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London Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei ihren Recherchen zu einer Biografie über den berühmten, kürzlich verstorbenen Maler William Turner stoßen Walter Hartright und Marian Halcombe auf Widersprüche: Von den einen als ehrlich und zuverlässig, als großzügiger Förderer und Ehrenmann gelobt, wird Turner von anderen als verrückt und bösartig denunziert. Von Obsessionen getrieben, soll er sogar einen Mord begangen haben. Fast zwanghaft folgt vor allem Hartright den dunklen Spuren im Leben des Malers zwischen Galerien und Bordellen, Herrenhäusern und Armenvierteln. Immer tiefer verstrickt er sich in Turners Welt und bemerkt erst spät, dass er selbst Opfer eines niederträchtigen Komplotts geworden ist.
Ein großer historischer Roman um den Maler des Lichts und um die Schattenseiten des Menschen William Turner.
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Seitenzahl: 721
Veröffentlichungsjahr: 2024
James Wilson
Der Schatten des Malers
Roman
Aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann
Insel Verlag
Für Paula
und für meine Mutter, Tom und Kit
in Liebe
Limmeridge, Cumberland,
21. Januar 186-
Dieses Buch wurde begonnen, jedoch nicht vollendet.
Ich konnte es nicht zu Ende bringen.
Mehrmals war ich nahe daran, es zu vernichten, weil ich fürchtete, keine Ruhe zu finden, solange es wie ein stiller Vorwurf dalag.
Ich brachte es nicht über mich.
Daher habe ich Anweisungen gegeben, es in einer Kassette zu
versiegeln und diese erst zu öffnen, wenn ich, meine Frau Laura,
unsere Schwester Marian Halcombe und unsere Kinder nicht
mehr am Leben sind.
Während ich diese Worte niederschreibe, hat der Mann, dessen
Geschichte ich erzählen wollte, bereits vor dem höchsten Richter Rechenschaft über sein Leben abgelegt. Bevor Sie sie lesen, werde ich ihm dorthin gefolgt sein und mich ebenfalls verantwortet haben.
Wenn Sie über uns urteilen, denken Sie daran, daß auch Sie dereinst vor diesem Richterstuhl stehen werden.
WH
brief von walter hartright an laura hartright,
18. juli 185-
Brompton Grove, Dienstag
Meine innig Geliebte,
ich hoffe, Du sitzt bequem, während Du diese Zeilen liest, denn ich habe merkwürdige Nachrichten. (Aber keine Angst – es sind, glaube ich, gute Nachrichten!) Es fehlt mir an Zeit, sie Dir und meinem Tagebuch gleichzeitig anzuvertrauen, hebe diesen Brief daher auf, vielleicht werde ich ihn später noch brauchen.
Zunächst aber möchte ich Dir von einer eigenartigen Begegnung berichten. In gewisser Weise bist Du dafür verantwortlich, so sehr hängt alles mit meiner gestrigen Stimmung nach Eurer Abreise zusammen. Ich war so traurig, als sich Eure lieben Gesichter immer weiter von mir entfernten, daß ich mich kaum davon abhalten konnte, auf den Zug zu springen, und ich muß zugeben, daß ich schließlich sogar weinte. Ich fühlte mich außerstande, einem Droschkenkutscher meine Tränen zu erklären, und so beschloß ich, zu Fuß nach Hause zu gehen.
