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Drei Frauen – getrennt durch ein halbes Jahrhundert, verbunden durch ein Versprechen Paris, 1940: Für die jüdische Studentin Judith wird es unter der deutschen Besatzung immer gefährlicher. Zusammen mit ihrer großen Liebe Christian, Sohn eines Bankiers, plant sie heimlich die Flucht. Doch plötzlich ist sie spurlos verschwunden. Mehr als fünfzig Jahre später in Washington: Auf Jacobina lastet ein Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben, aber ihr Leben lang nicht eingelöst hat. Sie soll ihre unbekannte Halbschwester Judith finden. Jetzt bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Da trifft sie auf die junge Französin Béatrice. Die beiden Frauen freunden sich an. Gemeinsam machen sie sich auf eine Suche, die sie weiter führt, als sie je erwartet hätten … Paris, 20. Dezember 1943 Meine Geliebte, seit den frühen Morgenstunden sitzen wir im Keller und warten darauf, dass etwas passiert. In der Stadt heulen ununterbrochen die Sirenen, aber noch sind keine Bomben gefallen. Vor drei Tagen bist Du verschwunden, und mit Dir ist alles Licht aus meinem Leben gewichen. Mein Herz ist stumm vor Schmerz. Ich mache mir fürchterliche Vorwürfe. Hätte ich Dich bloß nicht alleine gelassen, so kurz vor unserer Flucht. Du bedeutest mir alles. ALLES! In meiner Verzweiflung schreibe ich an die Adresse Deines Vaters, die ich in Deinem Tagebuch gefunden habe. Ich bete für Dich, Geliebte, und für eine neue Welt, in der unsere Liebe einen Platz hat. In Liebe C. Béatrice las den Brief erneut. Dann ließ sie das Blatt sinken und starrte ins Leere. "Jacobina", flüsterte sie, "ich glaube, ich habe etwas gefunden."
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Seitenzahl: 521
Melanie Levensohn
Zwischen uns ein ganzes Leben
Roman
FISCHER E-Books
Er, der Frieden schafft in seinen Höhen, er schaffe Frieden unter uns und über ganz Israel. Amen
for Pascal
my love, my life, and my home
Montreal 1982
»Blut …«, raunte der alte Mann und atmete schwer durch den Mund. »Blut …«
Die Stimme zerschnitt die Stille wie eine Schere ein Blatt Papier. Das erste Wort in zwei Tagen. Jacobina, die sich auf dem schmalen Sessel neben dem Bett zusammengekauert hatte, schrak hoch und starrte ihn an. Seine Augen waren halb geöffnet, von seinen Lippen lösten sich kleine Hautfetzen.
Stundenlang hatte sie in dem überheizten Zimmer gesessen und ihn beim Schlafen beobachtet. Wie er dagelegen hatte. Reglos, die Mundwinkel heruntergezogen, das leichte Auf und Ab seiner Brust das einzige Lebenszeichen.
Die Stille wurde nur unterbrochen vom dumpfen Glockenschlag eines Kirchturms, der regelmäßig daran erinnerte, dass wieder etwas Zeit vergangen war. Meistens schaute Jacobina dann kurz auf ihre Armbanduhr, um sich zu vergewissern, welche Viertelstunde gerade geläutet hatte. War es schon halb vier? Oder erst halb drei?
Vier Mal am Tag der Besuch einer Schwester. Morgens kam die ruhige Blonde zum Temperatur- und Blutdruckmessen. Sie hantierte schnell und sicher mit den Instrumenten, legte dem Patienten sanft die Manschette um den Arm. Jacobina hörte das Pumpen des Gummiballs und kurze Zeit später das Zischen der abgelassenen Luft. Die Blonde machte sich eine Notiz und verschwand.
Nachmittags erschien die Rothaarige mit den quietschenden Gummisohlen. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen«, sagte sie jedes Mal in breitem Quebecer Französisch, wenn sie den Tropf wechselte oder den Urinbeutel leerte. »Er ist sehr erschöpft.« Jacobina schüttelte immer nur den Kopf. Das derbe Québécois der Rothaarigen dröhnte ihr in den Ohren.
Gegangen war sie irgendwann dann doch jeden Abend, um in einer kleinen Pension zu übernachten. Keine besonders gepflegte Unterkunft, dafür billig und gleich neben dem Krankenhaus gelegen. Braune Vorhänge, durchgelegene Matratze. Den Kirchturm hörte Jacobina auch dort jede Viertelstunde. Ihr Kopf summte. Bilder des Vaters schwirrten vor ihren Augen. An Schlaf war bisher kaum zu denken gewesen.
»Blut«, wiederholte der Alte, jetzt etwas lauter, mit einem zischenden t. Dann versagte seine Stimme. Er presste die Lippen zusammen und versuchte zu schlucken, was ihn sichtbar große Anstrengung kostete.
Jacobina starrte ihn wie gebannt an. Würde er sich freuen, sie zu sehen?
»Vater?«, fragte sie leise. »Kannst du mich hören?« Ein hohles Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus – eine Mischung aus Erleichterung und Unsicherheit. Sollte sie sich auf sein Bett setzen, seine Hand nehmen und sein Erwachen beschleunigen? Nein, dachte sie. Es war besser, ihm etwas Zeit zu geben. Er musste sich besinnen.
Ihr Vater zog seinen Arm unter der Decke hervor und wischte sich über die Augen. Seine Bewegungen waren stockend. Er schien Jacobina nicht wahrzunehmen. Er richtete seinen Blick auf die Wand gegenüber seines Bettes und betrachtete konzentriert das etwas zu niedrig platzierte Bild, das wohl dort aufgehängt worden war, um dem Krankenzimmer ein wenig Farbe zu verleihen. Der Eiffelturm war im Halbdunkel noch deutlich zu erkennen. Eine dieser Billigreproduktionen eines impressionistischen Malers, hatte Jacobina vermutet, als sie das Zimmer zum ersten Mal betreten hatte. Aber keines der typischen Monet-Motive, die immer auf Kalenderblättern abgedruckt waren. Jacobina hatte das Bild vorher noch nie gesehen. In ihren langen Wartestunden hatte sie es selbst ausgiebig betrachtet. Nicht, weil es ihr besonders gefiel – ganz im Gegenteil –, sondern weil es das Einzige in diesem Zimmer war, das sie nicht ständig an den Tod denken ließ. An den Tod und die Erwartungen, die sie erfüllen müsste, wenn er eintraf – falls er eintraf.
Würde sie weinen können? Würde sie die Trauer empfinden können, die man beim Tod des Vaters zu empfinden hatte? Und wie würde sie sich anfühlen? Wie die Leere, die sie durchflutete, wenn sie ihren Job machte? Lähmende Büroroutine, ohne Erfolge, ohne Niederlagen. Oder wie die Einsamkeit, wenn sie alleine im Restaurant saß und der Kellner das zweite Gedeck ihr gegenüber abräumte? Dieses erdrückende Gefühl kannte sie. Sie hatte in all den Jahren gelernt, es zu ertragen.
Aber womöglich würde sie gar nichts empfinden. Denn der Tod konnte nichts mehr ändern. Sie hatte ihren Vater bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten verloren. Damals, als sie kaum einundzwanzig gewesen und fortgegangen war. Er hatte ihr nie verziehen.
Der Tod ihrer Mutter, der war schlimm gewesen. Jacobina hatte Jahre gebraucht, nach Mutters Gesprächigkeit ihr endgültiges Schweigen zu akzeptieren. Sie fehlte überall. Ihre kurzen, fast täglichen Anrufe, die immer ungelegen kamen. Belangloses Gerede.
»Jackie-Schatz, geht’s dir gut?«
»Mama, ich bin im Büro. Ich kann jetzt nicht lange sprechen.«
»Ich will ja nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«
Mutters unerwünschte Pakete mit Bitterschokolade und Bagels aus der Bäckerei Saint-Viateur. Ihre Briefe mit den krakeligen Buchstaben, die Jacobina schon von weitem erkannte. Dass der Winter zu lang war, schrieb die Mutter, dass es schlecht um ihre Gesundheit stand. Jacobina hatte fast nie geantwortet. Zu Pessach schickte die Mutter jedes Jahr mehr Matzenbrot, als Jacobina jemals hätte essen können. In New York gab es zwar mehr koschere Geschäfte als in Montreal, aber davon wollte die Mutter nichts wissen. Damals hatte die Fürsorglichkeit gestört. Jetzt, Jahre später, vermisste Jacobina sie noch immer. Sehnte sich nach den vielen Anrufen. Hätte sie sich doch mehr gekümmert, dachte sie oft, es wäre das Mindeste gewesen. Sie hatte zu spät verstanden, dass die Mutter ihre einzige Heimat gewesen war.
Aber der Vater. Das war etwas anderes.
Jacobinas Blick kehrte zurück zum Krankenbett. Seine Kälte würde sie nicht vermissen. Dennoch war sie jetzt gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen. Er hatte genug durchgemacht in seinem Leben. Er sollte nicht auch noch alleine sterben. Pflichtbewusstsein des einzigen Kindes.
Plötzlich hustete er so heftig, dass sein Kopf dabei in kurzen Stößen nach vorne ruckte. Dann machte er erneut den Versuch zu sprechen. »Blut«, keuchte er, hielt kurz inne und fuhr dann angestrengt fort: »… ist dicker … als Wasser.« Stöhnend schloss er die Augen, als hätte ihn das Aussprechen dieses Satzes seine letzte Kraft gekostet.
Jacobina zuckte leicht zusammen. Wie oft hatte er das früher gepredigt. Das war immer seine Erklärung für alles gewesen: für Krieg und Frieden, für Treue und Verrat.
