Der perfekte Kreis - Benjamin Myers - E-Book
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Der perfekte Kreis E-Book

Benjamin Myers

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Beschreibung

Redbone und Calvert kennen sich seit langem. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten und einander wenig von sich erzählen, fühlen sie von Anfang an eine starke Verbundenheit. Hinter ihnen liegen Jahre der Rastlosigkeit und tiefen Einsamkeit. Eher zufällig entsteht in ihnen die Idee der Kornkreise. Während sie hoffen, dass sie in diesem Sommer den Kreis erschaffen können, kommen sie ihrem Land, seinen Bewohnern und ihren eigenen Träumen näher. Geprägt von demselben Freiheitsdrang und derselben Ablehnung jeglicher Obrigkeit, entstehen in ihnen ein tiefer Respekt für ihre Umwelt und der Wunsch, die beengende Realität des täglichen Daseins hinter sich lassen zu können. Gelingt der perfekte Kornkreis, kann ihnen auch alles andere gelingen.

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Redbone und Calvert kennen sich seit Langem. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten und einander wenig von ihrem früheren Leben erzählen, fühlen sie von Anfang an eine starke Verbundenheit. Zwischen den beiden Männern entsteht über die Jahre eine ungewöhnliche Freundschaft. Hinter ihnen liegen Zeiten der Rastlosigkeit und tiefen Einsamkeit, bestimmt von traumatischen Erlebnissen. Eher zufällig entsteht in ihnen die Idee der Kornkreise. Während sie hoffen, dass sie in diesem Sommer den Kreis erschaffen können, kommen sie ihrem Land und seinen Bewohnern, ihren eigenen Träumen näher, erleben sie sowohl ernüchternde als auch traumgleiche Begegnungen. Geprägt von demselben Freiheitsdrang und derselben Abneigung gegen jegliche Obrigkeit, entstehen in ihnen ein tiefer Respekt für ihre Umwelt und der Wunsch, die beengende Realität des Alltags hinter sich lassen zu können. Gelingt der perfekte Kornkreis, dann kann ihnen auch alles andere gelingen.

© Alex de Palma

Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur mehrere preisgekrönte Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Sein Roman ›Offene See‹ (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide 1955 geboren, haben Anglistik in Düsseldorf studiert. Seither arbeiten sie als Übersetzerteam und haben u.a. Dave Eggers, Tana French, Andre Dubus III., Harper Lee, Jeanette Walls und Zadie Smith ins Deutsche übertragen.

Benjamin Myers

Der perfekte Kreis

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Von Benjamin Myers ist bei DuMont außerdem erschienen:

Offene See

William Blake, Jerusalem

Gedicht aus dem Vorwort zu seinem Werk Milton, heute bekannt als die Hymne Jerusalem. Deutsch von Günter Deike, in: Horst Höhne (Hg.), Ein Ding von Schönheit ist ein Glück auf immer. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1983, S.135

Die englische Originalausgabe erscheint 2022 unter dem Titel ›The Perfect Circle‹ bei Bloomsbury Circus, London.

© Ben Myers, 2021

eBook 2021

© 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ulrike Wasel/Klaus Timmermann

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung: © dlyastokiv/Adobe Stock

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7099-8

www.dumont-buchverlag.de

Für

Mitreisende

Michelle und Elliot Rashman.

Manchmal scheint ein seltsames Licht, reiner als der Mond, das keinen Schatten wirft; es ist der Glanz auf den Gebeinen von Pionieren, die für die Wahrheit starben.

R.S.Thomas

Südengland.

1989.

Es gibt noch immer Felder in England, die so ungeheuer groß sind, dass du eine Stunde oder länger an ihnen entlanggehen oder sie überqueren oder durchqueren kannst und es dir so vorkommt, als hättest du dich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt.

Es gibt Felder, die so ungeheuer groß und entlegen sind, dass du bis zu ihrem Mittelpunkt wandern und schreien und brüllen und lachen und tanzen und noch vieles mehr machen kannst und dich außer den Mäusen und den Krähen niemand hören wird.

Es gibt Felder, die irgendwo im Nirgendwo liegen, Felder, größer als Dörfer. Felder, die Hunderte Menschen ernähren und Lebensraum für Tausende oder gar Millionen von koexistierenden Geschöpfen und Arten bieten, von der winzigsten Zecke bis zum größten Hirsch. Einst durchstreiften Grauwölfe und Braunbären die schrumpfenden Wälder, die an ihren Rändern wachsen, und traten dann zögerlich hinaus auf die offenen Felder, doch das ist vorbei; ihrer bedrohlichen Größe wegen wurden sie schon vor langer Zeit bis zur Ausrottung bejagt.

Und es gibt Felder voller Geschichten, Geschichten, die Jahrhundert für Jahrhundert erzählt wurden, alle übereinandergeschichtet, genau wie die Gebeine derer, die das Land einst pflügten und beackerten und die Ernten einbrachten und einander ihre Geschichten erzählten und jetzt tief in der fruchtbaren Erde eines einzigartigen Friedhofs namens England verfaulen.

In diese Felder greifen die Wurzeln einer Insel hinein. Sie greifen und tasten nach Sinn, nach Erkenntnis. Sie sind Teil der Geschichte, die ohne Ende ist.

Denn die Felder gehören allen gleichermaßen – den Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen.

Und in einer stillen Sommernacht draußen auf den Feldern, wo der Himmel ein umgedrehter Spiegel ist und die jungen Pflanzen ganze Orchester von Geschöpfen bergen, die auf die alles umfassende Unterweisung des Mondes warten, erhebt sich ein leichter Wind, der ein Meer von Platinnadeln zum Flimmern bringt, und seltsame Dinge geschehen.

