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Marlon ist eigentlich ein netter Kerl. Und noch dazu frisch verliebt. Doch er soll die Mafiageschäfte seines Großonkels in Köln-Ehrenfeld übernehmen, was die Sache mit dem nett sein schon mal erschwert. Ein bisschen Pech hat er obendrein: Die albanische Mafia droht das heilige Gleichgewicht von Clans und Klüngel in der Stadt ordentlich durcheinander zu bringen - denn die kennt keine Ehre, keine Gnade und erst recht nicht das »Kölsche Grundgesetz«. Ein explosiver und humorvoller Mix aus Kölsch, Mafia und Klüngel!
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Seitenzahl: 284
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Manfred Theisen
Der Pate von Ehrenfeld
KRIMINALROMAN
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Superbass (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2020-01-20-Bumann_Sohn-8292.jpg), Ausschnitt und Farbe, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode
ISBN 978-3-8392-7200-8
Ich: »Ich würde gerne eine Geschichte schreiben, die in Köln-Ehrenfeld spielt.«
Jen: »’ne Mafiastory?«
Ich: »Wie meinst du das?«
Jen: »Man kennt sich, man hilft sich, eine kölsche Familie und Klüngel. Eigentlich musst du dir nicht viel ausdenken. Vielleicht noch ein Kommissar, die Mentalität der Leute und ein Augenzwinkern.«
»Ich lasse keinen anderen mehr an meine Füße. Ich hab Zucker, aber das Mädchen spürt den Schmerz, den ich nicht mehr fühle. Guck sie dir an, wie sie Nägel schneidet. Das ist wie beim Chirurgen.«
Sie waren zu sechst und saßen im Kreis um Samantha herum. Die kniete in der Küche auf einer Matte, und die Uhr tickte etwas zu laut an der Wand. Rechts von Samantha lag ausgebreitet ihr Pediküre-Set, links ein Stapel angewärmter Handtücher. Sie spürte die Blicke der Alten auf sich ruhen und das kühle Metall ihrer Nagelzange in der Rechten. Köln schwitzte seit Wochen, jeder Kanaldeckel war heiß wie eine Sonnenbank.
»Das Mädchen macht es am besten«, redete Rita weiter. Sie sprach absichtlich Hochdeutsch. Das klang würdiger, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
Samantha führte die Spitze der Zange ganz vorsichtig tiefer unter den gelblichen Nagel von Rita, es machte klick und noch einmal – klick! Rita wuchsen die Nägel immer fies wie Haken ins Fleisch. Hätte sie keinen Zucker gehabt, so hätte sie jetzt geheult, aber so redete und redete sie unbeeindruckt. Das Gebiss saß und jeder Satz ebenfalls. Samantha legte den abgeknipsten Nagel mit der Pinzette in das durchsichtige Kästchen zu den übrigen Nägeln von Rita. Denn der Aberglaube in dem Kölner Stadtbezirk Ehrenfeld besagt: Wenn einer deine Haare hat, dann hat er deine Seele. Wenn einer deine Zehennägel hat, dann hat er dein Herz.
Deshalb bestand Rita auf ihre Nägel. Klick!
»Sie können schon mal die Socken ausziehen«, sagte Samantha zu Hannes, einem der zwei Männer in der Runde. Während Samantha Ritas Füße einpuderte, vom Handtuch hob und ein neues angewärmtes Handtuch vor Hannes auf den gekachelten Boden legen wollte, fragte Rita: »Weshalb tust du das? Der Hannes und ich sind verheiratet, seit 56 Jahren. Der kann seine Füße ruhig auf mein Handtuch setzen. Wat glaubst du, worauf der schon gesessen hat. Das Handtuch hat jetzt genau meine Fußtemperatur. Das mag er, oder, Hannes?«
Samantha schaute fragend zu Hannes auf.
Der nickte. »Nä, neues Handtuch brauch ich nicht, wenn die Rita dat sacht, dann is dat so.«
Die anderen im Kreis amüsierten sich. Hannes und Rita waren schon immer verheiratet, und seit jeher war klar, wer das Sagen hatte. Hygiene fand niemand wichtig in der Runde. Auch während der Corona-Pandemie hatte ihre Runde stattgefunden, unveränderbar wie Ebbe und Flut. Die sechs Rentner fühlten sich befreit, keiner unter 70, alle auf Zucker, Hüfte, Rücken und lebensfroh. Samantha wandte sich Hannes’ Füßen zu, sehr dünn, sehr adrig, sehr verhornt, aber sauber.
Es klingelte.
»Ich mach auf«, sagte Silvia und drückte sich das lilafarbene Haar zurecht. Sie trug es turmhoch, außerdem hatte sie zu rote Wangen und roch stets ein wenig nach Likör. Eckes Edelkirsch. Barfuß ging sie zur Tür und öffnete. Die Stimme, die nun vom Hausflur in die Wohnung drang, war dunkel und gefiel Samantha. Ruhig, rau und männlich. Und sie gehörte zu Marlon, der ein Pissoir in Händen hielt.
»Ich muss mal durch«, sagte er. »Bitte geh weg. Das Ding ist schwer.«
Silvia sagte: »Sofort«, und blieb trotzdem stehen. Marlon setzte das Pissoir auf der Fußmatte ab und wiederholte: »Das Ding ist schwer.«
»Aber nicht so schwerhörig wie dat Silvia!«, rief Rita aus der Küche.
