Der perfekte Frieden - Amos Oz - E-Book

Der perfekte Frieden E-Book

Amos Oz

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"»Amos Oz erzählt die Geschichte eines Kibbuz, eine Geschichte, die er kennt; denn er hat selbst über 30 Jahre lang in einer dieser Keimzellen des israelischen Staatswesens gelebt. Er kennt sie, diese Jonathans, Asarjas, Sruliks, Joleks, Chawas und Rimonas, er kennt sie in ihrem Bedürfnis, irgendwo zuhause zu sein. Das Gefühl, das sie alle umtreibt, heißt Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Staat, in dem sie frei und sicher leben können bei den Zionisten alten Schlages, Sehnsucht nach Abenteuer und einer weiten, einer grenzenlosen Welt bei der Jugend, die bereits in der Geborgenheit und der Zucht eines Kibbuz aufgewachsen ist, Sehnsucht nach dem ›perfekten Frieden‹ bei einem wie Jonathan Lifschitz, der eines Tages beschließt, seine Frau, seine Eltern und die Gemeinschaft der ändern Kibbuzniks zu verlassen, um jenen Ort auf der Welt zu suchen, an dem er wirklich ,zuhause und bei sich selbst wäre.« Klara Obermüller, Die Weltwoche"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 744

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Amos Oz

Der perfekte Frieden

Roman

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Suhrkamp

Inhalt

Erster Teil: Winter

Zweiter Teil: Frühling

Erster Teil Winter

1.

Es kann vorkommen, daß ein Mensch sich einfach aufmacht und von einem Ort an einen anderen zieht. Was er zurückläßt, bleibt hinter ihm und blickt nur noch auf seine Kehrseite. Im Winter 1965 beschloß Jonatan Lifschitz, seine Frau und den Kibbuz zu verlassen, in dem er geboren und aufgewachsen war. Sein Entschluß stand fest: Er würde weggehen, um ein neues Leben zu beginnen.

In seiner Kinder- und Jugendzeit und auch während des Wehrdiensts war ständig ein enger Kreis von Männern und Frauen um ihn gewesen, die sich unablässig in alles, was er tat, einmischten. Dadurch hatte er immer mehr das Gefühl gewonnen, daß diese Menschen ihm etwas vorenthielten, auf das er nicht länger verzichten wollte. Wenn sie öfter auf ihre gewohnte Weise von »positiven Entwicklungen« oder »negativen Erscheinungen« sprachen, begriff er kaum noch, was diese Worte eigentlich bedeuteten. Und wenn er am Ende des Tages allein am Fenster stand und die Vögel in die Abenddämmerung hineinfliegen sah, begriff er mit gelassener Gewißheit, daß diese Vögel letzten Endes alle sterben würden. Wenn der Nachrichtensprecher im Radio von »besorgniserregenden Anzeichen« sprach, sagte Jonatan bei sich: Was macht das schon. Und wenn er nachmittags allein bei den versengten Zypressen am Rand des Kibbuz herumstrich und dort auf einen anderen Genossen stieß, der ihn fragte, was er denn da mache, antwortete Jonatan lustlos: »Ich geh nur so ein bißchen spazieren.« Aber im Inneren stellte er sich dann sofort verwundert die Frage: »Ja, was machst du denn eigentlich hier?«

»Prima Kerl«, sagten sie über ihn im Kibbuz, »aber so verschlossen, halt eine empfindsame Seele.«

Jetzt, mit 26 Jahren und seiner eher verhaltenen, vielmehr nachdenklichen Wesensart, war endlich der Wille in ihm erwacht, allein zu sein, ohne die anderen um ihn herum, und mal selbst zu prüfen, was es denn noch so gab; manchmal überkam ihn nämlich das Gefühl, als liefe sein Leben in einem geschlossenen, verrauchten Zimmer ab, in dem sich unter lautstarkem Stimmengewirr eine endlose Debatte über ein völlig abstruses Thema hinschleppte. Er hatte keine Ahnung, um was es dabei eigentlich ging, und wollte sich auch gar nicht einmischen, sondern nur weggehen an einen anderen Ort, an dem man vielleicht auf ihn wartete, aber nicht auf ewig – und wenn er zu spät käme, dann würde es eben zu spät sein. Wo dieser Ort lag, wußte Jonatan Lifschitz nicht, aber er spürte, daß er nicht länger zögern durfte.

Benja Trotzky, den Jonatan noch nie, nicht mal auf einem Foto, gesehen hatte, dieser Benja Trotzky also, der sich 1939 – sechs Wochen vor Jonatans Geburt – aus Kibbuz und Land abgesetzt hatte, war ein junger Theoretiker gewesen, ein von glühender Begeisterung beseelter Student aus Charkow, der aus innerer Überzeugung eine Arbeit als Steinhauer im Oberen Galiläa angenommen hatte. Er lebte einige Zeit in unserem Kibbuz, und entgegen seinen Grundsätzen verliebte er sich in Chawa, Jonatans Mutter. Er liebte sie auf beste russische Weise: mit Tränen, Schwüren und feurigen Geständnissen. Aber er tat es zu spät, nachdem sie schon von Jolek, Jonatans Vater, schwanger war und auch bereits in seinem Zimmer in der letzten Baracke wohnte. Dieser Skandal ereignete sich Ende des Winters 1939 und ging schlimm aus: Nach diversen Komplikationen, Briefen und einer Selbstmorddrohung, nach nächtlichen Schreien hinter der Scheune, wiederholten Schlichtungsversuchen und der Einschaltung der Kibbuzgremien, die sich bemühten, die Gemüter zu beruhigen und eine vernünftige Lösung zu finden, sowie nach heftigen Gemütsaufwallungen und diskreter ärztlicher Behandlung war eines Nachts schließlich besagter Trotzky für den Wachdienst im Kibbuz eingeteilt worden. Zu diesem Zweck erhielt er die uralte Parabellum-Pistole der Siedlung ausgehändigt und schob auch brav die ganze Nacht über Wache. Erst gegen Morgen fiel er wohl auf einmal völliger Verzweiflung anheim; er lauerte nämlich seiner Chawa neben der Wäschereibaracke auf, stürzte dann urplötzlich zwischen den Büschen hervor und schoß aus nächster Nähe auf seine schwangere Geliebte. Dann begann er – laut winselnd wie ein angeschossener Hund – blindlings auf den Kuhstall zuzurennen, wo er zwei Schüsse auf Jonatans Vater Jolek abgab, der gerade mit der morgendlichen Melkrunde fertig war, und zu guter Letzt feuerte er auch noch auf unseren einzigen Stier namens Stachanow. Als die verblüfften Genossen endlich dem Geschoßlärm entgegeneilten und die Verfolgung aufnahmen, sprang der Ärmste hinter den Misthaufen, um eine letzte Kugel in seine eigene Stirn zu jagen.

Alle Schüsse aber hatten ihr Ziel verfehlt, kein einziger Tropfen Blut war geflossen, und trotzdem floh der tragische Liebhaber aus Kibbuz und Land und brachte es schließlich – nach einigen Irrwegen – zu einer Art Hotelkönig im Ferienort Miami an der amerikanischen Ostküste. Einmal überwies er eine großzügige Spende aus seinem Vermögen für die Einrichtung eines Musikzimmers im Kibbuz und ein andermal schrieb er einen Brief in sonderbarem Hebräisch, in dem er drohte oder sich brüstete oder vielleicht auch nur einfach freiwillig anbot, Jonatan Lifschitz' wirklicher Vater zu sein. In seinem Elternhaus, auf dem Bücherregal, verborgen zwischen den Seiten eines alten hebräischen Romans mit dem Titel »Der Skopusberg« von Israel Sarchi, fand Jonatan als Junge einmal ein vergilbtes Blatt mit einem biblisch anmutenden Liebesgedicht, das offenbar aus der Feder von Benjamin Trotzky stammte. In dem Gedicht hießen der Liebhaber Elasar aus Marescha und seine Geliebte Asuwa, Tochter des Schilchi, und überschrieben war es mit dem Titel »Aber der beiden Herz war nicht recht«. Am unteren Rand des Blattes waren noch einige Worte in etwas anderer, ausgewogen runder Handschrift angefügt, aber die konnte Jonatan nicht entziffern, denn es waren kyrillische Buchstaben. Die ganzen Jahre über bewahrten seine Eltern völliges Schweigen über diese Geschichte von der Liebe und Flucht des Benjamin T.; nur ein einziges Mal, während einer heftigen Auseinandersetzung, benutzte Jolek die Worte »Twoj komediant«, worauf Chawa ihm ebenfalls auf polnisch zischelnd antwortete: »Ty zboju. Ty morderco.« – »Du Verbrecher. Du Mörder.«

Die alteingesessenen Kibbuzmitglieder pflegten manchmal zu sagen: »Das ist ja unglaublich. Aus einem Abstand von höchstens eineinhalb Metern hat dieser Clown doch tatsächlich einen ausgewachsenen Stier verfehlt – eineinhalb Meter! Das war einer.«

Jonatan suchte in Gedanken einen anderen, für ihn passenden Platz, der es ihm erlaubte, nach eigenem Belieben zu arbeiten und sich auszuruhen – ohne eingekreist zu sein.

