hatten wir kein Klavier gehabt. Meine Eltern interessierten sich nicht für Musik und hörten nur das, was gerade im Radio lief. Vielleicht hatte ich auch deshalb den Ferien so entgegengefiebert, weil Toni mir dann wieder ein paar Stunden Unterricht gab. In New York war mir die Welt der klassischen Musik leider entglitten. Familie, Beruf und meine ständigen Reisen hatten mir keine Zeit dafür gelassen.

Später lernte Elsa ihre ersten Stücke hier bei Toni, wenn wir im Sommer aus den Staaten angereist kamen. Hochkonzentriert saßen die beiden nebeneinander am Flügel, während Elsas kleine Finger unermüdlich dieselbe Melodie spielten. Wieder und wieder. Perfekt musste es sein, so wie alles, was sie tat.

Wie ich sie vermisste, meine Elsa von früher. Vielleicht hatte mein Wunsch, wieder in Deutschland zu leben, auch ein wenig mit ihr zu tun. Seit sie nicht mehr in New York lebte, war die Stadt für mich bedeutungslos geworden, ein graues Labyrinth aus Wolkenkratzern, in dem ich verloren herumirrte.

Die Vorstellung, ab sofort jederzeit ins Auto steigen zu können und in rund vier Stunden bei ihr in Den Haag zu sein, machte die Distanz, die seit Jahren zwischen uns herrschte, erträglicher.

Seufzend klappte ich den Deckel wieder zu, fuhr mit dem Finger über seine glatten Rundungen und versuchte, an etwas Positives zu denken.

Hier im beschaulichen Sankt Goar würde ich endlich dazu kommen, mich wieder mit der Musik zu beschäftigen, die Toni, Elsa und mir einst so viel Freude bereitet hatte. Warum nicht noch einmal mit dem Unterricht anfangen?

Frührentnerflausen, dachte ich kopfschüttelnd und gluckste in mich hinein. Was ich mir in den letzten Wochen schon alles vorgenommen hatte, wozu ich mein ganzes Leben nicht gekommen war. Das Gesamtwerk Tolstois lesen, den dreihundertzwanzig Kilometer langen Rheinsteig abwandern, ehrenamtlich aktiv werden – und jetzt auch noch Klavier spielen?

Ich drehte mich um und erspähte den dunkelbraunen Sessel mit den verschnörkelten Armlehnen und dem dazugehörigen Hocker. Tonis Lieblingsplatz. Ich vergaß den Flügel und meine Ruhestandspläne und näherte mich dem Sessel.

Das Sitzkissen war leicht eingedrückt, als hätte sie eben noch hier gesessen. Zärtlich strich ich über die Mulde und versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Dann sank ich in das weiche Polster.

Der Jetlag traf mich wie ein Fausthieb. Ich streifte die Schuhe von den Füßen, die nach dem Flug leicht angeschwollen waren, und legte die Beine auf den Hocker. Wie angenehm, die Zehen endlich wieder richtig bewegen zu können. Ich hatte immer noch meinen Trenchcoat an, aber das war mir gleich. Die Augen brannten, jede Faser meines Körpers sehnte sich danach, endlich ruhen zu können.

Ein durchdringendes Läuten weckte mich. Ich zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Sonnenlicht fiel auf mein Gesicht. Wo war ich? Verwirrt blinzelte ich in den warmen Schein. Dann erblickte ich die geöffnete Balkontür – alles kam zurück. Sankt Goar, mein neues, altes Zuhause. Und jetzt gehörte es mir.

Der Gedanke, nicht zu Besuch hier zu sein, sondern für immer, fühlte sich schön und zugleich fremd an, als hielte ich einen seltenen Stein in den Händen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Halb vier. Donnerwetter, ich hatte über zwei Stunden geschlafen.

Wieder ertönte die Haustürklingel. Sollte ich sie einfach ignorieren? Ich erwartete niemanden. Und dass Toni vor drei Monaten verstorben war, musste sich in der Nachbarschaft längst herumgesprochen haben. Mein linker Fuß begann, unangenehm zu kribbeln. Ich kreiste ihn mehrmals, bis der Krampf nachließ.

Es schellte ein drittes Mal. Vielleicht brauchte jemand Hilfe, dachte ich aus einem alten Reflex heraus. Mit knackenden Gliedern stand ich auf und ging in Mantel und Socken nach unten, um die Tür zu öffnen.

Ein Mann in einem dunkelblauen Anorak, verblichenen Jeans und Budapestern stand vor mir. Er war groß und kräftig, etwa Ende sechzig, mit dichtem grauen Haar und freundlichen Augen. An seiner Schulter baumelte eine Jutetasche, die überhaupt nicht zu seinem übrigen Erscheinungsbild passte.

»Guten Tag«, begrüßte er mich lächelnd. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Richard Sturm.«

Der Name sagte mir etwas. »Guten Tag«, erwiderte ich und rieb mir etwas Schlaf aus den Augen.

»Ich habe eine kleine Arztpraxis im Ort und wohne nebenan«, fuhr er fort, »genauer gesagt, da drüben.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Obstwiese. Auf dem Grundstück dahinter befand sich eine stilvolle Gründerzeitvilla. Als ich noch klein war, hatte dort ein älteres Ehepaar gelebt, erinnerte ich mich. Dann stand sie lange Zeit leer.

