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Das instabile Kartenhaus aus Geld, Macht und Ansehen bricht über dem Kopf von Xaver McJohnson zusammen, als sein Vater auf grausamste Art und Weise getötet wird. Die Beweise, die dieser über eine geheime Organisation (PAWS) gesammelt hat, sind - im wahrsten Sinne des Wortes - tödlich. Die Entscheidungsträger von PAWS wollen nicht, dass die Informationen an die Öffentlichkeit gelangen und starten eine schonungslose Verfolgungsjagd, die Xaver an den Rand seiner Kräfte und seiner Gesundheit treibt. Der junge, ahnungslose Mann fühlt sich anfangs einsam und verloren. Doch ein Bodyguard und ein FBI-Spezialagent helfen ihm auf seinem beschwerlichen Weg und wollen die Verbrecher überführen. Xaver entwickelt Gefühle für beide Männer, weiß aber nicht, dass einer von ihnen ein falsches Spiel treibt. Bald muss er sich zwischen einem der beiden entscheiden. Wird Xaver McJohnson rechtzeitig erkennen, wer sein wahrer Verbündeter ist? Kann er sich gegen den mächtigen Geheimpakt durchsetzen?
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Seitenzahl: 336
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Marc Weiherhof
Der Pakt
Bisher vom Autor im Verlag erscheinen:
Das Vermächtnis des Unbekannten
Print ISBN 978-3-86361-388-4 Auch als E-book
Buchtrailer, Zusatzkapitel und weitere Informationen auf:
www.marc-weiherhof.ch/blog
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Februar 2015
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden 24.Auflage
Coverfoto: http://de.123rf.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.
www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-467-6
ISBN epub 978-3-86361-468-3
ISBN pdf: 978-3-86361-469-0
Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.
„Wir müssen die Strukturen des PAWS, das Ansehen unserer geschätzten Mitfunktionäre sowie die Integrität der Menschen in diesem Land vor dieser niederträchtigen Verschwörung schützen. Es kann nicht sein, dass wir in der breiten Öffentlichkeit an den Pranger gestellt und gedemütigt werden! Die Stabilität unseres Politsystems, des Aktienindizes und unserer Währung hängt von dieser einen Entscheidung ab. Daher bitte ich Sie alle, dass Sie den nächsten Schritten unseres Plans zur Eindämmung der Gefahr zustimmen werden!“, adressiert der Vorsitzende des geheimen Paktes der Wirtschaftsschattenmächte – kurz PAWS – die versammelte Delegation. Der Mann mittleren Alters mit markanten Gesichtszügen tritt sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb des PAWS als charismatischer und begeisterungsfähiger Leader auf.
Aufflackernde Streitgespräche unter anwesenden Vorstehern stören die trügerische, vermeintliche Ruhe an diesem illustren Runden Tisch und zeugen von Uneinigkeit unter den hochkarätigen Entscheidungsträgern.
„Bitte. Bitte, meine Herren. Lassen Sie uns Ruhe bewahren. Jede Wortmeldung soll vom Kollektiv gehört und bewertet werden. Also bitte: Wer will als nächstes sprechen?“, wirft ein ranghoher Vorsteher ein.
Ein älterer Mann mit graumelierten Haaren steht auf und richtet sich an die versammelte Gemeinschaft: „Natürlich verstehe ich die unmittelbar große Gefahr, die von dieser Entdeckung ausgeht. Dennoch kann ich es nicht gutheißen, dass wir ein geschätztes Mitglied unserer Wirtschafts-Elite, wenn auch nicht Mitglied des PAWS, auf eine solch grausame Art und Weise aus der Welt schaffen. Ich würde Diplomatie dem Krieg vorziehen. Es gibt doch sicher noch andere Mittel und Wege …“
Einige Anwesende stimmen diesem Votum lautstark zu, andere schütteln vehement den Kopf. Es herrscht eine starke Uneinigkeit unter den Entscheidungsträgern.
Die Lager sind tief gespalten …
„Mit diesem Mann kann man nicht verhandeln, nicht, wenn es um dieses Thema geht. Er ist so von seinen starren, moralischen Ideologien überzeugt, dass Nichts ihn umstimmen könnte …“, wirft ein weiterer Mann ein.
„Das wichtigste Detail übersehen wir wohl alle, meine geschätzten Herren. Sollten diese Beweise, diese schändlichen Informationen, jemals den Weg an die Öffentlichkeit finden, wäre dies das definitive Aus für unsere Gruppierung sowie ein schwerer, wenn nicht sogar tödlicher Stoß in das Herz unseres Politsystems. Wir können und dürfen nicht riskieren, dass unser geliebtes Land seine Beständigkeit verliert, nur wegen eines unbelehrbaren Saboteurs … Hier zählt das große Ganze mehr als ein einziger unkooperativer Querdenker und Aufwiegler“, wirft der Vorsitzende mit bestimmter Stimme ein.
Grummeln in der Gemeinschaft.
Die harzigen Verhandlungen, mit teils ausufernden Wortmeldungen, ziehen sich bis spät in die Nacht hinein. Vor- und Nachteile werden gegeneinander aufgewogen, denn dies ist die bislang schwerste und wichtigste Entscheidung, die das PAWS-Kollektiv jemals treffen musste. Es geht um die Zukunft der Vereinigten Staaten, aber vor allem geht es um die Köpfe der PAWS-Delegierten.
„Ich denke, dass wir nun alle Wortmeldungen gehört haben. Lassen Sie uns nun abstimmen … Wer dafür ist, dass wir diese Gefahr eindämmen, der hebt jetzt die Hand“, schreitet der Vorsitzende zur Wahl.
Unzählige Hände gehen nach oben. Der Stimmzähler zählt die erhobenen Hände und notiert die genaue Anzahl auf einem Dokument.
„Wer dagegen ist, der möge jetzt seine Hand heben“, lässt der Vorsitzende verlauten. Erneut werden die Anzahl Voten gezählt und das Ergebnis auf einem Papier notiert. Der Stimmenzähler wertet das Resultat aus und zeigt dem Vorsitzenden das Dokument mit dem finalen Entscheid. Dieser nickt zufrieden und schickt den anwesenden Personen ein süffisantes Lächeln. „Die Entscheidung ist gefallen. Operation „Eindämmung“ wurde mit über 60 Prozent der Stimmen angenommen. Die Demokratie hat gesiegt. Ich werde den Auftrag an den – für diese Aufgabe verpflichteten – Planungsverantwortlichen weiterleiten. Ich danke Ihnen, geschätzte Vorsteher, dass Sie heute hierhergekommen sind, um über dieses äußerst dringliche Problem zu entscheiden“, richtet sich der Vorsitzende ein letztes Mal an das versammelte Wirtschaftskollektiv.