Marlon schrie das Gesicht unter dem Haarturm an: »Du musst jetzt zurück in den Stuhlkreis, Tante Silvia! Hast du das verstanden? Ich muss ins Bad damit. Das ist Opas Pissoir!«
Manchmal hörte Silvia sehr gut, manchmal hörte Silvia sehr schlecht. Kein Arzt wusste, warum das so war. Es mochte am Edelkirsch liegen oder am Wetter. Ruhig rangierte Marlon mit beiden Händen Silvia ein wenig vorwärts Richtung Küche. »Setz dich bitte wieder zu den anderen.« Er selbst nahm das Pissoir und schleppte es ins Bad, setzte es vorsichtig auf den Fliesen auf, betrachtete noch einmal sein kantiges Gesicht im Spiegel des Badezimmerschränkchens, begutachtete sein zurückgekämmtes Haar und schlenderte entspannt zur Pediküre-Runde in die Küche.
Dort gab er seiner Oma Rita einen Kuss auf die Wange.
»Ja, und wie soll ich dat Ding an die Wand kriegen?«, fragte diese sogleich vorwurfsvoll.
»Gar nicht. Ist nur Deko, Oma. Opa muss weiter wie bisher ins Waschbecken pinkeln.«
»Sehr witzig«, sagte Rita ein wenig eingeschnappt. Austeilen konnte sie, aber einstecken war nicht ihr Ding. Alle anderen fanden die Bemerkung jedoch lustig. Peter betonte, dass der Junge klasse sei. Marlon ging zum Kühlschrank und holte sich den Käse heraus, Emmentaler in Plastik.
»Haben wir noch Brot?«
»Ja.« Auch Pumpernickel hatten Rita und Hannes geholt, extra für Marlon, ihren Lieblingsenkel. Schließlich hatten sie ihn erwartet. Der strich sich Erdbeermarmelade auf den Käse und biss hinein. Es gab nichts Besseres als selbstgemachte Erdbeermarmelade auf Pumpernickel mit Emmentaler.
Samantha schaute etwas verlegen von Hannes’ Füßen zu Marlon auf. So musste sich Sir Edmund Hillary gefühlt haben, als er sich zur Besteigung des Mount Everest aufmachte. Marlon gefiel ihr, der gepflegte Bart, die blauen Augen, und egal, was er trug, es sah immer lässig aus. Aber sie machte sich keine großen Hoffnungen. Schließlich studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Universität, und sie machte Nägel.
»Hier spielt die Musik«, sagte Hannes, und dass ihm die Füße langsam kalt würden, wenn sie nur noch Augen für Marlon hätte. Samantha fühlte sich ertappt, sie lief unmerklich ein wenig rot unter ihrem Make-up an. Marlon lächelte nur freundlich, was sollte er auch sonst tun? Er mochte Samantha, die ihm inmitten all der Füße leid tat. Sie war nicht viel älter als er, aber die Jahre an der Nagelfront hatten sie schon gezeichnet.
»Mach jetzt, Mädchen«, drängte Rita weiter.
Samantha griff zur Zange und hätte Hannes am liebsten den kleinen Zeh abgeknipst. Aber das waren nur die wilden Fantasien einer Fußpflegerin.
Dann fragte Rita Marlon aus: »Wie ist es denn im Hafen? Viel zu tun?« Als Marlon antworten wollte, unterbrach sie ihn gleich wieder. »Ich weiß! Alles, was du beim Ikea kaufen kannst, alles, was du beim Baumarkt kriegst, alles, was es im Gartencenter gibt, einfach alles muss vorher durch den Hafen. Wusstet ihr das?« Sie schaute prüfend in die Runde.
Jeder wusste, dass im Niehler Hafen jede Menge Waren umgeschlagen wurden. Aber Blumen und Möbel? Doch alle taten jetzt sehr erstaunt. Denn wenn Rita ihre persönlichen Fakten auf den Tisch legte, wollte sie diese entsprechend gewertschätzt wissen. Sie schob eine weitere Frage an ihren Enkel nach: »Der Pissklo ist auch von da?«
»Ja«, sagte Marlon. »So ist es. Villeroy und Boch. Falls noch einer ein Pissoir braucht, muss er mir nur Bescheid geben. Onkel Albert hat noch Restposten.«
»Wie teuer?«, wollte Peter wissen. Aber seine Frau Gisela fuhr ihm sogleich über den Mund und sagte, dass es dafür keinen Platz mehr in ihrem Bad gäbe. Sie hätten schließlich schon den Whirlpool.
»Das Teil bläst dich weg wie ’n Tsunami, is super, ein Jungbrunnen«, sagte Peter, der unter Bluthochdruck litt, was sich in seinem ziegelroten Gesicht widerspiegelte. »Dank Albert nochmal dafür. Wie jeht et im överhoup?«
Marlon belegte sich eine weitere Scheibe Pumpernickel und sagte: »Wie immer. Onkel Albert tut, was er kann.«
»Bist ein guter Junge«, erklärte Rita. »Andere saugen ihre Eltern bis auf den letzten Cent aus fürs Studium. Du hilfst einfach deinem Großonkel.« Dabei zog sie Marlon am T-Shirt, der bückte sich, ihre Hand berührte seinen Nacken, und sie verpasste ihm einen Kuss auf die Wange. Es klang, als habe sie gerade einen Kinderpfeil mit Gummisaugnapf von der Scheibe abgezogen.
Was sie nicht sagte, war, dass Marlon seit seinem achten Lebensjahr keine Eltern mehr hatte, sie waren beide auf der A3 gestorben. März, Blitzeis – ab diesem Zeitpunkt war sein Großonkel Albert sein Vater gewesen, seine Großtante Silke seine Mutter. Und das, obwohl Albert und Silke selbst drei Kinder hatten, eine Tochter und zwei Söhne: Saskia, Sandro und David.