Hatte er mit ihr gesprochen? Oder war er im Delirium? »Akuter Schwächeanfall«, hatte der Arzt gesagt, als er sie angerufen und umgehend hergebeten hatte. Das konnte vieles bedeuten. »Es geht dem Ende zu«, hatte er hinzugefügt. Keine weiteren Fragen.
Seit sie in Montreal eingetroffen war, hatte Jacobina nicht viel mehr herausfinden können. Der Arzt war beschäftigt, hatte sich nur wenige Minuten Zeit für sie genommen. Gut, dass sie da sei. Ein kurzer Händedruck. Ihr Vater sei geschwächt, man müsse abwarten.
Vater hatte nie mit ihr über seinen Gesundheitszustand gesprochen. Sicher, seine Mobilität hatte in den vergangenen Jahren rapide abgenommen, und er litt schon lange unter Schlaflosigkeit. Normale Alterserscheinungen. »Altsein ist beschissen«, hatte er oft gesagt. »Nichts macht mehr Spaß. Alle Knochen tun einem weh.« Aber wie es genau um ihn stand, ob er mit zu hohem Blutdruck oder Diabetes zu kämpfen hatte, ob irgendwo ein Krebs in seinem Körper wucherte oder warum er die kleinen, blauen Tabletten schluckte, davon hatte Jacobina keine Ahnung. Und es hatte sie auch nie interessiert.
Eine Putzfrau hatte vor über einer Stunde den Boden gewischt, aber der strenge Geruch des Desinfektionsmittels hing noch im Raum. Jacobina schaute aus dem Fenster, das man nicht öffnen konnte. Die Fensterscheiben waren doppelt verglast. Straßengeräusche drangen nur gedämpft herein. Das Leben da draußen war weit weg. Unwirklich.
Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, waren die Straßen bereits beleuchtet. Es hatte wieder angefangen zu schneien. In schrägen Linien strebten die Flocken der Erde zu. Diese verdammten kanadischen Winter. Wie hatte Jacobina sie immer gehasst. Die endlose Dunkelheit, die rotgefrorenen Hände. Sie hatte fast alles hier gehasst. Warum hatte das bloß niemand verstehen wollen?
Jacobina tastete mit den Fingern nach dem Schalter, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Doch dann besann sie sich anders und zog die Hand wieder zurück. Ihr Vater liebte die Dämmerung, erinnerte sie sich mit einem Anflug von Milde. Dieses Zwielicht, das den Abend ankündigte und allmählich alles zur Ruhe kommen ließ. Zu Hause hatte er oft im Halbdunkel gesessen. Nur die kleine Wandlampe, die die Krankenschwester am späten Vormittag angeschaltet hatte, ließ Jacobina brennen. Licas rechte Wange leuchtete matt in ihrem Schein.
Er räusperte sich und öffnete erneut die Augen. Jacobina nahm das Glas vom Tisch, füllte es mit Wasser aus der Karaffe, die die Blonde morgens gebracht hatte, und hielt es ihm schweigend hin. Doch er reagierte nicht darauf und starrte wieder wie gebannt auf die Umrisse des Eiffelturms. Sein Gesicht wirkte jetzt noch eingefallener als bei Tageslicht. Breite, schwarze Falten zerklüfteten seine Stirn, und die wenigen verbliebenen Haare klebten strähnig am Kopf. Mein Gott, wie alt er aussah! Er war alt. Zweiundachtzig. Obwohl sie ihn zwei ganze Tage lang fast ständig betrachtet hatte, erschien Jacobina die hagere Gestalt mit den grauen Wangen wie ein Fremder. Nichts erinnerte an den munteren, etwas rundlichen Papa Lica, der sie als kleines Mädchen fest in seine Arme genommen und durch die Luft gewirbelt hatte. Der seine kratzende Wange gegen ihre gepresst und ihr etwas Lustiges ins Ohr geflüstert hatte. Seine Stimme, sein Lachen, der Duft seines Rasierwassers – alles an ihm hatte Geborgenheit verströmt. Damals. Sie war acht gewesen und die Welt noch in Ordnung.
»Wilder Lica« hatten ihn alle genannt. Ja, wild und laut war er gewesen. Hatte viel vom Leben gefordert, nichts und niemanden respektiert. Außer die heiligen Regeln des Sabbats, wenn er mit Ehrfurcht die Kerzen angezündet, sich großzügig Wein eingeschenkt und seine Familie gesegnet hatte. Jacobina dachte gerne an die Freitagabende ihrer Kindheit zurück. Das Haus war aufgeräumt, Geld- und sonstige Sorgen auf später verschoben, der Duft von Challah, dem geflochtenen Weißbrot, das die Mutter aus dem Ofen holte und mit Salz bestreute, zog durch die Räume. Als die Mutter noch lebte und Lica noch nicht der verschrobene Zyniker war, zu dem er nach ihrem Tod geworden war. Wie lange das her war!
Die anderen, weniger schönen Erinnerungen hatte Jacobina vergeblich zu verdrängen versucht. Die vielen Auseinandersetzungen. Die Vorwürfe. Das Schweigen. Das Schweigen würde ihr bleiben. Der Tod änderte eben nichts.
»Paris«, sagte Lica plötzlich und unterbrach die Stille genauso unverhofft wie vor einigen Minuten. Seine Stimme klang rau, aber fest. Er musste sich nicht mehr räuspern. »Judith … Kind.« Er atmete tief und schwieg wieder.
Von wem sprach er? Phantasierte er? »Vater, ich bin’s. Jacobina.«
»Paris«, wiederholte er leise, fast melancholisch, ohne den Blick vom Eiffelturm abzuwenden.
»Vater. Wie fühlst du dich?«
Er antwortete nicht.
Jacobina beugte sich vor und berührte seine Hand. Warum erwiderte er ihren Blick nicht? Er musste sie doch sehen!
Ein wehmütiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Dann drehte er langsam seinen Kopf zu Jacobina und schaute sie an. Durch sie hindurch. War ganz woanders. »Wie konnte ich dir das nur antun, Judith?« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.
Jacobina starrte ihn an. »Wovon sprichst du?«
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Das Deckenlicht ging an und tauchte den Raum in grelles Neonlicht. Jacobina blinzelte.
Die Rothaarige mit ihren quietschenden Gummisohlen kam herein, stellte sich ans Fußende des Bettes. »Bonsoir, Monsieur Grunberg. Ausgeschlafen?«, fragte sie mit lauter Stimme und zwinkerte ihm zu. Dann wandte sie sich an Jacobina. »Seit wann ist Ihr Vater wach?«
Bevor Jacobina antworten konnte, fiel er ihr ins Wort. »Wasser.«
»Vielleicht fünf Minuten«, murmelte Jacobina und erhob sich. Sie wollte ihm das gefüllte Glas an den Mund führen, doch Lica ergriff es mit zitternder Hand und schob ihren Arm beiseite.
Typisch, dachte Jacobina.
Er hielt das Glas mit beiden Händen umklammert und trank mit kleinen, gierigen Schlucken.
Die Rothaarige ging um das Bett herum, drehte geschäftig an den Einstellungen des Tropfes und zog die Vorhänge zu. Lica ließ den Kopf zurück ins Kissen sinken, lockerte seinen Griff. Das halbvolle Glas rollte über die Decke und fiel klirrend zu Boden.
»Passen Sie doch auf, Madame«, sagte die Schwester scharf. Ohne sich um die Scherben zu kümmern, ergriff sie Licas schlaffen Arm und fühlte seinen Puls.
Jacobina bückte sich und sammelte die Glasstücke auf. Ihre Beine schmerzten vom langen unbeweglichen Sitzen.
»Vierundvierzig«, sagte die Rothaarige. »Niedrig.« Sie legte Licas Arm auf die Bettdecke zurück und schrieb die Zahl auf. »Sehen Sie zu, dass er etwas isst«, ordnete sie an. Sie drückte den Rufknopf für das Schwesternzimmer und rief: »Abendessen auf die Vierundfünfzig.« Dann verließ sie den Raum.
Jacobina atmete auf, zog ein paar Papiertücher aus der Pappschachtel, die auf Licas Nachttisch stand, und wischte damit die letzten Splitter vom Boden auf. Keinen Ärger machen, hatte sie sich vorgenommen, keine bissigen Bemerkungen. Es lohnte nicht, die Schwester zurechtzuweisen.
Ein junger Pfleger brachte ein Tablett mit Essen und einer Kanne Tee herein und stellte es auf Licas Nachttisch. Er lächelte schüchtern und wünschte Jacobina eine gute Nacht. Sie warf einen Blick auf den Teller: ein Stück Brot, das mit einer quadratischen Scheibe Käse belegt war, daneben ein paar eingetrocknete Gurkenstücke.
»Drecksfraß«, schnaubte Lica, als sie wieder alleine waren.
Jacobina schmunzelte. Doch immer noch der Alte. Vielleicht waren die Befürchtungen des Arztes zu voreilig gewesen. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schaltete die Deckenbeleuchtung aus und rückte ihren Sessel näher ans Bett. »Möchtest du Tee?«
»Ich muss mit dir reden«, sagte er, ohne sie anzuschauen. Seine Stimme war leise, klang aber nun sehr bestimmt.
Jacobina horchte auf. Er wusste also sehr wohl, dass sie hier saß. Typisch, dachte sie wieder.
»Das Leben ist kompliziert, Jackie«, raunte er, »Wir haben nur noch uns.«
Wenn er diese Einsicht vor zehn Jahren gehabt hätte, wäre ihr manches erspart geblieben. Wut stieg in ihr auf. Jetzt, wo es ihm schlecht ging, wollte er mit ein paar dahergeredeten Sätzen alles wiedergutmachen. Wir haben nur noch uns, echote es in ihrem Kopf. So einfach war das nicht. Und es war zu spät. Viel zu spät. Jacobina atmete tief durch und ließ ihren Blick im Zimmer umherwandern. Keine bissigen Bemerkungen, ermahnte sie sich. Sie durfte nicht die Beherrschung verlieren.