1.

Der Alton-Kennett-Pfad.

In dieser besonderen Nacht ist der Mond ein Siegelring, in das weiche Wachs auf dem schwarzen Blatt eines düsteren Himmels gedrückt.

Auf dem Siegelring ist ein Gesicht, ein dickes Gesicht, das Gesicht des Mondes, mit den Pausbacken eines Cherubs. Er spitzt seine bleichen Lippen und blickt von hoch oben mit einem rätselhaften Lächeln auf das junge Weizenfeld herab.

Einer der Männer verweilt kurz, um ihn zu betrachten, und versucht, sich an die Namen zu erinnern, die den verschiedenen Maria gegeben wurden – jenen weiten Flächen des Mondes, die wie Meere aussehen, aber in Wahrheit riesige wasserlose Ebenen aus geschmolzenem Gestein sind. Das Meer der Ruhe ist das bekannteste von ihnen. Aber es gibt noch mehr, weit mehr, und gemeinsam bilden sie eine Art Lyrik, denn jedes einzelne beschwört eine starke Emotion herauf, die sich um das Thema tiefer und endloser Trostlosigkeit rankt.

Das Meer der Fruchtbarkeit. Das Meer der Begabung.

Das Meer der Gefahren. Das Nektarmeer.

Er flüstert die Worte gerade so laut, dass sie real werden. Er umhüllt sie mit seiner Zunge, und sie werden in seinem Mund zu Dichtung.

Es gibt natürlich noch andere Merkmale der Mondoberfläche, denkt er, wie zum Beispiel Berge und Täler, Sümpfe und Buchten. Als Junge kannte er viele dieser verschiedenen topografischen Elemente des Mondes mit Namen, und er führte sogar ein Notizbuch, in dem er sie notierte, sobald er einen neuen lernte.

Die Regenbogenbucht. Der Sumpf des Schlafes.

Die Länder der Sterilität.

Der See des Todes.

Er leckt sich über staubtrockene Lippen und murmelt sie jetzt in heiserem Flüsterton vor sich hin.

Es gab auch die Namen der Sternbilder, von denen er nur noch die wichtigsten behalten hat, denn es ist viel Zeit vergangen, und sein Gedächtnis hat sich anderen Dingen gewidmet wie den Namen von Frauen und Songs und bruchstückhaften Bildern von Menschen und Orten und Partys. Neue Erinnerungen haben alte verdrängt. Erinnerungen an lange warme Tage voll endloser Möglichkeiten und an manche schlimme Nacht in einer Zelle eines Polizeireviers, zitternd zusammengerollt und allmählich wieder nüchtern werdend. Sein chaotischer Verstand beschäftigt sich mit Erinnerungen an Vogelgesang und Bilder, die er gemalt hat, und Flüsse, in denen er geschwommen ist; er ist ein Fotoalbum mit verblassenden Aufnahmen von Straßenrändern, an denen er anhielt und die er zu seinem Zuhause machte, und von Wäldern, die er durchwanderte und ebenfalls zu seinem Zuhause machte. Es enthält Bilder von Lagerfeuern und Flaschen mit selbst gebrautem Bier. Von Menschen und Orten, Freunden und Gesichtern. Lange Nächte voller Lachen und flüchtige Erinnerungen an einige Anfälle von etwas, das sich damals wie eine Art Wahnsinn anfühlte und bestimmt auch war.

Als er noch jünger war – bevor er sich selbst besser kannte –, durchlebte er eine Phase, in der er mit einem Cape um die Schultern, auf das ein großer Augapfel gestickt war, durchs Dorf spazierte. Manche seiner Frisuren waren legendär. Diese Gedanken verdrängten die Namen, die er sorgfältig aufschrieb und die in einem alten, längst verlorenen Notizbuch bewahrt werden.

Er erinnert sich auch an die schlechten Dinge: Schlägereien und Liebeskummer, zerschmetterte Flaschen, schwingende Knüppel und ein langer Katalog vermeintlicher Ungerechtigkeiten. Er erinnert sich an das alles. In seiner Kindheit war sein verträumter Verstand ein Elsternest, gefüllt mit glänzendem Zeugs, doch obwohl jüngere Erinnerungen die alten weiterhin überlagern und jeder Tag eine Fülle von Dingen mit sich bringt, die verarbeitet werden wollen, haben die stärksten und bedeutsamsten weiterhin Bestand.

Er heißt Redbone.

Als der andere Mann, der Calvert heißt, den zunehmenden Abstand hinter sich spürt, bleibt er stehen und dreht sich zu seinem Freund um, den er nicht zum ersten Mal in dem hüfthohen jungen Getreide stehen und zum wolkenlosen Firmament hinaufschauen sieht. Er gewährt ihm einen Moment und stößt dann einen kurzen schrillen Pfiff aus, so akkurat ausgeführt, dass er sich wunderbar in den Soundtrack der nahenden Nacht einfügt wie ein Eulenruf oder der markerschütternde Schrei von kopulierenden Füchsen in der Ferne. Er ist eingeübt, ein Geräusch, das dazugehört. Es passt nahtlos in das Puzzlespiel ihres Vorhabens.

Calvert trägt eine Sonnenbrille. Die Gläser sind dunkel wie verglühte Sterne, die jetzt durch unendliche Zeiten und Räume gleiten, Strudel des Nichts.

Ein kurzer weißer Lichtblitz – derselbe Blitz, der einer Explosion voranging, die so jäh und so laut war, dass er sie jetzt, Jahre später, noch immer hört, im Wind und in Sirenen und dem Schlagen von Autotüren und der fröhlichen Musik von Eiswagen, sogar im Lachen unbeschwerter Kinder, die auf unsicheren Beinen die Straße hinunterlaufen – hat ihn lichtscheu gemacht. Die Sonnenbrille verlässt nie sein Gesicht, selbst nachts nicht.