Nach der Mittleren Reife war Marlon nach Köln gezogen, eine preiswerte Wohnung hatte er über Hannes und Rita in der Landmannstraße in Neuehrenfeld bekommen und nach einem erfolglosen Jahr Schreinerlehre sein Abitur nachgemacht. Schreiner war nichts für ihn, obwohl die Schreinerei Wohlfahrt direkt ums Eck lag und er es also nicht weit bis zur Arbeit gehabt hatte. Und nun stand er in Ritas Küche, wo es nach Füßen und Erdbeermarmelade roch.
Marlon wich Samanthas Blicken aus, er war schließlich verliebt. Schon eben, als er das Pissoir getragen hatte, war er verliebt gewesen, als er bei Rita und Hannes geklingelt hatte, war er verliebt gewesen, als er heute Mittag von der Uni weggegangen war, war er verliebt gewesen, als ihm Smilla in der Kantine Zeilen aus Hartmann von Aues mittelalterlichem Versepos Erec vorgelesen hatte, war er verliebt gewesen – und er war auch jetzt verliebt, genau in dem Moment, als Samantha die Feile aus der Hand legte, ihr Haar zurückstrich wie eine blondierte Madonna, und ihn von der Seite anlächelte. Ihre Wimpern klimperten, doch er wollte zurück an die Uni, zurück zu Smilla.
»Ich muss los.«
»Und Kaffee, Jung?«, fragte Rita.
»Nein, mir ist zu warm für Kaffee«, sagte er. Tatsächlich war es drückend heiß. Nicht umsonst hatte Köln den Spitznamen »Kalkutta am Rhein«, auch weil es ähnlich hygienische Verhältnisse vorwies.
»Mach, Hannes! Der Jung will Kaffee«, befahl Rita und ignorierte Marlons »Nein«. In der nächsten Sekunde stand Hannes schon an der Maschine und legte eine Kapsel ein – Espresso intensiv. »Die Maschine haben wir schließlich auch dir zu verdanken.«
»Nicht mir, sondern der Familie«, korrigierte Marlon seine Oma.
»Du redest schon wie dein Onkel«, sagte sie.
Jetzt nickten alle, denn alle gehörten zur Familie. Durch alle Füße floss das gleiche Blut. Alles, was hier geredet wurde, blieb in der Familie. Und Samantha unterlag dem Arztgeheimnis, schließlich hatte sie ein offizielles Diplom der Kosmetikschule Hannekamp & Mannting Düsseldorf.
»Ich muss jetzt weiter«, sagte Marlon.
»Wohin?«, fragte Silvia.
»Zum Hafen! Für Albert!«, log er laut, damit sie es verstand.
»Zum Schlafen?«, sagte Silvia. »Ich würde auch gerne noch ein bisschen schlafen. Aber morgens bin ich immer hellwach, schon um 4 Uhr, wenn sogar der Hahn noch schläft.«
»Nicht schlafen, Hafen hab ich gesagt. Hafen!«
Für eine Sekunde schauten nun alle zu Silvia hinüber, doch die grinste nur: »Glaubt ihr, ich bin völlig doof oder wat? Ich bin ausgeschlafen.«
»Jedenfalls …«, hob Marlon an, und Rita unterbrach ihn mit: »Soll ich den Kaffee etwa wegkippen? Du trinkst den. Tu ihm Milch rein, Hannes.«
Nein, wegkippen war dem Kaffee nicht zuzumuten, also blieb Marlon und betrachtete die Füße von Peter. Der war automatisch vorgerückt, weil Opa Hannes ja Marlon den Kaffee machen musste. Nägel – knips, Hornhaut – schab. Diese beiden Geräusche hätte man hören können, hätte Rita nicht ständig geredet. Die Füße von Peter wurden massiert und gepudert, dann kamen Hannes’ Füße dran und die kleinen Plastikkästchen füllten sich mit Zehennägeln. Bald schon hatte, bis auf Silvia, jeder sein Kästchen in der Hand. Marlon war gelangweilt, aber es war Ehrensache, dass er so lange blieb, bis seine Oma ihm sagte, dass er sich aufmachen könne.
Sein Handy vibrierte. Er schaute darauf und gleichzeitig auf Samanthas Tattoo an der Schulter. Es zeigte den Namen ihrer Tochter Marie Tamara Rosi, die gerade mal zwei Jahre alt war und schon so einen langen Namen hatte. Auf dem Handydisplay stand »Smilla«. Sie schrieb, dass sie jetzt fort müsse. Falls er noch nicht auf dem Weg zur Uni sei, müsse er wegen ihr nicht mehr los – zu spät.
Er ärgerte sich. Schon die Fahrt mit dem Pissoir vom Hafen hierher hatte ihn Zeit gekostet – und nun auch noch das Gerede und Kaffeegetrinke. Sein Herz pochte, er schrieb: »Sollen wir heute Abend was machen?«
»Wo und wann?«
Die beiden verabredeten sich und Rita forderte ihn parallel auf: »Jetzt du, Jung.«
»Wie? Was ist denn los, Oma?«
»Ich will ding bläcke Fööss sin. Mach dich nackisch.« Womit sie meinte, dass er sich die Strümpfe ausziehen sollte. Alle lachten über das Wort »nackisch«, nur Samantha nicht.
»Nicht jetzt«, wiegelte Marlon ab.
»Wann dann?«, fragte Rita.