»Wie soll ich es sagen?«, fuhr Lica fort und strich mit zitternder Hand über den Wasserfleck auf der Bettdecke. »Ich … ich habe manches falsch gemacht.«
Manches! Jacobina wollte bitter auflachen. Alles! Aber sie riss sich zusammen und schwieg. Dachte an den furchtbaren Streit bei ihrem letzten Besuch. Als sie sich geschworen hatte, ihn niemals wiederzusehen. Sie hatten immer gestritten, wenn sie sich sahen. Heftig und böse. Das hieß, er fing an, ihr Vorhaltungen zu machen, sobald sie den Begrüßungskaffee und die oberflächliche Plauderei der ersten Stunde hinter sich gebracht hatten. Über ihr Leben. Dass sie nicht zu Ende studiert hatte. Dass sie sich mit einem Job als Tippse zufriedengab, wie er zu sagen pflegte, obwohl sie doch Grips im Hirn hatte. Dass sie Kanada für die USA eingetauscht hatte.
»Den Louis, den hättest du nehmen sollen«, sagte er spätestens beim Abendessen am Küchentisch. Aufgewärmter Eintopf aus der Dose. Das Einzige, was er essen mochte. »Der hat’s zu was gebracht. Dann hättest du jetzt ein gutes Leben.«
Louis, ihr Jugendschwarm. Sie hatte ihn nie wirklich geliebt und trauerte ihm und dem langweiligen Leben, das sie mit ihm geführt hätte, nicht nach. »Ich habe ein gutes Leben.« Ein schwacher Versuch.
»In deinem Schuhkarton?« Eine seiner boshaften Anspielungen auf ihre winzige Wohnung in Manhattan. »Dass ich nicht lache.«
Es war sinnlos. Was wusste er schon von ihr und ihrem Leben? Über ihre Sehnsüchte, ihre Ängste? Die Einsamkeit ihrer Beziehungen? Die nicht gehaltenen Versprechen der Traumstadt New York? Die Schwerelosigkeit, die sie fühlte, wenn sie von ihrer Wohnung im 57. Stock nach unten schaute? Nichts. Der Tod ihrer Mutter hatte sie zu Fremden gemacht.
Wann war er so geworden? Jacobina konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein friedliches Gespräch miteinander geführt hatten. In den ersten Jahren, nachdem ihre Mutter verstorben war, irgendwann da hatte es angefangen. Er redete weniger, ging selten ans Telefon, zog sich immer mehr zurück. Grüßte die Nachbarn nicht mehr, saß tagelang vor dem Fernseher. Jacobina hörte nicht auf, sich Sorgen um ihren Vater zu machen, fuhr, als sie schon längst ausgezogen war, für verlängerte Wochenenden zu ihm. Qualvolle Tage. Die Fensterläden hielt er tagsüber geschlossen. Sein Essen rührte er kaum noch an. Trug immer dieselbe graue Cordhose. Rasierte sich nicht mehr. Das Haus roch muffig, der Garten verwahrloste. Und wenn er mit ihr sprach, machte er ihr Vorwürfe. Dieser Tonfall! Diese Dunkelheit! Jacobina begann, ihr Elternhaus zu hassen.
Aber da war dieses lästige Pflichtgefühl, das an ihr nagte und von dem sie sich nicht befreien konnte. So hatte sie sich überwunden und war mit dem Greyhoundbus immer wieder Hunderte von Meilen über die Grenze nach Montreal gefahren, um nach ihrem vereinsamten Vater zu sehen. Sie blieb eine Nacht, höchstens zwei. Länger ertrugen sie sich nicht.
»Er kann nicht alleine leben«, hatte Iris gesagt, die einst beste Freundin ihrer Mutter. Sie hatte manchmal nach Lica geschaut und Jacobina dann telefonisch Bericht erstattet. »Versuch, ihn zu verstehen.« Aber das hatte Jacobina nicht gekonnt und nicht gewollt.
Das letzte Mal war er besonders hart gewesen. So hart, dass sie sich nach ihrem Besuch über ein Jahr nicht bei ihm gemeldet hatte. »Irgendwann kriegst du deine Rechnung«, hatte er ihr damals nachgeschrien, als sie wütend und hastig sein Haus verlassen hatte. »Dann sitzt du krank und alt in deiner Wohnung und bereust dein Leben.« Das war jetzt auch schon wieder ein paar Jahre her. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen, nur selten angerufen. Warum diese Wut? Warum auf sie?, fragte sie sich oft. Sie hatte ihm doch nichts getan. Gewiss, sie hatte ihn enttäuscht. Hatte keinen Ehemann nach Hause gebracht, ihm keinen Enkel in die Arme gelegt. Aber so waren Kinder nun einmal. Sie gingen ihre eigenen Wege.
Kam jetzt, in diesem Krankenzimmer, eine Entschuldigung für alles? Würde sie die annehmen können? Nach all der Ablehnung? Nein. Es war zu spät. Jacobina schlug die Beine übereinander und wippte mit dem rechten Fuß.
Lica starrte wieder auf den Eiffelturm. »Paris …«, sagte er, »dort fing alles an.«
Jacobina schaute überrascht auf und wollte nachhaken. Doch dann beschloss sie, zu schweigen und zu warten. Er würde es schon sagen.
»Claire«, flüsterte Lica, »Die schöne Claire Goldemberg … Ich habe sie geliebt.« Er seufzte und wischte sich über die Augen. »Dann das Baby. Eine Frühgeburt.«
Was redete er da für ein Zeug?
Lica lächelte. »So ein Winzling.«
»Von wem sprichst du?«
»Die Hebamme dachte, sie würde es nicht schaffen.« Er hielt inne und schluckte. »Aber Judith … sie lebte.« Dann wandte er sich an Jacobina und sah ihr zum ersten Mal in die Augen. »Deine Halbschwester.«
Jacobina lehnte sich zurück und holte Luft. Er phantasierte. Die Medikamente. Sie sollte besser die Rothaarige rufen.
Lica runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte zurück zum Eiffelturm. »Claire und ich trennten uns«, sagte er heiser. »Ich versprach, Judith zu schreiben. Sie zu besuchen. Geld zu schicken. Später lernte ich deine Mutter kennen.«
Jacobina stockte der Atem. Trotz der Wärme im Zimmer waren ihre Fingerspitzen plötzlich eiskalt.
»Dann kam Hitler, später der Krieg.« Lica schwieg und seufzte. »Die dummen Rumänen machten mit den Nazis mit. Wollten uns ausrotten. Erst holten sie Onkel Philipp,« er machte eine kurze Pause, »dann mich.« Eine Weile sagte er nichts. Als kostete es ihn besondere Überwindung, den letzten Teil seines Geständnisses auszusprechen. »Ich habe … den Kontakt zu Judith verloren. Hab sie nie wieder gesehen.«
Jacobinas Magen schnürte sich zusammen, ihre Beine wurden schwer. Ihr Blick folgte den schwarzen Spuren, die die Rollen der Betten auf dem Fußboden hinterlassen hatten. In der Ecke neben dem Fenster hatten sich kleine Staubballen gebildet. War nicht gerade erst gewischt worden? Oder hatte sie sich das nur eingebildet, so wie die Überzeugung, ihren Vater zu kennen? Die Kirchturmuhr schlug. Der Gong hämmerte in Jacobinas Kopf. Da lag dieser Mann vor ihr, alt und totenbleich, und dachte in seinen letzten Stunden an ein Mädchen, das er jahrzehntelang verschwiegen hatte. Das Leben war eine einzige Lüge.
»Warum hast du mir das nie erzählt?«, flüsterte Jacobina. Über ihrer Oberlippe hatten sich winzige Schweißperlen gebildet. Mit dem Zeigefinger wischte sie sie fort.
»Die Locken«, murmelte er, »Goldbraune Locken … wie Claire.«
Eine Halbschwester. All die Jahre hatte er mit und sie ohne diese Wahrheit gelebt. Gleich zweimal hatte er sich der väterlichen Verantwortung entzogen. Weder die eine Tochter gewissenhaft gesucht noch der anderen etwas von der Halbschwester erzählt. Was war er nur für ein Feigling! Jacobina wollte es ihm sagen. Jetzt. Es herausschreien. Den Schmerz herausschreien. Aber sie schluckte nur. Ihre Zunge schien unbeweglich.
»Ach, der Krieg … «, hatte Lica immer mit einer abwinkenden Handbewegung gemurmelt, wenn sie ihn als Kind nach seinem Leben fragte. »Er hat uns zerstört.« Von der Deportation hatte sie gewusst. Er habe Glück gehabt, hatte er oft gesagt, dass er nicht in einem der Vernichtungslager in Polen gelandet, sondern in Rumänien geblieben war. Doch darüber reden wollte er nie, brach immer schnell ab. Sie kannte keine Einzelheiten. Wusste nur, dass er irgendwann entkommen war und dann mit Mutter und ihr sofort das Land und Europa verlassen hatte. Sie hatte ihn nie zum Reden gedrängt, mochte die finsteren Gesichter der Eltern nicht, wenn sie das Wort Krieg aussprachen, gedehnt und voller Abscheu. Der Krieg hatte keine Bedeutung für Jacobina. Europa war weit weg. Es war lange her. Sie war damals ein Baby gewesen und konnte sich an nichts erinnern. In ihrem Pass war Bukarest als Geburtsort vermerkt. Mehr musste sie nicht wissen.
»Bald ist es mit mir vorbei«, raunte Lica. »Ich mag nicht mehr.«
»Du hättest es mir sagen müssen«, versuchte Jacobina es erneut.