Sie verbirgt die Wahrheit eines Menschen, und auch das ist ihm recht.

Redbone denkt oft, wenn sein Freund die Sonnenbrille abnähme, wäre darunter wohl eine weitere und darunter eine dritte mit aufgemalten Augen.

Und darunter, wer weiß?

Würde man ihn fragen, könnte Calvert antworten, dass er das Leben so sieht und erlebt, wie das vielleicht eine Nacktschnecke, eine Möwe oder ein Schaf tun: schlicht als etwas, das gerade passiert. Das Sein ist einfach da, wie eine Glühbirne oder ein Wolkenbruch, bis es nicht mehr da ist, Erfahrung findet statt, bis sie nicht mehr stattfindet, und die dunkle Tönung seiner Wirklichkeit ist genau das: seine. Es gibt Gründe, warum er so fühlt. Ganz bestimmte Gründe.

Redbone, vom Mond gebannt und in Erinnerungen versunken, scheint durch den Pfiff mit dem Drehen seines ungewaschenen Kopfes ins Leben zurückzukehren, er sieht Calvert und geht dann langsam wieder auf ihn zu. Er bewegt sich ohne Hast; das tut er selten. Er lässt dem Globus gern Zeit, sich unter seinen Füßen zu bewegen und ihm die Arbeit abzunehmen.

Obwohl Calvert, dessen natürliche Gangart in allen Lebensbereichen ein flottes und entschlossenes Marschieren ist, schnell weiter möchte, wartet er auf ihn.

In dem milchigen Mondlicht betrachtet Redbone seinen Freund, während er sich ihm nähert, und sieht die breite Narbe, die sich wie ein freigelegter Knochen an dessen Kieferpartie entlang und dann nach oben zu einem wulstigen Knoten aus Gewebe zieht, um dann hinter einem getönten Brillenglas zu verschwinden, wo sie bis knapp unter sein verborgenes Auge reicht. Heute Nacht scheint sie silbrig zu schimmern, wirkt beinahe kunstvoll und dekorativ, so exotisch und fremdartig wie die Oberfläche des Mondes. Redbone muss an die theatralische Halbmaske denken, die eine Figur in einem Musical trägt, das er nie gesehen hat.

Calvert trägt außerdem einen Bart. Der Klotz aus zottigem Haar, der wie ein Latz herabhängt, ist ein weiteres Hindernis, eine weitere Barriere, eine Hürde, die die Welt überwinden oder über die sie hinwegblicken muss. Sein langer und dichter Bart erweckt den Eindruck, als hätte er ihn sich aus den Requisiten für einen Film geliehen, der von Goldgräbern und Trappern handelt, die Mützen aus den Fellen von im Klondike gefangenen Bibern tragen, und in dem unweigerlich ein Bärenangriff vorkommt.

Der Bart ist ein unbelebtes Objekt an und für sich, eine Redensart, die Redbone schon immer seltsam fand, denn ist nicht alles an und für sich?

Der Bart ist so lang und so dicht, dass Calverts Nase wie ein federloser neugeborener Vogel in einem Nest aussieht, oder vielleicht wie ein schlummernder Penis.

Bart und Sonnenbrille verleihen Calvert das eindrucksvolle und nahezu undurchdringliche Aussehen eines Mannes auf der Suche nach einem Motorrad, das er drei Tage zuvor auf dem Weg zu einem Crystal-Meth-Labor abgestellt hat, der aber beim besten Willen nicht mehr weiß, wo, obwohl ihn dieser Umstand anscheinend nicht sonderlich beunruhigt.

Er hat ein Gesicht, das Poker-Turniere gewinnen könnte.

Redbone hat keine Erinnerung an seinen Freund ohne die Narbe, ohne die Sonnenbrille, ohne den Bart; sie gehören ebenso sehr zu ihm wie die unausgesprochenen Traumata, die nur noch sehr selten aufblitzen, wie das kurze Aufflammen von weißem Licht in der nassen Dunkelheit seiner verborgenen Augen. Denn Calvert ist ein menschlicher Kaktus, stachelig und verschlossen. Er speist sich aus einer tiefen Energiequelle.

Calvert trägt den dicken Pfosten auf einer Schulter und die lange Seilrolle auf der anderen, während Redbone die kurzen Bretter und die ramponierte alte Angeltasche schleppt, die Zeltpflöcke, Stirnlampen, Batterien, Kekse, Äpfel, Wasser enthält.

Als sein Freund fast bei ihm ist, geht Calvert weiter die Spur entlang, die ein Traktor in dem Weizenfeld hinterlassen hat. Die Luft ist noch immer recht kühl, aber wenigstens ist der Boden trocken. Wenn sie sachte auftreten, werden sie keine Fußabdrücke hinterlassen. Das ist wichtig. Sie werden keine Spuren hinterlassen.

Der Winter ist jetzt vergessen, und der Frühling ist da, während der Sommer noch schlafend jenseits der prallen Gegenwart liegt, ein kaltblütiges, echsenhäutiges Tier tief im uralten Staub einer uralten Insel. Bald wird es erwachen.