»Oma, lass mich. Ich muss weg.«
»Dabei hat der Junge so schöne Füße. Die musst du pflegen, Samantha.«
Es klingelte.
Marlon nutzte die Chance, stellte die leere Kaffeetasse in die Spüle und öffnete die Wohnungstür. Rudolf Kleinmuth trat ein. Der hatte einen ausufernden Strauß gelber Rosen für Rita. Und bedankte sich offiziell bei ihr, dass sie Hannes dazu gebracht habe, ihm den Hausmeisterjob im nahegelegenen Sankt Franziskus Hospital zu verschaffen.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen. Man kennt sich doch und hilft sich«, sagte Rita. »Du kannst dir gleich die Strümpfe ausziehen. Minge Jung will nicht mitmachen. Der ist unruhig.«
»Ich muss jetzt wirklich weg«, sagte Marlon. Er nutzte die Gelegenheit des Kommens und Gehens und gab seiner Oma Küsschen rechts und Küsschen links.
»Du denkst dran, Jung: Dat Ding im Bad muss ja noch an die Wand.«
»Natürlich«, sagte Marlon. »Aber jetzt bin ich weg.«
Die Tür klickte hinter Marlon ins Schloss und Rudolf Kleinmuth zog statt seiner die Socken aus.
Marlon entdeckte sie sogleich in der Menschenmenge, die über die Ampel auf die Eisdiele zustrebte. Smilla trug einen kurzen Rock, ein schulterfreies Top, alles an ihr war leicht gebräunt, makellose Junibräune, kein Tattoo, sie selbst war das Gemälde, ihr spitzes Gesicht gerahmt von schulterlangen blonden Locken, Dänemark at it’s best. Er erhob sich, ruckelte den Bistrotisch ein wenig zur Seite und umarmte sie.
»Hübsch hier«, sagte sie. »Der perfekte Platz zum Eisessen unter Linden.«
»Deshalb ist auch kein einziger Stuhl mehr frei.« Marlon entdeckte winzige Grübchen neben Smillas Mundwinkeln. Am liebsten hätte er sie jetzt geküsst, einfach so. Aber er sagte: »Ich hab eben auf einen freien Tisch warten müssen.«
»Dank dir«, sagte sie ehrlich und schaute zur Backsteinkirche auf der anderen Straßenseite.
»Sankt Peter«, sagte er.
»Du kennst dich hier aus.«
Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Oma Rita hatte ihrem kleinen Marlon im Eiscafé Liliana schon den Pinocchio-Eisbecher gekauft. Smillas Duft wehte Marlon verführerisch an.
Die Bedienung nahm die Bestellung auf. Marlon merkte, wie selbst die Kellnerin in Smillas Nähe nervös wurde.
Was sie wolle? Erdbeerbecher.
Was er wolle? Erdbeerbecher.
Dann kam das Gespräch auf die Uni. Er hatte keine Lust, über Statistik zu reden, sie aber über die Dozentin für mittelalterliche Literatur, die wie Rapunzel aussähe. Die Bedienung servierte das Eis. Es war noch genau einen Monat hin bis zu den Semesterferien. Smilla probierte bei Marlon, Marlon probierte bei Smilla, obwohl sie beide Erdbeerbecher hatten. So geht Eisdielengemeinsamkeit. Er erzählte ihr, dass sein Großonkel ihn großgezogen habe.
»Ist das dieser Onkel, für den du auch im Hafen arbeitest?«
»Ja.« Das hatte sie sich also gemerkt, dachte Marlon.
»Was machst du da genau?«, wollte Smilla wissen.
»Am Hafen gibt es immer was zu entladen.«
»Mein Vater arbeitet auch am Hafen in Kopenhagen, er ist beim Zoll, Oberzollinspektor.«
Das Wort »Inspektor« erinnerte Marlon sofort an Polizei. Was sollte er sagen? Die Polizei diente dem Recht, sein Onkel der Gerechtigkeit. Smilla registrierte sein kurzes Kratzen mit dem Löffelende an der Stirn, ehe er den Eislöffel neben den Becher legte.
Sie wechselte das Gesprächsthema: »Habe gehört, dass hier in Neuehrenfeld einige Influencer wohnen.«
»Du könntest auch Influencerin sein.«
Sie fühlte sich geschmeichelt. »Wie ist denn dein Großonkel so?«
Eigentlich war er nicht zum Eisessen gegangen, um über seinen Onkel zu reden. Statt also auf ihre Frage einzugehen, schaute er zur Bedienung und hob die Hand.
»Sollen wir zahlen?«, fragte er Smilla.
Die nickte und ließ die Bedienung die Rechnung auf ihrem Handgerät tippen. Er hatte für sich und Smilla zahlen wollen, aber jetzt zahlte sie für sich und ihn. Smilla hatte ihm seine großzügige Geste einfach so weggefischt.
»Mein Onkel hätte genau das nicht erlaubt«, sagte Marlon.
»Was?«
»Dass du zahlst.«
»Das hätte mir auch gefallen«, lachte sie. »Quatsch! Ich zahle gern.«
Smilla war frech und schnell im Kopf. Das imponierte ihm.
Sie standen auf und schlenderten die Straße entlang, ließen Sankt Peter hinter sich, passierten die Fahrschule am Eck und das Restaurant Maifeld. Marlon überlegte, wann er sie in den Arm nehmen durfte. Die Figuren an den Fassaden schauten auf den jungen Mann und die junge Frau hinunter, er braunhaarig, sie blond, sie groß, er ein wenig größer, weiße Turnschuhe, Bart, graue Stoffhose, Siegelring, Haare zurückgekämmt, ein schönes Paar, das noch kein Paar war.