Sein Plan war, möglichst weit weg an einen Ort zu fahren, der keine Ähnlichkeit hätte mit dem Kibbuz und den Jugendlagern, den Militärstützpunkten und Wüstencamps oder mit diesen Anhalterstationen an den vom glühenden Wüstenwind heimgesuchten Kreuzungen mit ihrem immerwährenden Geruch nach Disteln, Schweiß und Staub und dem säuerlichen Gestank getrockneten Urins. Ja, er mußte eine ganz andere Umgebung suchen, vielleicht eine wirklich große und fremde Stadt, von einem Fluß durchzogen, mit Brücken, Türmen, Tunnels und wasserspeienden Ungeheuern an Brunnen, in denen Nacht für Nacht grün schimmerndes elektrisches Licht aus den Tiefen des Wassers scheint und an denen manchmal eine einsame fremde Frau steht, das Gesicht dem leuchtenden Wasser, den Rücken dem mit behauenem Stein gepflasterten Platz zugewandt – also einen dieser fernen Orte, an denen alles möglich ist, alles geschehen kann: plötzlicher Erfolg, Liebe, Gefahr, eigenartige Begegnungen.

In Gedanken sah er sich leichtfüßig wie ein junges Raubtier durch die teppichbedeckten Korridore eines kalten, hohen Gebäudes streichen, an Türstehern vorbei in Aufzüge treten, von deren Decke runde Lichtaugen strahlten, mitlaufen in einem Strom fremder Menschen, die unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen, jeder nach seinem Belieben, und sein Gesicht würde so unergründlich sein wie alle Gesichter hier.

So kam es ihm in den Sinn, sich aufzumachen nach Übersee, dort für die Aufnahme in die Universität zu lernen und von jedem Gelegenheitsjob zu leben, der sich gerade anbieten würde: von nächtlichem Wachdienst oder irgendeiner Hausmeistertätigkeit oder vielleicht von Kurierdiensten für eine Privatfirma, wie er es in einer Kleinanzeige einer Tageszeitung unter »Stellenangebote« gesehen hatte. Ohne die geringste Ahnung, was unter privater Kurierarbeit eigentlich zu verstehen war, hatte er die innere Gewißheit: Das ist was für dich, mein Lieber. Dabei stellte er sich vor, wie er über eine Vielzahl modernster Geräte regieren würde, eine Welt voller Schalttafeln und aufblitzender Kontrollämpchen, umgeben von selbstsicheren Männern und cleveren Karrierefrauen. Endlich würde er allein für sich wohnen, in einem gemieteten Zimmer ganz oben in einem hohen Haus in einer fremden Stadt, und zwar in Amerika, im Mittleren Westen, wie er ihn aus Filmen kannte. Dort würde er nachts für die Prüfungen büffeln und dann in die Universität aufgenommen werden. Er würde sich einen Beruf aussuchen, um damit geradewegs auf den Ort zuzusteuern, an dem man auf ihn wartete, aber nicht auf ewig – und wenn er zu spät käme, dann würde es eben zu spät sein. Noch fünf oder sechs Jahre, dachte Jonatan, und sein Studium wäre beendet, sei's in Amerika oder anderswo, er erreichte sein Ziel und wäre endlich ein freier Mensch, der sein eigenes Leben lebt.

Am Ende des Herbstes hatte Jonatan genügend Mut gesammelt, um seinem Vater Jolek, dem Kibbuzsekretär, gewisse Andeutungen hinsichtlich seiner Pläne zu machen.

Allerdings war es Jolek, und nicht Jonatan, der das Gespräch eröffnete. Eines Abends zog Jolek seinen Sohn beiseite in einen niedrigen Winkel zu Füßen der steinernen Freitreppe vor dem Kulturhaus und forderte ihn eindringlich auf, die Leitung des Landmaschinenparks zu übernehmen.

Jolek war ein stämmiger, aber nicht besonders gesunder Mann, dessen Körper von den Schultern abwärts in geraden, groben Linien verlief, was ihm ein kantiges Aussehen verlieh, aber sein graues Gesicht hing voller schwammiger Hautfalten, so daß man ihn eher für einen ältlichen Lebemann denn für einen überzeugten Altsozialisten gehalten hätte.

Er brachte sein Anliegen mit gedämpfter Stimme vor, als handele es sich um eine Verschwörung. Der große, schlanke und ein wenig zerstreute Jonatan sprach ebenfalls leise. Über beiden wehte ein feuchter Wind. Das Abendlicht war von Wolken durchzogen, es leuchtete zwischen Regenschauern. Die beiden redeten im Stehen neben einer mit Wasser vollgesogenen Bank, die mit den feuchten Blättern eines Nußbaums übersät war. Dieses Laub hatte bereits einen kaputten Wassersprinkler und einen Stapel nasser Säcke unter sich begraben. Jonatan starrte stur auf die Blätterhaufen, da er seinem Vater nicht ins Gesicht sehen wollte. Aber die Bank, die Säcke und der kaputte Sprinkler schienen ihm irgendeinen dumpfen Vorwurf zu machen, bis er schließlich in einen leisen, schnellen Redefluß ausbrach, wie es stillen Menschen eigen ist: Nein, nein, das käme überhaupt nicht in Frage, den Maschinenpark würde er nicht übernehmen, denn er arbeite schließlich in den Zitrusplantagen, und jetzt sei man doch mitten in der Grapefruiternte, das heißt, solange es nicht gerade regne. »Heute konnten wir natürlich nichts runtermachen, aber sobald es etwas trockner ist, gehen wir wieder raus. Und wieso denn überhaupt Maschinenwartung? Was hab ich denn mit Traktoren zu tun?«

»Das ist ja was ganz Neues«, gab Jolek zur Antwort, »jetzt will sich plötzlich keiner mehr um die Maschinen kümmern. Herzlichen Glückwunsch! Vor ein paar Jahren haben sich die Leute beinah gekloppt, weil jeder nur Mechaniker und nichts anderes sein wollte, und nun ist sich jeder zu fein für solche Arbeit. Skythen! Hunnen! Tataren! Damit bist nicht du persönlich gemeint. Ich sprech nur ganz allgemein. Guck dir doch die Jugendlichen von der Arbeiterpartei an, oder unsere jungen Literaten. Aber das ist ja egal. Dich möchte ich nur bitten, den Maschinenpark wenigstens so lange zu verwalten, bis sich eine dauerhafte Lösung finden läßt. Von dir kann man doch zumindest verlangen, daß du auf eine solche Bitte mit vernünftigen Argumenten reagierst und nicht mit dummen Ausreden.«

»Schau mal«, sagte Jonatan, »weißt du, ich hab bloß einfach das Gefühl, ich würd mich dafür nicht eignen. Das ist alles.«

»Nicht eignen! Gefühl! Fühlt sich geeignet, fühlt sich nicht geeignet«, platzte Jolek heraus. »Ja, was sind wir denn hier, eine Theatertruppe?! Reden wir hier denn davon, welcher Schauspieler sich am besten für die Rolle des Boris Godunow eignet? Würdest du vielleicht die Güte haben, mir ein für allemal zu erklären, was das bei euch heißen soll: Eignung, Selbstverwirklichung, Gemütsverfassung und all dieses verweichlichte Geschwätz? Ist die Arbeit mit den Maschinen denn ein Kleidungsstück oder ein Parfüm? Kölnisch Wasser? Was heißt denn da ›paßt nicht‹, wenn wir von 'nem Arbeitsplatz reden, hä?«

In diesen Spätherbsttagen litten Vater und Sohn an irgendeiner leichten Allergie: Jolek war heiser und kurzatmig, während Jonatans gerötete Augen dauernd tränten. »Schau mal«, sagte Jonatan, »ich sag dir doch, das ist nichts für mich. Was regst du dich denn groß auf. Erstens bin ich nicht für diese Arbeit im Maschinenschuppen geschaffen. Zweitens habe ich zur Zeit gewisse Zweifel, was meine Zukunft betrifft. Und du stehst hier und diskutierst mit mir über die Parteijugend und all das und merkst überhaupt nicht, wie's auf uns runterplatscht. Siehst du, der Regen hat wieder angefangen.«

Jolek hatte etwas anderes gehört, oder vielleicht hatte er auch richtig gehört, er dachte nur, es sei jetzt besser einzulenken. Also sagte er: »Ja gut. In Ordnung. Überleg dir's ein paar Tage und gib mir dann Bescheid. Ich hab ja nicht verlangt, daß du mir auf der Stelle antworten sollst. Bei Gelegenheit werden wir noch mal auf die ganze Sache zu sprechen kommen, wenn du in besserer Stimmung bist. Was halten wir hier denn den ganzen Abend für Stehdebatten und merken gar nicht, wie's uns geradewegs auf den Kopf regnet. Auf Wiedersehen. Hör mal, es wär besser, du würdst dir mal die Haare schneiden lassen: Wie siehst du denn aus. Das ist auch so was Neumodisches.«

An einem Samstag, als Jonatans jüngerer Bruder Arnos auf Kurzurlaub vom Militär kam, sagte Jonatan zu ihm: »Was redst du denn bloß so viel vom nächsten Jahr. Du kannst doch jetzt überhaupt noch nicht wissen, wo du nächstes Jahr sein wirst. Und ich auch nicht.«

Zu seiner Frau Rimona sagte er: »Meinst du, ich muß mir die Haare schneiden lassen?«

Rimona blickte ihn an, setzte dann mit geringer Verzögerung ein etwas verlegenes Lächeln auf, als habe man ihr eine heikle oder sogar leicht gefährliche Fangfrage gestellt, und antwortete schließlich: »Langes Haar steht dir gut. Aber wenn es dich stört, ist das was anderes.«

»Nö, wieso denn«, sagte Jonatan und verstummte.