Während sie den sanften Hang hinuntergehen in Richtung dessen, was sie für den Mittelpunkt dieser großen schrägen Ebene aus Getreide halten, streicht Redbone mit der freien Hand über die Spitzen des Weizens und spürt, wie die halbwüchsigen grünen Borsten seinen spröden Handteller kitzeln. Sie sind so rau wie Rosshaar, so lang wie die Schnurrhaare einer Wildkatze. Er nimmt eine Ähre zwischen Daumen und Zeigefinger und pflückt sie mit einer Drehbewegung. Er spürt die angehende Festigkeit, als er sie in der Hand zermahlt, wobei sein Handteller zugleich als fleischiger Stößel und klebriger Mörser fungiert, doch es lösen sich keine Körner. Die Weizenähre, die geduldig auf lange, ununterbrochene, Leben spendende Sonnentage wartet, ist noch am Anfang der Reifung und hat ihre endgültige Form noch nicht erreicht. Vorerst hungert das Getreide nach Sonne und hat eine ganze Jahreszeit vor sich, genau wie die Menschen. Es ist noch grün, genau wie die Menschen.

Calvert geht schnell und entschlossen. Nach zwei langen dunklen Jahreszeiten der einsamen Planung vor einem Kaminfeuer wirkt er jetzt fokussierter denn je, und er tut sein Bestes, um die vor ihnen liegende Aufgabe nicht durch seine Ungeduld zu gefährden. Es ist ein Charakterzug, dem er beim Militär seinen Erfolg verdankte, der sich aber auch manchmal ungünstig auf seine Fähigkeit als guter Teamplayer auswirkte.

Redbone soll weiterhin mit ihm Schritt halten und hat längst gelernt, dass es sinnlos ist, dagegen aufzubegehren.

Plötzlich bleibt Calvert stehen und hebt eine Hand. Ein militärisches Signal. Zwanzig Schritte hinter ihm bleibt Redbone ebenfalls stehen.

Calvert geht zwischen dem Weizen in die Hocke.

Redbone auch.

Sie warten eine ganze Minute in der tiefen Stille, dann zwei. Aber die Nacht ist nicht vollkommen still – sie ist überhaupt nicht still. Sie lauschen den Geräuschen um sich herum, genau wie sie als Kinder dem Radio in der atemwarmen Dunkelheit unter ihren Bettdecken lauschten. Ganz in der Nähe können sie das Rascheln und Huschen von emsigen Geschöpfen bei der Arbeit ausmachen – hauptsächlich Feldmäuse, obwohl sie wissen, dass auch Igel, Dachse, Kaninchen und Hasen da draußen sind.

Und Füchse natürlich, die jede Nacht herumschleichen, um ein Kaninchen zu reißen oder in den Hühnerstall einer der vielen alten Farmen einzubrechen, die zwischen den Äckern liegen und deren Namen Calvert im Zuge der forensischen Recherchen dieses Winters auswendig gelernt hat. Namen wie Leighton Latimer, Grey Bull Pastures oder das herrlich skurrile Hill End Hill.

Wieder streicht ein leises Lüftchen durch die Weizenähren. Später im Sommer werden sie klingen wie Rasseln, doch vorläufig haben sie noch die Feuchtigkeit in sich, die aus dem Boden durch die Hohlräume im unteren Teil der Halme nach oben steigt, deshalb hören die beiden Männer eine weichere, grünere Brise, die sich durch das tiefe, sprießende Getreide windet. Jede junge grüne Ähre fühlt sich klebrig an.

Irgendwo weit über ihnen ist der Nachhall eines Flugzeugs auf einem Nachtflug zu einem fernen Land, einem anderen Land, einem überseeischen Land zu hören, das seine eigenen Feldfrüchte und Geschöpfe hat, seine eigenen seltsamen Menschen mit ihren eigenen seltsamen Gebräuchen.

Calvert dreht den Kopf zu Redbone, nickt, und dann stehen sie langsam auf. Zwei gekrümmte Finger signalisieren, dass sie weitergehen sollten, also rückt Redbone die Tasche auf seinem Rücken zurecht und packt die kurzen Bretter fester, und dann folgt er seinem Freund, während er erneut leise die Namen der Mondgebiete vor sich hin murmelt, die er in dem wirbelnden Wust von Kindheitserinnerungen längst hinter sich gelassen hat.

Alton Kennett liegt zwanzig Meilen hinter der County-Grenze, fast genau südwestlich des Dorfes, in dem sie beide wohnen.

Vor ein oder zwei Stunden war es noch hell, als Redbone mit seinem VW-Bus vor dem Pub The Feathers hielt, um Calvert abzuholen, wie er das im letzten Sommer und auch im vorletzten Sommer vor jedem Einsatz getan hat. Einsatz ist ein Wort, das Calvert gefällt, weil es Sinn und Zweck und auch ein Element von Heimlichkeit impliziert.

Als er Redbone sah, stand er langsam auf, streckte den Rücken und wackelte erst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein, um den Schmerz der Knochensporen abzuschütteln, die er sich in Kenia durch eine Quetschverletzung bei einem Übungssprung zugezogen hatte, der unklugerweise in einer Absetzzone in großer Höhe und bei drückender Schwüle erfolgt war. An feuchten Tagen im endlosen englischen Herbst spürt er die knotigen Knochenbeulen tief in den Gelenken, doch selbst jetzt, nachdem er eine Zeit lang in der untergehenden Sonne gesessen hatte, meldeten sich die Schmerzen früherer Abenteuer.

Er reckte die Arme, als die Sonne hinter den Hügel sank, auf dem sie als Kinder gespielt hatten.

