Der rote Faden - Monika Genzow - E-Book

Der rote Faden E-Book

Monika Genzow

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Beschreibung

In der Erinnerung erscheint das Leben wie ein Prisma. Je nachdem man es betrachtet, kann es in verschiedenen Farben aufleuchten. Nicht immer lässt sich da ein roter Faden finden. Ich will es trotzdem versuchen.

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Das Leben ist wie ein Prisma. Es hat viele Facetten. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, kann man es in vielerlei Farbnuancen aufleuchten lassen.

Nicht immer lässt sich da ein roter Faden finden. Manchmal bilden auch mehrere rote Fäden ein Geflecht.

Ich bin sicher, dass mein Leben aus so einem Geflecht besteht. Trotzdem will ich versuchen, in meiner Erinnerung einem roten Faden zu folgen.

Ein solcher roter Faden besteht mit Sicherheit aus gepackten Koffern.

Damit meine ich nicht die Urlaubskoffer, obwohl auch sie einen nicht geringen Raum in meinem Leben einnehmen.

Doch zu Reisen im Allgemeinen und im Besonderen möchte ich mich jetzt nicht äußern.

Meine gepackten Koffer sind eng verbunden mit dem Begriff „Umzug“.

Aber der Reihe nach.

Inhaltsverzeichnis

Dresden, 30. September 1941

Dresden-Cotta, Weidentalstr. 28

Jüterbog, Zinnaer Str. 6

Dresden, Weidentalstr. 28

Luckenwalde, Gottower Str. 5

Oranienburg, Freienwalder Str. 6

Oranienburg, Freienwalder Str. 30

Schulzendorf, Bahnhofstr. 35

Schulzendorf, Bahnhofstr. 117

Schulzendorf, Birkenweg 5

Berlin-Grünau, Regattastr. 110

Berlin-Grünau, Büxensteinallee 17

Saßnitz, Billrothstr. 5

Dranske, Paul- Eisenschneider-Str. 2

Leningrad, Noworossiskaja uliza 24

Rostock-Evershagen, Arkadi-Gaidar-Str. 5

Rostock,-Lütten Klein, Warnowallee 110

Rostock, Auf der Huder 5

Kloster-Wulfshagen, Ausbau 6

Marlow, Lupinenweg 10

Dresden, 30. September 1941

Das erste kleine Köfferchen war etwa 40 cm lang und 10 cm hoch und bestand aus rehbraunem Leder.

Meine Oma packte es für mich, als ihre Tochter Ende September 1941 zur Entbindung in das Dresdner Friedrichstädter Krankenhaus fuhr.

Die Welt war für sie noch in Ordnung.

Zwar hatte gerade vier Wochen zuvor der II. Weltkrieg begonnen, aber die Schrecken eines Krieges waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen. Mein Vater war allerdings schon in das Grauen integriert. Er war Bordmechaniker und diente als Feldwebel in einem Jagdgeschwader, das in Jüterbog stationiert war. Dieses Geschwader war auf dem Weg – oder sollte ich besser Flug sagen – gen Osten. Seit der Schlacht um Stalingrad ist er verschollen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Nur ein vergilbtes Foto ist mir geblieben. Es zeigt eine glückliche junge Familie. Er hält mich auf dem Arm. Ich bin neun Monate alt.

Ich weiß nicht, ob meine Geburt schwer oder leicht zu ertragen gewesen war. Auf jeden Fall war ich gesund und meiner Mutter ging es, den Umständen entsprechend, gut. Da mein Vater ohnehin in ihrer Wohnung in Jüterbog nicht anzutreffen war, blieb meine Mutter zunächst mit mir bei meinen Großeltern in deren kleiner Zwei-Zimmer-Wohnung in

Dresden-Cotta, Weidentalstraße 28.

Diese Wohnung lag im zweiten Obergeschoss eines typischen Dresdner Vorstadthauses mit acht Mietsparteien. Es hatte Doppelfenster, einen Balkon, einen Kachelofen in der „guten Stube“, eine kohlebefeuerte Kochmaschine in der Küche und eine unbeheizte Außentoilette auf der Etage.

Auch das Schlafzimmer war unbeheizt. Wenn ich daran denke, kommt mir sofort das klamme Federbett in den Sinn. Die Zudecken waren seinerzeit noch nicht abgesteppt, sodass sich die Federn beliebig verschieben konnten und zusammenballten an Stellen, wo sie eigentlich fehl am Platze waren. Es brauchte lange, bis ich darin warm wurde. Meine Oma hatte zwar eine Wärmflasche an das Fußende gelegt, aber mein Rücken blieb kalt.

