Der Ritt über den Bodensee - Peter Handke - E-Book

Der Ritt über den Bodensee E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Der Ritt über den Bodensee, obwohl ein Stück gegen das Theater, zumindest gegen seine herkömmlichen Formen, trägt dennoch höchst theatralische Züge. Es enthält eine Vielzahl minuziöser Beschreibungen, Beschreibungen von Vorgängen auch aus der Theaterwelt.

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Peter Handke

Der Ritt über den Bodensee

Suhrkamp Verlag

»Träumt Ihr oder redet Ihr?«

EINE FRAU MIT WEISSEM KOPFTUCHEMIL JANNINGSHEINRICH GEORGEELISABETH BERGNERERICH VON STROHEIMHENNY PORTENALICE UND ELLEN KESSLEREINE PUPPE

Für die Lektüre, unter anderm, um Rollentitel wie »Schauspieler A«, »Schauspieler B«, »Schauspielerin C« usw. zu vermeiden, sind die Personen mit bekannten Schauspielernamen bezeichnet.

Für die Aufführung des Stücks sollten die Personen des Stücks nur mit dem jeweiligen Namen der Schauspieler benannt werden: die Personen sind zugleich ihre Darsteller.

Die Bühne ist groß. Sie zeigt einen Teil eines noch größeren Raums. Der Hintergrund wird durch die Hinterwand dieses Raums gebildet; sie ist mit braungrünen, in sich gemusterten Tapeten verkleidet. An der Hinterwand entlang führen von links und rechts zwei Arme einer Treppe herab, die sich in der Mitte der Wand zu einem einzigen breiten Arm treffen, welcher in einigen Stufen nach vorn in den Raum hinein führt; Personen, die auf der Treppe gehen, zeigen sich den Zuschauern also zuerst im Profil, dann von vorn. Unter den beiden Treppenarmen befinden sich links und rechts in der Wand, fast unsichtbar, zwei TAPETENTÜREN. Die Treppe wird begrenzt von einem fein geschwungenen, schmalen Geländer. Der Boden des Raums wird bedeckt durch einen unauffälligen Teppich, der zu der Farbe der Tapeten paßt. Die Treppenstufen herab führt ein weinroter Läufer.

Was von der Einrichtung des Raums sichtbar ist, ist zum großen Teil verhüllt mit Schonbezügen; die Schonbezüge sind SEHR WEISS. In der Mitte des Raums, freilich nicht genau in der Mitte, fast schon im Vordergrund der Bühne, steht ein großer dunkler Tisch, zum Teil mit einem Spitzentischtuch bedeckt; darauf Aschenbecher, eine Zigarrenkiste, eine Tee- oder Kaffeekanne unter einer bestickten Warmhaltehaube, eine längliche, ebenfalls bestickte Bestecktasche, zwei Leuchter, auf die Schutzüberzüge gestülpt sind. Rechts und links vom Tisch und hinter dem Tisch stehen drei Fauteuils, über die weiße Schonbezüge gebreitet sind; daneben und dahinter ein Sessel und ein Stuhl; über allem die weißen Schonbezüge. Vor einem der Fauteuils steht ein ebensohoher, ebenso gepolsterter Schemel, der als Fußauflage dienen kann; vor dem zweiten Fauteuil steht ein kleinerer Fußschemel; der dritte Fauteuil steht allein.

Rechts vom Tisch, schon einige Schritte entfernt, steht, unverhüllt, ein Getränkewagen, auf dem einige Flaschen stehen, deren Form den jeweiligen Inhalt anzeigt.

Links vom Tisch, einige Schritte entfernt, steht, ebenfalls unverhüllt, ein Zeitungstisch mit einigen dicken, zum Teil gebundenen Zeitschriften; obenauf ein Plattenspieler; eine Platte liegt darauf.

Wenn man weiter nach links und nach rechts schaut, hinter Zeitungstisch einerseits, Getränketisch andrerseits, sieht man zwei Sofas stehen, ebenfalls von weißen Schonbezügen verdeckt. Links vom linken Sofa steht, unverhüllt, eine braun gebeizte Kommode mit mehreren Fächern; darauf eine kleine Statue, über die ein weißer Papiersack gestülpt ist. Rechts am rechten Sofa lehnt eine Gitarre, die in einem ähnlich wie die Warmhaltehaube bestickten Sack steckt.

Unter den beiden Treppenarmen hängen an der Wand zwei Bilder; sie sind hinter weißen Tüchern versteckt.