Sie sagte: »So würde ich auch gerne leben.«
»Wie?«
»In einem von diesen Häusern. Ich mag hohe Decken, große Fenster, das ist alles so luftig.«
»Ich auch. Aber eine gute Altbauwohnung kostet einiges.«
»Das ist in Kopenhagen nicht anders.«
Smilla wollte wissen, was der Unterschied zwischen Ehrenfeld und Neuehrenfeld sei.
»Hier ist Neuehrenfeld«, sagte Marlon.
»Und Ehrenfeld?«
Er drehte sich kurz um: »Hinter der großen Straße am Liliana, also jenseits der Subbelrather fängt Ehrenfeld an. Da ist auch der Heliosturm. Kennst du den?«
»Ist das der Turm, der wie ein Leuchtturm aussieht?«
»Das ist ein Leuchtturm. Wie so eine Art gigantische Leuchtreklame ist das. Der Turm hat zwar nie an der Küste gestanden, aber die Helioswerke haben schon vor 150 Jahren für das Licht in den Leuchttürmen auf Borkum, Sylt und Wangerooge gesorgt. Und in Ehrenfeld wurde die Technik entwickelt«, erzählte Marlon. »Vielleicht habt ihr in Kopenhagen auch einen Leuchtturm ›made in Ehrenfeld‹ und du weißt es gar nicht.«
Smilla wusste nicht, ob er sie veralberte, weil Marlon so schelmisch dreinschaute.
»Ehrlich. Du kannst mir glauben.« Am liebsten hätte er jetzt das Handy gezückt, um es Smilla zu beweisen. »Bis zur Eingemeindung nach Köln 1888 war Ehrenfeld sogar für ein paar Jahre selbstständige Stadt, mit eigenem Wappen, Bürgermeister und Freiwilliger Feuerwehr. Jedenfalls ist Ehrenfeld älter als Neuehrenfeld, aber wir wohnen alle zusammen im Stadtbezirk Ehrenfeld.«
»Marlon?« Jemand rief ihn. Marlon und Smilla schauten zur anderen Straßenseite. Nun erkannte Marlon seinen ehemaligen Schulkameraden, der winkend auf ihn zukam. »Jonas?«, rief Marlon ungläubig. Denn der hatte die Haare hochgesteckt und die Augen geschminkt.
»Das ist Smilla«, stellte Marlon vor. »Und das ist Jonas.«
»Was machst du jetzt?«, fragte Marlon.
»Ich hab die Akademie in Düsseldorf geschmissen. Wohne in Kalk. Hab mir ein Atelier im Kunstwerk ergattert.« Es war schon immer so gewesen, dass Jonas gerne von sich redete. Er war keiner von den Künstlern, die mit ihrer Kunst hinter dem Berg hielten, sondern eher einer von jenen, die mit ihren Bildern und Skulpturen auf dem Berg standen und sich und ihre Werke zur Schau stellten.
Jonas sagte: »Falls du – oder ihr? – mal vorbeikommen wollt, hier ist meine Karte.«
»Läuft’s denn?«
»Corona …«, sagte Jonas.
»Das ist doch vorbei.«
»Die Seuche hat den Leuten die Portemonnaies zugeklebt.«
Marlon nahm die Karte und tippte kurz den Namen und die Adresse von Jonas’ Atelier ein. Er gab sie ihm mit der Bemerkung zurück: »Karte brauch ich nicht, verlier ich nur.«
»Ich muss weiter«, sagte Jonas. »Muss einen Kollegen besuchen, der am Takuplatz wohnt. Es gibt eine Möglichkeit für eine Ausstellung.« Und schon ging Jonas schnellen Schritts weiter. Mit keinem Wort hatte er sich danach erkundigt, wie es Marlon seit dem Abitur ergangen war. Aber das hätte Marlon auch überrascht. Für Smilla hatte Jonas ebenfalls keinen Blick übrig, was Marlon ebenso wenig überraschte.
Auf dem Lenauplatz setzten sie sich auf die einzige freie Bank. Überall hockten Leute, hielten Wasser-, Cola- und Kölsch-Flaschen in Händen, einige hatten Coffee to go, andere rauchten, alle quatschten, es war laut wie in einem Busch mit Spatzen. Marlon legte seinen Arm um Smillas Schulter. Sie ließ es zu. Er überlegte, ob er sie nun küssen sollte. Aber er tat es nicht. »Früher bin ich mit kurzen Hosen auf den beiden herumgeklettert.« Er zeigte auf den Max und Moritz-Brunnen. »Und da am Kiosk hat mir mein Opa immer bei Herrn Jojoe Kratzeis geholt.«
»Jojoe?«
»Der erste Chinese, der sich hier niedergelassen hat. Ich kenne ihn nur unter Herr Jojoe.«
»Das kann doch nicht sein wirklicher Nachname sein.«
»Weiß nicht. Ich hab das nie hinterfragt. Vermutlich nennt er sich so, weil er uns Deutsche für unfähig hält, seinen Namen richtig auszusprechen. Ich glaube, er ist einer der ersten Flüchtlinge gewesen, die es überhaupt in Ehrenfeld gab. Herr Jojoe.«
Smilla fand das bemerkenswert und noch bemerkenswerter, dass Herr Jojoe auf einem Ständer vor dem Büdchen zwischen all den Zeitschriften und Comics die thailändischen Instantnudeln von YumYum in zig Varianten ausgestellt hatte. Die ganzen Plastikverpackungen in Rot, Rosa, Grün, Lila, Blau, Braun, Gelb in den Geschmacksrichtungen Huhn, Japanese Chicken, Ente, Rind, Shrimps, Gemüse, Curry und Grilled Chicken leuchteten ihr entgegen. Smilla erzählte: »Ich hab die als Schülerin geliebt, und meine Mutter wollte nicht, dass ich das Zeug esse.« Sie sagte, dass es ihr Traum gewesen sei, in Deutschland zu studieren. »Ich wollte nach München, aber München wollte mich nicht. Und sonst gibt es nicht so viele gute Unis in Alpennähe.«
»Warum Alpen?«
»Ich hatte mal ein Hobby.«
»Das war?«
»Egal. Jedenfalls bin ich heute in Köln, und bis jetzt bin ich jede freie Minute zurück nach Kopenhagen geflogen und …«
»… und jetzt?«, unterbrach er sie.