Es tat ihm leid, sich von den Düften, Stimmen und Farben trennen zu müssen, die ihn seit seiner Kindheit begleitet hatten. Er liebte den Geruch des Abends, der sich in den letzten Tagen des Sommers langsam auf die frisch gemähten Wiesen senkt: Bei den Oleanderbüschen balgen sich drei Promenadenmischungen um die Reste eines zerfetzten Schuhs. Ein alter Pionier mit Schirmmütze steht mitten auf dem Fußweg und liest die Zeitung, wobei sich seine Lippen wie im Gebet bewegen. Eine greise Genossin, einen blauen Eimer, randvoll mit Gemüse, Eiern und frischem Brot, in der Hand, geht an ihm vorüber, ohne ihn auch nur mit einem Kopfnicken zu grüßen – Folge einer uralten Auseinandersetzung. »Jonatan«, sagt sie mit weicher Stimme, »schau nur die Margeriten in dem Beet dort am Ende der Wiese, sie sind so weiß und sauber wie der Schnee, der bei uns in Laputyn im Winter gefallen ist.« Flötenklänge dringen aus den Kinderhäusern zwischen dem vielstimmigen Geschrei der Vögel herüber, und fern im Westen, hinter den Zitrushainen, in Richtung der untergehenden Sonne, fährt ein Güterzug vorbei, dessen Lokomotive zweimal tutet. Leid tat es Jonatan um seine Eltern. Um die Vorabende der Sabbate und Feiertage, an denen sich Männer, Frauen und Kinder im Kulturhaus versammeln – fast alle in weißen, frisch gebügelten Sabbathemden – und die alten Lieder singen. Leid tat es ihm auch um den Blechverschlag inmitten des Zitrushains, in den er sich manchmal zwanzig Minuten lang auf Kosten der Arbeitszeit zurückzog, um dort in Ruhe die Sportzeitung zu lesen. Leid tat es ihm um Rimona. Um den Anblick der aufgehenden Sonne, die im Sommer um fünf Uhr morgens so blutrot über den östlichen Felshängen zwischen den Ruinen des verlassenen arabischen Dorfs Scheich-Dahr heraufsteigt. Um all die Sabbatausflüge zu ebendiesen Hängen und Ruinen: er mit Rimona, er und Rimona mit Udi und Anat, oder manchmal auch er ganz alleine.

Bei all diesem Leid fand Jonatan noch Grund, sich zu ärgern oder sogar verbittert zu sein, als würde man ihn immer wieder unter Druck setzen und ihm Verzichtleistungen ohne Ende abverlangen, als würden sich seine eigenen Gefühle mit all den anderen Kräften verbünden, die ihm unaufhörlich Unrecht taten. Mein ganzes Leben lang tue ich die ganze Zeit über nichts anderes, als immer nur zu verzichten. Schon als ich noch ganz klein war, haben sie mir als erstes beigebracht, nachzugeben, Verzicht zu leisten: in der Klasse, beim Spielen. Nachgeben sollte ich und Rücksicht nehmen und einen Schritt auf den anderen zugehen – beim Militär, im Kibbuz, zu Hause und auf dem Sportplatz–, immer zuvorkommend sein und ein guter Kerl, kein Egoist, keine Umstände machen, nicht stören, nicht stur sein, sondern achtgeben, in Betracht ziehen, etwas geben für den Nächsten und für die Gesellschaft, mit anpacken, sich ganz der Aufgabe stellen, ohne kleinlich berechnend zu sein. Und was hat mir all das gebracht? Daß sie über mich sagen: Jonatan, der ist soweit in Ordnung, ein ernsthafter Bursche, mit dem sich reden läßt. Wend dich an ihn, du wirst schon mit ihm zurechtkommen, ein anständiger Kerl ist das, zuverlässig und nett. Genug damit. Schluß mit dem ewigen Verzichten. Jetzt fängt ein neues Kapitel an.

Nachts im Bett konnte Jonatan nicht einschlafen. Er stellte sich beklommen vor, daß jemand auf ihn warte und sich wundere, wo er denn bliebe, und wenn er sich nicht beeilte, würde alles auseinanderlaufen und nicht mehr länger warten. Als er dann frühmorgens die Augen aufschlug und barfuß in Unterhemd und Unterhose auf die Veranda hinausging, um seine Arbeitskleidung und die lehmverkrusteten Arbeitsschuhe anzuziehen, von denen einer einige Tage zuvor sein von rostigen Nägeln strotzendes Maul aufgerissen hatte, hörte Jonatan über das Geschrei der frierenden Vögel hinweg, daß jemand nach ihm rief: Er solle sich doch aufmachen und gehen, nicht in den Zitrushain, sondern an einen ganz anderen Ort, den rechten, an seinen Ort. Es waren dies höchst ernstgemeinte Rufe – und wenn er zu spät käme, dann würde es eben zu spät sein.

Fast jeden Tag erlosch irgend etwas in ihm; er wußte nicht, was es war: vielleicht eine Krankheit oder die Schlaflosigkeit? Und nur seine Lippen sagten ihm manchmal ganz ohne sein Zutun: Genug. Aus. Fertig.

Alle Anschauungen und Denkweisen, die man ihm seit seiner Kindheit anerzogen hatte, wurden nicht etwa durch andere ersetzt, sondern schrumpften in sich zusammen und verblaßten. Wenn sie in der Kibbuzversammlung von immer wieder auftretenden Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz sprachen, von der übergeordneten Autorität der Gesellschaft, von Gemeinschaftssinn oder barer Anständigkeit, pflegte Jonatan schweigend abseits zu sitzen, hinter der hintersten Säule am Rand des Speisesaals, und einen Zerstörer nach dem anderen auf Papierservietten zu malen. Zog die Debatte sich länger hin, ging er schließlich zu Flugzeugträgern über, wie er sie bisher nur in Filmen oder Illustrierten gesehen hatte. Wenn er in der Zeitung von wachsenden Kriegsdrohungen las, sagte er zu Rimona: »Was soll bloß dieses endlose Gerede, diese Schwätzer, diese« – und wandte sich dem Sportteil zu.

Kurz vor den Hohen Feiertagen legte Jonatan seine Mitgliedschaft im Jugendausschuß nieder. Alle Meinungen und Ideen verblaßten, und an ihrer Stelle kam Trauer auf – eine Traurigkeit, die an- und abschwoll wie eine Kriegssirene. Aber selbst wenn sie etwas abgeklungen war – etwa während der Arbeitszeit oder beim Schachspielen–, bohrte sie wie ein Fremdkörper in ihm herum, in Bauch, Hals und Brust, genauso wie damals: Ich war klein und hatte was angestellt, war aber nicht erwischt worden und hatte keine Strafe erhalten, so daß also nur ich wußte, was gewesen war, und trotzdem den ganzen Tag und noch spätnachts im Bett zitternd dachte: Was wird nur werden, was hast du denn gemacht, du Irrer.

Jonatan sehnte sich danach, dieser Trauer möglichst schnell weit zu entkommen, wie er es in Büchern über jene reichen Europäer gelesen hatte, die vor der Sommerhitze in verschneite Gegenden fliehen und während des Winters milde Regionen aufsuchen. Einmal, als sie gerade zu zweit dabei waren, Säcke mit Kunstdünger von einem Lastwagen abzuladen und in den Verschlag im Zitrushain zu schleppen, sagte Jonatan zu seinem Freund Udi: »Hör zu, Udi, hast du schon mal darüber nachgedacht, was der größte Betrug auf der Welt ist?«

»Die Frikadellen, die Fejge uns dreimal in der Woche zum Mittagessen brät: nichts als altes Brot mit ein bißchen Fleischgeruch.«

»Nein, ich mein's doch im Ernst«, beharrte Jonatan, »wirklich der allergemeinste Betrug.«

»Also gut«, sagte Udi lustlos, »meines Erachtens ist das die Religion oder der Kommunismus oder auch beides zusammen. Warum fragst du denn?«

»Nein«, antwortete Jonatan, »nicht das. Ich mein, die Geschichten, die sie uns erzählt haben, als wir noch ganz klein waren.«

»Die Geschichten?« gab Udi verwundert zurück. »Was hast du denn plötzlich damit?«

»Haargenau das Gegenteil vom wirklichen Leben waren diese Geschichten. Hast du mal Streichhölzer? Wie zum Beispiel damals bei der Kommandoaktion gegen die Syrer in Nukeib. Weißt du noch, wie wir da einen toten syrischen Soldaten, dem's den ganzen Unterleib weggerissen hatte, in den Jeep gesetzt haben, mit seinen Händen am Steuerrad, und ihm eine brennende Zigarette in den Mund gesteckt haben und dann abgehauen sind, kannst du dich daran noch erinnern?«

Diesmal beeilte sich Udi nicht mit der Antwort, sondern zerrte einen Sack aus der äußersten Ecke des Lastwagens, stellte ihn sehr sorgfältig auf den Boden, um ihn als Grundlage für einen neuen Säckestapel zu benutzen, drehte sich dann schnaufend und unter heftigem Kopfkratzen um und blickte etwas schräg auf Jonatan, der an den Laster gelehnt dastand, seine Zigarette rauchte und wohl tatsächlich auf eine Antwort wartete. Udi lachte: »Was philosophierst du mir denn da mitten bei der Arbeit? Soll das eine Art Meditationsübung sein, oder was?«

»Nix dergleichen«, sagte Jonatan, »mir ist bloß plötzlich so ein unanständiges Heftchen eingefallen, das ich mal auf englisch gelesen hab. Da haben sie beschrieben, was diese Zwerge nun wirklich die ganze Zeit gemacht haben, als Schneewittchen bei ihnen lag und geschlafen hat wegen dem Apfel. Es war alles Betrug, Udi, das mit Schneewittchen und Hänsel und Gretel und Rotkäppchen und des Königs neuen Kleidern und all diesen niedlichen Geschichtchen, in denen zum Schluß nur noch Glück und Wohlgefallen herrscht, ›und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹. Alles Betrug, sag ich dir. Auch die Ideen von denen.«

»Schon gut«, sagte Udi, »hast du dich beruhigt? Können wir jetzt weitermachen? Und wenn wir schon von Betrug reden, würdest du dann mal bitte als erstes meine Streichhölzer wieder aus deiner Tasche ziehen und sie mir freundlicherweise zurückgeben? Ah, so ist's recht. Und nun laß uns mal die restlichen dreißig Säcke abladen, bevor Etan R. kommt. Ja, genau so. Hol mal richtig Luft, reg dich ab, tief durchatmen, und jetzt pack hier mit an. So. Geht's wieder? Dann man los. Ich weiß gar nicht, warum du in letzter Zeit immer mit so 'nem sauren Gesicht rumläufst.«

Jonatan atmete tief und beruhigte sich.