Lica wandte sich ihr zu. Seine Augen waren wässrig und hatten jegliche Farbe verloren. »Ich konnte nicht«, sagte er. »Ich habe mich zu sehr geschämt, Jackie.«
Jacobina biss sich auf die Lippen. Seine Ehrlichkeit kam überraschend.
»Das letzte Mal habe ich Judith in Paris gesehen«, fuhr er fort. »Sie war dreizehn. Oder vielleicht schon vierzehn … Lange vor dem Krieg. Es war Frühling.« Er schaute wieder das Bild an.
Jacobina folgte seinem Blick und bemerkte zum ersten Mal, dass es leicht schief hing. Lica machte ein paar ungeschickte Bewegungen mit seinen Armen, versuchte, das Kopfkissen unter seinem Rücken herauszuziehen. Er gab es bald auf, schaute zu ihr herüber. Sie erhob sich, dankbar für die stumme Bitte um Hilfe, dankbar, etwas tun zu können, das kein Reden erforderte. Sie half ihm, sich aufrecht hinzusetzen, zog das Kissen hervor, strich es glatt und steckte es hinter seinen Kopf. Als sie seine knochigen Schultern berührte, erschrak sie. Es war kaum mehr etwas übrig von diesem Menschen.
»Wir saßen auf dem Champ de Mars. Bestaunten den Eiffelturm. Er war so wie auf diesem Bild. Fast rosa im Morgenlicht. Und stolz wie sein Volk.«
Jacobina zog die Augenbrauen hoch.
Die Tür ging auf, und der junge Pfleger, der zuvor das Abendessen gebracht hatte, kam zurück, um das Tablett abzuholen. Das Käsebrot lag weiß und unberührt auf dem Teller.
»Haben Sie vielleicht eine Suppe oder eine heiße Brühe?«, fragte Jacobina. Nicht aus Sorge, dass der Vater nichts gegessen hatte, sondern um etwas zu sagen. Irgendetwas, das nichts mit dem soeben Gehörten zu tun hatte. Etwas Normales, Alltägliches.
Der Pfleger, das Gesicht voller Sommersprossen, sah sie durch kleine, runde Brillengläser an und schüttelte den Kopf. Jean stand auf dem Namensschild, das an seinen Kittel geheftet war. »Tut mir leid, Madame. Für Spezialwünsche müssen Sie einen Zettel ausfüllen und morgens bei der Schwester abgeben.«
Jacobina nickte abwesend. Sie schaute zu, wie der Mann das Tablett nahm. Wie groß seine Hände waren.
»Möchten Sie eine Schlaftablette, Monsieur?«
»Er ist gerade aufgewacht«, zischte Jacobina, bevor Lica antworten konnte. »Sie können ihm doch jetzt keine Schlaftablette anbieten!«
»Oh, entschuldigen Sie«, sagte der Mann hastig und trat einen Schritt zurück. Das Geschirr rutschte klappernd auf dem Tablett herum. »Die Pille ist für die Fünfundfünfzig.« Er lächelte müde. »Langer Tag heute.«
Jacobina antwortete nicht.
»Lang ist das Leben«, sagte Lica, »viel zu lang.« Er schaute den Pfleger grimmig an.
»Jetzt gehen Sie schon«, fuhr Jacobina ihn an. Dann fügte sie »Jean« hinzu, in der Hoffnung, er würde schneller reagieren, wenn er seinen Namen hörte.
Eilig verließ der Pfleger den Raum und schloss geräuschvoll die Tür.
»Mach das Licht aus, Jackie«, sagte Lica. »Es blendet.«
Jacobina knipste die Wandlampe aus und setzte sich wieder auf den Sessel. Dann lockerte sie die Schnürsenkel ihrer Stiefel und streckte die Beine von sich. In der Dunkelheit konnte sie das Bett nur schemenhaft erkennen. Sie sah den schwarzen Umriss von Licas Kopf. Er atmete keuchend.
Wo anfangen? Jacobina lauschte den Schritten auf dem Gang. Leise Stimmen. Ein kurzes Lachen.
»Jackie …«, begann Lica nach einer Weile, »deine Mutter – sie war mein Leben … Nach ihrem Tod war alles zu Ende.«
Jacobinas Augen füllten sich mit Tränen. Was war mit ihr? Hatte sie keinen Platz in seinem Herzen?
»Die Erinnerungen holten mich ein«, fuhr er fort, »an früher … Judiths Locken … Rumänien … Das Lager. Wie die Ratten haben wir gehaust, saßen in unserer eigenen Scheiße … Hatten Läuse. Typhus. Mussten Dreck fressen. Tag und Nacht sah ich diese Bilder. Es war unerträglich … Ich konnte einfach nicht darüber reden.«
Jacobina ballte die Hände zu Fäusten. »Du hattest mich«, brachte sie schließlich hervor.
Und dann sagte Lica etwas vollkommen Unerwartetes. »Ich hatte Angst vor dir, Jackie. Du warst so eigenständig. Hast nie auf mich gehört. Dich vor nichts gefürchtet. Hast dein Studium aufgegeben und bist nach New York gegangen.« Er machte eine kurze Pause. Jacobina hörte, wie er sich mit der Hand über das Gesicht rieb. »Warst so wie ich früher. Das Herz auf dem rechten Fleck. Ich kam mir so klein und alt vor, wenn du da warst. Was hätte ich dir vom Krieg vorjammern sollen?«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Ich habe mich gehasst … Und es an dir ausgelassen.« Seine Stimme klang gepresst. »Ich konnte nicht anders … Ich konnte noch nie gut über Gefühle reden … Schon gar nicht mit dir.« Er wälzte sich stöhnend im Bett herum. Die Sprungfedern der Matratze quietschten, ein Kissen fiel zu Boden. »Deine Mutter organisierte unsere Flucht aus Rumänien … Sie war so stark.« Jacobina glaubte, ein kleines Lächeln in seiner Stimme zu hören. »Sie machte mein Leben wieder rund.« Er drehte sich hin und her. Jacobina griff im Dunkeln nach dem Kissen und legte es zurück aufs Bett, dorthin, wo sie seinen Arm vermutete.
»Jahrelang konnte ich weitermachen. So tun, als ob alles gut wäre.« Er röchelte schwach. »Aber nichts war gut. Hab uns allen was vorgemacht.«
Jacobina liefen die Tränen über die Wangen. Sie hatte Angst, ihr Vater könnte sie weinen hören, und wischte sich verschämt über das Gesicht.
»Nach ihrem Tod kam alles wieder hoch«, wisperte er. »Es gibt kein Vergessen … Und kein Entkommen.« Er hustete laut, dabei verschluckte er sich und rang würgend nach Atem. Allmählich wurde er wieder ruhiger.
Jacobina konnte sich nicht mehr zurückhalten. Die aufgestauten Gefühle waren zu stark und brachen aus ihr heraus. Ihr Oberkörper bebte. Sie beugte sich nach vorn, presste die Hand auf ihren Mund und versuchte vergeblich, das Schluchzen zu unterdrücken.
»Verzeih mir, Jackie«, flüsterte Lica in die Dunkelheit. Verzeih mir. Die Worte, auf die sie so lange gewartet hatte. Jacobina schluchzte laut auf.
»Komm her, mein Kind.«
Sie richtete sich auf, tastete nach Licas Hand und umklammerte sie. Seine Finger waren steif und kalt. Wie die eines Toten. Eine ganze Weile weinte sie hemmungslos, das Gesicht in der Bettdecke vergraben. All die Jahre. Die verlorene Zeit.
»Du musst Judith finden«, sagte Lica. Seine Stimme klang beschwörend. »Versprich es mir!«
Jacobina hielt inne und versuchte, sich zu beruhigen. Die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen. Endlich drangen nur noch vereinzelte Schluchzer aus ihrer Kehle hervor. Sie entzog dem Vater die Hand und zerrte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, um sich die Nase zu putzen. Um verlaufenes Make-up musste sie sich nicht sorgen, sie war nicht geschminkt.
»Ich möchte, dass du …« Seine Stimme versagte. Er schluckte und atmete laut durch den Mund. »… dass du das vollendest, was ich mein Leben lang vor mir hergeschoben habe.«
Jacobina zog laut die Nase hoch und schob das nasse Taschentuch wieder in ihre Jeans.
»Bitte«, röchelte Lica. Seine Hand suchte die Decke nach der ihren ab.
Sie streckte ihren Arm aus. Lica griff ihre Finger und drückte sie. Das innigste Zeichen von Zuneigung eines gebrochenen Mannes. Eines Mannes, der jahrelang seinen Schmerz mit Scham und Selbstbeherrschung unterdrückt hatte. Dessen Wunden zu tief waren, um jemals zu heilen.
Er tat Jacobina leid. Plötzlich empfand sie so etwas wie Zärtlichkeit für ihren Vater. Ein ungewohntes Gefühl. Sie wollte ihm über den Kopf streichen, doch sie traute sich nicht.
»Bitte«, sagte er mit kratziger Stimme und rang nach Luft.
»Ich verspreche es«, hauchte Jacobina. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?
Lica schluckte hart. Mit einem Mal verstummten die geschäftigen Schritte auf dem Gang. Jacobina horchte in die Stille.
»Kannst du den Vorhang auf machen?«, bat Lica. »Ich möchte noch einmal den Schnee sehen.«
Sie stand auf, zog die Vorhänge auseinander und setzte sich wieder an seine Seite.
Er wandte den Kopf zum Fenster. Jacobina sah, wie die Flocken im Licht der Straßenbeleuchtung auseinanderstoben. Sie war für diesen Winter nicht richtig angezogen. In der Hektik des Aufbruchs hatte sie ihre Handschuhe zu Hause vergessen und nach der falschen Jacke gegriffen. Sie war froh, dass es nur ein paar Schritte bis zur Pension waren.