Auch seine Stimmung sank ein wenig, als er Redbones VW-Bus sah, der hustend das Kriegerdenkmal umkurvte und mit einem unsicheren Ruckeln vor ihm hielt. Der Wagen hat 140000 Meilen auf dem Buckel und besteht aus Teilen unterschiedlicher Autos, die Redbone entweder geschenkt bekommen oder auf Schrottplätzen gefunden hat – ein rostroter Kotflügel hier, ein ungleicher Reifen dort –, sodass der Bus mittlerweile fast schon ein komplett anderes Fahrzeug zu sein scheint. »Wie eine abgetakelte Band, die ständig ihre sterbenden Mitglieder austauscht, aber immer noch unter demselben Namen auf Tour geht«, so hatte Redbone ihn einmal stolz beschrieben. Aber irgendwie trotzt der Bus den Automobilgöttern, indem er nicht nur weiterläuft, obwohl er so viele Meilen unter der Haube hat, sondern Redbone auch häufig ein vorübergehendes Dach über dem Kopf bietet, wann immer er den Drang hat, für ein paar Tage oder Wochen herumzufahren, oder wenn ihn die Frau, mit der er zu der Zeit gerade zusammenwohnt, rausgeworfen hat.

»Der erste im Jahr«, sagte er, als sein Freund einstieg.

Redbones Bemerkung blieb zwischen ihnen hängen wie etwas Greifbares, ein Hindernis.

»Wir fangen mit was Leichtem an«, erwiderte Calvert, der Pragmatischere der beiden.

»Ja.«

»Finden erst mal unseren Rhythmus. Damit wir uns nicht überfordern.«

»Wohl eher, damit wir die Leute nicht überfordern«, sagte Redbone. »Die Öffentlichkeit, meine ich. Die werden nicht wissen, wie ihnen geschieht. Zu viel Schönheit kann schädlich sein.«

»Wir lassen es ruhig angehen.«

Redbone startete den Motor, und sie fuhren hinein in die letzte leuchtend orange Sichel der fast verschwundenen Sonne.

Redbone und Calvert lernten sich vor zehn Jahren kennen, oder vielleicht vor zwanzig oder fünfzig oder sechstausend Jahren, denn Tatsache ist, dass die Einzelheiten der Vergangenheit keinem von beiden besonders wichtig sind. Sie beladen sich nicht den Kopf mit bedeutungsvollen Daten oder nostalgischen Erinnerungen. Diese Art Männer sind sie nicht. Keiner von ihnen ist mit dem Leiden geschlagen, das Sentimentalität genannt wird.

Redbone ist zwar der Fantasievollere der beiden, aber er lässt sich von diesem Charakterzug nicht bestimmen, obgleich er eine Schwäche für Tiere hat; der Gedanke an einen streunenden Hund oder eine verwaiste Ziege oder einen misshandelten Esel bringt ihn schnell aus der Fassung, und er ist bekanntlich schon in hüfttiefe Tümpel gewatet, um Fliegen vor dem Ertrinken zu retten. Calvert hingegen ist trotz seiner äußeren Erscheinung und seines früheren Berufs nicht der kriegerische Typ, um den Passanten einen weiten Bogen machen sollten. Seine leisen Ängste sind zahlreich. Er ist ein stilles Wasser, in dessen dunklen Tiefen seltsame Geschöpfe wohnen.

Aus Gründen, die so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht oder richtig und falsch, ziehen es beide Männer vor, hauptsächlich im gegenwärtigen Augenblick zu leben.

Dass sie sich diesem Punkt aus verschiedenen Richtungen, aber zu einem ähnlichen Zeitpunkt in ihrem ereignisreichen Leben angenähert haben, verbindet die beiden. Und da sie zu der Einsicht gelangt sind, dass das Leben nur eine kurze Phase auf dem hyperbolischen Kontinuum der Zeit ist, dass es andere Leben gegeben hat und dass es abermals andere Leben geben wird, liegen den beiden nur wenige Dinge wirklich am Herzen, aber das Erschaffen von Kornkreisen ist eines davon.

Manchmal fühlt es sich so an, als wäre es das Einzige.

Es ist fast dunkel, als sie gut eine Meile von dem Gebiet ihrer Wahl entfernt parken.

Sie machen sich auf den Weg zu dem Feld, und die tiefe, endlose Weite von Zeit und Raum umfängt sie. Der Südwesten entrollt sich jenseits der Grenzen ihres beengten Gesichtsfeldes, aber das Wissen, dass Tiere und Vögel sich in den Furchen des Bodens verbergen und durch ihre Hände keinen Schaden nehmen werden, tröstet sie.

Abgesehen von der Existenz des Getreides selbst sind hier draußen keinerlei Anzeichen von moderner Zivilisation zu sehen. Es gibt nur die Nacht, den Augenblick und neue Mythologien, die darauf warten, gesponnen zu werden.

»Lampen aus«, sagt Calvert, als sie über einen Zauntritt steigen und durch das erste Feld gehen.

Und jetzt, nach viel Sternguckerei und Saumseligkeit von Redbones und Selbstbeherrschung von Calverts Seite, erreichen die beiden Männer die Stelle, die sie zum Ausgangspunkt ihres ersten Designs der Saison machen wollen, einem Kreis-im-Kreis-Muster, auf beiden Seiten ergänzt um zwei präzise parallele Streifen, bekannt als Pfade.

Sie nennen es den Alton-Kennett-Pfad.