Er war fast überrascht, wie leicht ihm die Entscheidung fiel. Die Hindernisse schienen unbedeutend. Beim Rasieren vor dem Spiegel sagte er sich zuweilen einfach mit tonlosen Lippen und in der dritten Person: »Er machte sich auf und ging.«

Manchmal wunderte er sich über seine gleichaltrigen Kameraden im Kibbuz. Warum machten sie es nicht wie er und gingen? Worauf warteten sie denn eigentlich? Die Jahre vergehen doch – und wer zu spät kommt, kommt zu spät.

Im letzten Sommer, einige Monate bevor Jonatan Lifschitz beschlossen hatte, alles zurückzulassen und sich auf den Weg zu machen, war im Leben seiner Frau ein trauriges Ereignis eingetreten. Allerdings betrachtete Jonatan diesen Vorfall nicht als Auslöser für seinen Entschluß. In seinen Gedankengängen kamen die Worte »Ursache« und »Wirkung« gar nicht erst vor. Gleich dem Durchflug der Zugvögel, den Rimona jeden Herbst und Frühling so gern beobachtete, sah Jonatan seinen Abschied als eine Sache an, deren Zeit nach langem Warten gekommen war. Es sind einige Jahre vergangen, dachte er, und nun ist es eben soweit.

Geschehen war folgendes: Rimona litt an irgendeinem Frauenleiden. Schon vor zwei Jahren war sie schwanger geworden und hatte das Kind verloren. Dann wurde sie wieder schwanger. Und am Ende des letzten Sommers brachte sie ein kleines Mädchen tot zur Welt.

Die Ärzte rieten, vorerst auf einen erneuten Versuch zu verzichten. Jonatan wollte jedoch gar keinen neuen Versuch unternehmen. Er wollte nur auf und davon.

Rund drei Monate waren seit diesem Vorfall vergangen. Rimona hatte angefangen, alle möglichen Bücher über Schwarzafrika in der Bibliothek auszuleihen. Jeden Abend saß sie nun im weichen, warmen Licht der Tischlampe mit ihrem bräunlichen Strohschirm und notierte auf kleinen Karteikarten den genauen Ablauf einzelner Stammesriten: Jagd- und Regenkulte, Fruchtbarkeitsriten und Geisterbeschwörungen. In ihrer regelmäßigen Handschrift hielt sie auf ihren Kärtchen die Trommelrhythmen namibischer Dörfer fest, skizzierte die Masken der Zauberer aus dem Stamm der Kikuju, beschrieb den Ahnenkult unter den Zulus und die Beschwörungen und Amulette, mit denen man im Lande Ubangi-Schari die Kranken heilte. Hier und da zeigten sich helle Flecke auf Rimonas Haut. Sie mußte regelmäßig zweimal die Woche eine Spritze bekommen und rasierte sich auch neuerdings die Achselhöhlen.

All das überging Jonatan mit Schweigen. Inzwischen hatte man die Strohballen von den Feldern in die Scheunen gebracht. Das ganze Land war mit schweren Pflügen hinter großen Raupenschleppern umgepflügt worden. Die weißblaue Sommerglut hatte fahlgrauem Licht Platz gemacht. Der Herbst kam und ging vorüber. Die Tage wurden kürzer und grauer, die Nächte länger. Jonatan Lifschitz überwachte mit gedämpfter Stimme die Zitrusernte, überließ seinem Freund Udi die Aufsicht über die Transporte und wartete.

Einmal schlug Udi vor, sich einen Abend zu zweit bei einer Tasse Kaffee zusammenzusetzen, um die Ladepapiere durchzusehen und eine Zwischenbilanz zu machen. Jonatan meinte, es habe keinerlei Eile damit, die Saison habe ja erst angefangen, was sei da schon groß zu bilanzieren. »Na, entschuldige mal«, sagte Udi, »du hast ja keine Ahnung, was um dich herum vorgeht.«

Aber Jonatan blieb stur: »Es ist noch genug Zeit. Nur keine unnötige Eile.«

Udi, dessen Augen ständig wie von Weinen oder Schlafmangel gerötet waren, schlug vor, er werde sich eben selbst um Bilanz und Buchprüfung kümmern, wenn Jonatan keine Geduld für so was hätte. Jonatan schaute Udi aus seinen allergiegeplagten, sonderbar triefenden Augen an und erwiderte: »Gut, in Ordnung.«

»Und mach dir keine Sorgen, Joni, ich werd dich auf dem laufenden halten.«

»Nicht nötig.«

»Was soll das heißen – nicht nötig?«

Worauf Jonatan Lifschitz antwortete: »Hör mal, Udi, wenn du hier der Boß sein willst, bitte sehr. Mir jedenfalls eilt gar nichts.«

Danach verfiel er wieder in Schweigen. Schweigend wartete Jonatan auf irgendeine Wende, ein Ereignis, das ganz von selbst zu einer Trennung des ehelichen Zusammenlebens führen würde. Aber die grau verhangenen Tage und Nächte glichen einander, und auch Rimona blieb sich immer gleich. Nur hatte sie in einem Laden auf dem Karmel eine neue Schallplatte erworben, auf deren Hülle ein nackter schwarzer Krieger abgebildet war, der gerade einen Büffel mit einem Speer durchbohrte. Darüber stand in schwarzer englischer Flammenschrift »Die Magie des Tschad«.

So begriff Jonatan langsam, daß sein Weggehen nur von ihm allein abhing. Er mußte die passenden Worte finden, um Rimona zu sagen: »Ich habe beschlossen, den Kibbuz zu verlassen – und dich auch.«

Allerdings mochte er keine Worte und vertraute ihnen auch nicht. Deshalb bereitete er sich sehr sorgfältig und ruhig auf dieses Gespräch vor, zog Tränen, Vorwürfe, Bitten und Anschuldigungen in Betracht. Er versuchte, verschiedene Begründungen zu formulieren, aber so sehr er sich diesbezüglich auch anstrengen mochte – Beweggründe fand er keine, nicht einen einzigen, noch so kleinen.

Schließlich blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er mußte Rimona die schlichte Wahrheit sagen, auf irgendwelche zusätzlichen Erklärungen verzichten, was das Gespräch auch einfacher und kürzer machen würde. Diese simple Wahrheit ließe sich vielleicht mit einem einzigen Satz verkünden, wie etwa: »Ich kann nicht immer und ewig verzichten« oder »Ich bin schon spät dran«.

Aber Rimona würde dann sicher fragen: »Wozu bist du spät dran?« oder »Worauf kannst du nicht verzichten?«, und was sollte er auf solche Fragen antworten? Vielleicht würde sie auch in Tränen ausbrechen und schreien: »Joni, du bist ja plötzlich verrückt geworden!« Dann könnte er nur murmeln: »Es ist eben jetzt Schluß« oder »Tut mir außerordentlich leid«, und sie würde ihre Eltern und sämtliche Kibbuzgremien gegen ihn aufhetzen.

Rimona, schau mal, das kann man nicht so in Worte fassen. Vielleicht ist das wie bei deiner Magie des Tschad zum Beispiel. Ich meine – nicht Tschad, auch nicht Magie in dem Sinn. Ich meine, einfach so … mir bleibt wirklich keine Wahl mehr, ich steh schon mit dem Rücken zur Wand, wie man so sagt. Sieh mal, ich geh. Ich hab keine andere Wahl.

Schließlich setzte er mehrere Tage im voraus einen Abend fest, an dem er mit Rimona sprechen würde. Falls sie mit Beschuldigungen oder flehenden Bitten anfinge, schwiege er einfach wie die Helden im Kino, dachte er sich und wiederholte nun mehrmals täglich im stillen die Worte, die er benutzen wollte.

In der Zwischenzeit achtete Jonatan – wie ein Untergrundkämpfer kurz vor dem Aufstand – sorgfältig auf die Erfüllung all seiner regulären Pflichten, damit seine Gefühle nicht entdeckt würden.

Beim ersten Tageslicht stand er auf, trat in Unterhemd und Unterhose auf die Veranda, zog seine Arbeitskleidung an, führte einen müden Kampf mit den Schnürsenkeln, wobei er besonders den grinsenden Schuh haßte, schlüpfte in eine alte, geflickte Uniformjacke und ging zum Maschinenschuppen. Wenn es stark regnete, bedeckte er Kopf und Schultern mit einem Sack und rannte fluchend bis zum Schuppen, auf dessen schmutzigem Betonboden er zwei Minuten lang auf der Stelle trat, bevor er den grauen Ferguson-Traktor startklar machte. Nachdem er Kraftstoff, Öl und Wasser geprüft hatte, ließ er den zuerst tuckernden und fauchenden Motor an, um Udi und seine Schar jugendlicher Erntehelferinnen in den Zitrushain zu fahren. Die Mädchen, die sich zu Beginn der Arbeit um den Blechverschlag im Hain drängten, an dem er ihnen die Erntescheren aushändigte, erinnerten Jonatan an irgendeine fast vergessene Geschichte über neun leichtfertige Nönnchen, eine einsame Hütte im tiefen Wald und den Wächter dieser Hütte. Aber da es ein feuchtkalter Morgen war, erstarb die Geschichte in seinem Gedächtnis, bevor sie noch richtig Fuß fassen konnte. Statt dessen begannen die Mädchen, die Früchte zu pflücken und in großen Behältern zu sammeln.