»Ich werde jetzt noch ein wenig schlafen«, sagte er, und in seiner Stimme schwang etwas von der Entschiedenheit mit, die Jacobina noch aus der Zeit kannte, als sie ein Kind gewesen war. »Du solltest das auch tun.«
»Ich bleibe hier, bis du eingeschlafen bist.«
»Nein, geh nur. Ich schaue den Flocken zu. Das beruhigt.«
Mit großer Mühe drehte er sich auf die Seite, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Jacobina stand auf und sah unschlüssig auf die starre Silhouette seines Rückens. Aber er sagte nichts mehr.
Er wollte alleine sein, dachte sie und nahm ihre Jacke. »Gut. Dann gehe ich. Ich komme morgen früh wieder«, Jacobina schlang sich ihr Tuch um den Hals, »und bringe dir etwas zum Frühstücken mit.« Der Gedanke an Baguette und heißen Kaffee tat gut.
Sie trat leise zur Tür, zog sie geräuschlos hinter sich zu und ging den Gang hinunter in Richtung Fahrstuhl. Ihre Schritte hallten zwischen den engen Wänden wider. Als sie am Schwesternzimmer vorbeikam, blieb sie stehen und schaute durch die halb geöffnete Tür. Eine junge Frau, die langen Haare zu einem Zopf geflochten, saß am Schreibtisch und verteilte Tabletten auf Plastikdöschen. Neben ihr standen ein großer Becher mit Kaffee und eine offene Keksdose. Jacobina merkte plötzlich, dass sie hungrig war. Sie klopfte kurz an die Tür und nickte der Schwester zu. »Ich gehe jetzt. Sie wissen, wo Sie mich erreichen können?«
»Um welchen Patienten handelt es sich?«, fragte die Schwester leicht irritiert und nahm einen Schluck Kaffee. I love Canada stand in großen Buchstaben auf ihrer Tasse. Jacobina hatte die Frau vorher noch nie gesehen.
»Vierundfünfzig. Grunberg.«
Ohne die Tasse abzusetzen, schaute die Schwester auf die Pinnwand über dem Schreibtisch. »Sie sind in der Auberge. Geht klar«, murmelte sie und nahm einen weiteren Schluck.
»Bitte rufen Sie mich sofort an, wenn etwas sein sollte«, sagte Jacobina, beruhigt, dass die Schwestern offenbar gut organisiert waren. »Ich komme dann gleich.«
Die Schwester nickte und wandte sich wieder den Tabletten zu.
Vielleicht sollte sie doch noch nicht gehen, überlegte Jacobina plötzlich, drehte sich um und lief wieder zurück. Die Rothaarige trat aus einem der Zimmer. Als sie Jacobina sah, murmelte sie etwas und deutete mit dem Finger auf ihre Armbanduhr.
War ihr doch egal, ob die Besuchszeit jetzt zu Ende war, dachte Jacobina und ging mit erhobenem Kinn an ihr vorbei. Vor Licas Tür hielt sie inne und sah sich nach beiden Seiten um. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber die Rothaarige war bereits verschwunden.
Jacobina legte die Hand auf die Klinke. Er wollte schlafen, hatte er gesagt. Morgen war noch genug Zeit zum Reden. Sie würde ihm frisches Baguette und Kaffee bringen, den Kaffee mit viel Milch, so, wie er ihn früher am liebsten getrunken hatte. Sie würden zum ersten Mal seit Mutters Tod ohne Streit miteinander frühstücken. Sie würde ihn nach Judith fragen, ihm vielleicht auch von sich erzählen. Ein neuer Anfang. So kurz vor dem Ende. Sie ließ die Klinke los, drehte sich um und ging zum Fahrstuhl.
Jacobina knipste das Licht an. Im Hotelzimmer war es eisig, jemand musste die Heizung ausgestellt haben. Und das im tiefsten Winter! Die Kälte machte den Raum noch unbehaglicher, als er ohnehin schon war. Eine Wasserleitung rauschte. Das Zimmermädchen hatte die braune Tagesdecke auf dem Bett ausgebreitet und zwei Kissen mit aufgestickten Blumen am Kopfende platziert. Jacobinas Schlafanzug lag sorgsam zusammengefaltet auf dem Nachttisch.
Sie ging zum Temperaturregler und drehte das Rädchen hoch. Dann schob sie den Vorhang zur Seite, schaltete das Licht wieder aus und setzte sich ans Fenster. Die Jacke behielt sie an. Ihr Magen knurrte, aber ihr war nicht danach, wieder hinauszugehen und irgendwo alleine zu essen. Nicht heute.
Sie kramte in ihrer Handtasche und zog eine angebrochene Tafel Schokolade hervor. Eilig riss sie das Papier ab und biss hinein. Die zuckrige Masse zog ihr den Magen zusammen, aber das Hungergefühl ließ nach.
Jacobina schaute den tanzenden Flocken zu, so, wie Lica es auch gerade tat. Falls er noch nicht eingeschlafen war. Die Straße war menschenleer. Ab und zu wirbelte eine Windböe den Schnee in großen Bögen durch die Luft. In diesem Moment fühlte sie sich ihrem Vater ganz nahe.
Auf der anderen Seite des Gangs wurde eine Tür aufgeschlossen. Jacobina ließ sich tiefer in den Sessel sinken und lauschte dem Brummen der Heizung.
Lica hatte nie Schneemänner mit ihr gebaut, erinnerte sie sich. Er hatte ihr keine Märchen vorgelesen und auch nicht ihre Schulaufgaben kontrolliert. Für diese Dinge war ihre Mutter zuständig gewesen. Licas Einfluss und Wirken hatte auf anderer Ebene stattgefunden. Er hatte ihr aus der Tora vorgelesen, ihr vom Auszug der Juden aus Ägypten erzählt und war mit ihr in die Synagoge gegangen. Mit den Regeln seiner Religion hatte er es nicht allzu genau genommen, er aß für sein Leben gerne Krustentiere, und koscherer Wein war für ihn nichts als gekochte Plörre. Aber er hatte großen Wert darauf gelegt, seiner Tochter, fernab der rumänischen Heimat, ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, das mit der geografischen Aufteilung des Erdballs nichts zu tun hatte. Als Kind hatte ihr das nichts bedeutet, sie kannte es nicht anders. Später war es zum Grundpfeiler ihres Lebens geworden.
Im Zimmer wurde es wärmer. Jacobina schälte sich aus ihrer Jacke und schloss die Augen. Bilder kamen zurück. Wieder sah sie den bleichen Vater vor sich. Unrasiert auf einem Küchenstuhl, die Hände vor den Augen. Vor ihm ein Becher mit kaltem Tee. »Lass die Rollläden runter«, hörte sie ihn missmutig befehlen, »das Licht macht mich ganz krank.«
Jahre früher. Im Frühling. Wie er sie lachend auf den kleinen Sitz hob, den er auf die Mittelstange seines Herrenrads geschraubt hatte. Sie, stolz zwischen ihm und dem Lenkrad thronend, in der einen Hand noch das Frühstücksbrot. »Seid vorsichtig!«, rief die Mutter ihnen nach, als er sie zur Schule gefahren hatte.
Es klopfte. Jacobina schrak auf und musste sich kurz besinnen, wo sie war. Wie lange hatte sie hier gesessen? Es klopfte erneut, diesmal etwas lauter. »Madame? Sind Sie da?«
Jacobina stand auf, stolperte im Dunkeln über ihre Handtasche und tastete sich zur Wand. Wo war bloß der verdammte Lichtschalter? »Komme schon«, rief sie.
Doch die Frau draußen hatte sie nicht gehört und klopfte zum dritten Mal. »Es ist dringend.« Ihre Stimme klang aufgeregt. »Sind Sie da?«
Jacobina öffnete.
Die Dame vom Empfang stand vor ihr, völlig außer Atem. Wahrscheinlich war sie die Stufen hochgerannt. »Bitte kommen Sie«, keuchte sie. »Ein Anruf.«
In ihrem Zimmer gab es kein Telefon, auf das das Gespräch hätte weitergeleitet werden können. Das Krankenhaus, fuhr es Jacobina durch den Kopf. Ohne die Tür hinter sich zu schließen, rannte sie die Treppe hinab, nahm zwei Stufen auf einmal. Unter ihren Füßen der verblichene Teppich mit dem orientalischen Muster. Er wollte sie sprechen. Er hatte doch nicht schlafen können.
Doch in dem Augenblick, als sie nach dem Hörer griff und ihn ans Ohr hielt, wusste sie, dass man ihr etwas ganz anderes mitteilen würde. Es war so weit. Der Moment, auf den sie sich tagelang, jahrelang vorbereitet hatte – jetzt war er gekommen. Der Moment, von dem sie geglaubt hatte, er würde nichts mehr ändern.
»Madame Grunberg?«
»Ja«, hauchte Jacobina in die Muschel.
»Schwester Louise hier.« Sie machte eine Pause. »Ihr Vater ist verstorben.«
Jacobina sagte nichts.
»Es muss passiert sein, kurz nachdem Sie gegangen sind«, erklärte die Schwester. »Es tut mir leid.«
Wir haben nur noch uns. Alles war vergeben. Der jahrelange Streit. Die unausgesprochenen Gefühle. Das späte Geständnis. Das alles wurde nun von einem viel tieferen, einem endgültigen Schmerz übertroffen.
Erst später, in ihrem Zimmer, konnte Jacobina weinen.
Washington D.C., 2006
Klick-klack, klick-klack. Sie erkannte seinen hastigen, beinahe stolpernden Gang schon von weitem, würde ihn unter Tausenden von Schritten heraushören. Dieses schnelle, wütende Aufschlagen seiner Ledersohlen auf dem Linoleumparkett. Béatrice wusste, was das bedeutete. Gleich würde er, ohne vorher anzuklopfen, in ihr Büro stürmen, die Augen zusammengekniffen, das speckige Gesicht leicht gerötet. Und dann würde er ihre sorgfältig recherchierte Pressemitteilung auf den Tisch knallen und seine redigierte Version präsentieren. Ihre Überschrift würde er zerhäckselt, die Einleitung irgendwo auf der zweiten Seite vergraben haben und ganze Paragraphen würden komplett verschwunden sein. Sie hatte ihre Lektionen gelernt. Die erste war: Ihr Chef wusste es immer besser als alle anderen.