»Ich wusste, dass Sie heute kommen«, sagte mein Nachbar. »Sie sind Tonis Nichte Johanna, nicht wahr?«

Ich zog die Stirn in Falten. »Kennen wir uns?«

»Nicht direkt. Aber Sankt Goar ist ein Dorf, da bleibt nicht viel verborgen.« Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Herbert, der Testamentsvollstrecker, hat es mir erzählt. Er ist einer meiner Patienten.«

Da fiel es mir ein – Dr.Sturm war Tonis Hausarzt gewesen. Sie hatte ihn in den letzten Jahren manchmal am Telefon erwähnt. Wie aufmerksam und erfahren er war und dass sie ihm blind vertraute.

»Ich habe Sie vorhin ins Haus gehen sehen«, erklärte er. »Da dachte ich, ich schaue kurz vorbei und stelle mich vor.« Er nahm ein längliches Päckchen, das in graues Papier gewickelt war, aus seiner Tasche und streckte es mir entgegen. »Nusskuchen, frisch aus dem Ofen. Sie haben bestimmt überhaupt nichts im Haus.«

Überrascht nahm ich das Gebäck in Empfang. »Das ist aber nett, Herr Dr.Sturm. Bitte richten Sie auch Ihrer Frau ein herzliches Dankeschön aus.«

Er schüttelte den Kopf. »Der ist nicht von meiner Frau. Den habe ich gemacht. Und bitte nennen Sie mich Richard.«

»Ein Mann, der backt«, staunte ich. Hoffentlich klang das jetzt nicht zu unemanzipiert. Ich kannte Männer, die gerne und häufig kochten. Aber Kuchen und Kekse waren doch außer in Konditoreien aus unerfindlichen Gründen etwas fundamental Weibliches geblieben.

Wir lächelten uns an. Sein Blick war unaufdringlich, aber offen und direkt. Er gab mir das Gefühl, als schaute er tief in mich hinein. Etwas in mir regte sich. Etwas, das ich längst für tot gehalten hatte.

Ich schaute weg. Es war mir unangenehm, ihm so müde und ungeschminkt gegenüberzustehen. Was für einen Eindruck er von seiner neuen Nachbarin bekommen musste. Eine Dreißigjährige konnte so herumlaufen und dabei hinreißend aussehen, aber ich war Anfang sechzig.

Allerdings wäre es unhöflich, ihn jetzt einfach wegzuschicken. Wenn ich ehrlich war, freute ich mich über die unerwartete Gesellschaft.

»Kommen Sie doch herein«, schlug ich vor. »Dann können wir Ihren Kuchen gleich probieren.«

»Sie hatten eine lange Reise«, meinte er zögernd, »ich will mich nicht aufdrängen.«

»Nicht im Geringsten«, versicherte ich, trat einen Schritt zurück und forderte ihn mit einer Geste auf, einzutreten.

Er folgte mir, an meinen Koffern vorbei, die Treppe hoch und in die Küche. »Außer Leitungswasser kann ich Ihnen leider nichts zu trinken anbieten«, entschuldigte ich mich. »Es war noch keine Zeit …«

»Überhaupt kein Problem«, unterbrach Richard mich freundlich, »ich habe Ihnen ein paar Kleinigkeiten mitgebracht.« Er griff erneut in seine Tasche und förderte ein Päckchen Kaffee, mehrere Filtertüten und eine Flasche Milch zutage.

»Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte ich verlegen. Seine Umsicht rührte, ja beeindruckte mich. Im anonymen New York gab es solche Aufmerksamkeiten nicht. Außer einem kurzen Gruß im Vorbeigehen hatte ich mit den Menschen, die neben mir wohnten, nie ein Wort gewechselt.

»Nicht der Rede wert«, winkte Richard ab, »dafür sind Nachbarn doch da.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie über einen Stuhl. »Wie fühlt sich das an, wieder hier zu sein, nach so vielen Jahren in der Ferne?«

»Das sage ich Ihnen in ein paar Wochen, wenn ich es begriffen habe«, gab ich augenzwinkernd zurück.

Ich füllte Tonis Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.

Während ich Teller und Besteck aus dem Schrank nahm und etwas von Richards mitgebrachtem Kaffee in Tonis Porzellanfilter gab, setzte er sich und betrachtete das Buch. Einsam und vergessen lag es mitten auf dem Tisch, als hätte Toni es mir hinterlassen.

»Lew Kopelew – Ein Dichter kam von Rhein«, las er laut und hielt den vergilbten Band hoch. »Die beste Heine-Biografie, die ich je gelesen habe. Von einem Russen geschrieben.«

Ein Arzt, der backte und sich für Literatur interessierte. Richard Sturm wurde mir von Minute zu Minute sympathischer.

»Toni war ein großer Heine-Fan«, erklärte ich. »Viele seiner Gedichte konnte sie auswendig.«

Richard summte die Vertonung von Heines berühmtem Loreley-Gedicht. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …«

»… dass ich so traurig bin«, ergänzte ich singend und erschrak über meine plötzliche Leichtigkeit. Wann hatte ich das letzte Mal gesungen?

Ich setzte mich zu ihm. »Kannten Sie meine Tante gut?«

»Ja«, nickte er, »eine großartige Frau. Voller Lebensfreude, hilfsbereit und dankbar. Und dieses ansteckende Lachen – unmöglich, sich ihrem Charme zu entziehen. Manchmal hat sie mich auf ein Glas Wein eingeladen. Wir konnten uns herrlich unterhalten, über Gott und die Welt, und im Winter habe ich bei ihr Schnee geschaufelt.« Er strich über den Buchdeckel. »Leider hat ihr Herz in den letzten Jahren nicht mehr so mitgemacht, wie sie wollte. Sie musste einiges an Medikamenten schlucken. Trotzdem hat sie sich nie beklagt. Solche Menschen trifft man selten.«

Der Kessel stieß ein durchdringendes Pfeifen aus. Ich eilte zum Herd, nahm den Kocher von der Platte und goss das blubbernde Wasser durch den Filter.