Die Stunden im Zitrushain verbrachte Jonatan meist völlig schweigsam. Nur einmal, als er Udi die Sportzeitung gab, sagte er: »Gut, in Ordnung, du kümmerst dich dieses Jahr um alle Versandrechnungen, aber halt mich trotzdem auf dem laufenden.«

Nach der Arbeit kehrte Jonatan in seine kleine Wohnung zurück, duschte, zog trockene, warme Feierabendkleidung an, setzte den Petroleumofen in Gang und ließ sich mit der Zeitung im Sessel nieder. Schon um vier oder Viertel nach vier versank das winterliche Licht hinter den schwärzlichen Wolken. Abendlicher Wind und Dämmerschein schlugen ans Fenster, wenn dann auch Rimona von ihrer Arbeit in der Wäscherei zurückkehrte und Kaffee nebst Keksen auf den Tisch stellte. Mal antwortete er auf Fragen von ihr, mal hörte er sich müde ihre Antworten auf seine Fragen an, wechselte wenn nötig auch mal eine ausgebrannte Glühbirne oder reparierte einen tropfenden Wasserhahn in der Duschecke. Zuweilen nahm er sich vor, sofort nach dem Kaffeetrinken aufzustehen, um die Teller und Tassen abzuspülen.

Eines Tages sprach Rabbiner Nachtigall vor den Nachrichten im Rundfunk über mögliche Wege zur religiösen Erneuerung und benutzte unter anderem die Worte »eine öde Wüste, ein Ödland«. Den ganzen Abend über und noch den folgenden Morgen bis gegen Mittag wiederholte Jonatan unwillkürlich immer aufs neue diese Worte, als hätten sie etwas Beruhigendes für ihn: Magie des Ödlands. Wüste des Tschad. Ödland des Tschad. Zauber der Wüste. Atme nur tief durch, sagte er sich in den Worten seines Freundes Udi, hol ordentlich Luft und beruhig dich ein bißchen. Bis Mittwochabend eilt gar nichts.

Jonatan besaß eine graubraune Schäferhündin namens Tia. In der Winterzeit döste Tia den ganzen Tag über vor dem Ofen. Ihre Jugend war längst vorbei, und jeden Winter schien sie unter Gliederschmerzen zu leiden. Ihr Fell war schütter geworden und wies an zwei Stellen sogar kahle Flecken auf wie ein alter abgetretener Teppich. Manchmal kam es vor, daß Tia plötzlich beide Augen öffnete und Jonatan Lifschitz so sanft und seltsam zweifelnd anguckte, daß ihm die Lider zitterten. Dann fuhr sie mit den Zähnen wild auf eines ihrer Beine oder auf eine Pfote los, um irgendeinen winzigen Schmarotzer auszurotten, kratzte sich wütend und schüttelte sich schließlich derart anhaltend, daß ihr Fellkleid bald zu groß für ihren Körper geraten schien. Danach legte sie die Ohren an, durchquerte einmal das Zimmer, ließ sich wieder müde vor dem Ofen nieder, schloß mit einem Seufzer das erste Auge, und nur ihr Schwanz wedelte noch einen kurzen Augenblick, bis auch er zur Ruhe kam, das zweite Auge ebenfalls zufiel und es zumindest aussah, als schliefe sie.

Wegen Tia war Jonatan gezwungen, seine Unterredung mit Rimona zu vertagen. Hinter den Ohren der Hündin waren nämlich wunde Stellen aufgetreten, die sich zwei Tage später mit Eiter füllten. Man mußte also den Tierarzt konsultieren, der etwa alle zwei Wochen im Kibbuz erschien, um die Kühe und Schafe zu untersuchen. Jonatan, der Tia sehr gern hatte, verspürte keinerlei Lust, sein Leben zu verändern, ehe die Hündin nicht völlig genesen war. Der Arzt empfahl eine Salbe sowie ein weißes Pulver, das man, mit Milch vermischt, Tia eingeben sollte. Sie ließ sich nur schwer bewegen, diese Mixtur zu trinken – also gab es wieder einen Aufschub. Ab und zu rief Jonatan sich die eigens vorbereiteten Worte ins Gedächtnis zurück, um sie nicht zu vergessen. Aber welche Worte waren das denn? Ödland des Tschad? Machte sich auf und ging?

Inzwischen war es richtig Winter geworden. Jolek erkrankte an Grippe und litt zudem unter heftigen Rückenschmerzen. Jonatan ging eines Abends zu seinen Eltern, wobei Jolek ihm vorhielt, daß er nicht öfter kam und daß er nicht bereit war, die Leitung des Maschinenparks zu übernehmen, der mangels eines verantwortlichen Menschen langsam verrotte, und daß die israelische Jugend überhaupt destruktive Verfallstendenzen aufweise. Jonatans Mutter Chawa sagte demgegenüber: »Du siehst müde und traurig aus. Vielleicht solltest du dich ein, zwei Tage ausruhen. Auch Rimona hat Urlaub verdient. Warum fahrt ihr nicht mal nach Haifa, übernachtet einen Abend bei Onkel Pessach, geht zusammen ins Café und ins Kino? Was ist da schon dabei?«

Worauf Jolek hinzufügte: »Und laß dir bei dieser feierlichen Gelegenheit auch gleich mal ein bißchen die Haare schneiden. Guck doch, wie du aussiehst.«

Jonatan schwieg.

Nachts im Traum kamen Etan R. und Udi zu ihm, um ihm mitzuteilen, daß die Polizei endlich die Leiche seines Vaters auf dem Grund des Wadi gefunden habe. Jonatan solle rasch einen Anhänger an den Traktor koppeln und augenblicklich, bewaffnet und mit einer Bahre versehen, zu Hilfe kommen. Aber als sie in die Waffenkammer traten, fanden sie dort nur den Kadaver einer Katze. Jonatan wachte auf, stand lange in der Dunkelheit am Fenster und hörte das Heulen des Windes, durchsetzt mit einem Bellen, das aus weiter Ferne herüberklang, vielleicht von den Trümmern des verlassenen arabischen Dorfs Scheich-Dahr. »Schlafen, Tia«, sagte er leise und schlich ins Bett zurück, ohne Rimona zu wecken.

Es regnete und regnete. Die Erntearbeit mußte vorläufig eingestellt werden, die Erde verwandelte sich in klebrigen Morast. Das Licht des Tages war fahlblaß, das Licht der Nacht verschwand hinter schwarzen Wolken. Dumpfes Donnergrollen zog Nacht für Nacht in matten Wellen von Ost nach West. Feuchter Wind wehte gegen die Fenster des Hauses. Und einmal bebte es sogar: Auf einem hohen Regal schepperte plötzlich eine Vase.

Du wirst dein Leben von Grund auf verändern, wirst ein neues Kapitel beginnen, wirst frei sein. All die Dinge, die du zurückgelassen hast, werden alleine, ohne dich bleiben. Sie können dir nichts anhaben: ein Haufen persönlicher Gegenstände, die du am neuen Ort nicht brauchst. Nahestehende Menschen, die dich immer so behandelt haben, als seist du einer der Ihren und nur ein Werkzeug in ihrer Hand, ein bloßes Instrument zur Verwirklichung eines hehren Plans, dessen Zweck du nicht einsiehst. Verschiedene Gerüche, die dir lieb geworden sind. Die Sportzeitung, die du immer von vorn bis hinten durchgelesen hast. Aber genug. Du wirst sie alle verlassen, und alle werden sie verlassen sein. Genug. Wie lange kann man noch nachgeben? Du mußt dich endlich aufmachen und dein eigener Herr sein, weil du nur dir selbst gehörst und nicht ihnen. Auch wenn dein Zimmer eigentümlich sein wird ohne dich. Leer und fremd werden die Regale an der Wand hängen, die du über dem Kopfende deines Betts angebracht hast. Einsam und verstaubt wird der Schachtisch dastehen, den du den letzten Winter über mit so viel Überlegung und Sorgfalt aus einem Olivenstamm herausgeschnitten hast. Sonderbar wird die Eisenstange im Garten aussehen, um die du eine Weinlaube hochziehen wolltest. Fürchte dich nicht: Mit der unaufhörlich verrinnenden Zeit werden all diese Dinge schließlich nicht mehr eigentümlich sein, sondern nur noch verlassen. Die Vorhänge werden verbleichen. Unten im Bücherbord wird dein Zeitschriftenstapel langsam vergilben. Hundszahn, Kletterwinde und Brennesseln, die du die ganzen Jahre über bekämpft hast, werden erneut die Herrschaft im Garten hinter dem Haus übernehmen. Und wieder werden sich die Schimmelpilze auf dem Spülbecken ausbreiten, das du ausgebessert hast. Hier und da wird sicher der Putz abbröckeln. Im Laufe der Jahre werden die Gitterstangen der Veranda Rost ansetzen. Deine Frau wird einige Zeit auf dich warten, bis sie endlich einsieht, daß Warten keinen Sinn mehr hat. Hartnäckig werden deine Eltern sie, einer den anderen, den Zeitgeist, die allgemeine Atmosphäre, dich, die neuen Auffassungen beschuldigen, bis schließlich auch sie sich fügen. »Mea culpa«, wird dein Vater in seinem polnisch gefärbten Lateinisch sagen. Deine Schlafanzüge, die Windjacke, Arbeitskleidung, Fallschirmjägerstiefel und die abgetragene Winterjacke wird man allesamt einem Mann schenken, der deine Größe trägt. Nicht Udi. Vielleicht diesem italienischen Mörder, der als Lohnarbeiter in der Schlosserei angestellt ist. Andere persönliche Gegenstände wird man in einen Koffer packen und auf dem kleinen Hängeboden über der Dusche verfrachten. Eine neue Routine wird sich durchsetzen, das häusliche Leben wird wieder in geordnete Bahnen zurückfinden. Rimona wird man auf einen der Kibbuzlehrgänge für angewandte Kunst schicken und ihr dann die Ausschmückung des Speisesaals für Partys und Feste übertragen. Dein Bruder Arnos wird aus dem aktiven Militärdienst entlassen werden und seine Freundin Rachel heiraten. Vielleicht wird er's schaffen, in die Schwimmnationalmannschaft zu kommen. Fürchte dich nicht. Inzwischen wirst du dein ersehntes Ziel erreicht und dort gesehen haben, wie anders und richtig und neu alles ist: keine Trauer und Erniedrigung mehr, sondern Begeisterung und Kraft. Und wenn dir eines Tages die Erinnerung an einen altvertrauten Duft oder an ein aus weiter Ferne herüberdringendes Hundegebell kommen sollte oder an prasselnden Regen, der am frühen Morgen in Hagel übergeht, und du auf einmal um nichts in der Welt begreifen kannst, was du getan hast, was nur in dich gefahren ist, welche bösen Geister dich aus deinem Hause bis ans Ende der Welt gelockt haben, dann mußt du solche Gedanken mit aller Gewalt zurückdrängen, damit du nicht plötzlich schwankst wie ein Mensch, dem man aus der Dunkelheit von hinten her über die Schulter blickt. Du mußtest doch gehen. Du konntest doch nicht dein ganzes Leben lang sitzenbleiben und warten, ohne zu wissen, worauf und warum. Es gibt also nichts zu bereuen. Was war, ist gewesen.