Béatrice hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da riss er schon die Tür auf. Mit einem ergebenen Seufzer lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und drehte sich zu ihm. Michael baute seinen gedrungenen Körper vor ihr auf. Sein flaches Gesicht mit den hervorquellenden Augen und den kurzgeschorenen, schwarzen Haaren löste jedes Mal ein unangenehmes Gefühl in ihr aus.
In seiner Hand hielt er ein Blatt Papier. Ihren Text.
Béatrice’ Augenlider zuckten, ihr Atem ging schneller. Wenn er vor ihr stand, war es fast unmöglich, ihren Groll gegen ihn zu verbergen.
Kalter Tabakgeruch strömte ihr entgegen. Wie er es bloß schaffte, jede Stunde sein Büro im achten Stock zu verlassen, um unten neben dem Eingangsportal eine Zigarette zu rauchen? Manchmal sah sie ihn da draußen stehen, wenn sie von ihrer Mittagspause zurückkam. Dann ging sie immer zügig an ihm vorbei und grüßte nur mit einem Kopfnicken.
Michael sah sie mit finsterer Miene an und ließ das Papier auf ihren Schreibtisch fallen. »Muss ich dir etwa erklären, wie man eine Pressemitteilung schreibt?«, schnaubte er.
»Wieso?«, fragte sie zurück, während sie seinem anklagenden Blick nicht eine Sekunde auswich. »Ich habe sie genauso geschrieben, wie wir es besprochen haben, und die Fakten doppelt geprüft.« Sie griff nach dem Blatt und schaute auf ihre Worte. Nicht wiederzuerkennen. Unzählige handgeschriebene Kommentare waren zwischen die Zeilen bis an die Ränder gekritzelt, Sätze durch- oder unterstrichen, und eine Armee roter Pfeile ordnete eine neue, bessere – Michaels – Satzfolge an.
»Verdammt nochmal! Jeder drittklassige Praktikant schreibt besser als du.« Er griff nach seiner Krawatte und rückte sie zurecht. »Ich will Zahlen, Béatrice. Er-folgs-zah-len. Wie oft muss ich das noch sagen?« Bei dem Wort Erfolg funkelten seine Augen böse.
»Jetzt mal langsam, Michael. Die Experten waren sich bezüglich der Zahlen nicht ganz einig«, entgegnete sie und starrte weiter auf den Text. »Das Projekt ist ja noch nicht …«
»Wie, du hast keine Zahlen?«, unterbrach Michael sie. Zwei tiefe Falten bildeten sich zwischen seinen Augenbrauen. »Es gibt immer Zahlen, wenn man welche braucht. Setz dich mit Martine zusammen, lies die Projektauswertung genau durch, ruf im Ministerium an. Denk dir was aus. Muss ich denn hier alles alleine machen?« Michael ging mit kleinen, schnellen Schritten vor ihrem Schreibtisch auf und ab. »Wir haben hundert Millionen Dollar in den Erziehungssektor in Haiti gepumpt. Die Leute wollen wissen, wo ihre Steuergelder geblieben sind.« Seine Stimme wurde immer lauter. »So was schreibt sich von selbst.«
Er griff in seine Hosentasche und zog eine Rolle Pfefferminzbonbons heraus. »Haupttitel: Soundso viele Kinder gehen in Haiti zur Schule. Untertitel: Weltbankprojekt hat mit hundert Millionen den Schulbau unterstützt. Oder so ähnlich.« Er riss das Papier so weit von der Rolle, bis ein paar Bonbons in seine Hand fielen. »Dazu ein gutes Foto mit ein paar hübschen Schulkindern für die Website. PR-Einmaleins. Dafür wirst du bezahlt.« Michael rollte die weißen Dragees zwischen seinen Fingern und warf sie sich in den Mund. »Und diese gestelzten Zitate vom Präsidenten – völliger Bullshit. Die müssen raus. So würde er nie reden.« Krachend zermahlte er die Bonbons zwischen seinen Zähnen und richtete den Blick auf Béatrice’ Busen.
War etwa ein Knopf an ihrer Bluse aufgesprungen? Schnell verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Und bevor ich’s vergesse«, fügte er kauend hinzu. »Ich sehe nirgendwo unsere Key-Wörter: Nachhaltigkeit. Wachstum. Wohlstand. Chancengleichheit. Dafür arbeiten wir. Dafür steht die Bank. Also schreib das gefälligst auch da rein.«
Lektion Nummer zwei: Was auch immer sie tat, sie konnte es ihm nie recht machen.
Béatrice ließ die Standpauke mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen. Sie kannte seine verbalen Amokläufe nur zu gut. Die Chemie zwischen Michael und ihr hatte noch nie gestimmt. Sicher, er hatte sie eingestellt, also musste sie ihn damals beim Vorstellungsgespräch überzeugt haben. Aber dann, nach nicht mal einem Jahr, hatte sie den fatalen Fehler begangen, ihn vor dem gesamten Team zu korrigieren. Bei seiner Behauptung, die Kreditzusagen der Bank an Afrika seien mittlerweile höher als die an Lateinamerika, hatte sie sich einfach nicht zurückhalten können und aus dem Jahresbericht zitiert, wo genau das Gegenteil drin gestanden hatte. Seitdem verging kaum ein Tag, an dem er ihr diese Bloßstellung nicht heimzuzahlen versuchte.
»Das, was du hier oben hingeschrieben hast, kann ich leider nicht lesen.« Sie hob ihren Blick, wollte Michael in die Augen schauen. Aber er hatte sich so dicht neben sie gestellt, dass sie stattdessen nur seine Krawatte sah. Es war die hässliche braune mit den schwarzen Streifen.
Michael strich sich über seinen Bauch und schnaufte herablassend. »So, du kannst es nicht lesen. Das ist alles, was dir zu diesem Shit einfällt, den du da fabriziert hast?«
»Ich fabriziere keinen Shit«, entgegnete sie trocken.
Ruhe bewahren, ermahnte sie sich. Wie oft hatte sie das mit ihrem Therapeuten durchgesprochen! »Lassen Sie sich von dem Fettwanst nicht ärgern. Stellen Sie sich ihn in Unterhose vor, wenn er mit Ihnen spricht«, hatte er vorgeschlagen. »Oder denken Sie an irgendetwas Schönes. Das funktioniert immer.«
Tat es aber nicht. Sobald ihr texanischer Chef im Raum stand, lösten sich alle ihre Vorsätze und Strategien in Luft auf, und sie hatte größte Mühe, ihre Abneigung gegen ihn in diplomatische Distanz umzuwandeln.
»So kann der Text auf keinen Fall bleiben.« Michael trat neben den Schreibtisch und ging zur Tür. Im Türrahmen wandte er sich noch einmal um. »In spätestens zwei Stunden ist die neue Version auf meinem Tisch. Die muss morgen früh raus. Streng dich an, Béa, sonst müssen wir uns bald mal ernsthaft über deine Zukunft hier unterhalten.« Mit einem lauten Knall warf er die Tür ins Schloss.
Béatrice war sich sicher, dass draußen auf dem Gang der Rest des Teams alles mitangehört hatte. Die Kollegen würden später kein Wort darüber verlieren. Kurze Blicke, wissendes Schweigen. Mehr nicht. Sie wagten selten, Michael hinter seinem Rücken zu kritisieren, denn irgendwie fand er es immer heraus. Und dann rächte er sich. Nicht sofort. Nicht geradeheraus. Sondern auf seine Art. Überging bestimmte Mitarbeiter, wenn Gehaltserhöhungen oder Beförderungen anstanden, genehmigte Anträge auf freie Tage und Ferien nicht mehr, bewilligte keine Businessclass für Dienstreisen. Béatrice hatte immer geglaubt, seine Sekretärin würde die Kollegen an Michael verraten. Veronica, die blonde Brasilianerin. Großer Hintern, pink lackierte Fingernägel. Sie redete oft zu viel und zu laut. Aber sicher war sich Béatrice nicht mehr, seit Michael Veronica vergangene Woche vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt hatte.
Lektion Nummer drei: Sie durfte niemandem vertrauen.
Es klopfte, Veronica steckte den Kopf durch die Tür. »Team-Meeting geht los.«
Béatrice nickte stumm, blickte auf das Gekritzel vor ihr und schloss seufzend die Augen. Zwei Stunden. Das würde sie nie schaffen.
Der Konferenzraum I-8001 strahlte etwas Unwirkliches aus. Weißes Neonlicht beleuchtete Tag und Nacht den fensterlosen Raum. Die Tische waren hufeisenförmig aufgestellt, an jedem Platz befand sich ein kleines Mikrophon. An der Wand hing ein überdimensionaler Bildschirm, mit dem die Länderbüros über Video zugeschaltet werden konnten. Neben der Tür klebte eines der vielen Feel-Good-Weltbank-Werbeposter. Eine Gruppe schmächtiger Kinder mit dunkler Hautfarbe war darauf abgebildet. Die Kinder lachten und zeigten Zahnlücken. Darunter stand in großen Buchstaben: »Unser Traum ist eine Welt frei von Armut. Die Weltbankgruppe.«
Bei ihren Freunden zu Hause in Frankreich erzählte Béatrice gern davon, wie es war für die Weltbank zu arbeiten, einem der größten globalen Geldgeber für Entwicklungsprojekte. Sie war stolz darauf, zu einer Organisation zu gehören, die sich dem noblen Ziel der Armutsbekämpfung verschrieben hatte. Hier zu arbeiten war mehr als nur ein Job für Béatrice, es war ihre Chance, die Welt etwas besser zu machen.