Als ich mich in westlicher Richtung durch die New Road auf den Weg machte, sah ich die Straße plötzlich so, wie ich sie nie zuvor gesehen habe: als ein einziges Höllenspektakel: das Hufgeklapper; der Gestank des Pferdekots; ein Straßenkehrer, der auf der Kreuzung um ein Haar vom Wagen eines Bürstenmachers überfahren worden wäre; eine Frau, die rief: »Herrliche Apfelsinen!«, aber so freudlos, als hätte sie alle Hoffnung verloren, ihre Handvoll kläglich verhutzelter Früchte noch loszuwerden, um ihrem Kind etwas zum Abendessen kaufen zu können; ein Junge, der sich gegen die Räder eines Fuhrwagens stemmte, gleichzeitig die Männer auf dem Oberdeck eines Omnibusses, die Pennies nach ihm warfen und in schallendes Gelächter ausbrachen, als er in den Rinnstein fiel. Und über allem ein gelber, erstickender Dunst, daß man sogar mitten am Vormittag nicht mehr als fünfzig Schritte weit sehen konnte. Dazu der Strom unablässig vorbeiratternder Dachdeckerkarren und Rollwagen der Ziegelsteinverkäufer mit Nachschub für die Armeen neuer Häuser, die diesem neuen Babylon täglich immer mehr Wege und Wiesen von Middlesex erobern. Während ich mich freute, daß Du und die Kinder bald reinere Luft atmen und schönere Ansichten genießen würdet, fühlte ich mich allein und gefangen in einer gigantischen Maschinerie, aus der alle Schönheit, alle Freude und Farbe und alles Geheimnis verbannt worden waren.
Dieses Gefühl war so niederschmetternd, daß ich rasch abbog und das Gewirr der Straßen und Gassen westlich der Tottenham Court Road im Zickzack durchquerte. Mein Plan war sehr einfach: Wenn ich eine Zeitlang nach Westen und dann eine Zeitlang nach Süden ging, mußte ich zwangsläufig zur Oxford Street gelangen und konnte mich jedenfalls nicht sonderlich verlaufen. Also überquerte ich den Portland Place (wo vor vielen Jahren mein Weg zu Dir auf so unwahrscheinliche Weise seinen Anfang nahm), trat in einen schäbigen, kleinen Hof, in dem triefend nasse, bereits rußverschmierte Wäsche hing, und stand plötzlich in einer Straße mit hübschen altmodischen Häusern, die mir merkwürdig vertraut vorkam. Es war jedoch nicht die gewohnte Vertrautheit: eher die geisterhafte Klarheit mancher lange verlorenen Kindheitserinnerungen oder eines Bildes, das irgendwann in einem Traum aufgetaucht ist. Ich stand vielleicht zwei Minuten da, begutachtete die dunklen Fensterfronten, die geschwärzten Backsteinfassaden und die schweren Türen mit den Messingklinken. Wann und bei welcher Gelegenheit hatte ich sie schon einmal gesehen? Was war das Urbild, dessen so eindringlicher Nachhall sie waren? So sehr ich mich mühte, ich fand keine Antwort. Ich merkte nur, daß etwas in mir diese Bilder mit einem Gefühl der Ohnmacht und Unterlegenheit und mit einer Art scheuen Respekts in Verbindung brachte.
Nachdenklich setzte ich meinen Weg fort. Ungefähr fünfzig Yard weiter bemerkte ich einen Jungen von acht oder neun Jahren, der sich im Kellereingang eines der Häuser herumdrückte. Seine Mütze war ihm zu groß, seine Jacke zu klein, und er trug ein ungleiches Paar Stiefel, der eine schwarz, der andere braun. Als ich mich ihm zuwandte, drückte er sich gegen die feuchte Mauer und sah mich mit dem vor Angst erstarrten Blick eines in die Enge getriebenen Tieres an. Um seine Furcht zu beschwichtigen und zugleich meine Neugier zu befriedigen, rief ich ihm zu:
»Wie heißt diese Straße hier?«
»Queen Anne Street«, erwiderte er.
Das half mir auch nicht weiter: Der Name sagte mir zwar etwas, erinnerte mich aber an niemanden, den ich hier jemals gekannt hätte. Ich zog einen Penny heraus und streckte ihm das Geldstück entgegen.
»Danke«, sagte ich.
Er duckte sich wie ein Hund, der hin- und hergerissen ist zwischen der Gier nach einem Brocken Fleisch und der Angst, getreten zu werden.