In den Zitrushain konnte Jonatan dieser Tage nicht fahren; wegen des aufgeweichten Bodens waren die Erntearbeiten zum Stillstand gekommen. Die fröhlichen jungen Helferinnen wurden in Küche und Kleiderlager geschickt. Der rotäugige Udi erklärte sich freiwillig bereit, die vom Sturm beschädigten Blechdächer der Kuh- und Schafställe zu reparieren, bis der Himmel wieder aufklaren würde und man die Ernte fortsetzen konnte. So kam es, daß Jonatan Lifschitz widerstrebend einwilligte, vorübergehend und völlig unverbindlich die Leitung des Maschinenparks zu übernehmen, worum ihn sein Vater Jolek einige Wochen vorher gebeten hatte.

»Du mußt wissen, daß das keine Dauerlösung ist«, sagte Jonatan. »Es ist nur mal fürs erste.«

Jolek erwiderte: »Ah? So. Gut, in Ordnung. Du kniest dich da erst mal rein, fängst an, ein bißchen Ordnung zu schaffen, und im Laufe der Zeit beruhigen wir uns vielleicht etwas. Wer weiß? Womöglich entdeckst du auf einmal im Maschinenpark verschüttete Quellen der wahren Selbsterfüllung, oder die Mode ändert sich eines schönen Morgens und diese Arbeit steht wieder hoch im Kurs? Warten wir's ab und lassen uns überraschen.«

Jonatan antwortete mit allem Nachdruck, den er aufzubieten vermochte: »Du mußt nur daran denken, daß ich dir meinerseits absolut nichts versprochen habe.«

An die sechs Stunden täglich arbeitete Jonatan nun also im Maschinenschuppen, übernahm jedoch nur die übliche Wartung der Traktoren sowie die nötigsten leichten Reparaturen. Die meisten Landmaschinen standen ja sowieso starr und stumm, tief in ihren Winterschlaf versunken, unter dem windgerüttelten Blechdach. Bei der leichtesten Berührung fuhr einem die metallische Kälte stechend in die Finger. Die Schmiermittel wurden schwarz und verkrusteten. Die Armaturenbretter waren beschlagen. Hier und da hatte man den müden Versuch unternommen, irgendein empfindliches Teil mit dreckigen, verstaubten Sackfetzen abzudecken. Nur ein Verrückter hätte auf die Idee kommen können, diese Ungeheuer aus ihrem düsteren Schlaf zu wecken und sich an ihnen zu schaffen zu machen. Mögen sie in Frieden ruhen, dachte Jonatan, ich bin hier nur wegen der Kälte und des Regens. Bald …

Um zehn Uhr morgens pflegte er sich dann seinen Weg vom Schuppen zur Schlosserei zu bahnen, wo er in Gesellschaft des lahmenden Bolognesi Kaffee trank und die Sportzeitung las.

Bolognesi war nicht etwa ein Italiener, sondern ein tripolitanischer Lohnarbeiter mit einem zerfetzten Ohr, das an eine langsam vor sich hinfaulende Birne denken ließ, die jeden Augenblick abfallen und aufplatzen mußte. Er war ein großer, gebeugter Mann um die fünfundfünfzig, mit dunklem stoppligem Gesicht, aus dessen Mund ständig ein leichter Arrakgeruch wehte. Er lebte allein in einer Baracke, deren eine Hälfte früher mal eine Schuhmacherei beherbergt hatte, während die andere nach wie vor einmal im Monat als Friseursalon diente. Fünfzehn Jahre hatte er im Gefängnis gesessen, weil er der Verlobten seines Bruders mit einer Axt den Kopf abgeschlagen hatte. Es war dies eine sonderbare Geschichte, deren Einzelheiten niemand im Kibbuz kannte, obwohl natürlich verschiedene, teils höchst schreckliche Versionen von ihr kursierten. Stets lag ein verkniffener Zug auf Bolognesis Gesicht, wie bei jemandem, der gerade einen verdorbenen Bissen in den Mund gesteckt hat, den er auf keinen Fall hinunterschlucken kann, aber vor lauter Schreck und Höflichkeit auch nicht auszuspukken wagt. Sei es, weil dieser Bolognesi während seiner Haftzeit begonnen hatte, die religiösen Gebote peinlich genau einzuhalten, oder auch aus einem anderen Grund hatte Staatspräsident Ben Zwi beschlossen, ihm die übrigen Jahre seiner lebenslänglichen Gefängnisstrafe auf dem Gnadenweg zu erlassen. Das Komitee für die Betreuung bekehrter Häftlinge hatte sich für ihn und seine ruhige Wesensart in einem Empfehlungsschreiben an das Kibbuzsekretariat verbürgt, und so hatte man ihn für die Arbeit in der Schlosserei eingestellt und ihm auch ein Zimmer in der windschiefen, mit Teerpappe verkleideten Baracke überlassen.

Im Kibbuz redeten einige so und andere anders über Bolognesi. Die Einhaltung der religiösen Gebote jedenfalls hatte er nach seiner Ankunft hier wieder aufgegeben. Dafür wandte er sich in seiner Freizeit feinen Strickarbeiten zu, deren Anfertigung er während seiner Haft erlernt hatte. Tatsächlich machte er wunderbare Pullover für die Kibbuzkinder und strickte sogar komplizierte Kreationen nach der letzten Mode für die jungen Genossinnen. Von seinem Lohn kaufte er sich die neuesten Strickhefte, denen er ständig modische Muster entnahm. Er sprach nur wenig, und dies mit weiblicher Stimme, als sei er stets darauf bedacht, äußerst vorsichtig auf Fragen zu antworten, die ihn in Schwierigkeiten verwickeln oder den Fragenden selbst in Verlegenheit bringen könnten. Einmal, als sie wieder an einem grauen Regentag in der Schlosserei beim Kaffee saßen, fragte Jonatan ihn, ohne die Augen von der Sportzeitung zu heben:» Sag mal, Bolognesi, warum guckst du mich die ganze Zeit so an?«

»Sieh deinen Schuh«, antwortete der Italiener, sich vorsichtig zurückhaltend, fast ohne die Lippen zu öffnen. »Dein Schuh ist offen, und das Wasser kommt drinnen. Auf der Stelle remicht ich dir dein Schuh, bitte?«

»Macht nix«, sagte Jonatan, »nicht weiter wichtig. Danke.« Und damit wandte er sich wieder der Debatte zweier Kommentatoren über den überraschenden Ausgang des Halbfinales um den Landespokal zu. Zwei, drei Minuten später blätterte er weiter und las über einen aus Südamerika eingewanderten Orthopäden, der gleichzeitig ein vielgerühmter Fußballspieler war und sich nun dem Sportclub Betar-Jerusalem angeschlossen hatte. Auf einmal begann Bolognesi wieder mit zarter Stimme: »Ich nix gemerichtet, du nicht sagen danke«, worauf der Mann in seiner melancholischen Logik flehend fortfuhr: »Wie sagen danke einfach so? Für nix?«

»Für den Kaffee«, antwortete Jonatan.

»Ich noch eingemießen?«

»Nein danke.«

»Hier, bitteschön, was ist das? Wieder du sagst danke für nix? Warum sagst du? Ich nicht eingemießen, du nicht danke. Und auch nicht bemöse werden auf Freund.«

»Gut, is ja schon gut«, sagte Jonatan, »wer wird denn hier böse? Vielleicht bist du mal ein bißchen ruhig, Bolognesi, und läßt einen in Ruhe die Zeitung lesen?«

Und in seinem Innern fügte er hinzu: nicht nachgeben diesmal, bloß nicht nachgeben. Man kann doch nicht immer endlos verzichten und schweigen. Heute abend. Heute abend noch. Oder allerspätestens morgen abend.