Jährlich vergab die Bank zwischen 20 und 30 Milliarden Dollar an Krediten, Zuschüssen und Subventionen an Entwicklungsländer. Sie unterstützte die ärmsten Mitgliedsstaaten beim Wiederaufbau nach Erdbeben und Bürgerkriegen, bekämpfte Korruption und Klimawandel. Sie half mit, Erziehungs- und Gesundheitssysteme zu entwickeln, baute Brücken und Dämme und kurbelte das Wirtschaftswachstum in Ländern an, an die keiner mehr glaubte.
Im Raum I-8001 fanden wichtige Diskussionen statt. Schuldenkrise in Argentinien, Wasserprivatisierung in Bolivien, Regierungswechsel in Brasilien, Handelsaustausch zwischen Lateinamerika und China. Hier wurde spekuliert, gerichtet und entschieden.
Heute nicht. Heute saß hier die Presseabteilung des Lateinamerika-Departments zusammen, um die wichtigsten Ereignisse der Woche durchzugehen. Besuche und Reden des Vizepräsidenten, Bekanntgaben neuer Entwicklungsprojekte, Veröffentlichungen von internationalen Wirtschaftsprognosen.
Das Meeting hatte bereits begonnen. Sobald Béatrice den Raum betrat, begann sie zu frösteln. Die Klimaanlage ratterte auf Hochtouren. Und das im März. Typisch Amerika!
Michael saß an der Stirnseite, die Lesebrille weit auf der Nase hinuntergeschoben, vor ihm ein aufgeschlagener Ordner und eine Dose Cola light. Seine Arme hatte er wie Flügel über dem Tisch ausgebreitet. Als er Béatrice hereinkommen sah, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Oh, Mademoiselle ist auch schon da!«
Béatrice setzte sich eilig und murmelte eine Entschuldigung. Sie knöpfte ihren Blazer zu und zog einen Wollschal aus ihrer Tasche. Abwesend betrachtete sie die getrockneten Kaffeeflecken auf der Tischplatte. Lektion Nummer vier: Zu spät kommen war absolut unverzeihlich.
Michael rückte seine Brille zurecht, »Wo war ich stehengeblieben?« Er widmete sich wieder seinem Ordner. »VP fliegt nach Peru. Erstes Treffen mit dem neuen Finanzminister. Auf dem Programm die Prioritäten für die nächsten Jahre. Ricardo fliegt mit und organisiert die PK.«
Der schöne Ricardo. Immer gut gekleidet, immer gut vorbereitet. Die Frauen im Büro hatten ihn vergöttert. Bis sie eines Tages herausfanden, dass es einen Mann in seinem Leben gab.
Als Ricardo seinen Namen hörte, richtete er sich auf und fuhr kurz über sein schwarzes, glattgegeltes Haar. »Alles so weit unter Kontrolle, Chef«, sagte er laut und klar, mit sichtbarer Vorfreude auf das, was er gleich noch verkünden würde. »Plan steht. Mittagessen mit Minister und engsten Beratern gleich nach der Ankunft. Anschließend Pressekonferenz im Ministerium. Nachmittags Besuch eines Dorfes, das Teil des ländlichen Elektrifizierungsprojekts der Bank ist. Foto mit VP, Minister und Bürgermeister. Interview vor Ort mit El Comercio. Rückfahrt. Abendessen im Belmond Miraflores.«
Michael grunzte zufrieden »Sehr gut, Ric« und schrieb etwas in seinen Ordner. »Marcela? Wie weit sind wir mit dem Launch-Event für den Doing-Business-Bericht?«
Béatrice hörte kaum zu. Ihre Haiti-Deadline war auf einmal in bedrohliche Nähe gerückt. Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Blackberry: 14.10 Uhr. Fieberhaft überlegte sie, was sie in den nächsten zwei Stunden alles zu erledigen hatte. Veronica darum bitten, Michaels Handschrift zu entziffern. Niemand konnte das so gut wie sie. Dann Martine, Task-Team-Leader für das Haitiprojekt, anrufen und sie erneut bitten, die Zahl der Schüler zu bestätigen. Nein, nicht anrufen. Martine ging selten ans Telefon. Schon gar nicht, wenn es die Kollegen von der Presseabteilung waren. Sie musste sie persönlich aufsuchen. Dann fiel Béatrice ein, dass Martines Büro für ein paar Wochen wegen Renovierungsarbeiten in ein anderes Gebäude verlegt worden war. Wegen des langen Hin- und Rückwegs würde sie das mindestens fünfzehn Minuten zusätzlich kosten. Und das auch nur, wenn Martine sich kooperationsbereit zeigte und nicht gerade in einem anderen Meeting saß. Sie war keine einfache Kollegin und hasste den »Pressewahn« der Bank, wie sie es nannte. Bei ihrem letzten Gespräch hatte Martine betont, dass es noch keine verlässlichen Daten gab, und auf eine Fußnote verwiesen, die sich auf Seite 57 irgendeines Dokuments befand. Wie sollte Béatrice das Michael erklären? Egal, versuchte sie sich zu beruhigen. Dann musste eben eine andere Zahl herhalten. Eine Zahl, die die Presse interessierte und überzeugte. Eine »Erfolgszahl«. Lektion Nummer fünf: Ihr Erfolg im Job wurde ausschließlich an positiver Presseberichterstattung gemessen.
Sie würde die Statistiken im Anhang noch einmal durchgehen. Nach Zahlen von neuen Schulbüchern und eingestellten Lehrern suchen. Irgendetwas musste zu finden sein. Béatrice’ Gedanken überschlugen sich.
Dem Direktor des Haitiprogramms mailen und die redigierte Pressemitteilung ankündigen. Er musste sie ebenfalls absegnen, bevor sie an die Journalisten geschickt wurde. Der Direktor saß in Port-au-Prince. Das Internet dort setzte mehrmals pro Woche aus, zeitweise täglich. Hoffentlich war er nicht gerade im Landesinnern unterwegs und unerreichbar. Sie sollte besser der Sekretärin und seinem Assistenten ihre Mail in Kopie schicken. Das hieß aber noch lange nicht, dass die ihr Schreiben auch lesen würden. Sie würde auf Nummer Sicher gehen: Erst die Sekretärin anrufen, erklären, dass sie gleich eine dringende E-Mail schicken würde. In Port-au-Prince gingen die Uhren eine Stunde vor. Und die Kollegen dort fingen um sieben Uhr an zu arbeiten und verließen das Büro gegen sechzehn Uhr. Alle mussten vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause gehen. Sicherheitsstufe Eins. Das war die neue Vorschrift, seit der Fahrer des Direktors vor zwei Wochen angeschossen worden war. Béatrice schaute erneut auf ihre Uhr. Sie würde anrufen, sobald das Team-Meeting hier zu Ende war.
Dann musste sie noch das Übersetzungsbüro kontaktieren und bitten, die Pressemitteilung gleich morgen früh im Eilverfahren ins Französische zu übersetzen. Dafür würde man ihr eine Extragebühr in Rechnung stellen. Und das bedeutete eine weitere unangenehme Unterredung mit Michael über steigende Kosten und Budgetkürzungen.
Würde sie das schaffen? Lähmende Angst stieg in Béatrice auf. Obwohl sie die beruflichen Anforderungen immer gut bewältigte, lösten enge Deadlines in letzter Zeit fast schon Panik-Attacken bei ihr aus. Das kam von den ewigen Querelen mit Michael. Sie konnte einfach nicht mit diesem Besserwisser zusammenarbeiten, seine Macho-Allüren ertragen. Seine ständige Kritik. Diese anstößigen Blicke, für die er sich überhaupt nicht zu schämen schien. Widerlich! Béatrice atmete tief ein. Aber glücklicherweise würde das bald ein Ende haben. Denn schon bald würde sie befördert werden. Sie seufzte erleichtert auf.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem Jobinterview vor zwei Wochen im Präsidentenbüro. Alles war tadellos gelaufen, das hatte sie am wohlwollenden Gesichtsausdruck des Personalchefs deutlich ablesen können. Es konnte sich nur noch um wenige Tage handeln, bis man ihr den neuen Posten anbot.
»Bé-a. Hal-lo. Träumst du?«
Michaels Knurren riss sie aus ihren Gedanken. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Béatrice wurde schlagartig heiß, wahrscheinlich war sie knallrot.
»Wie wär’s mit einem Haiti-Update?« Michael nahm einen Schluck aus seiner Coladose und schaute sie herausfordernd an.
Sie musste sachlich bleiben. So wie Ricardo. Gewollt gelassen lehnte sie sich zurück und zupfte an ihrem Schal. »Ich werde nachher mit Martine sprechen und dann die Pressemitteilung überarbeiten«, sagte sie.
»Jetzt reicht’s mir aber. Du weißt doch, dass Martine seit heute Morgen im Flieger sitzt«, schnauzte er und stellte die Coladose so heftig ab, dass etwas von der braunen Flüssigkeit aus der Öffnung schwappte.
Béatrice erschrak. Nein, das hatte sie nicht gewusst. Warum hatte sie das nicht gewusst? Oder hatte Martine ihr etwas gesagt? Das hätte sie doch nicht vergessen. Oder etwa doch? Ihre Hände verkrampften sich. Lektion Nummer sechs: Wenn sie das Spiel gewinnen wollte, musste sie ihm immer einen Schritt voraus sein.
Veronica erhob sich, wischte mit einem Taschentuch und einem Lächeln die übergelaufene Cola weg. Ihre Fingernägel glänzten.