»Schon gut«, sagte ich. »Ich tu dir nichts.«
Er zögerte einen Augenblick, bevor er die Stufen hochhastete und die Münze nahm. Statt aber jetzt davonzulaufen, wie ich es erwartet hatte, starrte er mich erstaunt an, als ob eine so geringfügige Geste der Freundlichkeit jenseits dessen läge, was er im Leben je erfahren und begriffen hatte. Seine Augen waren unnatürlich groß, und das blasse Gesicht war von tief eingefallenen Wangen gezeichnet, als könne das Alter es gar nicht erwarten, ihm seine Spuren einzuprägen. Und plötzlich dachte ich an den kleinen Walter und an das Entsetzen, das ich spüren würde, wenn ich in sein Gesicht blicken und dort ein solches Übermaß an Not, Schmerz und Krankheit entdecken müßte. Ich gab also dem Jungen noch ein Sixpencestück, und er verschwand ohne ein Wort, als fürchtete er, im nächsten Augenblick könne der Bann gebrochen sein und die natürliche Ordnung der Dinge wieder ihr Recht beanspruchen, ich meine Meinung ändern und das Geld zurückfordern.
So viel über meine Begegnung. Ich höre Dich schon sagen: »Walter! Das ist doch keine Begegnung«; aber Du wirst schon verstehen, Liebste, ich verspreche es Dir, wenn Du nur Geduld hast und weiterliest.
Drei Minuten vor zwölf war ich wieder in Brompton Grove. Es war eine traurige Heimkehr. Die kleinen Dinge, die von unserem glücklichen Leben hier erzählten, wirkten bereits fehl am Platz, wie eine Puppe oder eine Mütze, die an einen Strand gespült wurde. In den wenigen kurzen Stunden seit unserem Aufbruch war das Haus von einem fremden Geist in Besitz genommen worden, der dem einstigen Bewohner die Rückkehr übelnahm. In jedem Zimmer, das ich betrat, spürte ich seine Anwesenheit wie einen lautlosen Wind, der mich zur Tür zurücktrieb.
Marian war noch nicht wieder zurück, und nur das ferne Gemurmel der Davidsons in der Küche sagte mir, daß ich nicht ganz allein war. Ich fühlte mich verloren und trübselig wie ein Kind. Ich versuchte zu zeichnen, aber es ging nicht. Nach zehn Minuten legte ich meinen Bleistift beiseite und nahm ein Buch zur Hand, um es zehn Minuten später ebenfalls wegzulegen. Das Glockenzeichen zum Mittagessen versprach eine willkommene Ablenkung. Doch dann saß ich einsam wie ein orientalischer Despot im Speisezimmer, und Davidson drückte sich in meiner Nähe herum, als ob ich jemanden bräuchte, der mir die Gabel zum Mund führt. Ich schickte ihn hinaus, versicherte, ich käme schon allein zurecht und würde läuten, wenn ich etwas benötigte, und dann scheuchte ich den armen Kerl unablässig die Treppe rauf und runter, damit er mir frisches Wasser und noch etwas Senf brachte.
Als ich fertig war, ging ich in den Garten, wo die Arbeiter das Fundament für das neue Atelier abmaßen, und setzte ihnen mit großem Ernst alles Mögliche auseinander – daß ich ein Nordfenster bräuchte, daß der Eingang gegen schlechtes Wetter geschützt werden müsse –, was sie ohnehin bereits aus den Plänen ersehen hatten. Hier fand mich auch Marian, als sie nach Hause kam, und erlöste die Arbeiter von mir und mich von mir selbst.
»So kannst du auf keinen Fall mitkommen!« waren ihre ersten Worte, in einem so scharfen Ton, daß die drei Arbeiter zusammenfuhren. Aber sie lächelte dabei, und ihre dunklen Augen strahlten. »Du siehst aus, als hättest du halb London durchwandert.«
»Wohin mitkommen?« fragte ich.