Es ist schon sehr spät. Der Morgen dämmert bereits schwach am Horizont und die ausgepowerten Entscheidungsträger sind erleichtert und froh, dass sie sich nun in den beruhigenden Qualm teurer Zigarren zurückziehen können, um sich ein wohltuendes Schlückchen Hochprozentiges zu gönnen. Jetzt beginnt der gesellschaftliche Teil des Abends, beziehungsweise des Morgens. Jetzt können neue Pakte geschlossen, Verträge unterzeichnet und Kontakte geknüpft werden … Entspanntes Gelächter dringt aus den ehrwürdigen Räumen, wo vorhin so lautstark über das Leben eines Menschen debattiert wurde.
--- ein Tag später ---
Dem gefangenen Mann ist eine schwarze Kapuze über das Gesicht gezogen worden, um ihn weiter zu verängstigen und in vollkommene Dunkelheit zu hüllen. Der brutale Entführer ist ein Profi, was grausame Folter und unvorstellbare Qualen anbelangt. Doch sein Gegenüber – ein Mann Mitte Vierzig mit dunklen Haaren – lässt sich davon nur wenig beeindrucken. Er will partout nicht mit der Sprache rausrücken, wo er dieses Beweismaterial versteckt hat. Der Ausführungsbeauftragte hat ihn bereits mit glühend heißen Eisenstangen und scharfen Messern bearbeitet.
Nichts.
Der nächste Schritt in der Informationsbeschaffung steht an.
„Bitte sag mir endlich, wo wir dieses Beweismaterial finden“, sagt der Entführer, beinahe flehend, bevor er eine Zange aus seinem Folterkasten nimmt. Dann zieht er dem Gefangenen die Kapuze vom Kopf. Erschrockene Augen starren ihn flehend an. Der Entführer lässt sich davon aber nicht beeindrucken.
Auftrag ist schließlich Auftrag.
Dieser Mann, der geknebelt und gefesselt vor ihm sitzt, wird kein Morgen mehr erleben, das ist sicher. Sein einst so gepflegtes, markantes Gesicht hat sich verändert. Großflächige Blutergüsse, aufgeplatzte Haut, Abschürfungen und jede Menge getrocknetes Blut zieren nun das Antlitz des mächtigen Mannes. Aber bevor ihn der Entführer von seinen Qualen erlösen wird, muss er wissen, wo die Informationen und Beweise versteckt sind, um dies seinem Auftraggeber mitzuteilen. Er zeigt dem gefangenen Mann die spitze Zange und setzt sie sogleich an seinen rechten Zeigefingernagel an.
„Letzte Chance“, haucht er.
Der Gefangene schüttelt den Kopf. Er hat seine Entscheidung getroffen. Mit einem heftigen Ruck reißt der Ausführungsbeauftragte den ersten Fingernagel vom Nagelbett.
Der Gefangene schreit und keucht in den Stofffetzen, der ihm das Sprechen verunmöglicht. Tränen fließen über sein Gesicht. Er windet sich auf dem Stuhl und zittert vor Schmerz. Unentwegt versucht er sich zu befreien, sich loszureißen! Immer wieder wird der Mann kurz bewusstlos, bevor er den nächsten, verzweifelten Schrei in den Stofflappen entlässt. Die nagellose Fingerkuppe sieht zerfetzt aus und blutet unaufhörlich und stark.
„Neuer Versuch“, sagt der Beauftragte, bevor er mit der Zange nach dem nächsten Fingernagel greift.
Die braunen Augen des Opfers verraten es: Dieser Mann wird ihm Nichts offenbaren, das wird dem Entführer immer klarer. Beinahe gleichgültig zuckt er mit der Schulter und reißt den Mittelfingernagel heraus. Der Ausführungsbeauftragte ist ein Profi. Er zuckt nicht einmal mit der Wimper, wenn seine Opfer toben und schreien. Ganz im Gegenteil: Das dumpfe Gejaule des Mannes – sein schmerzerfülltes Gesicht – spornen den Beauftragten zu neuen Ideen an. Er wird den unbezwingbaren Willen dieses Mannes brechen, koste es, was es wolle … Für ihn ist das beinahe wie ein Spiel. Ein krankes, perfides Spiel, das zu seinem Lebensmittelpunkt, seiner Berufung geworden ist.
Am Boden liegen die beiden blutigen Fingernägel, die von frechen Nagern bereits in ihre Verstecke gezerrt werden. Der Folterknecht legt die rostige Zange zur Seite und taucht einen Stofflappen in kaltes Wasser, sodass er klatschnass ist. Dann legt er diesen vollgesogenen Lappen auf das Gesicht des Gefangenen und drückt fest zu.
Bange Sekunden beginnen.
Der Entführer weiß genau, dass der Gefangene jetzt Höllenqualen leidet. Er bekommt zwar Luft, aber zu wenig, um den Organismus am Leben zu erhalten. Zudem dringt Wasser in die Luftröhre ein, was den unerbittlichen Todeskampf nochmals massiv anheizt. Der Gefangene zappelt auf seinem Hocker, versucht sich vom tropfendnassen Lappen zu befreien.
Er keucht und stöhnt.
Diese Foltermethode lernte der Entführer einst am eigenen Leib kennen, als er sich in Gefangenschaft befand. Der Todeskampf kann beinahe ins Unendliche verlängert werden und die Gefangenen müssen Ängste durchstehen, die unvorstellbar grausam sind. Tagelang können die Opfer immer wieder an den Rand des Todes geführt und später wieder zurückgeholt werden.
Das bricht sogar den stärksten Mann.
Einige Sekunden später entfernt der Entführer den Lappen und hört sich an, wie der Gefangene panisch Luft in seinen ausgehungerten Körper zieht, um seine Lungen zu füllen und dem Organismus sein lebensnotwendiges Elixier zu verabreichen. Lange kann sich der Mann jedoch nicht erholen, denn erneut wird ihm das nasse Tuch aufs Gesicht gedrückt.
Der Todeskampf beginnt erneut.
„Gib endlich auf und sag mir, was ich wissen muss. Wo hast du diese Fotografien, Beweisdokumente und Tonaufnahmen? Wo?!“, schreit der Entführer, während der Gefangene wiederum um sein Überleben kämpfen muss.
Lange, bange Sekunden vergehen. Der geknebelte Mann wird immer ruhiger auf seinem Stuhl, als das Leben langsam aus seinem Körper weicht. Seine Zuckungen werden weniger, seine Atmung reduzierter.