»Von Ihnen hat sie immer ganz besonders geschwärmt«, sagte Richard hinter mir. »Sie war so stolz auf Sie und das, was Sie bei den Vereinten Nationen bewirkt haben.«

Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg.

»Toni hat da wohl ein wenig übertrieben«, murmelte ich, da ich mich mitnichten wie die Heldin fühlte, die ich in den Augen meiner Tante gewesen sein musste. »So grandios und nachhaltig waren meine Leistungen leider nicht.«

Ich füllte den frischen Kaffee in zwei Becher, bevor ich sie mit der Kanne auf den Tisch stellte. Richard bedankte sich, dann trank er sogleich davon.

»Ich glaube, ich kann mir eine gewisse Vorstellung davon machen, wie hart Ihre Arbeit gewesen sein muss«, sagte er. »Früher sind meine Frau und ich viel gereist. Mit dem Rucksack durch Asien und Südamerika und so. Schockierend, wie viel Armut und Bedürftigkeit wir in manchen Ländern gesehen haben.«

Ich schnitt zwei Stücke Kuchen ab und verteilte sie auf unseren Tellern. »Wo genau ist Ihre Praxis?«, fragte ich, während ich bereits die Möglichkeit abwägte, ihn zu meinem neuen Hausarzt zu machen. Dann dachte ich an die Schlaftabletten, ohne die ich nur selten zur Ruhe kam. Alle zwei Monate brauchte ich ein neues Rezept. Sollte mein Nachbar so etwas über mich wissen? Besser, ich suchte mir einen anderen Arzt.

»Auf der Heerstraße«, antwortete Richard. »Aber seit einem Jahr arbeite ich nur noch drei Tage pro Woche.« Er griff nach seiner Gabel, doch anstatt sie in den Kuchen zu stechen, drehte er sie nur in seiner Hand. »Deshalb habe ich mit dem Backen und Gärtnern angefangen. Irgendwie muss man die viele Zeit ja rumkriegen. Wie soll das erst werden, wenn ich ganz aufhöre?«

Er legte die Gabel zurück auf den Tisch und sah durch das Fenster in den Garten. »Hübscher Blick von hier durch die Obstbäume«, bemerkte er. »Aus diesem Winkel habe ich mein Haus noch nie gesehen. Toni und ich saßen immer im Wohnzimmer.« Er runzelte die Stirn und fixierte sein Grundstück. Plötzlich war es, als sei er mit seinen Gedanken weit weg.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich verunsichert.

Er atmete tief durch und wandte mir sein Gesicht wieder zu. »Entschuldigen Sie. Es ist nur … das Fenster oben in meinem Dach. Ich sehe es sonst nie aus dieser Perspektive. Von hier wirkt es …« Er unterbrach sich, suchte ein geeignetes Wort. »So friedlich«, sagte er schließlich. »Als ob dort nie etwas passiert wäre.«

Verwirrt blickte ich ebenfalls zu seinem Haus. Das Dachfenster, von dem er sprach, war groß und rund und glänzte in der Nachmittagssonne. Sicherlich verlieh es dem Raum, zu dem es gehörte, eine wunderbar helle Atmosphäre.

»Passiert?«, hakte ich vorsichtig nach.

Richard schloss die Hände um seinen Kaffeebecher, als wollte er sich daran festhalten. »Es war das Zimmer meiner Frau.« Er sah mich unverwandt an. Die Gelassenheit in seinen Augen war verschwunden.

»Als sie vor fünf Jahren da oben eingezogen ist, ging es ihr nicht gut«, erzählte er mit belegter Stimme. »Ulrike war sehr krank. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wir lebten völlig zurückgezogen. Sie litt unter furchtbaren Schmerzen und wollte niemanden sehen. Ich habe sie bis zum Ende gepflegt.«

»Das tut mir leid«, sagte ich.

Richards Blick wanderte zurück zu seinem Haus. »Fast neun Monate lag sie in diesem Zimmer. Überall im Haus hat sie gefroren, nur unter dem Dach war es für sie erträglicher. Außerdem liebte sie den Blick aus dem runden Fenster. Vom Bett schaut man direkt in den Himmel.«

Da begriff ich die Einsamkeit dieses Mannes. Seine Versuche, die Leere, die seine Frau hinterlassen hatte, mit Backen und Gartenarbeit zu ersticken.

Wie hatte ich selbst dagegen angekämpft. Tat es noch immer. Doch anstatt einen Teig auszurollen, schluckte ich lieber Schlafmittel. Ich dachte an Julian, an die erste Zeit nach seinem Tod und die Lautlosigkeit, die seitdem in meinem Herzen herrschte.

»Diejenigen, die von uns gehen, haben es leichter«, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu Richard. »Sie spüren den Schmerz nicht mehr.«

Er nickte. »Wie recht Sie haben.«

»Wo leben Ihre Kinder?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Die meisten Menschen machte es glücklich, über ihren Nachwuchs zu sprechen.

Doch Richard schüttelte nur traurig den Kopf. »Wir haben leider keine. Erst wollte Ulrike nicht, und später ging es nicht mehr.«

Er drückte mit der Gabel auf seinem Kuchenstück herum.