»Na, zu Lady Eastlake«, sagte sie leiser und zog mich Richtung Haus. »Sie war heute vormittag in der Ausstellung, und anschließend waren wir zusammen Mittagessen und sprachen von Lauras Abreise heute und daß ich hierbleibe. Dabei kam das Gespräch natürlich auch auf dich.« Sie nahm mich am Arm und führte mich hinein. »Sie hat mich nachdrücklich gebeten, dich heute nachmittag mitzubringen.«
Sofort schoß mir durch den Kopf, ob das nicht etwas mit meiner Malerei zu tun hatte: Schließlich ist Sir Charles Direktor der National Gallery, und ich muß zugeben, daß ich einen kühnen Augenblick lang die Vorstellung hatte, er käme hinter einem Wandschirm im Salon seiner Frau hervor und sagte: »Ah, Hartright, Ihr Bild Frau und Kinder des Künstlers in Limmeridge, Cumberland auf der Akademieausstellung dieses Jahr hat mich sehr beeindruckt. Ich möchte es für den Staat ankaufen.« Aber gleich darauf entlarvte ich diese jämmerliche Phantasterei als das, was sie war, und kam zu dem Ergebnis, daß die immer liebe und freundliche Marian mich nur von meinem Abschiedsschmerz ablenken und mit einer ihrer blaustrümpfigen Freundinnen bekannt machen wollte.
Wie sich herausstellen sollte, war der tatsächliche Grund viel aufregender als meine beiden Mutmaßungen.
Hat Dir Marian jemals das Haus der Eastlakes beschrieben? Es ist jetzt hier zu spät, um sie danach zu fragen (Mitternacht ist vorüber, sie wird schlafen) – wenn ja, dann überspringe einfach den folgenden Abschnitt.
Sie wohnen in einem dieser schönen alten Steinhäuser am Fitzroy Square (hie und da sieht man durch den Ruß noch Reste der ursprünglich honiggoldenen Farbe des Steins) mit hohen Fenstern und einer Haustür so groß, daß ein Pferd hindurchpaßt. Bei unserer Ankunft stürmte eine elegant gekleidete Dame mit pelzbesetzter Jacke und einem kleinen, mit Federn geschmückten Hütchen die Treppe herunter (sofern man überhaupt eine Treppe herunterstürmen kann, wenn man von der Taille abwärts in einen überdimensionalen Vogelkäfig eingesperrt ist) und verschwand in einer bereitstehenden Kutsche. Die Wangen zorngerötet, schenkte sie uns kaum Beachtung, als wir an ihr vorbeigingen. Die Haustür wurde von einem Diener mit grauem Haar und buschigen dunklen Augenbrauen geöffnet. Marian sprach ihn mit einer natürlichen Ungezwungenheit an, die mich überraschte. »Guten Tag, Stokes. Ist die Herrin zu Hause?«
»Ja, Ma’am.« Er führte uns durch eine weitläufige Empfangshalle mit Marmorbüsten an den Wänden und die Treppe hinauf in einen großen Salon. Er war im modernen Stil eingerichtet, mit einem schweren türkischen Teppich, einer Garnitur geschnitzter Eichenholzstühle und Aquarellen an den grünen Wänden, dichtgedrängt wie die Kutschen am Piccadilly. Über der Bilderleiste hingen japanische Teller (die vermutlich tatsächlich aus Japan und nicht aus Stafford stammten!), und über dem Kamin prangte eine große klassische Landschaft, die ich aufgrund der süßlichen Farben für eines von Sir Charles’ eigenen Werken hielt.
Bei unserem Eintreten erhob sich eine überraschend großgewachsene Frau von einer Chaiselongue in der Fensternische. Einen Augenblick war im Abendlicht nur ihre Silhouette zu erkennen, und das einzige, was ich deutlich sah, war ihr Kopf, seltsam zur Seite gereckt wie der eines Vogels. Als sie auf uns zukam, sah ich, daß sie etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, ein blaßgrünes, mit Borten besetztes Kleid trug und ihr immer noch dunkles Haar schlicht von einem Netz im Nacken zusammengehalten wurde. Ihr großer, ungleichmäßig geformter Mund zeigte ein aufrichtiges Lächeln, als sie mir die Hand entgegenstreckte.