Für eine Sekunde war sie verwirrt. Er nahm sie stärker in den Arm. Und küsste sie. Die beiden saßen da und knutschten und wollten gar nicht mehr aufhören.
Dann sagte Marlon: »Der Rewe da drüben war früher mal ein Kino. Geboxt wurde da auch.«
»Du kennst hier jeden Stein.«
»Naja, meine Oma wohnt um die Ecke, die kennt jeden Stein. Vincent Weiß hat hier auch ums Eck eine Wohnung. Und der vom ZDF, der immer diese Late Night Show macht …«
»Böhmermann?«
»Genau der, der hat oder hatte hier in der Gegend ein Häuschen. Und Pastewka …«
»Wer ist Pastewka?«
»So ein Komiker. Etwas älter, nicht unlustig. Der hat sich im Maifeld in der Serie Pastewka immer den Pinocchio-Becher bestellt. Auch Lutz van der Horst läuft ständig hier rum.«
»Und du …? Bist du auch berühmt?«
Marlon schluckte. Plötzlich war ihm sein Namedropping von Prominenten etwas peinlich. Dann sagte er aber ironisch: »Na klar. Frag Herrn Jojoe, der kennt mich. Nur nicht meinen Namen.«
Zehn Minuten später waren sie auf dem Weg zu seiner Wohnung. Als er schon den Schlüssel in der Hand hielt, stockte sie, schaute zur anderen Straßenseite und sagte: »Ein Teeladen?«
»Ja, Tee de Cologne.«
»Wir Dänen mögen Tee.«
»Von meiner Wohnung aus kannst du direkt draufgucken.«
»Trinkst du Tee?«
»Für dich tue ich alles«, versprach er und steckte den Schlüssel ins Schloss. Aber sie wollte plötzlich ins Autokino. Marlon war erstaunt: Er hatte auf den 50 Metern vom Lenauplatz bis hierher von seinem alten Golf erzählt, und dass er damit in der Coronakrise mehrmals im Autokino Porz gewesen war.
Er sagte: »Das Autokino fängt erst mit Einbruch der Dunkelheit an.«
»Das ist ein schlagendes Argument.«
Die Tür öffnete sich wie von selbst, ein kühler Hausflur, Stuck an der Decke, Engel aus Gips, der Handlauf aus Kirschholz. »Wirklich hübsch«, sagte sie noch, und zwei Treppen später waren sie in seiner Wohnung.
»Schuhe aus«, befahl sie keck und lief barfuß. Er wollte mit ihr erst einmal in die Küche, aber sie fragte ihn frech, wo sein Bett sei.
»Da«, sagte er und öffnete die Tür zu seinem Schlaf- und Arbeitszimmer.
»Ein Boxer?« Sie hatte das Poster über seinem Bett gesehen.
»Müllers Aap«, sagte Marlon. »War ’ne Boxlegende in Köln. Das Foto ist von 1952.«
»Haut der gerade den Ringrichter k. o.?«
»Ja, weil der ihn wegen Klammerns ›Zigeuner‹ genannt hatte. Müllers Aap hat später gesagt: ›Da hab ich ihn ausgemacht.‹ Womit er natürlich den Ringrichter meinte.«
»Naja, dann leg dich schon mal hin.«
»Und du?«, fragte er.
»Muss noch ins Bad.«
So warf er sich aufs Bett, blickte nochmal schräg nach oben zu Peter Müller und fühlte sich überrumpelt von dieser Dänin, gegen die er einfach keine Abwehrkräfte besaß. Sollte er sich ausziehen? Er wusste es nicht. Es war taghell, das einfallende Licht gleißend. Und er ein bisschen prüde. Was erwartete sie von ihm? Marlon spielte Gedankenbillard. Smilla war Dänin. Und dänische Frauen waren angeblich locker drauf. Also zog er sich bis auf die Unterhose aus und kroch trotz der Hitze katholisch schamhaft erst mal unter die Bettdecke. Halb sitzend, mit ausgebreiteten Armen und behaarter Brust, wartete er – und wartete und wartete. Nichts passierte, es war ruhig, sein Schreibtisch mit dem iPad darauf bewegte sich nicht, nicht der Fernseher, der an einem Arm an der Wand hing, nicht die Jeans von gestern, die noch über dem Stuhl hingen. Was machte sie so lange im Bad? Er dachte an das Bartpflegeset, das offen auf der Ablage über dem Waschbecken lag. Endlich hörte er die Tür, Schritte auf dem Flur, sie blieb stehen. Smilla kam ins Zimmer: immer noch den Rock, immer noch das Top an und mit einem schlanken Buch in der Hand.