»Wollen wir uns vielleicht ins Wohnzimmer setzen?«, schlug ich vor, um die düstere Stimmung zu durchbrechen. »Der Blick über den Rhein ist traumhaft.«

»Danke, Johanna, aber es geht schon wieder.« Er schenkte mir ein zuversichtliches Lächeln, nahm die Kaffeekanne und goss sich eine weitere Tasse ein.

»Ich bin eigentlich nicht der sentimentale Typ. Das eben hat mich selbst erstaunt.«

»Warum arbeiten Sie nicht wieder Vollzeit?«, wollte ich wissen, erleichtert, dass er seine Fassung zurückgewonnen hatte. »Mir hat die Arbeit immer gut getan.«

Er winkte ab. »Ach, nach dreißig Jahren muss auch mal Schluss sein. Der Pandemie-Stress steckt mir noch in den Knochen. Ich habe jetzt einen jungen Kollegen eingestellt, und er macht seine Sache ausgezeichnet. Bald wird er die Praxis hoffentlich ganz übernehmen.« Er rührte in seinem Kaffee herum, obwohl er keine Milch dazugegossen hatte. »Planen Sie denn, länger hierzubleiben?«, wollte er wissen.

Ich nickte. »Für immer, hoffentlich.«

Er sah mich überrascht an. »Müssen Sie nicht nach New York zurück?«

»Mir geht es ähnlich wie Ihnen«, erklärte ich. »Nach dreißig Jahren muss Schluss sein mit den Vereinten Nationen. Und mit der Erbschaft war meine Entscheidung, mich hier niederzulassen, schnell gefallen.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er freundlich. »Sankt Goar ist ein angenehmer Ort zum Leben. Ist zwar nicht besonders viel los hier, aber die Landschaft ist inspirierend.« Er deutete mit dem Kopf auf die Heine-Biografie. »Und Sie leben jetzt am meistbesungenen Fluss der Erde. Da kann auch der Big Apple nicht mithalten.«

Wir lachten. Die dunklen Wolken von eben hatten sich endgültig verzogen.

»Jetzt muss ich aber endlich Ihren Kuchen probieren«, sagte ich und steckte mir ein Stück in den Mund. »Hm, wunderbar«, stieß ich zwischen zwei Bissen aus. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich immer noch war, und aß gierig weiter.

»Danke!« Er lächelte und begann ebenfalls zu essen, jedoch mit weitaus weniger Appetit. »Haben Sie schon Pläne?«, fragte er nach einer Weile. »Oder werden Sie jetzt auch Kuchen backen?«

»Das Backen gehört leider nicht zu meinen Talenten«, meinte ich grinsend und nahm mir ein zweites Stück. »Ich habe vor, als freie Beraterin weiterhin für die UNO tätig zu sein. Strategiepapiere schreiben, Projektanträge entwerfen und so weiter. Weniger als früher natürlich und nur das, worauf ich wirklich Lust habe.«

»Nur das, worauf Sie Lust haben«, wiederholte er, »klingt äußerst vernünftig.« Er schraubte die Milchflasche auf und goss sich einen Schluck in seinen Kaffee. »Kennen Sie die Wagners?«, fragte er. »Die Nachbarn hier drüben?« Er deutete nach links.

»Leider nein«, gab ich zurück. »Ich war lange nicht mehr hier. In den letzten Jahren habe ich Toni immer am Starnberger See getroffen, wenn sie im Sommer dort zur Kur war.«

»Ich werde sie Ihnen vorstellen«, sagte Richard. »Ein reizendes Paar. Manuel arbeitet bei der Stadtverwaltung in Koblenz, und Silvia ist Klavierlehrerin.«

Ich horchte auf. »Das trifft sich gut«, meinte ich. »Nebenan steht Tonis alter Flügel. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, wieder Klavierunterricht zu nehmen. Jetzt, wo ich endlich die Zeit hätte …«

»Eine ausgezeichnete Idee«, ermunterte mich Richard. »Mit Silvia werden Sie sich gut verstehen. Im Herbst und Winter gibt sie oft Hauskonzerte.«

»Ich sehe schon, mir wird nicht langweilig werden.« Mein Blick wanderte durch die Küche, und ein Schatten fiel auf meine gute Laune. »Leider hat mir meine Tante nicht nur einen Flügel und eine herrliche Aussicht vermacht, sondern auch eine Menge Arbeit«, seufzte ich. »Ich werde gründlich renovieren müssen.« Ich zeigte auf Schränke und Herd. »Alles uralt. So möchte ich auf Dauer nicht leben.«

Richard kratzte sich an der Wange. »Sicher, das Haus ist nicht mehr ganz frisch, aber es hat eine schöne, klare Struktur. Da ließe sich was draus machen.«

Er schaute mich mit derselben warmen Direktheit an wie vorhin an der Haustür. »Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen dabei. Als wir drüben eingezogen sind, haben wir unser Haus komplett saniert. Ich kenne sämtliche Handwerker in der Umgebung und weiß, wer gut und preisgünstig arbeitet und wer nicht.«

Kontakte. Ratschläge. Genau das, was ich brauchte. Mit Richards Hilfe könnte es so viel leichter werden, dieses Haus zu meinem zu machen.

»Das wäre schön«, sagte ich. »Außer einer alten Freundin kenne ich kaum jemanden hier. Außerdem bin ich ziemlich unbeholfen, was praktische Dinge angeht.«

»Hausrenovierungen sind immer unangenehm«, meinte er. »Jeder ärgert sich über unzuverlässige Handwerker und den Dreck, den sie verursachen. Ich helfe gern.« Grinsend strich er sich über den Bauch. »Allein schon deshalb, weil mich das vom Backen und Kuchenessen ablenkt.«

Ich lächelte. Toni und er hatten sicher viel Spaß miteinander gehabt.