Im Vordergrund der Bühne, ganz rechts, auf der Höhe des Tisches, steht eine spanische Wand, wie man sie sonst vor Betten aufstellt; sie ist klein, hat drei Flügel. Zwei ihrer Flügel sind ein wenig zusammengeschoben, der dritte Flügel schaut in den Zuschauerraum. Die Wand ist ebenfalls in sich gemustert, in der gleichen Farbe wie die Tapetenwand im Hintergrund.

Alle Gegenstände stehen so sehr auf ihrem Platz, daß es schwer vorstellbar ist, sie woanders stehen zu sehen; sie könnten es nicht einmal ertragen, auch nur ein bißchen verrückt zu werden. Alles ist wie eingerastet, nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Abstände und Zwischenräume.

Das Licht ist ein Morgenlicht.

Als der Vorhang aufgegangen ist, hat er links und rechts an den Bühnenportalen zwei Portieren freigegeben, wie Portieren zu einem Chambre séparée.

Eine Frau, deren Haare unter ein weißes Kopftuch gebunden sind, bewegt sich mit einem großen Staubsauger schnell, aber nicht hastig zwischen den Gegenständen. Das Gesicht der Frau ist schwarz übermalt. Der Staubsauger, der mit der ersten Bewegung des aufgehenden Vorhangs eingeschaltet wurde, ist ziemlich gleichmäßig laut.

Am Tisch, in dem Fauteuil, die Beine auf dem dazugehörigen gepolsterten Schemel, sitzt mit geschlossenen Augen EMIL JANNINGS. Er ist ziemlich dick. Seine Stiefel stehen neben dem Schemel. Er trägt rote Seidensocken, eine schwarze Hose, ein helles Hemd, das am Kragen offen ist. Er sieht kostümiert aus, obwohl nur Anzeichen eines Kostüms zu sehen sind: ziemlich lange Rüschen an den Ärmeln des Seidenhemds, eine weinrote Seidenschärpe um den Bauch.

Er ist stark geschminkt, die Augenbrauen sind nachgezogen. An der rechten Hand, deren Nägel schwarz lackiert sind, trägt er mehrere große Ringe.

Seit dem Aufgehen des Vorhangs hat er sich nicht bewegt, und die Frau ist auch schon fast fertig mit ihrer Arbeit. Während sie jetzt noch mit einer Hand den Staubsauger neben dem Zeitungstisch hin und her bewegt, schaltet sie nebenbei mit der andern Hand den Plattenspieler ein.

Man hört aber nichts als kleine Geräusche, der Staubsauger ist zu laut.

Sie geht mit ihm auf die hintere Wand zu, schaltet ihn jetzt ab, so daß die Musik hörbar wird: »The Garden Is Open« von T. Kupferberg.

Sie zieht die Schnur aus dem Stecker, wickelt sie auf den Apparat und stellt ihn hinter die Tapetentür.

Während nun die Platte weiterspielt, geht sie von Gegenstand zu Gegenstand und zieht die Schonbezüge ab; nur die Schutzbezüge über den Bildern und der Statue läßt sie dort.

Obwohl sie sich langsam bewegt, arbeitet sie schnell. Zuletzt, so daß man es kaum sieht, zieht sie mit einer einzigen leichten Bewegung den Schonbezug unter Emil Jannings weg und geht, während die Platte immer noch läuft, links ab.

Dann bewegt sich eine Zeitlang nichts auf der Bühne, nur die Platte dreht sich.

Der Plattenspieler schaltet sich aus, und nach einem Augenblick öffnet Emil Jannings langsam die Augen.

Mit brüchiger Stimme sagt er: »Wie gesagt ‒«

Er räuspert sich einmal und wiederholt mit fester Stimme:

»Wie gesagt.« Pause. »Ein schlimmer Moment.«

Jemand hinter dem Wandschirm mit brüchiger Stimme: »Warum?« Er räuspert sich zweimal, tritt beim zweiten Mal hinter dem Wandschirm hervor, wiederholt dann mit fester Stimme: »Warum?«

Es ist HEINRICH GEORGE, ziemlich dick, ebenfalls andeutungsweise kostümiert, mit bortenbesetzter Jacke und Schnürschuhen.

Er steht da.

»Schon vorbei«, sagt Emil Jannings, der den Kopf ein wenig abgewendet hat.

Heinrich George macht einen Schritt auf Emil Jannings zu und knickt ein.

»Der Fuß ist mir eingeschlafen«, sagt er, während er sich langsam wieder aufrichtet.

Emil Jannings greift nach der Zigarrenkiste. Er hebt sie auf, kann sie aber nicht halten, so daß sie zu Boden fällt.