»Hölderlin, Gedichte, gebunden«, sagte sie. »Ich mag Hölderlin.«
»Ich hab das Buch von …« Es war vom Vormieter. Der hatte einen Karton Bücher im Keller gelassen, und Marlon hatte sie einfach einsortiert, weil es gut aussah und das Regal voll werden sollte. Die BWL-Lektüre hatte er online. Die machte sich im Regal ohnehin nicht gerade gut aus. Da ihr das Buch gefiel und er mit Hölderlin angeben konnte, sagte er: »Das Buch hab ich vom Feussner die Straße rauf.«
»Die meisten Buchläden führen nur das Übliche: Krimis, Fantasy, Abenteuer, aber keine Feinkost.«
»Und das ist Feinkost?«, fragte er.
»Das weißt du doch sicherlich selbst, sonst hättest du das Buch nicht.« Sie setzte sich mit Hölderlin auf den Bettrand und las: »Es gibt große Stunden im Leben. Wir schauen an ihnen hinauf.«
»Das steht da?«
»Nein, aber ich hab Hölderlin im Kopf. Ich liebe seine Gedichte.«
»Ich kann nur das Kölsche Grundgesetz.«
»Was ist das?«
»Hängt am Kühlschrank. Artikel zwei besagt: Et kütt wie et kütt. Und du kommst jetzt am besten ins Bett.« Dabei grinste er frech.
Sie klappte den Hölderlin zu und zog sich ihr Oberteil aus. Ihre Brüste waren klein, ihr Po war klein, eigentlich nicht Marlons Typ, aber die wachen grünen Augen, die Locken und diese Grübchen erregten ihn. Er wollte nicht mehr reden und einfach nur bei ihr sein.
Während er zwischen den Laken bald schon den Kinobesuch vergessen hatte, wies sie ihn nach Einbruch der Dunkelheit darauf hin, dass sie sich doch noch etwas vorgenommen hätten.
»Stimmt. Aber ich hab tierischen Durst. Willst du auch ein Glas Wasser?«
Sie nickte. »Liebe macht durstig. Nur durch die freie Lust sind wir mit dem All verbunden.«
Erstaunt drehte er sich im Türrahmen stehend um.
»Ist von Capital Bra«, sagte sie.
»Echt?«
»Natürlich nicht.«
»Hölderlin?«
»Wer sonst? Bring mir bitte ein großes Glas.«
Nach dem Duschen und erneutem Sex unter der Dusche fanden sie sich auf dem Gehsteig wieder. Der Abend roch wie Italien und Kuba zusammen. Die Landmannstraße war voller Menschen, jeder war jetzt draußen, als hätte jemand 20-Euro-Scheine in die Luft geworfen. Die meisten hielten Kölsch oder Wasser in der Hand, redeten miteinander und genossen den Abend. Und am Lenauplatz war es voller als voll. Die Bänke überladen, selbst auf dem Stromkasten und der steinernen Tischtennisplatte saßen die Leute und redeten. Überall Worte. Smilla war entzückt, aber Marlon hatte keinen Blick dafür. Er wusste nicht mehr, wo er seinen Golf geparkt hatte.
Sein Handy klingelte. Das war kein iPhone-, kein Samsung-Klingeln, das klang nach 90er-Jahren.
Marlon sagte: »Das ist mein Onkel.«
Albert hatte ihm das fast schon antike Siemens Mobile 10 geschenkt. Jeder von Alberts Partnern hatte ein solches Geschäftshandy.
»Wo bist du?«, wollte Albert wissen. Seine Stimme war tief und dunkel wie der Marianengraben. »Ömer wartet an der Verlade auf dich.«
Marlon hatte den Termin im Niehler Hafen glattweg vergessen.
»Ich …«, setzte Marlon an – und erklärte Smilla zugewandt: »Sekunde, muss was besprechen. Ist wichtig.« Die hob die Augenbrauen und sagte in rheinischem Singsang: »Wischtisch, sehr wischtisch.«
»Schick das Mädchen weg«, befahl Albert, der Smillas Stimme hörte. »Denk mal nicht mit dem kleinen, sondern mit dem großen Kopf. Da wartet der Laster aus Frankreich. Die Heizstrahler für die Gastro müssen umgeladen werden.«
»Okay, okay. Muss nur noch zum Wagen.«
Als Marlon das Handy wieder wegsteckte, ärgerte er sich über Ömer. Warum hatte der sofort seinen Onkel angerufen? Der Typ war so einfach gestrickt wie die Karte einer Imbissbude.
Smilla fragte: »Kein Autokino?«
»Ich muss arbeiten.«
»Es ist gleich 22.30 Uhr.«
»Der Rhein macht keine Pause. Ich muss die Ware am Hafen kontrollieren.«
»Deshalb das alte Handy.«
»Was meinst du damit?«
»Dein Onkel mag wohl nicht, wenn jemand mithört.«
»Wie kommst du darauf? Er hatte es übrig.«
»Na klar. Am Hafen sind alle Geschäfte legal … auch die illegalen«, sagte sie schelmisch.
»Dinge wechseln halt den Besitzer …«
»… und sie finden auf diese Weise den richtigen Adressaten«, vollendete sie seinen Satz.
Sie liefen durch die Gottfried-Daniels-Straße, in der ihnen ein Schwarm Radfahrer entgegen kam. »Fast wie in Kopenhagen«, sagte sie.
