Der Polizist - Kaspar Eduard Schech - E-Book

Der Polizist E-Book

Kaspar Eduard Schech

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Beschreibung

Der Krieg zieht einfach weiter. Als Josef W. und Andreas B. einander im Münchner Straßenkampf als Polizist und Demonstrant gegenüberstehen, können Sie nicht ahnen, dass sie etwas verbindet. Gemeinsam wird ihnen am Ende das Scheitern ihrer Lebensentwürfe sein, still und unauffällig bei dem einen, mit maximaler medialer Aufmerksamkeit bei dem anderen. Der Autor stellt persönliche Erinnerungen an Lebensläufe, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, in einen historischen Kontext, der mitten in die bewegte Zeit der 60er und 70er Jahre führt, als die Bundesrepublik geprägt war von Studentenunruhen und dem Terror der RAF.

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»Geschichte ist die Lüge,

auf die man sich geeinigt hat«

(Voltaire)

Der Inhalt

Vorwort

1933 – Umwälzungen

23. August 1933 – Josef

Maria

6. Mai 1943 – Andreas

Die 1950er Jahre

Josef, der Maler

Anfang der 1960er Jahre

Andreas

Marias Arbeit

Maria und Josef zu Hause

Josef und sein Vorgesetzter

1962 – Schwabinger Nächte

1964 – Zwei Jahre später

1967/68 – Berlin

»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.«

1971 – Andreas in der Kleinstadt

1972 – München

1973 – Jeanne-Aimée

1977 – Herbst

Fast zur gleichen Zeit

Nach dem Ende

Vorwort

Es geht in diesem persönlichen Text um – fast immer sinnlose – Gewalt, von der ein Mensch oft unwillentlich erfasst wird, bei der er aber nie sicher sein kann, auf der richtigen Seite des Konfliktes zu stehen. Die Welt ist eben nicht schwarz oder weiß, gut oder böse.

Anlass waren meine Erinnerungen aus den frühen 1960er Jahren an einen Cousin meines Vaters, Josef, und dessen Frau Maria, die ich beide als Kind persönlich kennengelernt habe. Auf ihrer Lebensgeschichte basiert dieser Text, von mir in künstlerischer Freiheit um ein paar Einzelheiten erweitert und in Beziehung gebracht zum Zeitgeist, der wiederum zu bestimmten Handlungen geführt hat. Dabei spannt sich der Bogen dieser Erzählung vom Ende des Ersten Weltkrieges über die Zeit der »Schwabinger Krawalle« (1962) in München bis zu den 68er Studentendemonstrationen, die später als Ursprung des linken Terrorismus (»Baader-Meinhof-Gruppe«) in Deutschland interpretiert wurden.

Zur Erklärung historischer Zusammenhänge, auf die im Text Bezug genommen wird und die zum Verständnis von Bedeutung sein könnten, ist dem Text am Ende ein Glossar beigefügt und wird an den relevanten Stellen darauf verwiesen.

1933 – Umwälzungen

Das Jahr 1933, in dem Josef geboren wird, ist in Deutschland geprägt durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Sie führen ein Einparteiensystem ein und beginnen mit dem Terror gegen Juden, Minderheiten und Andersdenkende und der Errichtung von Straflagern; das erste dieser Lager wird in Dachau nahe München angelegt. Wirtschaftlich ist die Zeit überschattet von der seit 1929 andauernden Weltwirtschaftskrise.

In den USA werden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgelegt; weite Gebiete des mittleren Westens sind durch falsche Bewirtschaftung zu unbestellbarer Steppenlandschaft verkommen (dust bowl) und arbeitslose Feldarbeiter ziehen durch das Land. In diesem Jahr endet in den Vereinigten Staaten auch die alkoholfreie Prohibitionszeit. In München kostet eine Maß Bier inzwischen 0,39 Mark.

Zur gleichen Zeit sterben in der Sowjetunion Millionen in einer Hungersnot (»Holodomor«), die aus der angeordneten Zwangskollektivierung landwirtschaftlicher Flächen resultiert. Stalin regiert mit größter Härte.

Andere Ursachen – gleiche Folgen: Hunger!

Was noch? Fortuna Düsseldorf wird Deutscher Fußballmeister.