Es wird ruhig auf dem Stuhl.
Der Kidnapper hat den Mann in eine verlassene Lagerhalle außerhalb New Yorks gebracht. Hier hört niemand die Schreie und das Flehen dieses Mannes. Hier kann er mit ihm machen, was nötig ist, um an die Informationen zu kommen. Die Lagerhalle zeugt von früheren Folterungen, die der Ausführungsbeauftragte durchgeführt hat, um seinen Auftraggebern dringend benötigte Informationen zu beschaffen. Rund um den Holzstuhl – auf dem der Gefangene sitzt – verschmiert frisches Blut den Boden. Ratten, Mäuse und sonstige Schädlinge tummeln sich in Scharen in dieser alten Lagerhalle und laben sich genüsslich an den herunterfallenden Fleischstücken und heruntertropfenden Körpersäften …
Bevor der Gefangene sein letztes Fünkchen Leben aushaucht, wird der nasse Lappen wieder von seinem Gesicht gezogen. Einige Sekunden passiert nichts, der Mann scheint tot. Er rührt sich nicht und atmet auch nicht. Er sieht friedlich aus.
Schlafend.
Doch plötzlich reißt er seine Augen auf und zieht wiederum panisch Luft in seine Lungen. Da er nur durch die Nase einatmen kann, verlängert sich sein Kampf nochmals um einige Sekunden. Wasser vermengt mit dunkelrotem Blut und grünlichem Schleim drängt sich aus seinen aufgeblähten Nasenlöchern. Jetzt nimmt ihm der Entführer den Knebel aus dem Mund.
„Komm schon, Trent. Wenn du nicht damit rausrückst, dann holen wir uns deinen Sohn. Willst du zusehen, wie ich mit ihm das Gleiche mache, wie mit dir? Würde dir das gefallen?“, droht der Entführer. Mit einem Seufzen fährt er fort: „Die Zange, die Prügel, die glühenden Eisenstäbe, das Ersticken? Willst du das deinem Sohnemann zumuten?“
Die Augen des Gefangenen weiten sich vor Entsetzen. Er schüttelt panisch den Kopf, während er verzweifelt versucht, seine Sprache zu finden …
„Sie verdammtes Schwein. Lassen Sie meinen Sohn da raus! Er hat doch gar nichts damit zu tun. Ich sage Ihnen, was Sie wissen müssen, aber lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!“, fleht er noch immer keuchend und mit rotem Gesicht.
Endlich hat der Entführer den wunden Punkt des Gefangenen gefunden. Alle Folter konnte den Mann nicht brechen, aber die bloße Drohung gegen seinen Sohn zeigt die gewünschte Wirkung.
„Wo. Sind. Die. Infos?“, schreit der Entführer dem Gefangenen ins Ohr. „Du hast jetzt genau zehn Sekunden Zeit oder ich hole mir deinen geliebten Sohn. Hast du verstanden? Zehn. Neun. Ach...“
„Also gut. Ich sage Ihnen, was Sie wissen müssen, nur tun Sie meinem Sohn nichts! Die Beweise befinden sich auf einem USB-Stick, der die Form und Erscheinung einer Goldmünze hat. Diese Münze befindet sich im Besitz meines Anwalts“, bricht es aus dem Gefangenen raus.
Der Entführer setzt ein hämisches Lächeln auf. Endlich ist es vollbracht.
„Gibt es Kopien?“, will er wissen.
Der Gefangene schüttelt heftig den Kopf. „Nein. Es gibt keine Kopien. Bitte: Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!“, fleht er.
„Wie heißt dein Anwalt?“, will der Entführer wissen.
„Gustav H. Nobel“, presst der Gefangene gequält hervor. „Er ist aber momentan im Ausland und kommt erst in ein paar Tagen zurück“, ergänzt er rasch.
„Vielen Dank. Das war doch gar nicht so schwer, oder?“, will der Entführer wissen, bevor er beginnt, einen rauen Strick zu einer Schlinge zu flechten.
Seelenruhig.
Dann schwingt er den Strick über eine rostende Metallverstrebung im Dachgebälk. Der leidende Gefangene sieht zu, wie über ihm diese grausame Todesapparatur aufgebaut wird, die ihm in Kürze das Leben rauben wird. Er schreit, windet und zappelt nicht mehr. Er sitzt einfach nur da und beobachtet, wie der Ausführungsbeauftragte seine Arbeit – mit kaltblütigem Kalkül – erledigt.
„So wird dich dein Sohn vorfinden. Aufgehängt, gefoltert und vor allem: Tot! Was er wohl sagen wird?“, will der Entführer mit einem dreckigen Grinsen wissen.
Der Gefangene geht darauf nicht mehr ein, schüttelt nur den Kopf und sieht den Henker mit einem flehenden Blick an. Er fleht nicht um sein eigenes Leben, denn das ist bereits vorbei. Nein, er fleht um das Dasein seines einzigen Sohnes. Er scheint zu wissen, wie dieser den Tod seines Vaters aufnehmen wird und das versetzt ihm einen tiefen Stich mitten ins Herz.
„Dieser Anblick wird ihn zerstören und du weißt es! Das wird ein Spaß“, hüstelt der Beauftragte beinahe erregt.
Trents Mundwinkel zucken vor Wut. Er sammelt Speichel und spuckt dem über ihn gebeugten Entführer mitten ins Gesicht. Dieser weicht angeekelt zurück und wischt sich mit der Hand übers Auge. Davon lässt er sich nicht lange beeindrucken, sondern bastelt weiter an seinem Strick. Als die Schlinge um den Hals des Gefangenen gelegt wird und sich an seiner Kehle zuzieht, weiß dieser, dass es nun nicht mehr lange gehen wird, bis er von dieser Welt scheidet. Er weiß, wie er sterben wird und steht seinem nahen Schicksal mit erhobenem Haupt gegenüber.
„Los. Steh auf und stell dich auf den Stuhl, Trent“, fordert der Entführer.
Als die Fesseln gelöst werden, tut der Gefangene genau das, was ihm befohlen wurde. Er steigt auf den Holzstuhl und überblickt diese traurige Wahrheit, die sein Ende bedeutet. Er denkt an seine verstorbene Frau und an seinen einzigen Sohn. Er denkt an die schönen Momente, die er mit seinen beiden Lieben verlebt hat und wie sehr er die gemeinsame Zeit genossen hat.
„Ich liebe dich, Xaver!“, sagt der Gefangene leise, bevor der Stuhl weggezogen wird und er in die Tiefe fällt. Der raue Strick zieht sich immer fester an seinem Hals zusammen und schnürt ihm die Luftzufuhr ab. Verzweifelt keuchend, schnappt er nach Luft.