»Erzählen Sie mir, was Sie sich vorstellen«, forderte Richard mich auf. »Vielleicht kann ich Ihnen gleich ein paar Vorschläge machen.«

»Haben Sie denn noch einen Moment Zeit?«, fragte ich.

»Sicher«, nickte er, »die Praxis läuft heute ohne mich.«

»Warum schauen wir uns das Haus nicht gemeinsam an?«, schlug ich vor. »Dann kann ich Ihnen genau sagen, was ich verändern möchte.« Ich zog eine Grimasse. »Oder muss.«

»Los geht’s«, nickte Richard, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.

»Am besten, wir fangen im Keller an«, sagte ich, während wir die Küche verließen. »Da bin ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen.«

Beim Öffnen der Kellertür stieg mir ein fauliger Geruch in die Nase. Ich ahnte nichts Gutes.

Richard schien ähnliche Gedanken zu haben. »Vor ein paar Jahren ist der Rhein über seine Ufer getreten«, sagte er. »Vielleicht ist das Haus seitdem nicht mehr trocken, und deshalb riecht es jetzt so muffig.«

Vorsichtig kletterten wir die wackelige Holzstiege hinunter. An der Wand flackerte ein schwaches Licht, die Luft war kühl und feucht. Der Geruch wurde schärfer. Ich rümpfte die Nase.

»Fäulnis kann alle möglichen Ursachen haben«, erklärte Richard und blickte sich um, als suchte er Wände und Decke nach Schimmelpilzen ab. »Fehlende Mauerabdichtungen, eine kaputte Wasserleitung oder ein defektes Heizungsrohr. Wichtig ist, dass der Schimmel schnell beseitigt wird. Die Mykotoxine sind höchst gesundheitsschädlich.«

Gleich neben den Stufen lagerte Tonis kleiner Weinvorrat. »Die Regale sind ja alle gefüllt«, staunte ich. Ich zog ein paar Flaschen heraus, junge Jahrgänge aus der Region und kaum verstaubt.

»Ihre Tante hat immer Wert auf einen guten Tropfen gelegt«, gab Richard zurück. »Die Rieslinge aus Eltville mochte sie am liebsten.«

Ich schob die Weine zurück und ging weiter. Der Rest des dunklen Kellergewölbes war weniger erfreulich. Ich war froh, dass ich nicht alleine hier unten war, sondern mit jemandem, der sich mit alten Häusern auskannte.

Überall stand Gerümpel herum. Ein alter Sessel mit eingerissenen Polstern, aus denen die Füllung quoll. Kisten voller Zeug, Aktenordner, die noch von Otto beschriftet worden waren. Dazwischen Kleidersäcke, Werkzeug und Gartengeräte, alles durcheinander.

Ich holte tief Atem und seufzte laut. »Das wird Wochen dauern, bis ich das alles durchgesehen habe.« Vielleicht befanden sich in manchen Kisten Familienstücke, über die sich Elsa irgendwann freuen würde. Alte Leuchter, Großmutters Silberbesteck, das Toni geerbt hatte, oder Fotoalben mit Bildern von meiner Mutter und ihr als Kinder.

Wir zwängten uns an Kartons und alten Möbeln vorbei, bis wir im hinteren Raum angelangt waren. Ich hatte ihn noch nie betreten. Er war erstaunlich groß mit halbrunden Fenstern, die zur Straßenseite zeigten.

Richard versuchte, eins der Fenster zu öffnen, doch es ließ sich nicht bewegen. Nachdem er eine Weile am Griff herumgeruckelt hatte, gab er auf. »Wahrscheinlich hat sich der Rahmen verzogen. Alte Häuser sind wie alte Menschen. Überall zwickt es.«

Ich stellte mir Richard in seiner Praxis vor, im weißen Kittel, ein Stethoskop um den Hals. Sicher war Toni nicht die Einzige, die ihn schätzte, ging es mir durch den Kopf, während ich dabei zusah, wie er die Wände eingehend inspizierte. Er gehörte ganz klar zum Typ Seelsorger-Arzt, der seinen Patienten schon allein dadurch Besserung verschaffte, dass er ihnen geduldig zuhörte und die richtigen Fragen stellte.

»Das muss sich ein Fachmann ansehen«, meinte er nach einer Weile und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. »Ich kenne eine Firma in Bingen, die sich auf so etwas spezialisiert hat.«

Er stemmte die Arme in die Hüften und warf einen prüfenden Blick durch den Raum. »Den Keller wieder herzurichten ist keine Kleinigkeit. Aber er hat Potenzial. Große Fenster, ein hochwertiger Fußboden, viel Platz.«

Auf den Boden hatte ich überhaupt nicht geachtet. Ich betrachtete die dunklen Kacheln. Manche waren abgestoßen, hatten Ölflecken oder Farbkleckse, und an einigen Stellen hatte jemand einfach ein paar Linoleumplanken darübergeklebt. Früher mussten sie einmal sehr schön gewesen sein.