23. August 1933 – Josef

J osefs Vater, der vor dem Kreißsaal warten musste, war von Glück erfüllt, denn Mutter und Sohn waren gesund und die Geburt war problemlos verlaufen:

»Es ist ein Junge! Endlich ein Junge!« Der Junge, der bald auf den Namen Josef getauft wurde, sollte eine sichere Zukunft haben, und noch sieht alles danach aus.

Der Vater betrieb in der Münchener Innenstadt eine Akzidenzdruckerei, die der Familie ein wirtschaftlich gesichertes Leben zu garantieren schien. Er druckte Plakate für Litfaßsäulen, politische und religiöse Pamphlete und schöngeistige Bücher. In erster Linie brachte der Farbdruck von Grafiken und kitschigen Postkartenmotiven mit bayrischen Königsschlössern und Alpenpanoramen einen lebhaften Umsatz. Er sorgte sich nicht um den Inhalt seiner Druckprodukte, Hauptsache, das Geschäft lief rund. Die Bestellungen von religiösen Texten aus der nahen jüdischen Gemeinde brachten einen weiteren zuverlässigen Einkommensstrom mit sich, der im November des Jahres 1938 jählings abriss.

Der junge Josef, ein stiller und introvertierter Knabe mit dem Körperbau eines Riesen, begeisterte sich früh für Grafik und Malerei. Erste Impulse für seine kindlichen Bilder fand er in den Postkartenmotiven im Laden seines Vaters. Es war Josefs Lebenswunsch, Kunst zu studieren und Maler zu werden. Aber sein Vater drängte ihn, eine andere Berufsrichtung einzuschlagen. Er hatte selbst erlebt, dass Kunst von heute auf morgen aus politischen Gründen als entartet1 verworfen wurde. Die Nazis urteilten jetzt, welche Werke erhaltenswert waren und welche nicht. Malerei, befand Josefs Vater, sei nicht beständig genug, um einen Mann oder gar eine ganze Familie zu ernähren. Er solle lieber in die Polizeischule eintreten, um sein Leben von Anfang an auf einem krisenfesten Beruf aufzubauen. Davon erwartete sein Vater sich den Beamtenstatus für seinen Sohn, ein sicheres Einkommen und den Respekt der Nachbarn.

Der Wunsch des Vaters war verständlich. Er hatte den Ersten Weltkrieg und danach die kurze, aber wirre Revolution der Räterepublik2 in München überstanden. Dabei hatte er gelernt neutral zu bleiben, um durchzukommen und seine Haut zu retten. Er zeigte keine Sympathie für Liebknechts revolutionären Spartakus, was sich im Rückblick als der richtige Standpunkt erwies, da die Republik der Räte nicht einmal ein halbes Jahr währte. In gleicher Weise verbarg er seine klammheimliche Sympathie für die Hitzköpfe von farbentragenden Studenten und Etappenoffizieren der Freikorps und deren blutige Schlägertrupps, die so laut vorgaben, für ihr Vaterland zu kämpfen. Wieder einmal.

Maria

Marias Heimat war das südöstliche Oberbayern, wo die Landkreise Altötting und Mühldorf im Bible belt darangingen, sich vom Bauernland zu einer Industrieregion zu entwickeln. Maria, nur wenige Jahre jünger als Josef – das genaue Geburtsdatum ist mir nicht bekannt – verbrachte ihre Kindheit auf einem Bauernhof, auf dem die Versorgungsschwierigkeiten und Hungerzeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit nur wenig zu spüren waren. Im Gegenteil, das Mädchen Maria beobachtete mit amüsiertem Staunen, wie die besseren Leute aus München seidene Schals, Taschenuhren oder einen Löffel aus dem Familiensilber gegen ein Säckchen Kartoffeln, Speck oder frische Hühnereier eintauschten.

Die Suche nach Arbeit und später die Heirat mit Josef, dem Polizisten, den sie durch Vermittlung von Freunden kennengelernt hatte, würde sie in die Hauptstadt des Freistaates führen. Aber bis dahin dauerte es noch.

6. Mai 1943 – Andreas

Die Nacht zum 6. Mai, einem Donnerstag, blieb niemandem in Erinnerung, es gab Wichtigeres im Krieg. Draußen nieselte Regen aus Frühlingswolken, Bomben waren vor Wochen jetzt auch noch auf Berlin gefallen. Die staatliche Propagandamaschine, die im Februar noch vom »totalen Krieg« getönt hatte, musste nun alle Fantasie aufwenden, um die Heeresberichte von der Ostfront schönzuschreiben, nachdem im Kessel von Stalingrad zehntausende Soldaten umgekommen oder in Gefangenschaft geraten waren.