Ohne Erfolg.
Sein letzter Kampf wird bald zu Ende sein … Er blickt ein letztes Mal in das kalte Gesicht seines Entführers und mustert dessen seelenlose Augen, die kein Leben, keine Freude und keine Liebe ausstrahlen. Inständig hofft er, dass sein Sohn überleben wird und sein Glück, seine Bestimmung, finden kann. Das ist sein einziger Wunsch, sein einziger Daseinszweck.
Der Gefangene wird ruhig.
Das letzte Fünkchen Leben entweicht aus seinem geschändeten Körper …
Tod.
Der Ausführungsbeauftragte sieht belustigt zu, wie Trent seinen letzten Atemzug tut, um dann sein Handy hervorzuholen und eine Nachricht zu verfassen.
„Auftrag ausgeführt. Zielperson tot. Daten befinden sich auf einem USB-Stick, der sich im Besitz des Familienanwalts befindet. Zugriff in ein paar Tagen“, liest der Vorsitzende die Nachricht auf seinem Smartphone.
„Gut. Endlich ein Lichtblick“, entfährt es dem Mann. Er liest die Nachricht erneut, bevor er sich entspannt zurücklehnt und aus dem Fenster blickt. Um den PAWS zu schützen, würde der Vorsitzende alles tun. Was er nun auch bewiesen hat. Trent war ihm ein guter Freund, ein Vertrauter gewesen. Aber: Er kam dem PAWS zu nahe, wollte den Pakt aufdecken und bloßstellen. Dafür musste er mit seinem Leben bezahlen.
Sein Tod war ein notwendiges Übel.
Der Vorsitzende wird keine Maßnahmen scheuen, um diese Krise in den Griff zu bekommen. PAWS kommuniziert über ein verschlüsseltes Mail- und Benachrichtigungsprogramm, auf das nur auserwählte Personen Zugriff haben. Die Aufträge vergibt der Vorsitzende anonym über diese Plattform und so hat er auch den jungen, aufstrebenden Mann für diese heikle Aufgabe verpflichtet. Er setzt alle Hoffnung in diesen Typen und hofft, dass er nicht enttäuscht wird. In das Mitteilungssystem tippt der Vorsitzende nun den folgenden Text: Lösen Sie das Problem. Nehmen Sie keine Rücksicht auf Verluste …
Ich befinde mich in einem gelähmten, versteinerten Zustand. Ich fühle mich verloren, sinke in ein unendlich tiefes, wage verschwommenes Loch voller Nichts. Eine triste Einöde, die mich, so scheint es, nie wieder loslassen will. Wie ein Greifvogel, der seine Beute durch luftige Höhen zum heimischen Nest führt, wo die Jungen bereits gierig auf das nahende Festmahl warten. Nie entwischt das Beutetier den scharfen Krallen des Raubvogels. So fühle ich mich in dieser unendlichen Leere, die mich fest in ihren Fängen hält und immer tiefer ins Dunkel ziehen will.
Ich bin traurig.
Betrübt.
Untröstlich.
Ich stehe auf einem kargen Podium vor der anwesenden Trauergesellschaft, deren Mitglieder mich mit einem mitleidigen Blick mustern. Diese Menschen spenden mir – in diesem Moment – nur wenig Trost. Ich starre in ihre gespielt leeren und traurigen Gesichter und die kalten Augen, die mich fixiert anpeilen, durch mich hindurch sehen und mich damit auffordern, meine unterbrochene Rede fortzusetzen. In diesem Augenblick steht meine Cousine, Zoé, auf und kommt auf mich zu. Sie stellt sich vor das Podium, blickt mich mit echtem Mitleid an und wispert leise:
„Xavi? Möchtest du deine Rede abbrechen? Es gibt sicher noch andere Menschen, die heute Erinnerungen an deinen Vater teilen möchten? Es ist kein Problem, wenn du pausieren möchtest …“
Ich sehe sie liebevoll und dankbar an.
Sie war mir schon immer die liebste Cousine. Sie hat nur einen Monat nach mir Geburtstag. Mangels eigener Geschwister sind wir quasi zusammen aufgewachsen und stehen uns so nahe wie Schwester und Bruder. Sie hat hellbraune, lockige Haare, die sie zu einem geschmackvollen Geflecht hochgesteckt hat. Sie ist dezent geschminkt und stiehlt mit ihrem schwarzen, paillettenbesetzten, engen Kleid allen anderen Damen die Show. Ich blicke sie mit gesenktem Blick an und schüttle den Kopf. Ich fasse neuen Mut, richte mich auf und adressiere die wartende Gesellschaft erneut:
„Bitte entschuldigen Sie meinen … Aussetzer. Mein Vater war ein bemerkenswerter, außergewöhnlicher Mann voller Überraschungen. Sein Wesen war liebenswert und aufopfernd. Zudem war er ein erfolgreicher, geschätzter sowie gewiefter Geschäftsmann, der es verstand, seine Verhandlungspartner – ab und an – über den Tisch zu ziehen.“
Ich blicke schelmisch in die Gesellschaft und einige Mundwinkel neigen nach oben. Ich senke meinen Blick auf meine vorgeschriebenen Notizzettel und fahre fort: „Er war der beste Vater, den man sich als Junge, als Einzelkind, wünschen kann. Er hat unsere Familie geformt und mich selbst weit vorangebracht. Als meine Mutter Melinda, leider viel zu früh, verstarb, wuchsen wir noch viel näher zusammen. Er war mein Vater, ein starker Fels in der Brandung, mein Quell der Inspiration und des schier unendlichen Wissens. Nun ist er tot. Gefoltert, verstümmelt, aufgehängt. Was für Menschen tun so etwas? Was für Menschen nehmen einem Sohn seinen Vater, seinen letzten Elternteil? Wieso musste er auf so grausame Art und Weise sterben? Fragen über Fragen, auf die ich keine plausible Antwort weiß. Wie könnte ich auch? Es liegt mir fern zu erahnen, was in den kranken Köpfen solcher Schlächter vorgehen mag.“
Ich senke den Blick und wische mir eine Träne von der Wange.