»Marian«, sagte sie. »Sie müssen Flügelschuhe tragen.« Sie sprach mit leiser, aber klarer Stimme, und ich glaubte, einen fast unmerklichen schottischen Akzent auszumachen. Sie wandte sich an den Diener. »Danke, Stokes. Wenn sonst jemand nach mir verlangt, ich bin nicht zu Hause.« Sie berührte Marians Hand und lächelte mich von der Seite an. »Sagen Sie, mußten Sie ihn fesseln und in eine Kutsche zerren, um ihn herzubringen?« Marian lachte. »Lady Eastlake, das ist mein Bruder – oder besser gesagt, mein Halbschwager – Walter Hartright.«
»Halbschwager«, wiederholte Lady Eastlake und lachte. »Das ist ja hochkompliziert. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Hartright. Wie geht es Ihnen?« Während wir uns die Hand gaben, blickte sie um sich, als mißfiele ihr plötzlich ihre Umgebung. »Ich glaube, wir haben es gemütlicher in meinem Boudoir« – sie gab dem Wort einen ironischen Beiklang, was Marian zum Lachen brachte –, »wenn Sie die Unordnung entschuldigen.«
Sie durchquerte das Zimmer und öffnete eine Flügeltür. Dahinter lag ein heller, freundlicher und zwanglos wirkender Salon mit einem großen Fenster zum Garten hinaus. Auf den ersten Blick sah er eher wie die Studierstube eines Oxford–Dozenten aus, als wie das Wohnzimmer einer Dame. An den Wänden aufgereiht Bücherschränke, manche mit Büchern vollgestopft, andere offensichtlich nur mit Stapeln Papier. In der Ecke stand ein Schreibpult, unter dessen halb geöffnetem Deckel Notizblätter und Briefe hervorquollen; beiderseits des Kamins befand sich jeweils ein großer Schrank mit Steinen, Muscheln, Porzellanscherben und einem halben etruskischen Kopf, in der Mitte (und das war das Eigentümlichste) aber ein großer Schreibtisch aus Mahagoni, der mit so vielen Photographien übersät war, wie ich noch nie in meinem Leben auf einem Haufen gesehen habe. Unwillkürlich suchten meine Augen nach einem sie verbindenden Sujet oder nach einem mir bekannten Bild. Ersteres ohne Erfolg, denn die Motive schienen so vielgestaltig wie das Leben selbst – Porträts, ein Landhaus, eine große Mühle, eingehüllt vom Rauch, der aus ihrem schwarzen Schornstein quoll; aber bei Letzterem wurde ich fündig, denn zwischen einem Heuhaufen und einem unscharf abgelichteten Kutschpferd erkannte ich Lady Eastlake.
Sie muß mich beobachtet haben, denn als ich innehielt, um es mir genauer anzusehen, sagte sie unvermittelt:
»Nun, Mr. Hartright, wie ist Ihre Meinung?«
»Die Ähnlichkeit ist recht beachtlich«, versetzte ich vage; denn ich befürchtete, sie wäre, wie so viele, verstimmt, daß die Kamera jeden Fehler und Makel derart schonungslos abbildete, und hätte das Gefühl, ihre Schönheit käme nicht in angemessener Weise zur Geltung.
»Eigentlich wollte ich wissen«, gab sie zurück, »was Sie von der Photographie halten.«
»Nun …«, begann ich. Ich wußte nicht, wie ich fortfahren sollte, denn, um ehrlich zu sein, hatte ich mir kaum je Gedanken darüber gemacht. Aber ich wollte keinen Anstoß erregen, weder indem ich mich allzu gleichgültig zeigte, noch indem ich allzu vehement eine Ansicht äußerte, die ihrer eigenen widersprach. Sie ersparte es mir, indem sie fortfuhr:
»Photographieren Sie selbst?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich bevorzuge nach wie vor Bleistift und Pinsel.«
»Und warum, Mr. Hartright?«
Diese inquisitorische Frage überraschte mich derart, daß ich einen Augenblick überlegen mußte.