»Dürfen die bei euch auch wie hier gegen die Einbahnstraße fahren?«
»Die Frage ist falsch. Sie muss heißen: Dürfen die Autos gegen die Einbahnstraße fahren. Du musst mal nach Kopenhagen kommen. Wir denken nicht, dass die Autos den Verkehr bestimmen, sondern die Radfahrer.« Marlon hatte keine Ahnung von Kopenhagen und eigentlich auch nicht von Dänemark. Er wusste ja nicht einmal, wo sein Auto stand. Am Ende der Straße lag ein Platz, und die folgenden Straßen waren so zugeparkt wie ein Termitenbau. Dann sah Marlon endlich seinen Golf: gelb, ein wenig rostig, aber er lief.
»Soll ich dich schnell zur Haltestelle der Linie 13 bringen?«
Smilla verneinte: »Ich komme mit zum Hafen. Und warte im Wagen auf dich.«
Der Gedanke, dass er den Rest der Nacht mit ihr verbringen würde, gefiel ihm. »Wenn die im Autokino wieder eine halbe Stunde Werbung laufen lassen, könnte es mit dem Film auch noch klappen. Und falls nicht …«
»… fahren wir zu dir und gucken Netflix.«
»Ganz sicher.« Er wollte sie küssen.
Doch sie schüttelte abwehrend den Kopf: »Nein, Marlon. Wir sollten uns beeilen. Du bist spät dran. Und wer weiß, was heute Nacht noch passiert.«
»Du bist verrückt.«
»Das Leben ist sonst langweilig. Meinst du, ich habe Lust, Geschichten nur in Büchern zu lesen? Klettern und Wingsuit-Fliegen hab ich schon hinter mir.«
Marlon legte den Gang ein. »Wingsuit-Fliegen. Du meinst das, wo die Leute sich einen Anzug mit Flügeln anziehen und vom Berg hinunter gleiten?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich ein Hobby hatte und deshalb gern in Alpennähe studieren wollte.«
»Du machst Witze.«
Sie zog ihr Handy heraus und tippte ihren Namen bei YouTube ein. Dann zeigte sie ihm ein Video. Marlon nahm es, hatte die Linke am Lenkrad und mit der Rechten hielt er ihr Handy und staunte nicht schlecht. Es war Smillas Kanal, und sie hatte immerhin 3.428 Abonnenten. Und was sie zeigte, war ziemlich halsbrecherisch.
»Ist in Indonesien gewesen.«
»Da warst du schon?«
»Ja. Einmal will ich aber mindestens noch in den Anzug steigen. Und zwar bei der Stadt Zhangjiajie, dort gib es die coolste aller Locations. Du fliegst direkt vom Yuhu Peak …«
»Das ist nicht dein Ernst. Heißt der Berg echt Yuhu?«
»Ja, klingt ’n bisschen lustig, aber so heißt er. Da gab es auch schon die Wingsuit-Weltmeisterschaft.«
»Und was sagen deine Eltern dazu?«
»Papa findet das nur gefährlich. Der hat überhaupt kein Verhältnis zu Adrenalin. Er würde am liebsten auch jeden Abenteuerurlaub bei der AXA versichern.«
Die beiden plauderten, sie durchquerten Mauenheim, wo die Häuser so hutzelig waren, das eigentlich nur Hobbits darin wohnen konnten, und ließen die Pferderennbahn links liegen. Marlon wurde klar und klarer, dass diese Frau zwar wie ein Model rüberkam, aber ganz schön abenteuerlustig war. Sie wollte was erleben.
Es war absolut windstill. Im Hafen brannte gedimmt das Licht wie in einer billigen Bar. Die Container ruhten am Stapelkai. Über ihnen schwebten stumm die Kräne, sie reckten wie Giraffen ihre gebogenen Hälse in die laue Sommernacht.
Er sagte: »Du wartest hier. Ich bin in einer halben Stunde zurück.«
»Ich schaue was.« Smilla deutete auf ihr Handy, und Marlon küsste sie flüchtig, als würden sie sich schon länger kennen. Smilla genoss die Aufregung. Es war, als würde sie Marlons Adrenalin riechen, als habe ihr jemand Brausepulver direkt in die Adern gespritzt. Dazu musste sie sich nicht einmal mit 130 Stundenkilometern im Wingsuit vom Tafelberg herunterstürzen. Ihr Vater würde ausflippen, wenn er wüsste, dass sie sich nachts am Kölner Hafen herumtrieb und ihr Freund irgendwo für seinen Onkel darauf aufpasste, dass ein paar Dinge den Besitzer wechselten. Aber er würde ihre Eskapade diesmal auch nicht mitkriegen. Denn das hier konnte sie nicht posten. Einen Einbruch, einen Mord oder wirklich guten Sex kannst du nicht posten. Dazu ziehst du keine Helmkamera an.
Marlon ging zügig den Kai entlang und bog zwischen den Containern ab. Dort stand auf einem freien Platz schon ein Mercedes Sprinter mit weit geöffneten Hecktüren vor einem Container mit ebenfalls geöffneten Flügeltüren.
Ömer wartete. Er war klein und gedrungen und hatte die Glatze von einem Deoroller. Der Schweiß stand ihm in den Falten der Stirn. Perle an Perle. »44 Minuten. Ich und meine Leute warten schon so lange auf dich. Was …?«
Marlon entgegnete frech: »Jaja, lass uns loslegen. Ich hab nicht ewig Zeit.« Dabei ging er näher auf Ömer zu und zischte ihm ins Ohr: »Beim nächsten Mal rufst du mich an, nicht gleich meinen Onkel. Ich ruf ja auch nicht gleich bei deinem Boss Soylu an, wenn du Russentesto verhökerst.«
Ömer war geschockt. Er fragte sich, woher Marlon davon wusste.