Richard zeigte zu einer Holztür auf der gegenüberliegenden Seite. »Sie können von hier aus sogar direkt in den Garten gehen. Wenn Sie mich fragen, ein idealer Partykeller.«

»Partykeller?«, wiederholte ich mit gespielter Entrüstung. »Also, dafür bin ich wirklich zu alt.«

»Na gut, dann eben etwas anderes. Lesungen oder Filmabende.« Er lächelte. Dann maß er den Raum mit langen Schritten ab. »Wir haben eine gute nachbarliche Gemeinschaft. Mit ein wenig Eigeninitiative kann man hier eine Menge auf die Beine stellen.«

Sagte der Mann, der aus Langeweile Kuchen backte. Aber das behielt ich für mich.

Richard klopfte auf die Verbindungswand zwischen den beiden Kellerzimmern. »Wenn Sie die rausreißen, haben mindestens zwanzig Personen hier Platz. Mit weiß verputzten Wänden und sauberen Kacheln kann das ein stilvoller Saal werden. Würde auch den Wert des Hauses steigern.«

Noch vor wenigen Minuten hatte ich hier ausschließlich Dreck und Gerümpel gesehen. Doch je länger Worte wie »stilvoll« und »Wertsteigerung« in mir nachklangen, desto mehr sah auch ich die Räume mit anderen Augen.

Meine Finger juckten, meine alte Energie erwachte wieder. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, einen kleinen Buchclub ins Leben zu rufen, dessen Mitglieder sich jeden Monat hier unten zu angeregten Diskussionen trafen.

Im Geiste sah ich meine Tante entzückt in die Hände klatschen. »Eine ganz wunderbare Idee«, jauchzte sie. »Mach das, Hanni.«

Als ich noch verheiratet war, hatte Ralph sich um sämtliche häuslichen Angelegenheiten gekümmert. Von der Renovierung unserer Wohnung in Manhattan auf der 74th Street hatte ich kaum etwas mitbekommen. Während ich mit der katastrophalen Hungersnot in Somalia beschäftigt war, rannte er durch die Geschäfte und suchte vom Teppichboden bis zur Waschmaschine alles aus, was wir benötigten.

Auch nach meiner Scheidung war ich nicht wählerisch gewesen und hatte das erstbeste Apartment gekauft, das meinem Budget entsprach.

Diesmal würde ich mich nicht mehr mit den Entscheidungen anderer zufriedengeben, mit Ralphs Grautönen oder den bunt gemusterten Teppichböden früherer Vermieter, sondern zum ersten Mal Farben und Materialien auswählen, in denen ich mich wohlfühlte.

Ich blickte durch die milchigen Fensterscheiben in den Garten und stellte mir mein neues Zuhause vor. Ein weißes Bad, eine moderne Küche, den Buchclub im Keller.

Konnte es sein, dass Toni mir die Renovierung mit Absicht überlassen hatte? Damit ich mein letztes Heim nach eigenen Wünschen und Kriterien gestalten konnte und mich schnell wieder einlebte?

»In dir hat schon immer eine gute Psychologin gesteckt«, raunte ich meiner seligen Tante zu.

»Ach Kind, nun übertreib mal nicht«, winkte sie ab. »Ich hätte das Haus längst selbst instand gesetzt, aber mir fehlte einfach die nötige Kraft.«

Ich hörte, wie Richard mit den Fingerknöcheln auf etwas klopfte und drehte mich um. »Sie haben recht«, sagte ich. »Die Wand muss raus.«

Nach dem Keller zeigte ich ihm das restliche Haus. Das froschgrüne Badezimmer, die Schlafräume und natürlich das Wohnzimmer.

Schließlich waren wir wieder in der Küche angelangt. Während ich eine zweite Kanne Kaffee kochte, zog Richard ein kleines Buch aus seiner Jackentasche und blätterte darin.

»Ich schaffe es nicht, mich von meinem Adressbuch zu trennen und die Daten im Telefon zu speichern«, erklärte er, beinahe entschuldigend. »Oder Smartphone, wie man auf Neudeutsch so schön sagt«, fügte er grinsend hinzu und hielt das Buch hoch. »Hier stehen alle Nummern drin, die Sie brauchen. Maler, Elektriker, Klempner und so weiter. Haben Sie ein Stück Papier?«

Ich sah mich nach Tonis Notizblock um, und tatsächlich, er lag wie eh und je auf der Arbeitsplatte gleich neben dem Telefon. »Zitronen, Mehl, Eier, Walnüsse, Haferflocken«, stand in ihrer schnörkeligen Handschrift auf dem obersten Blatt. Mein Hals schnürte sich zu. Das musste sie kurz vor ihrem Tod notiert haben. Tonis letzte Einkaufsliste. Ich würde sie in Ehren halten.

Ich riss den Zettel ab, verwahrte ihn in einer Schublade und übergab Richard den Block. Mit gerunzelter Stirn und konzentriertem Blick, als stellte er mir eine ärztliche Anweisung aus, übertrug er seine Kontakte.

»Das Rezept für dein neues Leben«, kicherte Toni. »Doktor Richard hat für alles eine Lösung.«

Ich schmunzelte.

»So, jetzt lasse ich Sie aber erst einmal in Ruhe ankommen«, sagte er, während er sein Adressbuch zuklappte. »Wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie einfach vorbei, egal wann.«

Ich wusste instinktiv, dass Richard es wirklich so meinte.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, trat ich ans Küchenfenster und beobachtete, wie er hinter das Haus und über die Obstwiese bis zu dem hölzernen Zaun schlenderte, der unsere beiden Grundstücke voneinander trennte.

Er schnupperte kurz an einem blühenden Fliederbusch, dann öffnete er das Gatter und verschwand im dichten Grün seines Gartens.