Als sie sich auf einen Punkt geeinigt haben, nehmen sie ihre Seile und schieben sie durch zwei Löcher an beiden Enden der Bretter, die sie über den Boden ziehen werden, um den Weizen flach zu drücken. Sie verwenden das längere Seil als Radiallinie, um den Umfang des Kreises abzuzirkeln. Das macht Calvert, indem er sich von Redbone das Seil um den Torso binden lässt, dicht unter den Achseln. Als das erledigt ist, trinkt Letzterer einen großen Schluck Wasser aus einer verbeulten grünen Feldflasche, leckt sich die Lippen und trinkt noch einen Schluck. Sein Gesicht ist für Calvert nur halb sichtbar, als er sagt:

»Fühlt sich aber gut an, wieder da zu sein, oder? Wieder im Spiel. Zurück auf dem Feld.«

»Oh ja«, sagt Calvert. »Das tut es.«

»Ich glaube, das wird unser Sommer.«

»Glaube ich auch.«

»Ein ruhmreicher Sommer.«

»Solange wir uns an den Kodex halten.«

Der Kodex muss nicht in Erinnerung gerufen werden. Redbone weiß, dass der Kodex ein strenges Regelwerk ist, an das sie sich in den beiden letzten Sommern gehalten haben, seit sie ihr Langzeitprojekt aus Not, Verrücktheit, Angst, Spaß und noch vielem anderen mehr begannen.

Der Kodex umfasst etliche nicht verhandelbare und von beiden akzeptierte Regeln. Dazu zählen: mindestens eine Meile von dem Feld entfernt parken, in dem sie arbeiten wollen; keinen Schauplatz zweimal aufsuchen – auch nicht Tage oder Wochen später; konsequent sämtliche schriftlichen Pläne, Entwürfe oder sonstige Materialien vernichten, die als Beweismittel gegen sie verwendet werden könnten (meist durch Verbrennen in Calverts Holzofen); Kfz-Steuer und -Versicherung für den VW pünktlich bezahlen (als dessen Besitzer ist das Redbones Aufgabe, doch Calvert fragt ihn häufig danach, da er die nachlässige Haltung seines Freundes in den meisten Lebensbereichen kennt, ganz zu schweigen von dessen tiefem Argwohn gegenüber allen Formen von Obrigkeit und Bürokratie); niemals mehr als ein oder zwei Pint Bier vor einem Einsatz trinken (eine Regel, die für den langjährigen Abstinenzler Calvert unnötig ist); niemals irgendetwas mitführen, das versehentlich einen Brand auslösen könnte (Benzin, Streichhölzer, Feuerzeuge und so weiter); niemals absichtlich die Pflanzen oder das Eigentum eines Landbesitzers beschädigen oder vernichten oder den natürlichen Lebensraum eines lebenden Tieres unnötig stören; Gewalt ablehnen und jede Konfrontation weitestmöglich meiden; im Falle einer Festnahme jede Aussage verweigern; niemals öffentlich irgendwelchen bescheuerten Verschwörungstheorien zum Ursprung der Kornkreise widersprechen, damit niemand auf ihr Insiderwissen zu diesem Thema aufmerksam wird; unablässig nach Schönheit streben; und, am allerwichtigsten, niemals einer Menschenseele von ihrem Projekt erzählen. Das ist die allerwichtigste Regel.

»Immer«, sagt Redbone, als Calvert das jetzt wiederholt. »Überall.«

»Weil unsere Kraft in unserer Verschwiegenheit liegt. Unserer Anonymität.«

»Ich weiß.«

»Ohne sie fällt unser Geheimnis in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Und das Geheimnis ist alles.«

»Ich weiß.«

»Auch wenn irgendein bekloppter Verschwörungstheoretiker im Feathers irgendwas von Aliens faselt …«

»Besonders wenn irgendein bekloppter Verschwörungstheoretiker im Feathers irgendwas von Aliens faselt«, wirft Redbone ein. »Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit, ja, aber offenbare nie die Wahrheit.«

Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit ist noch so ein Satz, den Redbone oft wiederholt, weil es sein vorrangiges Lebensziel ist (abgesehen von der etwas nebulösen Vorstellung, »es dem Establishment zu zeigen«, dem er die Schuld am globalen moralischen Niedergang gibt), einen mythischen Status zu erlangen. Das wird ihm, so seine Hoffnung, durch die immer komplizierteren Kornkreise gelingen, die er manchmal in erweiterten Bewusstseinszuständen entwirft und die sie dann gewissenhaft gemeinsam unter Calverts Leitung umsetzen, einem Mann mit langjähriger Kampferfahrung in weit feindlicheren Gefilden als einem sanften Kornfeld in einer linden Sommernacht.

Zu unterschiedlichen Zeitpunkten hat sich das Leben für sie beide angefühlt wie eine Hängebrücke über einem schmalen, bodenlosen Abgrund, an der dünne Seile schon zerfasert und gerissen sind, wie eine Szene im letzten Drittel eines Kinothrillers. Kornkreise sind eine Rettungsleine.

Kurz gesagt, das Leben ist endlich, und Redbone geht es nicht darum, bekannt oder berühmt-berüchtigt zu werden, ihm geht es um das Mythische, und das ist etwas völlig anderes. Das ist wichtig. Er möchte, dass Menschen in kommenden Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ihre nussbraunen Biergläser in holzgetäfelten Pubs auf ihn erheben, dass über seine Werke ehrfurchtsvoll und staunend gesprochen und vielleicht sogar in Büchern geschrieben und in Liedern gesungen wird.

»In die Volksmythologie eingehen und als bewunderter Gesetzloser in der Erinnerung meiner Mitbürger bleiben«, sagte er einmal im ersten Sommer ihrer gemeinsamen Feldarbeit, »gibt es was Besseres?«

»Ausgeschlossen«, entgegnete Calvert prompt. »Unsere Namen dürfen nie bekannt werden. Das ist der Sinn des Ganzen.«

Aus diesem Wortwechsel entstand ihr Verhaltenskodex, stets beschworen und erinnert, aber niemals niedergeschrieben. Und jetzt, mehrere Dutzend Kornkreisformationen später, befasst sich Redbone nicht mehr so sehr damit, den Status eines einheimischen gesetzlosen Volkshelden zu erreichen, sondern hat allmählich die schöne Ironie eines derart unmöglichen Ziels schätzen gelernt: dass sein Name niemals offenbart werden darf, wenigstens nicht zu seinen Lebzeiten, und anders als sein Freund Calvert, der die Heimlichkeit des Ganzen erklärtermaßen genießt, hat Redbone lange gebraucht, um sich damit zu versöhnen. Jetzt, zu Beginn ihres dritten Sommers, akzeptiert er endlich, dass die Kornkreise, die sie gemacht haben und in diesem Sommer machen werden, nur deshalb so viel Kraft entfalten, weil sie Fragen nach dem Wer? und Wie? und vielleicht in sogar noch größerem Maße nach dem Warum? wecken.