Nachmittags, wenn Jonatan von der Arbeit mit den Traktoren nach Hause zurückkehrte, setzte er den Petroleumofen in Gang, wusch sich Hände und Gesicht und setzte sich in den Sessel, um auf Rimona zu warten, die Beine mit einer braunen Wolldecke gegen die Kälte geschützt. Dann schlug er die Morgenzeitung auf, bei deren Lektüre er von Zeit zu Zeit in erhebliches Staunen geriet: Der syrische Staatspräsident Dr. Nur ad-Din al-Atassi, ein ehemaliger Gynäkologe, und sein Außenminister, der Augenarzt Dr. Yussuf Zu'ein, hatten vor einer großen, frenetisch jubelnden Volksmenge in der Stadt Palmyra gesprochen und dabei aufgerufen, den Staat Israel endgültig von der Landkarte verschwinden zu lassen. Der Augenarzt schwor in seinem und der Versammelten Namen, daß er auch den letzten Blutstropfen nicht schonen werde, denn nur mit Blut könne die Schande abgewaschen werden, und der heilige Pfad zur Morgenröte der Gerechtigkeit setze unweigerlich ein Blutbad voraus. In Haifa wiederum hatte sich ein arabischer Jugendlicher vor Gericht verantworten müssen, weil er in unzüchtiger Weise durch ein Fenster im Stadtteil Hadar-Hakarmel gelugt und einer Frau beim Ausziehen zugeschaut hatte. Zu seiner Verteidigung brachte der Junge in fließendem Hebräisch vor, schon König David habe seinerzeit Batschewa beim Bade erblickt. Der Richter Nakdimon Zlelichin hatte, nach Darstellung des Blattes, sein Vergnügen über das stichhaltige Argument nicht verbergen können und den jungen Araber für diesmal mit einem ernsten Tadel und einer Verwarnung laufenlassen. Versteckt in einer der Innenseiten wurde von einem Versuch im Zürcher Zoo berichtet, bei dem man zur Unzeit Licht und Wärme ins Bärenhaus geleitet hatte, um die Tiefe des Winterschlafs zu testen. Ein Bär war davon aufgewacht und hatte den Verstand verloren.

Doch schon bald ließ Jonatan die Zeitung sinken und nickte im Sessel ein, weil der Regen so stetig und monoton in die Dachrinne tropfte. Jonatan übermannte ein leichter, unruhiger Schlaf, der zuweilen mit mattem Grübeln begann und schließlich in wilde Alpträume überging. Dr. Schillinger, der stotternde Gynäkologe aus Haifa, der Rimonas Frauenleiden behandelt und von einem wiederholten Versuch abgeraten hatte, war ein verschlagener syrischer Agent. Jolek drängte Udi, Jonatan und Etan R., sich freiwillig im Auftrag des Geheimdiensts auf eine gefährliche Reise in ein nordisches Land zu begeben, um die Schlange in ihrem Nest mit einem Beilhieb von hinten zu erledigen, aber alle sechs Kugeln, die Jonatan in seiner Pistole hatte, vermochten die Haut des Opfers nicht zu durchdringen, weil sie nur aus nassen Wollknäulen bestanden, worauf der Mann grinsend seine verstümmelten Zähne fletschte und Jonatan »Ty zboju!« zuzischelte. Da schlug er die Augen auf und sah Rimona vor sich. »Viertel nach vier«, sagte sie, »und es ist fast schon dunkel draußen. Schlaf noch ein bißchen weiter, bis ich geduscht habe und uns Kaffee mache.«

»Ich hab gar nicht geschlafen«, erwiderte er, »sondern bloß darüber nachgedacht, was in der Zeitung steht. Hast du gewußt, daß der Diktator von Syrien auch Frauenarzt ist?«

»Du hast geschlafen, als ich gekommen bin«, sagte Rimona, »und ich hab dich geweckt. Gleich trinken wir Kaffee.«

Sie duschte und wechselte die Kleidung, während das Wasser im Elektrokessel zu sieden begann. Schlank, wohlproportioniert und sauber kam sie aus der Dusche, trug Kaffee und Gebäck auf. Mit ihrem roten Pullover, den blauen Kordhosen und ihren langen blonden, frisch gewaschenen Haaren wirkte Rimona, umgeben von dem leicht bitteren Geruch nach Mandelseife und Shampoo, wie ein schüchternes Schulmädchen. Nun saßen sie sich in den beiden Sesseln gegenüber, und Rundfunkklänge füllten die Stille aus. Danach kam Musik von einer ihrer Schallplatten, eine sinnlich erotische Melodie aus den afrikanischen Urwäldern.

Rimona und Jonatan redeten wenig miteinander, nur das Nötigste, denn für einen Streit gab es keinen Grund, und sonstige Gesprächsthemen hatten sie kaum. Rimona war wie immer in Gedanken versunken. Auch ihre Sitzweise symbolisierte die in sich gekehrte Haltung: die Beine untergeschlagen, die Hände wegen der Kälte tief in den Ärmeln des roten Pullovers - wie ein frierendes kleines Mädchen, allein auf einer winterlichen Parkbank.

»Wenn der Regen einen Moment aufhört, gehe ich raus und hole Petroleum«, sagte sie. »Der Ofen ist fast leer.«

Und Jonatan antwortete, indem er seinen Zigarettenstummel vehement am Rand eines kupfernen Aschenbechers ausdrückte: »Geh nicht raus. Ich werde neues Petroleum holen. Ich hab sowieso noch was mit Schimon zu besprechen.«

»Dann gib mir inzwischen deine Jacke, damit ich die Knöpfe nachnähen kann.«

»Aber du hast dich doch erst vor einer Woche einen ganzen Abend lang mit meiner Jacke abgemüht. Was gibt's denn jetzt schon wieder?«

»Letzte Woche war es deine neue Jacke; jetzt bring mir die alte braune.«

»Tu mir einen Gefallen, Rimona, und laß dieses alte Ding in Frieden. Es platzt schon aus allen Nähten. Entweder muß man's endlich wegwerfen oder dem Italiener schenken. Jeden Morgen macht er mir Kaffee in der Schlosserei und bedankt sich auch noch dafür.«

»Joni, du gibst die braune Jacke nicht weg, ich kann sie ausbessern. Ich brauch sie nur an den Schultern etwas rauszulassen, und schon kannst du sie wieder tragen, damit du's bei der Arbeit warm hast.«

Jonatan schwieg. Er verstreute den Inhalt einer Streichholzschachtel auf dem Tisch, versuchte sich an einer einfachen geometrischen Figur, fegte alles wieder in seine hohle Hand, legte jetzt ein komplizierteres Muster, verwarf auch dieses, schloß einen Moment die Augen und sammelte schließlich alle Streichhölzer fein säuberlich wieder in die Schachtel ein. Dabei sprach er kein Wort. In seinem Inneren schnarrte jedoch eine uralte, gebrochene Stimme, die wie aus trockenen Knochen höhnisch kicherte: So ein Clown. Noch nicht mal einen Stier konnte er treffen, aus einer Entfernung von eineinhalb Metern. Aber ihr Herz, erinnerte Jonatan die einzig mögliche Antwort auf diese grausam schrillenden Worte, aber der beiden Herz war nicht recht.

»Ich werde sie heilmachen«, begann Rimona erneut, »und wenigstens zur Arbeit wirst du sie noch gerne tragen.«

»Sicher«, erwiderte Jonatan sarkastisch, »das wäre mal was Neues. Ich geh im Sportjackett zur Arbeit, vielleicht auch noch mit Schlips und weißem Einstecktuch wie ein Geheimagent im Kino, und mit kurzem Haarschnitt, versteht sich, wie's mein Vater dauernd haben will. Hör mal, Rimona, wie der Wind draußen plötzlich zugenommen hat.«

»Der Wind ist stärker geworden, aber es hat aufgehört zu regnen.«

»Ich geh jetzt mit Schimon reden und Petroleum holen. Man müßte sich auch mal mit Udi zusammensetzen und die Versandrechnungen durchsehen. Was?«

»Nichts, ich hab nichts gesagt, Joni.«

»Gut, auf Wiedersehn.«

»Moment, wart mal. Geh jetzt nicht mit der neuen Jacke. Zieh die alte braune an, und wenn du zurückkommst, werd ich sie weiter flicken.«

»Wenn ich zurückkomm, wirst du gar nichts flicken, denn dann ist sie pudelnaß.«

»Wir haben doch gesagt, daß der Regen aufgehört hat, Joni.«

»Haben wir! Wunderbar, daß wir's gesagt haben. Und was bedeutet das? Bis ich wieder zurück bin, hat's längst wieder angefangen. Da, es geht schon los. Und wie, ein Wolkenbruch.«

»Geh nicht mitten im Regen. Wart's ab. Setz dich inzwischen hin. Ich schenk uns noch eine Tasse Kaffee ein, und wenn du deinem Italiener unbedingt etwas schenken willst, dann gib ihm die Dose Pulverkaffee, die wir nie benutzen werden, weil ich uns lieber richtigen starken Kaffee mache.«

»Hör mal, Rimona, dieser Italiener da. Weißt du, wie er sagt, ›ich gieß dir ein‹? - ›Ich dir eingemießen‹. Und wie er ›Wolkenbruch‹ sagt? – ›Volkenbroch‹. Nein, du hörst nicht zu. Warum? Vielleicht sagst du mir einmal, wie es kommt, daß du nie zuhörst, wenn ich rede, keine Antwort gibst, überhaupt nicht da bist, sondern ganz woanders, weiß der Teufel, wo. Was hat das zu bedeuten?«