Nachdem ich mich wieder gesammelt habe, fahre ich fort: „Ich möchte mich bei Ihnen allen für Ihr zahlreiches Erscheinen bedanken. Es ehrt meinen verstorbenen Vater und die Familie McJohnson, dass Sie heute hierhergekommen sind, um ihn bei seiner finalen Reise zu begleiten … Seien Sie versichert, dass ich Ihre Anwesenheit sehr zu schätzen weiß. Es erfüllt mich mit unsagbarem Stolz zu sehen, dass so viele wohlverdiente Politiker und einflussreiche Persönlichkeiten zum Bekanntenkreis meines Vaters zählen, wie viele Menschen er während seines Lebens angesprochen und emotional berührt hat. Das macht mich wirklich unheimlich stolz. Viele von Ihnen kenne ich schon mein ganzes Leben lang und hoffe, dass wir diese Bekanntschaften noch viele weitere Jahre pflegen und aufrechterhalten können.“
Ich räuspere mich kurz, rücke meine schwarze Krawatte zurecht, blicke erneut in die Menge und beende meine vorbereitete Rede: „Ich glaube fest daran, dass mein Vater nun an einem besseren Ort ist. An einem Ort, wo er keine Schmerzen mehr haben muss, sondern fröhlich, frei und gelöst sein kann. Das wünsche ich mir für ihn … Ich bin sicher, dass es noch andere unter Ihnen gibt, die gerne einige Worte über meinen Vater verlieren möchten. Sie erhalten nun die Gelegenheit dazu. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.“ Ich trete vom erhöhten Podium weg, bahne mir meinen Weg in die erste Reihe und warte gebannte Minuten, bis sich der nächste mutige Redner traut, nach vorne auf die Bühne zu treten.
Die Kirche wird in betrübtes Schweigen gehüllt.
Ab und an ein peinlich berührtes Hüsteln oder leises Räuspern. Es geht nicht lange, da steht der Bürgermeister von New York auf und steuert durch die ehrwürdigen Hallen der St. Patricks Kathedrale – Die Kirche befindet sich vis-à-vis des Rockefeller Centers und somit mitten in Manhattan – auf das Podium zu, um seine vorbereiteten Worte an die Trauerfamilie zu richten.
Von dem, was vorne gesprochen wird, bekomme ich nur Bruchstücke mit. Meine Gedanken kreisen um den unvorstellbar schrecklichen Tod meines geliebten Vaters. Vor sechs Tagen hat man ihn aufgehängt – Schlinge um den Hals – gefesselt, gefoltert, blutig und verstümmelt in einer ausgedienten Lagerhalle außerhalb New Yorks gefunden. Die Ermittlungen waren sehr rasch abgeschlossen, weil es keinerlei verwertbare Spuren gab.
Kann man das glauben?
Die erschütternde Nachricht seines plötzlichen und unverhofften Todes hat mich schwer getroffen, hat meine Grundfesten beinahe zum Einstürzen gebracht. Er war doch der Einzige, der mir von meinen Eltern noch geblieben ist. Mein Vater, mein Freund, mein Vorbild, mein Idol. Natürlich haben wir Unmengen Geld, unantastbares Ansehen und gewichtige Besitztümer. Aber was nützen einem all diese materiellen Dinge, wenn dein engster Vertrauter getötet wird? Wenn er aus deinen liebenden Händen gerissen wird und ein blutiges Loch zurückbleibt?
Nichts.
Der kalte Muskel, der einst mein Herz war, kann nicht durch seelenloses Geld oder kalte Besitztümer erwärmt werden.
Niemals.
Zumal mir Geld, Ansehen und Ruhm nichts bedeuten. Ich will andere Werte leben. Ein erfülltes Leben leben und glücklich sein.
Ist das jetzt überhaupt noch möglich?
Ich weiß nichts anderes zu tun, also starre ich auf meine bleichen Hände und mache knackende Geräusche mit meinen Fingerknochen, die durch die Weite der ehrwürdigen Kirche hallen. Erst, als mich Zoé anstößt, merke ich, dass diese nervösen Laute störend und auffällig sind. Ich blicke hektisch umher. Einige Trauergäste sehen mich fragend an. Röte färbt meine Wangen zart rosa und ich sinke tiefer in die unbequeme, hölzerne Kirchenbank, um mich ihren kritischen Blicken zu entziehen.
Nach dem Bürgermeister sprechen noch Freunde meines Vaters und Familienangehörige. Nachdem alle Personen ihre Erinnerungen an meinen Paps mit der Gemeinschaft geteilt haben, tritt der Priester erneut vor das versammelte Kollektiv und betet für den kürzlich Verstorbenen, seine Familie und alle, die um den Mann trauern. Dann gibt er das Handzeichen, um den Sarg nach draußen, ins Auto, zu tragen. Er wird im Familiengrab auf unserem Anwesen, neben meiner Mutter, begraben. So, wie er es sich immer gewünscht hat.
Ich stehe auf und nehme meinen Platz am vordersten, rechten Ende des Sarges ein. Neben mir – auf der linken Seite – fasst der Bürgermeister mit an und die restlichen Plätze werden von guten Freunden und Familienmitgliedern eingenommen. Wir greifen die dünne, metallene Haltestange und heben den schweren Sarg hoch. Musik ertönt, beginnt ihren lieblichen Zauber zu verbreiten. Orgelklänge. Ich schreite los, die anderen folgen meinem Beispiel.
Es geht mir jämmerlich.
Ich könnte jeden Moment zusammenbrechen, kollabieren. Das Gewicht des Sarges droht mir zu entgleiten, meinen Fingern zu entschlüpfen. Ich reiße mich zusammen und gebe alle Kraft in meine Finger. Wir tragen meinen toten Vater in diesem wunderschönen, hochglänzenden Birkensarg nach draußen.
Der Trauerzug folgt uns.
Bedächtig marschieren wir die 123 Meter bis zum Zutrittsportal ab. Mitleidige Blicke treffen mich, bohren sich in meinen Rücken, meine Seite. Die Menschen schauen zu, wie ich den Leichnam meines Vaters nach draußen führe und bemitleiden mich. Oder sie fragen sich, wann dieses bedauerliche Trauerspiel endlich vorüber sein wird. Die Orgel – mit ihren 9.800 Pfeifen – spielt noch immer ihre wunderschöne, stimmige Komposition, die dem Zuhörer alle Sinne vernebelt. Ich pilgere an unzähligen, weißen Marmorsäulen vorbei, bis wir das imposante Tor durchschreiten, das uns auf die belebten Straßen New Yorks führt. Vor der mächtigen Kathedrale warten bereits der schwarze Wagen des Bestattungsunternehmens und eine silberne Limousine. Letztere wird mich nach Hause bringen. Nachdem wir meinen Vater in den Leichenwagen geschoben haben, steige ich in die Limo ein und wir fahren unverzüglich los. Ich sehe mir nochmals den imposanten Kirchenkomplex an und staune über die schiere Größe und die unendliche Macht, die von diesem beeindruckenden Gotteshaus ausgestrahlt werden. Die Gäste werden sich später ebenfalls auf dem Anwesen einfinden. Dort wird der „Leichenschmaus“ eingenommen. Das Festmahl zu Ehren meines toten Vaters …
Ist das nicht eine Ironie?