Die mangelnde Bekanntheit und die Notwendigkeit kompletter Anonymität hindern Redbone jedoch nicht daran, sich in den stilleren Momenten seiner eigenen fiebrigen Fantasie zu einer mythischen Figur hochzustilisieren, einer folkloristischen Figur, dazu bestimmt, die Köpfe der zugeknöpften Spießer und die verklemmten Normen ordentlich aufzumischen. Und wenngleich seine Motivation die des Spaßvogels ist, der bewusst Verwirrung stiften will, ist sie doch zugleich auch ein ästhetisches Bemühen: Nähre den Mythos, ja. Aber strebe nach Schönheit, immer.

Außerdem bleibt Redbone kaum etwas anderes übrig. Der Schweigekodex, den Calvert durchgesetzt hat, ist inzwischen in seiner Unbedingtheit mafiös geworden, eine Omertà der grünen Hügel und Kreidelandschaften, während sie durch die hüfthohen Weizen-, Hafer- und Gerstenfelder eines Englands waten, das in ihren Köpfen ein Königreich ist, welches gänzlich den träumenden Dissidenten und verwahrlosten Revolutionären gehört und allen Kommenden offensteht. Sämtliche Grenzen und Schranken, ob sichtbar oder nicht, sind nur dazu da, verbrannt zu werden.

Calvert hat seine eigenen Gründe, warum er zu diesen nächtlichen Missionen aufbricht. Obwohl es kaum je zur Sprache kommt, weiß Redbone, dass die langen Einsätze in den Feldern für seinen Freund therapeutisch sind. Sie bieten einem versehrten Geist, der zu viele Dinge gesehen und gehört, geschmeckt und gerochen hat, während er als Schachfigur in den sinnlosen Machtspielen der gewählten Staatschefs dieser Welt eingesetzt wurde, die Möglichkeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Hier draußen ist das Grauen, das er miterlebt hat, zumindest für eine Weile vergessen.

Schönheit um der Schönheit willen und ein Gefühl von Stolz, das sie in ihre heimliche Arbeit einfließen lassen, sind die zwei Punkte, in denen sie übereinstimmen.

Etwas zu erschaffen, das betört und verblüfft, das begeistert und verwirrt – etwas so Fantastisches und Faszinierendes und Unerwartetes –, etwas, das über Nacht auftaucht wie ein Pilz aus der Erde, ein Geschenk an die Menschen, das ist, so finden sie beide, ein radikales und wohltätiges Werk reinster und höchster Güte.

Und aus so reinen Absichten sind Mythen gemacht.

Also machen sie sich ans Werk.

Die zwei Männer treten das Getreide auf eine Art flach, dass nicht ein einziger Halm bricht. Mit festgepflockten Seilen als Orientierung umkreisen sie einen Mittelpunkt und üben auf ihre kurzen Bretter gerade genug Druck aus, um eine Spur zu hinterlassen. Eine schmale Kreislinie schlingt sich langsam um ein unsichtbares Zentrum wie ein kleines Wunder.

Sie sprechen nicht.

Das müssen sie auch nicht, denn sie arbeiten in einer perfekten Symbiose, wortlos, und erfüllen ihre Aufgaben nach einem vorher festgelegten Plan, der, falls er genau eingehalten wird, das gewünschte Ergebnis einbringen wird, genau wie der Farmer seine reiche Ernte einbringt, indem er sich an jahrhundertealte Erfahrungen hält.

Das Muster wächst, und sie müssen ihre Fantasie bemühen, um sich vorstellen zu können, wie es wohl von oben aussieht. Hier unten fühlt es sich grob an, ein bisschen zerfranst, doch vergangene Anstrengungen haben sie eines Besseren belehrt. Hier unten gehen die feinen Details in der endgültigen Größe ihres Designs unter und spielen keine große Rolle. Der Himmel ist ihr Zielpublikum. Das Gesamtbild ist das einzige Bild.

Es ist Redbone, der sich die Formen der Kornkreise ausdenkt – die beiden haben sich längst mit der Unzulänglichkeit dieses Begriffs abgefunden, der inzwischen weltweit als Bezeichnung für Kreationen benutzt wird, die weit mehr sind als nur simple kreisrunde Muster –, doch es ist Calvert, ein Veteran mit Hunderten Fallschirmsprüngen im freien Fall, der besser visualisieren kann, wie sie aus der Luft aussehen. Seiner zehnjährigen Ausbildung verdankt er Konzentrationsfähigkeit, einen sensiblen Sinn für Perspektive und einen buchstäblich erweiterten Horizont.

Wenn Calvert meint, die Linie Redbones sei nicht präzise, was selten vorkommt, legt er seine Bretter hin und geht hinüber, um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen, oder wenn Calvert meint, sein Freund sei zu langsam oder zu laut oder gefährlich abgelenkt, tut er das Gleiche. Ansonsten arbeiten sie allein und doch gemeinsam, pausieren nur, um die Gegend zu überblicken und Wasser zu trinken, was sie jetzt schweigend tun, während Redbone den Hals reckt und wieder mal den Mond anstarrt und Calvert den Plan studiert, der am Morgen verbrannt werden wird.