»Und mir die Hand.«

Heinrich George geht vorsichtig auf Jannings zu, bleibt neben ihm stehen.

Beide werfen einander einen ersten Blick zu, schauen dann wieder weg.

George lehnt sich an die Tischkante, setzt sich jetzt darauf.

Die Zigarrenkiste liegt zwischen beiden auf dem Boden. Beide schauen sie an.

Jannings wendet den Kopf zu George.

George rutscht wieder vom Tisch.

Jannings zeigt auf die Zigarrenkiste.

George mißversteht die Geste und schaut, als ob es an der Zigarrenkiste etwas zu sehen gäbe.

Jannings geht auf das Versehen ein und zeigt nun, als wollte er wirklich auf etwas zeigen:

»Diesen blauen Himmel, den Sie da auf dem Etikett sehen, mein Lieber, den gibt es dort wirklich!«

George bückt sich nach der Zigarrenkiste, nimmt sie, schaut darauf:

»Sie haben recht!«

Er legt die Kiste auf den Boden zurück und richtet sich auf.

Jannings: »Sie stehen ‒«

George unterbricht ihn: »Ich kann mich auch setzen!«

Er setzt sich in den Fauteuil mit dem kleineren Fußschemel und macht es sich bequem:

»Was wollten Sie sagen?«

Jannings: »›Sie stehen gerade: darf ich Sie bitten, mir die Zigarrenkiste vom Boden zu reichen?‹!«

Pause.

George: »Sie haben geträumt?«

Jannings: »Als die Nächte besonders lang waren.«

George: »Sie müssen träumen.«

Jannings: »Einmal, an einem Winterabend, saß ich mit jemandem in einer Gaststätte. Es war Abend, wie gesagt, wir saßen am Fenster und unterhielten uns über eine Leiche. Es handelte sich um einen Selbstmörder, der in den Fluß gesprungen war. Draußen regnete es, wir hielten die Speisekarten in den Händen. ›Schauen Sie nicht nach rechts!‹ (George hat schnell nach links, dann nach rechts geschaut) rief plötzlich mein Gegenüber. Ich schaute nach rechts: aber da lag keine Leiche. Außerdem hatte mein Freund gemeint, ich sollte auf der Speisekarte nicht nach rechts schauen, weil dort die Preise stehen.« Pause.

»Wie finden Sie die Geschichte?«

George: »Es war also nur eine Geschichte?«

Pause.

Jannings: »Wenn man es erzählt, kommt es einem selber so vor.«

George: »Wie eine Geschichte?«

Jannings nickt. Pause. Dann schüttelt er langsam den Kopf.

George: »Also doch nicht? Stimmt es also, was Sie mir erzählt haben?«

Jannings: »Ich wundere mich nur.«

Pause.

George: »Und wie ging es weiter?«

Jannings: »Wir haben flambierte Nieren bestellt.«

George: »Und bekommen?«

Jannings: »Natürlich.«

George: »Und die Rechnung verlangt und bekommen?«

Jannings: »Selbstverständlich.«

George: »Und die Mäntel verlangt und bekommen?«

Jannings: »Warum die Mäntel?«

George: »Weil es ein Winterabend war.«

Jannings erleichtert: »Natürlich.«

George: »Und dann?«

Jannings: »Sind wir nach Hause gegangen.«

Sie lachen beide erleichtert auf.

Pause.

George: »Nur eines verstehe ich nicht: welche Bedeutung hatte der Winterabend für die Geschichte? Meiner Ansicht nach war es überflüssig, ihn zu erwähnen.«

Jannings schließt die Augen und überlegt.

George: »Schlafen Sie?«

Jannings öffnet die Augen: »Ja, das war es! Sie fragten mich, ob ich träume, und ich erzählte Ihnen von dem langen Schlaf in den Winternächten, in denen ich gegen Morgen zu träumen anfange, und als Beispiel wollte ich Ihnen einen Traum erzählen, der an einem Winterabend spielen könnte.«

George: »Spielen könnte?«

Jannings: »Ich habe den Traum erfunden. Es war nur ein Beispiel, wie gesagt. Was einem durch den Kopf geht … Wie gesagt ‒ eine Geschichte …«

George: »Aber die flambierten Nieren?«

Jannings: »Haben Sie jemals flambierte Nieren gegessen?«

George: »Nein. Jedenfalls nicht daß ich wüßte.«

Jannings: »Wenn Sie es nicht wissen, dann haben Sie sie auch nicht gegessen.«

George: »Nein.«

Jannings: »Sie widersprechen mir?«

George: »Ja. Das heißt: nein. Das heißt: ja, ich stimme Ihnen zu.«

Jannings: »Sie sprechen also, wenn Sie von flambierten Nieren sprechen, von etwas, das Sie nicht kennen?«

George: »Das wollte ich sagen.«

Jannings: »Und von etwas, das man nicht kennt, sollte man nicht sprechen, ist es nicht so?«

George: »Allerdings.«

Jannings macht eine entsprechende Handbewegung, wobei er die Handfläche nach oben kehrt.