Die Fahrt aus New York heraus ist beschwerlich und langwierig. Wir tuckern beinahe Zeitlupe, müssen an unzähligen Lichtsignalen abrupt halten, Fußgänger passieren lassen und im Stau stehen. In der Stadt, die niemals schläft, gehört dies – nun mal – zum Alltag.
Ich lese eingegangene Nachrichten und bearbeite E-Mail-Anfragen auf meinem neusten iPhone, informiere mich über die aktuellsten Geschehnisse in der Welt und verbanne meine Trauergedanken ganz tief nach unten. Verkapsle sie und versuche sie wie eine bittere Pille herunterzuschlucken. Bis heute morgen bin ich ein Wrack gewesen. Dunkle Augenringe, eine triefende, geschwollene Nase und rote, verquollene Augen. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich meinen Vater heute beerdigen werde. Es ist so unwirklich, so unreal. Trent McJohnson hier und heute verabschieden zu müssen. Wir hatten doch noch so viele Pläne.
Er hatte Pläne.
Er wollte mir doch noch so viel zeigen und mich noch besser auf mein Leben in Verantwortung und Reichtum vorbereiten. Das wird er nun nicht mehr können. Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Anscheinend gehorcht mein Körper nicht wirklich den Anweisungen, die mein Verstand durchsetzen will. Ich wollte doch stark und tapfer wirken. Das wird wohl nichts …
Was für ein Leben steht mir nun bevor? Ich bin 25 Jahre alt und schon Vollwaise. Was mich wohl erwartet? Ich unterbreche meine Gedanken, weil ich merke, dass wir endlich die ländlicheren Gegenden vor New York erreichen und die Staatsgrenze zu New Jersey überqueren. Eine Stunde später durchqueren wir das prunkvolle Eingangstor, das den neugierigen Blicken der Gaffer und Neider die freie Sicht auf unser Anwesen verwehrt. Der geschwungene Weg schlängelt sich über eine gepflasterte Straße vorbei an gepflegten Grasflächen, getrimmten Sträuchern, mächtigen Bäumen, kultivierten Blumenbeeten und atemberaubenden Brunnen. Unzählige Marmorskulpturen – Auftragsarbeiten – zieren das Grundstück.
Vor der Villa warten bereits die umtriebigen Angestellten, welche die Autos der Gäste parken werden, sowie die Empfangsdame, die die Gäste nach hinten in den Garten führen wird. Das Familiengrab liegt etwas entfernt vom Haus, im hintersten Teil des weitläufigen Anwesens. Dort wird mein Vater einen grandiosen Ausblick über das klare Wasser des angrenzenden Sees und sein ehemaliges Domizil haben. Dort werde ich meinen Vater in Kürze zur letzten Ruhe betten. Die silberne, moderne Limousine hält vor dem Eingang und ich steige aus.
„Master Xaver. Willkommen zurück. Wie war die Trauerfeier?“, fragt mich die Chefhaushälterin, Lora Miller, als ich gerade ins Haus huschen will. Ich stoppe abrupt und drehe mich zu ihr um.
„Gut, Lora. Keine Probleme. Nette Reden. Ist alles bereit für unsere illustren Gäste?“, frage ich sie in einem Ton, der suggeriert, dass meine Zeit limitiert ist.
„Natürlich, Sir. Alles ist bereit für die Menschen, die sich von Ihrem Vater verabschieden. Die Zeremonie beim Familiengrab findet in einer Stunde statt?“, will sie wissen.
Ich nicke und verziehe mich ins Haus. Ich habe jetzt nicht den Nerv, mich mit ihr zu unterhalten. Ob ich diesen Nerv jemals haben werde?
Von den fünfzehn Zimmern, die es in der Villa gibt, bewohne ich zehn. Mein Vater brauchte nicht viel Platz, da er sowieso selten Zuhause war … Unser Familienanwesen ist gewaltig, mit einem großen Anwesen und steht in einer prestigeträchtigen Gegend, die ihresgleichen suchen muss. Nur: Was soll ich mit 2.000 Quadratmetern, einer bemerkenswerten Bibliothek, einem großzügigen Kino, fünfzehn Schlafzimmern, mehreren Pools, einem Gäste- und Personalhaus, drei Tennisplätzen, einem Koi-Teich und einem voll ausgestatteten Fitnesscenter? Was soll ich damit alleine anfangen? Gut, die Aussicht ist spektakulär. Vom geräumigen Panoramaraum hat man einen einmaligen und faszinierenden Ausblick über die Skyline von New York und die Pennsylvania Mountains, die sich in der Ferne räkeln und um Aufmerksamkeit betteln.
Einzigartig.
Und doch, wohne ich viel lieber in Manhattan, in meinem schicken Town House. Aber jetzt bin ich nun mal hier, im Anwesen meiner Eltern in Englewood. Ich sitze im Panorama-Raum im dritten Stock der Villa und blicke über das Anwesen. Die ersten Gäste treffen ein und auch der Leichenwagen steht längst auf dem Parkplatz. Die Mitarbeiter der Bestattungsfirma bereiten unterdessen sicherlich das Grab sowie die Apparatur zum Ablass des Sarges vor. Die Gäste werden vom Personal empfangen und nach hinten in den hergerichteten Garten geführt. Dort sind Kellner mit üppig beladenen Getränketabletts sowie vielfältigen Häppchen unterwegs und ein Orchester spielt klassische Musik. Das Wetter ist herrlich, blauer Himmel, Sonnenschein. Der Garten wurde mit kleinen Tischchen bestückt, Buffettische wurden aufgebaut, Eisskulpturen geschnitzt und rote Schlaufen an den errichteten Pavillons angebracht.
Ich blicke über die spektakuläre Skyline von Manhattan, die sich in der Ferne gen Himmel räkelt und über den weitläufigen See, der an das Anwesen grenzt. Das beruhigt mich ein wenig, lenkt mich ab. Aber noch immer bin ich ein Wrack. Ein trauriges Bruchstück mit tiefschwarzen Augenringen und abgespanntem Ausdruck.
Völlig fertig.
Jetzt heißt es aber nochmals: Zusammenreißen und Haltung bewahren. Die hochgeschätzte Visagistin wartet bereits auf mich und richtet mein äußeres Erscheinungsbild so weit her, dass niemand einen Schock bekommt, wenn er einen Blick auf mich wirft. So sehe ich doch wieder ganz passabel und vor allem funktionierend aus. Ich richte meine Krawatte und blicke in den Spiegel – bin ich das? – bevor ich nach unten, in den Garten gehe.