»Obrigado«, bedankte sich Michael mit seinem amerikanischen Kaugummi-Akzent. Es war das einzige Wort, das er auf Portugiesisch kannte, obwohl er auf seinem LinkedIn-Profil behauptete, die Sprache zu beherrschen. Veronica lächelte und ging zu ihrem Platz zurück. Sie wusste, wie man einen aufgebrachten Cowboy beruhigen konnte.
»Das musst du mit dem Direktor klären«, wandte sich Michael mit frostiger Stimme wieder an Béatrice, während er auf Veronicas Hintern starrte. »Und zwar sofort!«
Béatrice packte ihre Sachen und verließ den Konferenzraum. Bevor sie irgendetwas klärte, brauchte sie dringend frische Luft. Nur ein paar Minuten tief durchatmen und den Kopf frei kriegen. Ehe Michael das Meeting beendete hätte, würde sie wieder in ihrem Büro sitzen. Kurzentschlossen steckte sie die Unterlagen in ihre Tasche, fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby hinunter und trat auf die Straße.
Paris, September 1940
Ich stand auf einer der mittleren Sprossen der wackeligen Bibliotheksleiter, als ich den Zettel entdeckte. Er war aus ungewöhnlich festem, himmelblauem Papier, mehrmals zusammengefaltet und steckte in Marcel Prousts Im Schatten junger Mädchenblüte. Editions Gallimard, 1919. 492 Seiten. Der Einband war abgegriffen, der Buchrücken schief. Die Studenten fragten ständig danach – das Buch war Pflichtlektüre im Literaturstudium. Ich hatte mich selbst letztes Jahr durch Prousts labyrinthartige Sätze und exzentrische Metaphern kämpfen müssen. Worte wie schweres Parfum.
Jemand hatte seine Notizen vergessen, war mein erster Gedanke. Ich legte die anderen Bücher, die ich unter meinem Arm geklemmt hielt, auf dem Regal ab und zog den blauen Zettel heraus. An Judith stand in kleinen, fein säuberlich geschriebenen Buchstaben am oberen Rand. Verwirrt starrte ich auf meinen Namen.
Ein leichter Windstoß fegte durch den Raum und das halb geöffnete Fenster flog krachend zu. Vor Schreck verlor ich fast das Gleichgewicht. Ich klammerte mich an die Leiter, stieg hastig hinunter und entfaltete den Zettel.
Die fließenden Bewegungen Ihrer feinen, weißen Hände, die niemals ruhen, stand dort in schwarzer Tinte. Ihre schlanke Gestalt, Ihr leichter Gang. Wenn Sie den Raum betreten, wird alles hell. C.
Die Worte ließen mein Herz schneller schlagen. Wer in aller Welt war C.? Ich drehte den Zettel um, vielleicht stand der Absender ja auf der Rückseite. Aber sie war leer. Ich hatte noch nie solch eine Botschaft erhalten. Und jetzt, wo die Zeiten zu ernst waren, um an Liebesgeplänkel zu denken, hielt ich eine in den Händen.
Vor rund drei Monaten hatten die Franzosen kapituliert und die Deutschen die Hälfte unseres Landes besetzt. »Waffenstillstand« nannte Marschall Pétain diese Demütigung für das französische Volk. Seither hatten sich die Deutschen in unseren Luxushotels eingenistet, und unsere Stadt war mir fremd geworden. Überall schossen Wegweiser aus dem Boden, auf denen lange deutsche Wörter standen, die kein Franzose aussprechen konnte. Am Eiffelturm flatterte das Hakenkreuz-Banner und unsere Uhren hatten wir nach Berliner Zeit um eine Stunde vorstellen müssen.
Jemand rief meinen Namen, und ich sah auf. Monsieur Hubert, der Bibliotheksleiter, kam auf mich zu und strich sich über sein schütteres Haar. »Haben Sie schon die Neuzugänge in die Kartei aufgenommen?«, fragte er. Hinter den kleinen, runden Gläsern seiner Brille zwinkerten seine Augen gutmütig.
Wenigstens einer, der so tat, als ginge das Leben normal weiter. Zugegeben, ein bisschen hatte es sich auch wieder normalisiert seit dem 14. Juni, dem Tag, an dem die ersten deutschen Soldaten die Porte de la Villette erreicht hatten. Tatsächlich waren viele Pariser, die im Frühsommer in panischer Angst vor der deutschen Bedrohung in den Süden geflohen waren, wieder zurückgekommen. Die Kinos hatten ihre Vorstellungen wieder aufgenommen, die Cafés und Restaurants geöffnet. Das Leben schien wieder zu pulsieren. Aber der Schein trog. Eine gespenstische Ungewissheit hing seit Wochen über der Stadt.
»Ja, natürlich, Monsieur. Das habe ich gestern erledigt«, antwortete ich abwesend und starrte wieder auf die Zeilen in meiner Hand.
»Dann können Sie jetzt nach Hause gehen, Mademoiselle«, sagte er. »Es ist spät.« Er seufzte leise und ließ seinen Blick über die Bücherregale schweifen. »Bei Georges ist schon wieder eine lange Schlange. Die Lebensmittel werden immer knapper. Machen Sie sich schnell auf den Weg, bevor alles weg ist.«
Der liebe, gute Monsieur Hubert. Ich lächelte ihn an. Immer dachte er für andere mit. Er erinnerte mich an meinen Vater, oder vielmehr an das Bild meines Vaters, das ich mir aus den wenigen Puzzleteilen meiner Erinnerung zurechtgelegt hatte. Dankend verabschiedete ich mich, stopfte den rätselhaften blauen Zettel in meine Rocktasche und verließ die Bibliothek.
Als ich auf die Place de la Sorbonne trat, empfing mich ein warmer Septembertag. Die Äste der großen Buchen, die den Platz umsäumten, bewegten sich träge in der Nachmittagsbrise. Das Café an der Ecke warb wie immer mit einem Plat du Jour, und am Zeitungskiosk hingen die neuesten Ausgaben von Paris Soir, Le Temps und Le Figaro. Doch etwas war anders. Obwohl das akademische Jahr gerade erst begonnen hatte, war es auf dem sonst so belebten Universitätsplatz bedrückend still. Ein paar Studenten standen in kleinen Gruppen beieinander und steckten die Köpfe zusammen. Sie wagten es nicht, den vorbeigehenden deutschen Soldaten nachzuschauen, die in sauber gebügelten Uniformen lachend und rauchend über den Platz schlenderten. Sie sahen gut aus, die deutschen Besatzer. Groß, mit kurz geschorenen Haaren und kräftigen Beinen. Sie strahlten Stärke und Männlichkeit aus.
Ich blinzelte in die Sonne und machte mich auf den Weg zu Georges, dem Lebensmittelhändler in der Rue des Écoles. Schon von weitem konnte ich die schier endlose Schlange sehen, die sich vor seinem Geschäft gebildet hatte. Es waren bestimmt über 200 Leute! Gestern waren es nur die Hälfte gewesen. Bis ich endlich dran wäre, würde nichts mehr übrig sein.
Trotzdem stellte ich mich an, denn es hatte keinen Sinn, es woanders zu versuchen. Mittlerweile gab es überall gleich wenig. Die Jagd nach Lebensmitteln bestimmte im germanisierten Paris unseren Tagesablauf. Für jedes Stück Brot mussten wir anstehen. Gestern hatte ich drei Eier ergattern können und etwas echten Kaffee. Die Milch war schon lange ausgegangen. Georges hatte gesagt, dass er vielleicht nächste Woche wieder Nachschub bekommen würde.
Vor mir stand eine Frau. Sie trug ein schwarzes Kleid. Ein Junge in kurzen Hosen klammerte sich an sie, und in ihren Armen hielt sie einen schreienden Säugling, den sie in ein Tuch gewickelt hatte. Beruhigend redete sie auf ihn ein. Doch das Baby hörte nicht auf zu weinen. Die Knie des Jungen neben ihr waren zerkratzt, in der Hand hielt er einen leeren Einkaufskorb. Als ich ihn anlächelte, verbarg er das Gesicht in den Rockfalten seiner Mutter. Ich drehte mich um und sah, dass sich nach mir mindestens weitere zwanzig Leute in die Schlange eingereiht hatten. Die Menschen waren schweigsam. Niemand lachte. Niemand stellte Fragen. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Wieder zog ich den hellblauen Zettel hervor und las ihn. Welch eine schöne, ausdrucksvolle Handschrift. Obwohl die Nachricht sehr kurz war, wirkte sie auf mich wohlüberlegt, so als habe C. lange darüber nachgedacht, was er mir schreiben sollte.
Ich betrachtete meine Hände. Waren sie wirklich fein? Und war mein Gang wirklich leicht? Ich schaute hinunter auf meine Füße, die in abgetragenen Lederschuhen steckten. Erst jetzt fiel mir auf, wie viel Beschreibendes er in diese beiden Sätze gelegt hatte. Als hätte er mich von seinem Platz aus so lange beobachtet, bis er für mich und jede meiner Bewegungen das richtige Wort gefunden hatte. Ich nahm mir vor, das nächste Mal, wenn ich Dienst hatte, die Karteikarte des Proustbands herauszusuchen und nachzuschauen, wer das Buch heute ausgeliehen hatte. Ich war neugierig geworden.
Nach fast zwei Stunden Wartezeit betrat ich endlich das Geschäft. Ich hatte Glück. Wider Erwarten war noch nicht alles ausverkauft, und ich erstand ein paar Scheiben Käse und vier Äpfel. Mutter würde sich freuen, dass ich nicht mit leeren Händen nach Hause kam.
Mit einem großen Becher Kaffee in der einen und einem Stück Kuchen in der anderen Hand setzte sich Béatrice auf eine Bank im Murrow Park, der zwar Park hieß, aber nur eine spärlich begrünte Verkehrsinsel an der 19th Street, Ecke H Street war.