Es hat sich mir auch nie erschlossen, warum die Straße „Weidentalstraße“ hieß, denn von Weiden war weit und breit keine Spur. Dafür wurde sie gesäumt von prächtigen alten Linden, die im Frühjahr einen aromatischen Duft verströmten. Ich liebe diesen Duft bis heute. Er bedeutet so etwas wie „Heimat“ für mich.

Die schreckliche Bombennacht vom 13. Februar 1945 erlebten wir im einzigen Schutzraum, der für diese Straße eingerichtet worden war. Ich habe nicht viel davon mitbekommen, denn der Stadtteil Cotta blieb weitestgehend verschont.

Nur der Güterbahnhof, zu dem meine Oma mit mir am nächsten Tag ging, war getroffen worden. Auf einem der Gleise stand noch ein Öltankwagen in hellen Flammen, aber rings um den Bahnhof lag alles in Schutt und Asche. Wir machten schleunigst kehrt, denn es bestand die Gefahr, dass der Waggon explodierte.

Nach Kriegsende kehrte meine Mutter allein zurück nach Jüterbog. Von meinem Vater hatte sie seit der Schlacht um Stalingrad, in die er auf deutscher Seite involviert war, nichts mehr gehört. Trotzdem lebte sie in der Hoffnung, dass er eines Tages vor der Tür stehen würde.

Ich blieb bei meinen Großeltern in Dresden und verlebte behütete Kinderjahre.

Die Erlebnisse aus dieser Zeit sind bruchstückhaft, aber immer wiederkehrend, wenn von meiner Kindheit die Rede ist.

So kann ich mich gut daran erinnern, dass es mir eine Freude war, bei den sonntäglichen Spaziergängen auf die kleinen ockerfarbenen Gehwegplatten vor dem Haus zu hopsen, die sich gelockert hatten und bei jedem Schritt einen tönernen Klang von sich gaben. Meine Oma ermahnte mich stets, „ordentlich“ zu gehen. Meinen Großvater nervte das. Er ging immer drei Schritte voraus.

Mich hingegen nervte es, wenn die langen braunen Baumwollstrümpfe, ausgebeult, fast bis zu den Knien an mir hingen und meine Oberschenkel mit dem kratzigen, aus Wolle aufgerebelter Socken im sechs rechts, sechs links gestrickten, schlauchförmigen Rock in Berührung kamen.

Dagegen mochte ich es, wenn meine dünnen blonden Haare mit der Brennschere zu kleinen Löckchen aufgedreht wurden.

Als die Schulzeit herankam, wurde es Zeit, dass meine Mutter mich zu sich nahm, denn ich war in Jüterbog gemeldet. Also packte meine Oma erneut den kleinen rehbraunen Koffer und brachte mich nach

Jüterbog, Zinnaer Str. 6,

wo meine Mutter damals in einer Zwei-Raum-Wohnung im Hochparterre eines Fuhrunternehmens lebte. Sie war die einzige Mieterin, die in dem zweistöckigen Haus mit großer Toreinfahrt verblieben war. Der Fuhrunternehmer war vor Kriegsende geflüchtet. Die Wohnung war für meine damaligen Begriffe riesig und kalt.

Nachdem meine Mutter und ich wiederholt nachts durch heftigen Lärm und Wummern gegen das Haustor aus dem Schlaf gerissen wurden und verängstigt in eine Ecke der Wohnung flüchteten, zogen wir ins Nachbarhaus unter das Dach eines Anbaus, der zu einer Fleischerei gehörte. Im Haupthaus lebte der Fleischer mit seiner Familie und einem weiteren Mieter.

Dieser Umzug brachte den Vorteil mit sich, dass wir auch ein wenig unter die Fittiche der Fleischersfamilie genommen wurden. Ich bekam immer eine Scheibe Wurst extra, wenn wir einkauften und der Fleischer versorgte uns regelmäßig mit Wurstsuppe.

Da ich im Alter von sieben Jahren sehr zart, um nicht zu sagen, mager, war und ein bisschen blass um die Nase, hatte der Schlachter auch eine spezielle Kur für mich in petto. Immer, wenn geschlachtet wurde, bekam ich ein paar Tage lang eine Tasse frisches, noch warmes Kalbsblut, das ich mit Widerwillen trank, aber unter Androhung von Strafe nicht wagte, es abzulehnen. Im Nachhinein muss ich sagen: es hat mir nicht geschadet. Ich bin in meinem ganzen Leben überwiegend gesund und niemals mehr mager gewesen.