In Thüringen, wo Anneliese Baader in Geburtswehen lag, herrschte derweil gespannte Ruhe. Die brennenden Städte und der Krieg waren weit weg. Das Kind zwängte sich in die Nacht, in die Welt der verdunkelten Fenster und Luftsirenen, wurde empfangen, gewickelt und auf seine Zukunft vorbereitet:

»Kleiner, du bist willkommen, aber du kommst zu einer unpassenden Zeit«, murmelte die Hebamme vor sich hin, während sie die Papiere ausfüllte:

2:50 Uhr, Lebendgeburt, männlich, Untergewicht, ansonsten gesund.

Es wurde nicht besser. Berndt Andreas, so wurde der Junge in das Geburtenregister eingetragen, sah seinen Vater nie. Man sagte ihm, sein Vater würde seit den Kriegszeiten von bösen Menschen irgendwo weit im Osten festgehalten, in Sibirien, wo es noch kälter ist als in Thüringen.

Zu Beginn seiner Schulzeit zog Andreas mit seiner Mutter, ihrer Schwester und der Großmutter nach München, wo das Leben ebenso mühselig war. Die Stadt lag in Trümmern, und die drei Frauen logierten zusammen mit dem kleinen Andreas in einer winzigen Wohnung, die im Winter kalt und im Sommer zu heiß war und in der sie sich die Badewanne mit zwei anderen Mietparteien teilten – wenn genug Wasser aus dem Hahn kam. Das Leben war für alle schwer. Überall wurden Familien, meist bestehend aus Frauen und Kindern, aus den zerbombten Städten im Ruhrgebiet von der Volkswohlfahrt in anderen Regionen einquartiert. Wohnraum war knapp, Privatleben in der eigenen Wohnung fand selten statt.

Andreas war der Schulrabauke3, flog vom Gymnasium und hatte kein Interesse, einen Beruf zu erlernen. Sein Onkel Michael bemühte sich in der freien Zeit, die er als unterbeschäftigter Tänzer und Schauspieler hatte – Theater waren in der Aufbauzeit nicht wichtig –, um den jungen Burschen. Sie malten und töpferten zusammen, aber der Junge war mehr von schnellen Autos begeistert, die er ohne Führerschein manchmal durch München steuerte.

Die 1950er Jahre

Der Krieg ist endlich vorbei. Verloren oder gewonnen, das kümmert kaum einen Menschen in Deutschland. Die Massen sind froh, dass »es« vorüber ist und der Alltag nicht mehr aus Kampf und Bomben besteht. Man wendet sich wieder dem Leben zu, besserem Essen, geregeltem Urlaub, ersten Reisen, und blickt zuversichtlich in die Zukunft, wie die Anzahl der neugeborenen Babys, die Generation der sogenannten Babyboomer bezeugt. Familienplanung4 ist ein neues Thema.

Alle sind lieb und alles wird jetzt gut?

Manchmal scheint es tatsächlich so: Indien wird in die Unabhängigkeit entlassen, nachdem das Land seine Freiheit mit Truppen, die für die britische Kolonialmacht starben, erkauft hat. Niederländisch-Indien erklärt noch schnell seine Unabhängigkeit, bevor die Holländer zurückkommen können, und nennt sich Indonesien. Zusammen mit Ägypten und Indien gründen sie die »Bewegung der Blockfreien Staaten«, ein Bündnis neutraler Nationalstaaten, die sich für den Weltfrieden einsetzen wollen, dabei aber auch West- und Ostblock geschickt gegeneinander ausspielen. Nicht verwunderlich, dass der lange Arm der Vereinigten Staaten, die CIA, dieses Vorhaben gleich bei der Gründung5 mit einem Bombenanschlag sabotiert. Die Explosion an Bord eines Charterfluges der Air India von Bombay über Hongkong nach Jakarta fordert 16 Menschenleben (für den Frieden?), verfehlt aber den chinesischen Premierminister Zhou Enlai, dem der Anschlag eigentlich gegolten hat.

Dekolonisierung ist du jour, die zarte Pflanze der Hoffnung auf eine neue, bessere Ordnung der Welt wird aus ihrem Glashaus geholt und in das helle Sonnenlicht des Tages gestellt.