Dort tummeln sich schillernde Gäste, die sich verköstigen lassen und die prachtvolle Aussicht über den See genießen. Ich nicke den Leuten zu und gehe durch die Menge, um mich zu unterhalten.
„Xaver. Die Trauerfeier in der Kathedrale war würdevoll und anmutig. Vielen Dank für die Einladung“, meint der Bürgermeister von New York zu mir, als er mir die Hand schüttelt.
„Vielen Dank, Paul, für Ihre Anwesenheit. Es freut mich sehr, dass Sie mir zur Seite stehen und meinem Vater die letzte Ehre erweisen“, sage ich mit einem dankbaren Gesichtsausdruck und einer ruhigen Stimme, bevor ich mich nett verabschiede und weiter durch die Gäste schlendere.
Ich habe gerade so viele verschiedene Hände geschüttelt und so viele schlabberige Küsschen eingesammelt, wie noch nie zuvor – in einer so kurzen Zeit. Die edlen Düfte der respektablen Damen haften an meinen Wangen und meinen Kleidern. Ein Vorhang aus Scheinheiligkeit und falscher Anteilnahme. Ich fühle mich schmutzig, beschmutzt. Denn die Wenigsten hier sind wirklich wegen meines Vaters hier.
Nein.
Es geht um Sehen und Gesehen werden. Das Lächeln in die blitzenden Kameras der Presse. Es geht um Networking und darum, gewinnbringende Kontakte zu pflegen. Es geht um zukünftige Geschäfte mit dem McJohnson-Erben. Darum geht es diesen Leuten, diesen reichen, seelenlosen Gestalten. Nicht um meinen Vater. Nicht um Trent. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Der Priester lädt die versammelte Gesellschaft zur Familiengrabstätte und auch ich folge dem Geistlichen in den hinteren Teil des Gartens. Hier wurde bereits das Grab ausgehoben und der Sarg darüber, in eine Konstruktion platziert, die meinen Vater zur letzten Ruhe betten wird.
Der edle Sarg aus schwarz glänzendem Holz mit Goldapplikationen glitzert in der warmen Sonne dieses schönen Frühlingstages, der sich langsam dem Ende zuneigt. An die Gäste werden rote, stachellose Rosen verteilt. Neben dem Grab ist das ausgehobene Erdreich aufgeschichtet. Mit handlichen Schaufeln werden wir in Kürze die Erde über den Sarg schütten.
Der tattrige Priester spricht Gebete und Worte, denen ich mich verschließe, weil ich zu abgelenkt bin. Ich blende alles aus, versinke in meinen kostbaren Erinnerungen. Ich sehe das gewinnende Lächeln meines Vaters vor meinem inneren Auge. Ich höre sein ansteckendes Lachen und seine markante Stimme. Ich muss mir erneut eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Zoé drückt mich kurz am Arm und ich lächle sie an. Kaum hörbar, sage ich zu ihr: „Danke, Zoé.“
Sie nickt mir zu.
Der Pfarrer beendet seine Gebete und gibt das Zeichen, den Sarg in das Grab herunter zu lassen. Der bullige Mann vom Bestattungsunternehmen dreht an einer kleinen Kurbel. Die Metall-Konstruktion quietscht und setzt sich in Bewegung. Ich sehe zu, wie mein Vater – langsam – in diesem tageslichtleeren, nassen Aushub verschwindet. Als er unten angekommen ist, werden die Ketten gelöst und nach oben gezogen. Nun bin ich an der Reihe. Ich trete vor die offene Grube, blicke nach unten, gehe in mich und halte einige Sekunden inne. Ich verabschiede mich innerlich von meinem Vater und werfe schließlich meine rote Rose auf den Sarg, auf seinen Sarg. Andere Gäste tun es mir gleich. Wenige Minuten später verschwindet der hölzerne Sarg ganz unter dem dunklen Erdreich.
„Tschüss, Papa“, flüstere ich leise und spüre erneut eine zarte Berührung von Zoé. Die Trauergesellschaft setzt sich in Bewegung und geht zurück in den bewirteten Teil des Gartens. Ich bleibe am Grab stehen und blicke in die halb aufgeschüttete Grube, dort, wo mein Vater begraben liegt. Ich schwelge in fröhlichen Erinnerungen vergangener Tage. Denke an meinen Paps, wie er mich umarmte, wie er mir das Fahrradfahren beibrachte, wie er mich hochhob und drückte oder wie er mir beibrachte, wie ich mich im Geschäftsleben behaupten kann. Er hat mir alles gezeigt, was ich weiß. Er hat mich geformt, mich erzogen und in die richtige Bahn gelenkt. Er hat meine babyhafte Quengelei, meinen kindlichen Trotz, meine rebellische Jugendlichkeit und meine Eigensinnigkeit als junger Erwachsener ertragen und darüber hinweggesehen. Er hat meine Homosexualität akzeptiert und mich – so gut wie möglich – dabei unterstützt, meinen Platz im Leben zu finden. Er hat mich bedingungslos geliebt.
Wer sonst hätte das getan?
„Ach, Papa. Wie nur kann ich ohne dich leben? Was soll ich ohne dich tun?“, frage ich mich leise. Ich schüttle den Kopf und fasse neuen Mut. „Ich bin nicht hilflos und werde das schaffen! Ich werde die Leute finden, die dir das angetan haben. Das verspreche ich dir!“
Ich drehe mich um und lasse die Bestatter ihre Arbeit tun. Sie werden die Grube vollständig zuschütten, Rollrasen auslegen, Blumengestecke und den Grabstein platzieren und das Grab soweit herrichten, dass es ansehnlich ist. Ich trotte langsam in Richtung der Gäste.
Der ausklingende Abend ist rasch vorüber und schon verabschieden sich auch die letzten Gäste von mir und verlassen das Anwesen. Diese Aasgeier haben sich – zum Glück – zurückgehalten. Niemand wollte Geschäftliches mit mir besprechen. Das wird sich aber schon sehr bald ändern … Auf dem berstend vollen Kondolenz-Tisch liegen unzählige Blumengestecke, Anteilnahme-Karten und aufwändig verpackte Geschenke. Für wen? Für meinen Vater? Jetzt muss ich mich bei all diesen Leuten bedanken, die mit ihren teuren Präsenten Eindruck beim McJohnson-Erben machen wollen. Eine weitere Belastung, die ich nicht schultern möchte. Eine perfekte Aufgabe für unsere Chefhaushälterin Lora. Sie kümmert sich gerne um die Wahrung der Etikette und wird mir diese Arbeit gerne abnehmen.