Im Hof vor dem Schlachthaus hielten die Besitzer zwei Hunde - eine gefleckte Dogge, deren Schwanz regelmäßig kupiert wurde, und einen kleinen schwarzen Mischling, den sie Pfiffi nannten. Der Dogge ging ich aus dem Weg, aber Pfiffi wurde ein treuer Spielkamerad. Stundenlang konnte ich ihm Stöckchen wegwerfen, die er zu fangen versuchte. Dabei vollführte er die drolligsten Sprünge und brachte den Fund dann schwanzwedelnd zurück. Besonderen Spaß machte es, wenn nach frischer Schlachtung die Blasen zum Trocknen quer über den Hof an einer Leine hingen. Das sah der Fleischermeister aber nicht besonders gern und wenn er es gewahr wurde, musste Pfiffi an die Kette.

An manchen Tagen wurde der Hof von Flugzeugen überquert. Anstelle des Jagdfliegergeschwaders, dem mein Vater angehört hatte, hatte nach dem Krieg eine sowjetische Kampffliegereinheit die Garnison und den Flugplatz übernommen. An den Abenden wimmelte es in der Stadt von sowjetischen Uniformen. Ich konnte damals jedoch keinen Zusammenhang herstellen und dachte, dass vielleicht mein Vater in einem der Flugzeuge sein könnte und winkte ihnen vom Hof aus freudig zu.

Mein Aufenthalt in Jüterbog währte nur ein Jahr. Als sich abzeichnete, dass mein Vater nicht aus dem Krieg heimkehren würde, hielt meine Mutter es für besser, mich wieder der Fürsorge meiner Großeltern zu überlassen. Sie musste schließlich für unseren Lebensunterhalt sorgen und dafür, ohne Rücksicht auf familiäre Verpflichtungen, auch Arbeit annehmen, die die geregelte Betreuung eines Kindes nicht vorsah. Für den Kindergarten war ich schon zu alt und eine Hortbetreuung gab es noch nicht.

In die Schule ging ich gern. Das Lernen fiel mir leicht und die wenigen Hausaufgaben waren schnell erledigt. So blieb viel Zeit, in der ich auf allerhand dumme Gedanken kommen konnte.

Als ich dann eines schönen Tages Pfiffi mit in die Schule brachte, damit er auch etwas lernen konnte, war der Anstoß für die Rückkehr nach Dresden gegeben.

Die endgültige Entscheidung aber fiel, nachdem ich aus dem Café am Markt, in das meine Mutter mich eines Sonntags mitnahm, das porzellanene Kaffeekännchen mit der Aufschrift „Café HAG“ heimlich in die neben dem Tisch stehende, offene Einkaufstasche meiner Mutter gesteckt hatte.

Meine Mutter bemerkte den Diebstahl erst zu Hause und gab mir handgreiflich zu verstehen,dass so etwas in ihrer Familie noch nie vorgekommen und ein absolutes Fehlverhalten war.

Das war schwer für mich zu begreifen, denn ich wollte ihr nur eine Freude machen. Sie hatte sich mit der Serviererin begeistert ausgetauscht über den kleinen Schlitz in der Tülle des Kännchens, der verhinderte, dass Kaffeetropfen hängen blieben und auf das Tischtuch tropften. Alle weinend vorgebrachten Erklärungen verhallten im Wind. Meine Laufbahn als Diebin schien vorprogrammiert.

Dem wollten sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter Einhalt gebieten.

Also wurde wieder das kleine Köfferchen gepackt. Mehr war nicht nötig, denn meine Garderobe war überschaubar. Den Schulranzen mit der Fibel, dem Rechenbuch, dem hölzernen Kreidekasten und dem Zeichenblock nebst Tuschkasten trug ich auf dem Rücken. Natürlich durfte auch die schwarze Schiefertafel mit dem aus dem Ranzen heraushängenden Schwämmchen nicht fehlen.

So endete das erste Schuljahr mit einem weiteren Umzug, zurück nach

Dresden, Weidentalstraße 28.

Nach den unguten Erfahrungen mit mir in Jüterbog suchte meine Oma in Dresden eine bekannte Wahrsagerin auf, um mehr über meine Zukunftsaussichten zu erfahren.

Das Ergebnis war nichtssagend. Außer der Warnung, ich solle mich vom Wasser fernhalten, fanden sich nur Allgemeinplätze, die für Alle und Jeden gelten konnten.