Mein Blick wanderte wieder zu dem runden Dachfenster. Im Schatten der späten Nachmittagssonne ging etwas Düsteres von ihm aus. Oder lag das daran, dass ich mir jetzt seine verstorbene Frau hinter den schützenden Scheiben vorstellte?

Ich setzte mich an den Tisch und aß den letzten Happen Kuchen. Mein Jetlag kam mit einem Schlag zurück, heftiger als vor drei Stunden. Heute würde es ohne Tabletten gehen, das spürte ich.

Kapitel 2

Elsa, Den Haag 2023

»Wir haben einen Riesenfisch an der Angel«, dröhnte Adrian, »mit dieser Zeugin wird sich alles ändern. Alles, Elsa, hörst du?«

Ich drückte die Voicemail weg und starrte in die Dunkelheit. Der Rest seiner Nachricht war mir bekannt, im Laufe des Tages hatte ich sie immer wieder mit klopfendem Herzen abgehört. Sein Anruf aus Bangui war wie eine Bombe eingeschlagen, als ich unserem Team heute Morgen davon berichtet hatte. Zu einer Einigkeit über die beste Vorgehensweise war es jedoch nicht gekommen.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Seit Stunden lag ich hellwach im Bett, das Kissen in den Nacken gestopft, und spulte die Argumente in Endlosschleife vor und zurück.

Ganz gleich, wie ich es drehte und wendete, wir brauchten diese Zeugin. Unbedingt. Adrian hatte recht – wenn wir es schafften, dass sie eine Aussage vor Gericht machte, hätten wir eine Chance. Aber sie lebte in der Zentralafrikanischen Republik, und sie weigerte sich, nach Den Haag zu kommen. Ich verstand ihre Angst. Es ist riskant, jemanden zu entlasten, der dein halbes Volk auf dem Gewissen hat.

Wäre ich doch selbst nach Bangui geflogen. Als Frau hätte ich vielleicht einen besseren Zugang zu ihr aufbauen können als Adrian. Solche Gespräche mussten mit äußerster Sensibilität angegangen werden.

Draußen fuhr ein Auto vorbei. Mattes Scheinwerferlicht drang durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen, streifte mein Gesicht und huschte über die Schlafzimmerwand. Dann wurde es wieder dunkel, der Wagen entfernte sich. Nachts fuhren hier selten Autos, in meinem Viertel waren die Menschen mit dem Fahrrad unterwegs.

Ich warf einen erneuten Blick auf das Smartphone. Viertel nach drei. In rund zwei Stunden begann mein Tag.

Meine Lider juckten. Ich schob das Telefon unter die Decke, schloss die Augen und überließ mich meiner Erschöpfung. Nachts, wenn die Farben des Tages einem gleißenden Schwarz gewichen waren und die Stille über mir zusammenbrach, war die Müdigkeit besonders stark. Dann spürte ich ihre lähmende Macht bis in die Haarspitzen.

Vor rund sechs Monaten hatte es angefangen. Langsam und unerbittlich war sie in meinen Körper gedrungen, bis sie mein gesamtes Denken, Fühlen und Handeln bestimmte. Manchmal war ich versucht gewesen, die Schlaftabletten zu schlucken, die uns die Krankenstation des Gerichtshofs für Langstreckenflüge verschrieb. Doch ein einziger Gedanke an Mutter reichte, um die Finger von dem Zeug zu lassen. Und wenn ich vor Übermüdung ins Büro kriechen musste.

Heute würde es besonders hart werden, durch den Tag zu kommen. Heute brauchte ich jedes Quäntchen an Energie, das noch in mir steckte. Um Punkt sechs erwartete unser Mandant das gesamte Team zur Vorbesprechung im UN-Gefängnis. Die anschließende Verhandlung im Gerichtshof würde bis in den Abend dauern. Dann folgten die Nachbesprechung und die Vorbereitungen für den morgigen Tag.

Ich musste funktionieren. Seit über zwei Jahren arbeiteten wir an diesem Prozess. Zwanzig Anklagepunkte, darunter siebenfache Kriegsverbrechen. Vergewaltigung, Massaker, Folter.

Die Straftaten unserer Mandanten ähnelten sich alle, sowohl in ihrer Unvorstellbarkeit als auch in ihrer Brutalität. Aber auch Täter waren Menschen. Menschen mit einem Recht auf Verteidigung. Artikel sechs Absatz drei der Menschenrechtskonvention.

Ich döste vor mich hin. Wieder dachte ich an die Zeugin. Es gab bestimmt einen Weg, sie umzustimmen und hierherzuholen.

Allmählich wurden meine Glieder leichter, verflüchtigten sich die Argumente, die Sorgen. Endlich kam er, der Schlaf, auf den ich so lange gewartet hatte.

Drei Stunden später hastete ich durch das mittelalterliche Eingangsportal des UN-Gefängnisses im Stadtteil Scheveningen, unweit der Promenade am Nordseestrand. Hier saßen die Angeklagten des Strafgerichtshofes – ehemalige Regierungschefs, Warlords und Rebellenführer – in Untersuchungshaft. Wegen seiner gehobenen Ausstattung hieß es in unseren Kreisen nur das »Haager Hilton«.

Trotz meines Smartphone-Alarms um halb fünf war ich danach erneut kurz eingenickt und kam nun über eine Viertelstunde zu spät.

Nachdem ich hektisch die Sicherheitskontrolle passiert und meine Tasche in ein Schließfach gestopft hatte, brachte mich ein Wachmann in das Besprechungszimmer. Ein schmaler Raum mit grau betonierten Wänden, einem rechteckigen Tisch und mehreren Plastikstühlen. Neben der Tür hing ein Evakuierungsplan für den Brandfall.