Der Erste der Saison.

Plötzlich wird ihre Arbeit durch ein Geräusch am äußersten Rand des Feldes jäh gestört. Ein Tor wird klappernd geöffnet, dann ertönt das pneumatische Zischen von Bremsen. Es ist eine extrem unerwünschte Unterbrechung, da es sich gerade so angefühlt hat, als würde die moderne Welt allmählich entschwinden.

Obwohl sie fast hundert Meter voneinander entfernt sind, halten beide Männer sofort inne und kauern sich hin, gehen instinktiv in Deckung, alarmiert wie Tiere. So warten sie eine volle Minute, dann hören sie etwas anderes: Stimmen und ein mechanisches Geräusch. Es ist ein hydraulisches Jaulen, als die Ladefläche eines Lkw angehoben wird, woraufhin irgendetwas rumpelnd ins Rutschen gerät, Dinge, die abgeladen werden. Eine Kakofonie von Haushaltsmüll. Abfall und Schrott.

Das Zeug fällt auf die Erde, zermalmt den Rand des Feldes.

Calvert hebt den Kopf über die grünen Ähren des jungen Weizens. Er sieht die Rücklichter des Lkw rot in der Dunkelheit leuchten wie die Augen einer übergroßen Eule oder Natter im Schein einer Taschenlampe. Ein böses Funkeln. Weiteres Licht aus dem Führerhaus des Lkw wirft einen kleinen Halbkreis vorne um das Fahrzeug, und er sieht mindestens zwei Männer. Sie sind weit weg, doch die nächtliche Stille trägt ihre Stimmen herüber, verstärkt sie, sodass sie den Raum um sie herum beherrschen.

Auch Redbone hebt den Kopf. Er sieht dieselbe Szene und blickt dann in die Richtung, in der er Calvert vermutet, kann ihn aber nicht entdecken. Calvert sorgt sich kurz, sein stets impulsiver Freund könnte seinen Protest äußern, wie er selbst das gern tun würde.

Aber er weiß, dass sie sich das verkneifen müssen, denn dadurch würden sie sich verraten, und das könnte ihr ganzes Projekt gefährden – nicht bloß die Arbeit dieser Nacht, sondern die Arbeit des ganzen Sommers, der vor ihnen liegt, und aller Sommer, die noch kommen werden.

Stattdessen bleiben sie in Kauerstellung und beobachten.

Beobachten und warten.

Warten mit wachsendem Zorn.

Der Lkw fährt wieder davon, und sie sehen die roten Lichter entschwinden. Erst dann stehen sie auf und gehen an das Ende des Feldes. Sie fallen dabei in einen eiligen Laufschritt, bis sie etwa gleichzeitig bei dem abgekippten Müll ankommen. Sie nehmen den Haufen genauer in Augenschein und sehen einen Gefrierschrank, Schreibtischstühle, Einkaufstaschen mit unbekanntem Inhalt, VHS-Kassetten mit Zeichentrickfilmen, alte Schuhe, ein klumpiges Plumeau, leere Plastikkisten, dreckige Windeln, eine kaputte Lampe, zahlreiche grüne Bierflaschen – mehrere Dutzend davon –, ein paar Stücke Dachpappe, eine große Teppichrolle, Kohlensäurekartuschen von SodaStream, etliche Hundert zerbrochene Ziegelsteine, an denen noch Zementbrocken haften, ein Paar Rollschuhe, ein Abflussrohr, einen matschigen Stapel regennasser Zeitschriften und eine rosa Gartenrutsche aus Plastik. Im Mondlicht hat der illegal abgeladene Müll etwas ungemein Eindringliches, nahezu Groteskes und Unwirkliches an sich. Es ist ein kleiner Berg, ein Totem der Konsumgesellschaft, des modernen Lebensstils und uneingeschränkter Verfügbarkeit.

»Schweine«, sagt Calvert.

»Nichts davon wird sich zersetzen«, antwortet Redbone mit von Schwermut durchtränkter Stimme.

»Schweine.«

»Absolut nichts davon.«

Sie verpassen dem Müll einen Tritt. Sie stupsen ihn mit den Schuhen an, schütteln den Kopf und sagen wenig.

»Wie können Menschen so was machen?«, sagt Redbone. »Einiges von dem Zeug liegt in hundert Jahren noch hier, wenn es nicht weggeschafft wird.«

Calvert antwortet nicht sofort, dann sagt er leise: »Am liebsten würde ich ihnen die Hände abhacken.«

»Noch dazu auf unserem Feld, Ivan«, sagt Redbone. »Auf unserer Leinwand. Die haben nicht mal das Tor hinter sich wieder zugemacht. Wir sollten ein bisschen rumstöbern. Vielleicht sind da Rechnungen drin oder Quittungen, mit denen sich die Müllsünder identifizieren lassen. Belastende Briefe. Wir sollten ein bisschen rumstöbern. Mal sehen, was wir finden.«

Calvert schüttelt den Kopf.

»Das können wir nicht riskieren.«

Sie stehen da und sagen nichts, weil es nichts zu sagen gibt, das so beredt wäre wie ihr anhaltendes, mit knappem wütenden Zungenschnalzen und tiefen resignierten Seufzern durchsetztes Schweigen.

Schließlich sagt Redbone doch etwas.

»Was meinst du, wie lange wir noch brauchen, bis wir fertig sind?«

Calvert kratzt sich am Kinn.

»Ich weiß nicht. Eine Stunde, höchstens?«

»Dann sollten wir’s zu Ende bringen.«