Oder doch nicht? Ist der Krieg nur weitergezogen?

Kolonien in Afrika und Asien werden in die Unabhängigkeit entlassen, andere kämpfen noch für ihre Selbstbestimmung. Ausgerechnet die Kommunisten, von denen gesagt wurde, dass sie allesamt böse seien, sind überall in der Welt, insbesondere in den befreiten Kolonien, auf dem Vormarsch. Man sorgt sich.

In Asien machen sich die alten Kolonialmächte und die Sieger des Krieges daran, nach dem Abzug der japanischen Besatzung die Reste ihrer Kolonien zusammenzuklauben, um – wie sie hoffen – da weiterzumachen, wo sie ihre Besitztümer verlassen hatten.

In Korea versuchen die Amerikaner, den Zweiten Weltkrieg noch einmal zu gewinnen, und nutzen die Gelegenheit zur Generalabrechnung mit China, wo Mao gerade sein kommunistisches Reich aufbaut und die Menschen hungern. Auf der koreanischen Halbinsel treffen die großen Puppenspieler der Vergangenheit wieder in Stellvertreterkriegen aufeinander. Dabei werden die sieggewohnten amerikanischen Truppen von russischen Migs und chinesischen Fußsoldaten blutig in die Zange genommen und beinahe ins Meer getrieben und aufgerieben.

Wie konnte es dazu kommen?

Korea war im Krieg von Japan besetzt gewesen, und auf der Konferenz der drei alliierten Siegermächte im Juli 1945 in Potsdam – der Krieg auf der pazifischen Seite der Welt war noch nicht zu Ende, die Atombomben auf Japan noch nicht gefallen – versprachen die Vertreter Großbritanniens und der Vereinigten Staaten der Sowjetunion unter Josef Stalin, er möge sich doch an den ehemaligen japanischen Kolonien bedienen – als Gegenleistung für seine Hilfe im Westen gegen Nazideutschland. Schon Mitte August – Japan hatte seine Kapitulation noch nicht unterzeichnet – landeten Truppen der Roten Armee in Korea und paradierten wenig später durch Pyongyang.

Die USA zeigten sich von den Ereignissen überrascht und wollten sich ihrerseits einen Teil der japanischen Kriegsbeute sichern. Sie schickten Truppen nach Korea. Ein paar amerikanische Militärs in Washington fanden, dass eine Halbierung des Landes ganz angemessen wäre, und definierten anhand einer Schulatlaskarte den 38ten Breitengrad als Grenze – ein Bleistiftstrich auf geduldigem Papier. Niemand fragte die Koreaner oder versprach wenigstens ein späteres Referendum.

Jetzt stehen sich West und Ost auf der Halbinsel militärisch und wirtschaftlich an der 38-Grad-Grenze gegenüber und versuchen, in ihren Gebieten dem verarmten und ausgeplünderten Land mit Wirtschaftshilfe, aber auch roher Gewalt ihre Weltanschauung beizubringen. Zuckerbrot und Peitsche. Es entwickelt sich das bekannte postkoloniale Gemenge von Korruption, gefälschten Wahlen, Drohung mit Krieg und immer lauter tönender Agitation und Stimmungsmache. Schließlich greift das kommunistische Nordkorea mit russischen Panzern den Süden an und versucht – Stalin, der tumbe Bauer, hatte von Hitler gelernt – den Angriff als Verteidigung darzustellen. Wie zu erwarten, folgt der amerikanische Gegenangriff. Ein neuer Krieg, hin und her, Geländegewinn und Verlust, Seoul wird viermal erobert. Grobe militärische Fehleinschätzungen, immer wieder Leiden, Grausamkeiten und noch mehr Tote.

Der Kalte Krieg beherrscht die Welt. Ost gegen West. Gut gegen Böse? Geteilte Länder. Gedroht wird mit Atombomben – auf Moskau und Washington, aber auch auf Havanna, Pyongyang und Fulda. Für die Regierungen werden Bunker gebaut, der kleine Mann darf einen Regierungszuschuss für seinen Schutzraum im eigenen Garten unter dem Rosenbeet beantragen; für die ganze Familie, nein, die Nachbarn kommen nicht mit rein. Panzer fahren in Berlin auf, 1953 und noch einmal 1961 und dann 1968 in Prag, wo Alexander Dubček im Sommer des Jahres etwas mehr Demokratie wagen wollte.