Meine Anwaltskollegen aus dem Verteidigungsteam, unsere beiden Rechtsanwaltsgehilfen, die Ermittler und ein Dolmetscher saßen bereits mit unserem Mandanten, Germain Vounbo, dem »Schlächter«, wie er in seinem Land genannt wurde, am Tisch. Vor ihnen standen aufgeklappte Laptops und Pappbecher mit Kaffee aus dem Automaten. Der Gefängniskiosk, wo es den besseren Kaffee gab, machte erst um sieben auf.

Vounbo starrte abwesend an die Wand, als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders. Er trug den dunklen Anzug, den man ihm bei seiner Inhaftierung für die Verhandlungstage ausgehändigt hatte, und eine blaue Krawatte. An der Decke über ihm blinkte das Rotlicht der Überwachungskamera.

Robert, Hauptverteidiger und Teamleader, musterte mich schweigend und mit hochgezogenen Brauen. Ich merkte, wie ich errötete, murmelte eine Entschuldigung und suchte mir eilig einen freien Platz zwischen meinem Kollegen Christopher und dem Dolmetscher.

Sobald ich saß, spürte ich eine fiebrige Schwere in den Schultern. Wie warmer Sirup floss sie durch Bauch und Beine, bis in die Füße. Mir wurde schwindelig.

»Schon wieder zu spät«, raunte Christopher grinsend, fuhr sich durch seine Locken und knuffte mich freundschaftlich in die Seite. »Soll ich morgen persönlich vorbeikommen und dich wecken?«

Wir zogen uns oft gegenseitig auf, aber heute war ich nicht in Stimmung. Unter meinen Augenlidern klebte die Müdigkeit der vergangenen Monate, Jahre. Ich rang mir ein knappes Lächeln ab, legte meinen Laptop auf den Tisch und zwängte mich aus dem Mantel. Meine Finger zitterten leicht, als ich das Passwort in den Rechner tippte und die Prozessakte öffnete.

Ich lechzte geradezu nach einem Kaffee. In der Eile nach dem Aufstehen hatte ich keine Zeit mehr gehabt, mir einen zu machen.

Robert räusperte sich lautstark. »Wo waren wir stehengeblieben? Punkt fünf. Der Angriff auf Bambari.«

Seine Worte hallten in mir nach, als befänden wir uns in einem riesigen Saal. Der Tisch begann, sich leicht zu drehen. Ich kannte das, in letzter Zeit wurde mir öfters schwindelig. Es würde gleich wieder vergehen.

Robert schlug einen Ordner auf und blätterte darin. »Von den insgesamt vierundzwanzig Zeugen, die die Anklage vorgeladen hat, behaupten zwei, sie hätten Mr.Vounbo am Tag des Angriffs in Bambari gesehen.« Er hielt inne und wartete, bis der Dolmetscher die beiden Sätze vom Englischen ins zentralafrikanische Sango übersetzt hatte.

Vounbo nickte bedächtig und führte seinen Becher zum Mund. Neidisch sah ich ihm dabei zu, während ich den leichten Kaffeegeruch einsog, der über uns schwebte.

»Elsa«, riss mich Robert aus meiner Trance. Er blickte über den Rand seiner Lesebrille zu mir. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass wir genug Material haben, um diese Aussagen zu entkräften?«

Alle Augen richteten sich auf mich.

Wir hatten es hundertmal durchgekaut, ich war bestens vorbereitet. Doch jetzt, in den Sekunden der Stille, die auf seine Frage folgten, war mein Kopf wie leergefegt. Ich schluckte, versuchte mich zu sammeln. Langsam kamen die Sätze zurück.

»Vielleicht nicht genug, um sie zu entkräften«, sagte ich. »Aber genug, um sie glaubwürdig anzuzweifeln.« Tanzende Schatten schoben sich vor meine Augen. Ich versuchte sie wegzublinzeln.

»Kannst du etwas genauer werden?«, hakte Robert nach, während er mit der Spitze seines Kugelschreibers mehrmals auf die Tischplatte tippte.

Ich scrollte durch das geöffnete Dokument auf meinem Bildschirm. Die Worte verschwammen vor meinen Augen, die Schatten verdichteten sich. Was war nur heute los? Sonst dauerten diese Schübe nur wenige Augenblicke.

»Wir haben nicht ewig Zeit«, drängte Robert.

Das Klopfen des Kugelschreibers wurde lauter, hämmerte in meinen Ohren. Bis ich merkte, dass das mein Herzschlag war.

»Zeuge P-037«, murmelte ich, »er hat …« Ich holte Luft, spürte den kratzenden Stoff meiner Bluse auf dem Rücken. Hitze stieg in mir auf, meine Beine fingen an zu kribbeln. Und dann wurde es schlagartig dunkel um mich, als hätte jemand das Licht ausgeknipst.

»Elsa, was hast du?«, hörte ich Christopher wie aus weiter Ferne fragen. Jemand packte mich am Arm.

Gemurmel waberte durch den Raum, wurde lauter. Eine Tür ging auf, Schritte. Dann verebbten die Geräusche, bis ich auch nichts mehr hören konnte.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich ausgestreckt auf einer Liege, in eine Wolldecke gehüllt. Neonlicht erhellte einen weißen Raum. Es roch nach Gummi und Desinfektionsmitteln.

Zurück im Krankenhaus?, durchfuhr es mich. Wie kann das sein? Es war doch alles vorbei.