Meine Cousine Zoé bleibt bis zum Schluss und begleitet mich nach drinnen, in das gemütliche Wohnzimmer im Ostflügel der Villa. Sie setzt sich neben mich und wir schlürfen einen genüsslichen Kaffee, den wir uns an der hauseigenen Kaffeebar gebraut haben.
„Kann ich dich alleine lassen?“, fragt sie kleinlaut, als sie mich fertig inspiziert hat. „Du siehst scheiße aus!“, meint sie danach.
Ich muss herzhaft lachen, blicke sie an und meine: „Wow. Danke für deine aufmunternden Worte!“
Sie lacht und klopft mir auf die Schultern.
„Du warst klasse, Zoé. Danke für deine Hilfe. Es geht mir soweit gut. Du kannst mich getrost alleine lassen …“
Sie nickt, steht auf und verabschiedet sich von mir mit einem Küsschen auf meine rechte Wange. Ach Zoé … ich liebe dich, denke ich, als sie durch die Eingangstür geht und mich alleine in der riesigen Villa zurücklässt. Jetzt, wo ich hier so sitze, wird mir meine Einsamkeit wieder schmerzlich bewusst. Keine Eltern, wenige Freunde, keine Haustiere. Das Personal, das mich tagtäglich umsorgt, sorgt sich nicht wirklich um MICH. Nein … Sie tun einfach ihren Job.
Ich bin alleine!
Der Garten wird aufgeräumt und die Kellner verstauen das überschüssige Essen in ihren Firmenautos. Bald schon wird nichts mehr an diesen dunklen Tag erinnern. Ich gehe nach draußen, blicke über das geheimnisvoll glitzernde Wasser des Sees. Die Nacht ist hereingebrochen und doch ist der Garten wunderschön beleuchtet und gibt mir so die Möglichkeit, den Weg zum Familiengrab zu finden. Die Herren vom Bestattungsinstitut haben gut gearbeitet. Das Grab sieht adrett und gepflegt aus. Wunderschöne Blumengestecke prangen auf dem frisch verlegten Rasenpatch, der über den aufgeschütteten Humus gelegt wurde. Ich bin zufrieden und blicke auf den Grabstein, wo in grazilen, goldigen Lettern der Name, das Geburts- sowie das Sterbedatum meines Vaters eingraviert sind. Daneben ist der Grabstein meiner Mutter, die vor nunmehr fünfzehn Jahren verstorben ist.
Erneut fließen Tränen über meine Wangen, bevor ich mich von den Gräbern abwende und entschlossen zum Anwesen zurückmarschiere. Das Haus steht hell erleuchtet im Schatten des großen Sees. Ich blicke über die dreistöckige, mediterrane Villa und schüttle meinen Kopf. Das alles gehört nun mir.
Was soll ich nur damit?
Morgen besuche ich unseren langjährigen Familienanwalt, der mir wahrscheinlich Aufschluss über die genaue Vermögenslage meiner Familie geben wird. Dann bekomme ich sicherlich die alleinige Vollmacht für sämtliche Bankkonten und Besitztümer der McJohnsons.
Es graut mir bereits davor.
Kann ich mit so viel Geld umgehen? Wie viel Geld ist überhaupt da? Fragen über Fragen, die mich seit mehreren Tagen bis aufs Mark quälen. Bisher habe ich mich nie um finanzielle Angelegenheiten kümmern müssen. Ich bin auch nicht wirklich begabt darin. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich mich noch nie wirklich um Etwas kümmern müssen. Mir wurde alles in den Schoß gelegt. Alle Probleme konnten bislang mit Geld gelöst werden. Ich bin hilflos, ohne den weitreichenden Einfluss meiner Familie, der sich, gleich einer wärmenden Decke, über mein Leben legt. Aber nun, nach dem grausamen Tod meines Vaters, liegt die ganze Verantwortung in meinen zartgliedrigen, jugendhaften Händen. Ich merke, wie eine schwere Last auf meine Schultern drückt, als ob ich mit einem Rucksack kiloweise Beton aufgeladen bekomme …
Am nächsten Morgen scheint die erwachende Sonne durch das Fenster in mein Schlafzimmer. Ich räkle mich in den warmen Strahlen, die meine zarte, schlafende Silhouette berühren.
„Wie spät ist es wohl?“, frage ich mich, als ich mich strecke und auf den Wecker starre. „Bockmist! Schon zehn Uhr? Ich muss los“, fluche ich, als ich mich aus dem Bett schwinge. „Lora? Hubschrauber. Schnell …“, belle ich ins Telefon, nachdem ich Loras Nummer endlich im hauseigenen Telefonsystem gefunden habe.
Ich flitze – wie ein geölter Blitz – ins Badezimmer und stelle mich unter den unmenschlich kalten Duschstrahl, den ich mir selber so eingestellt habe. Die grausame Kälte tut meinem Körper gut und reißt meine trägen Zellen aus ihrem Schlummer. Sie berührt alle meine Sinne, lässt mich aufschrecken, als sie unbarmherzig über meine Haut gleitet.
Ich habe verschlafen! Mist, denke ich, als ich mich – mit noch nassen Haaren – in meinen Anzug presse. Schnell eine Krawatte umgebunden und los geht’s. Meine kurzen, hellbraunen Haare werden auf dem Weg trocknen. Das Spiegelbild eines blassen Geistes grüßt mich, als ich mich noch kurz im Spiegel betrachte. Mitgenommen und abgespannt, sehe ich aus. Was wohl der Anwalt zu meinem finsteren Aussehen sagen wird? Es interessiert mich eigentlich nicht und ihn sicherlich auch nicht. Ich bin froh, dass ich endlich erfahren werde, was mir meine Eltern hinterlassen haben und wie viel Verantwortung ich ab sofort zu schultern habe.
Der geräumige Hubschrauber steht bereit, die Rotoren sind aufgewärmt und der Flug kann beginnen. Nach 30 Minuten landen wir auf einem zentralen Heliport an den Ufern des Hudsons. Eine schwarz schimmernde Limousine wird mich zum Büro des Anwalts fahren. Ich bin doch noch pünktlich.
Noch!
In 15 Minuten beginnt die Unterhaltung und ich bin nur noch einige Querstraßen vom Gebäude des altehrwürdigen Rechtsverdrehers entfernt. Der Fahrer der Limo donnert wie ein Irrer durch die engen und verkehrsreichen Straßen der Stadt und doch haben wir natürlich viel länger, als eigentlich angenommen.