George starrt darauf, und in der Meinung, er habe etwas daran entdeckt, läßt Jannings die Hand so stehen.

Die Hand sieht nun aus, als warte sie auf etwas, zum Beispiel auf die Zigarrenkiste. Sie wirkt auch nach dem, was gerade gesprochen worden ist, so sehr als eine Aufforderung, daß George sich bückt und Jannings die Kiste in die Hand legt.

Kurze Pause, als ob Jannings etwas anderes erwartet hätte.

Dann nimmt er mit der andern Hand die Kiste und stellt sie sich aufs Knie. Er schaut seine Hand an, die er noch immer ausgestreckt hält.

»Das wollte ich damit nicht sagen«, sagt Jannings, »mir schien es nur, als sei Ihnen an meiner Hand etwas aufgefallen.«

Er klappt mit der andern Hand die Kiste auf und hält sie George hin; der schaut hinein.

»Nehmen Sie!«

George nimmt nun schnell eine Zigarre heraus. Auch Jannings nimmt sich eine Zigarre.

George nimmt Jannings die Kiste ab und stellt sie auf den Tisch zurück.

Jeder gibt sich selber Feuer.

Beide lehnen sich zurück und rauchen.

George: »Ist Ihnen nicht auch etwas aufgefallen?«

Jannings: »Sprechen Sie.«

Pause.

Jannings: »So sprechen Sie, bitte.«

George: »Ist Ihnen nicht auch aufgefallen, wie lächerlich plötzlich alles wurde, als wir von den ›flambierten Nieren‹ sprachen? Nein, nicht plötzlich, vielmehr nach und nach, je öfter wir die flambierten Nieren erwähnten! Flambierte Nieren, flambierte Nieren, flambierte Nieren! Und ist Ihnen aufgefallen, warum die ›flambierten Nieren‹ allmählich alles so haarsträubend lächerlich machten?«

Pause.

Jannings: »Sprechen Sie.«

George: »Weil wir von etwas sprachen, das nicht auch gleichzeitig sichtbar war! Weil wir etwas erwähnten, das nicht auch gleichzeitig da war! Und wissen Sie, wie mir das aufgefallen ist?«

Pause.

Jannings: »Sprechen Sie!«

George: »Als Sie vor zwei Minuten jene Handbewegung machten ‒«

Jannings unterbricht ihn: »Zwei Minuten sind seitdem vergangen?«

George: »Es kann auch früher gewesen sein. Jedenfalls ‒ was wollte ich sagen?«

Jannings: »Als ich früher jene Handbewegung machte ‒«

George: »Als Sie jene Handbewegung machten, fielen mir plötzlich die Ringe an Ihrer Hand auf, und ich dachte bei mir: Ah, Ringe! Sieh da, Ringe! Wahrhaftig: Ringe! Und dann sah ich die Ringe wieder, und als das, was ich dachte, und das, was ich sah, so wunderbar zusammentraf, war ich einen Augenblick lang so glücklich, daß ich nicht anders konnte, als Ihnen die Zigarrenkiste in die Hand zu legen. Und da erst fiel mir auf, wie lächerlich ich mir vorgekommen war, all die Zeit von flambierten Nieren zu reden! Ich war gar nicht mehr ich selber, die Haare sträubten sich mir im Nacken, während ich davon sprach! Und erst, als ich die Ringe sah, und: Ah, die Ringe! dachte und dann einen ZWEITEN Blick auf die Ringe warf, kam es mir vor, als sei ich wieder in mich selber eingerenkt worden!«

Jannings: »Und ich meinte, Sie reichten mir die Kiste freiwillig!«

George: »Verstehen Sie mich?«

Jannings: »Menschlich schon.«

George: »Schauen Sie sich um!«

Sie schauen im Raum umher.

George: »›Auto‹!«

Sie stocken ein wenig, schauen weiter im Raum umher.

George: »›Affenschaukel‹!«

Sie stocken, schauen weiter im Raum umher.

George: »›Bluthunde‹!«