»Sei nicht böse, Joni.«

»Jetzt auch du noch. Was habt ihr denn heute bloß? Schon vom frühen Morgen an sagen mir alle, sei nicht böse, reg dich nicht auf, wo ich überhaupt nicht böse bin. Und wenn ich mich nun gerade aufregen möchte, was ist dann? Darf ich's etwa nicht? Ist was dabei? Jeder kümmert sich um mein Seelenheil, fängt den ganzen Tag Debatten mit mir an. Du und Udi und dieser Italiener und mein Vater und Etan R. und alle zusammen. Man wird ja verrückt! Morgens will dieser übergeschnappte Italiener unbedingt meinen Schuh reparieren, und am Abend kommst du mit dieser lumpigen Jacke da, und hinterher wird mein Vater mir wieder Aufgaben zuteilen und meinen Charakter verbessern. Guck doch selber, ich bitte dich. Schau in die heutige Zeitung, da oben steht's, wie diese Syrer in ihren Versammlungen über uns reden, während mein Vater mit ihnen Frieden und Völkerfreundschaft schließen will, eine ganze Verbrüderungsfeier, dabei wollen sie nur eines, nämlich uns abschlachten und unser Blut saufen. Schon wieder träumst du und hörst kein einziges Wort, das ich mit dir rede.«

»Doch, Joni. Was hast du denn, ich bin nicht dein Vater.«

»Du solltest lieber hinhören, was für ein Platschregen jetzt draußen runtergeht. Und du willst mir einreden, es hätte aufgehört zu regnen, und sagst, ich soll dir Petroleum holen. Bitte schön: Geh ans Fenster, du hast doch Augen im Kopf, und schau selbst nach, was draußen los ist.«

Später, als Rimona und Jonatan noch immer einander gegenüber saßen und wortlos den zweiten Kaffee tranken, wurde es draußen noch dunkler, der schwarze Himmel schien die Erde zu berühren, die Baumkronen rauschten, als ginge im Regen eine Axt zwischen ihnen um, und durch den Sturm hörte man das dumpfe Muhen der Kühe, ein zu Tode erschrockenes Klagen, das selbst das Heulen des Windes übertönte. Ohne ersichtlichen Grund tauchte das verlassene arabische Dorf Scheich-Dahr in Jonatans Gedanken auf: wie der strömende Regen in der Nacht die Reste der Lehmhütten zerstörte, Staub zu Staub werden ließ, und wie die Trümmer der niederen Steinhäuser langsam nachgaben. Kein Mensch, ja nicht mal ein winziger Lichtschein war dort, wenn plötzlich ein loser Stein, der bis zu dieser Nacht noch hartnäckig an anderen Steinen festgehalten hatte, in die Tiefe stürzte; zwanzig Jahre hatte er so dagehangen, und nun mußte er endlich aufgeben und rollte in der Dunkelheit zu Boden. Keine Menschenseele ist auf der Anhöhe von Scheich-Dahr in einer Sturmnacht wie dieser, kein streunender Hund verirrt sich dorthin, kein Vogel; nur Menschenmörder wie Bolognesi, wie ich, wie Benjamin Trotzky können dort Unterschlupf finden. Keine lebende Seele gibt es, nur schweigende Finsternis und diese Winterstürme, und das abgeschnittene Minarett der Moschee steht da wie ein krummer Baumstumpf. Ein Mördernest, hat man uns in der Kindheit erzählt, in dem blutdürstige Banden hausten. Endlich können wir beruhigt aufatmen, hieß es, als Scheich-Dahr zerstört war. Nur Ruinen, Dunkelheit und tiefer, klebriger Morast sind jetzt von Scheich-Dahr übriggeblieben, und auf den öden Felshängen gibt es keine Mörder und keine Banden mehr. Das Minarett, von dem aus Scharfschützen in den Kibbuz hineingeschossen hatten, war auf halber Höhe von einem gezielten Granatwerfergeschoß abgerissen worden, das – wie es bei uns heißt – der Oberbefehlshaber der Palmach höchstpersönlich abgefeuert hatte. Auf all das strömt jetzt dieser schwarze Regen hinab.

Als ich noch klein war, bin ich einmal alleine nach Scheich-Dahr gegangen, um nach dem Schatz von Goldmünzen zu suchen, der angeblich unter dem Haus des Scheichs vergraben sein sollte. Ich begann, die grün bemalten Bodenfliesen herauszureißen und darunter immer tiefer zu graben, da ich ja die Geheimstufen suchte, die in das Versteck hinunterführten. Ich grub angstschlotternd wegen des Uhus und der Fledermäuse und der Geister der Toten: wegen all der Dorfältesten aus den Geschichten, die sie uns Kindern erzählt haben, und all der Gespenster, die da nachts umherirren und einem von hinten lauernd ihre knochigen Finger um den Hals schlingen sollten. Aber ich grub weiter und fand doch nichts außer eigenartigem Staub, der wie Asche nach einem Brand aussah, und in diesem Staub steckte ein breites, verfaultes Holzbrett, das ich aushob, und darunter befanden sich alte Deichseln und ein Dreschschlitten und zerbrochene Teile eines Holzpflugs und, noch tiefer dann, schwarzer Staub. Ich wollte nicht aufgeben, sondern schürfte immer weiter, bis mit einem Mal der Abend hereinbrach und ein schrecklicher großer Vogel mich ankrähte, so daß ich alles hinwarf und floh. Ich lief den Abhang hinunter, verfehlte aber in der Dunkelheit die richtige Abzweigung des Wadi und lief nun zwischen den verfallenden Hütten hindurch in die dornenüberwucherten Felder hinaus und weiter zwischen die verlassenen Olivenbäume, deren Früchte schrumplig waren, wie in dem Spruch: »Die Oliven werden schrumplig mit dem Alter«, wie man's andernorts von den Eicheln sagt. Ich rannte bis zu einem ehemaligen Steinbruch, und von ferne heulten die Schakale und plötzlich auch von nahe, und ich war noch ein Junge, und die toten Alten waren blutdürstig, lechzten nach einem Blutbad wie dieser syrische Arzt, und ich war völlig außer Atem – und was hatte ich aus Scheich-Dahr mitgebracht? Nichts hatte ich dort gefunden, außer einem wilden Stechen in der Brust und dieser fürchterlichen Angst und Traurigkeit, die an dir nagt und dich bestürmt, dich noch in diesem Moment aufzumachen und zu gehen, um ein Lebenszeichen hinter dem Ödland zu suchen, hinter dem Regen, der nicht aufhört zu fallen dort draußen in der Dunkelheit und auch morgen nicht aufhören wird und übermorgen auch nicht. Und das ist mein Leben, ein zweites hab ich nicht. Das ist mein Leben, das da unaufhörlich vorüberzieht und mich in diesem Augenblick aufruft, mich aufzumachen und zu gehen, denn wer gibt mir meine Zeit zurück? Und wer zu spät kommt, kommt zu spät.

Jonatan stand auf. Im Dämmerlicht des Zimmers fingerte er mit seiner behaarten, von der Sonne des letzten Sommers noch gebräunten Hand nach dem elektrischen Schalter. Als er ihn endlich gefunden hatte, knipste er das Licht an und blinzelte einen Moment lang in die Birne, wie erschrocken oder verwundert über diesen eigenartigen Zusammenhang zwischen seinem Willen, seinem Finger, dem weißen Knopf an der Wand und dem gelben Licht an der Decke. Dann setzte er sich wieder in den Sessel und sagte zu Rimona: »Du schläfst gleich ein.«

»Ich sticke«, sagte Rimona, »und im Frühling werden wir eine schöne neue Tischdecke haben.«

»Warum hast du das Licht nicht angemacht?«

»Ich sah, daß du in Gedanken versunken warst, und wollte dich nicht stören.«

»Viertel vor fünf«, sagte Jonatan, »und schon muß man Licht machen. Wie in Skandinavien. Wie in der Taiga oder Tundra, die wir in der Schule durchgenommen haben. Erinnerst du dich? An die Taiga, die Tundra?«

»Ist das in Rußland?« fragte Rimona vorsichtig.

»Unsinn«, erwiderte Jonatan. »Das ist um den ganzen Polarkreis herum. In Sibirien, Skandinavien, sogar in Kanada. Hast du in der Wochenendzeitung gelesen, daß die Wale am Aussterben sind?«

»Du hast es mir schon erzählt. Ich hab's nicht gelesen, denn wenn du's mir schilderst, kommt es viel schöner raus.«

»Sieh nur den Ofen«, sagte Jonatan verärgert, »gleich geht er aus. Ob es jetzt regnet oder nicht, ich hol Petroleum, bevor er noch zu rußen anfängt.«

Rimona saß im Sessel, den Rücken sanft gebeugt, und hob die Augen nicht von ihrer Stickerei. Sie sah wie ein eifriges Schulmädchen bei den Hausaufgaben aus: »Nimm wenigstens eine Taschenlampe mit.«

Jonatan nahm die Lampe und ging schweigend hinaus. Nach seiner Rückkehr füllte er den Petroleumbehälter des Ofens auf und wusch sich die Hände mit Seife, aber um seine Fingernägel herum klebten noch immer schwärzliche Maschinenölreste von seiner morgendlichen Arbeit in der Werkstatt.

»Du bist naß geworden«, sagte Rimona sanft.

»Macht nichts«, erwiderte Jonatan, »ist schon gut. Und ich hab die alte braune Jacke angezogen, wie du mir gesagt hast. Mach dir bloß nicht so viel Sorgen um mich.«