»Weil ich finde«, erwiderte ich schließlich, »daß die Photographie nur die Fakten wiedergeben kann.«
Sie gewährte mir keine Verschnaufpause. »Während Ihr Bleistift …?«
»Während ein Bleistift – in den richtigen Händen – hoffentlich etwas von der Wahrheit zum Ausdruck bringt. Was vielleicht nicht ganz dasselbe ist.«
Sie fixierte mich mit einem unergründlichen Blick, dem nicht zu entnehmen war, ob sie mich für verrückt, dumm oder faszinierend originell hielt. Dann klappte sie das Schreibpult auf – vorsichtig, damit die vielen daraus hervorquellenden Blätter nicht zu Boden fielen – und entnahm ihm ein kleines Notizheft und einen Bleistift. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir das notiere?« fragte sie und fing bereits zu schreiben an. »Ich arbeite nämlich an einem Artikel.«
»Na dann«, meinte Marian mit neckischer Ungezwungenheit, die mich erneut überraschte, »mach dich also darauf gefaßt, deine Worte in der nächsten Ausgabe des Quarterly Review zu lesen.«
Lady Eastlake lachte. »Nicht ohne Nennung des Urhebers«, sagte sie. »Was immer ich sein mag, eine Diebin bin ich nicht. Außerdem, wie kommen Sie darauf, daß ich Mr. Hartrights Gedanken als die meinigen ausgeben möchte?«
Sie legte das Notizheft beiseite, setzte sich in einen Sessel neben den Kamin und lud Marian mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen. Sie seufzte, schloß die Augen und lehnte sich mit einem Ausdruck der Erschöpfung zurück. Ich fragte mich, ob das womöglich ebenfalls ein Kommentar zu meiner Äußerung sein sollte, und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoß.
»Verzeihen Sie«, sagte Lady Eastlake. »Ich habe soeben einen Höflichkeitsbesuch von Mrs. Madison über mich ergehen lassen müssen. Sind Sie ihr noch begegnet, als Sie hereinkamen?«
»Es kam gerade eine Dame aus dem Haus«, erwiderte Marian. »Sie war gewiß nicht länger als eine Viertelstunde da, aber es kam mir vor wie drei Tage. Mein Vorrat an Gesprächsstoff über Kinderkleidung ist schnell erschöpft, fürchte ich. Ich habe versucht, auf das Wetter auszuweichen, aber selbst das überstieg ihre geistigen Fähigkeiten.«
Stokes kam mit einem Teetablett herein. Er stellte es auf einen niedrigen Tisch neben Lady Eastlakes Sessel. Sie sah ihm mit wachsamem Blick und zur Seite geneigtem Kopf nach, bis er verschwunden war; dann fuhr sie in ruhigerem Ton fort:
»Sie gehört zu jenen Frauen, die glauben, unser eigenes Geschlecht dürfe über nichts eine Meinung haben. Und vor allem niemals ein Buch lesen. In diesem Punkt, das muß ich sagen, ist sie mustergültig.«
Marian lachte. Lady Eastlake schenkte Tee aus, dann stellte sie die Kanne ab und legte Marian die Hand auf den Arm. »Darum genieße ich auch so sehr die Gesellschaft Ihrer Schwester, Mr. Hartright. Wir verstehen uns wunderbar. Immer hat sie etwas Erfrischendes und Interessantes zu erzählen, egal, wohin mich mein sprunghafter Geist gerade trägt.«
»Ich weiß, wie sehr sie Ihre Freundschaft schätzt, Lady Eastlake«, sagte ich. »Ich fürchte, bei uns zu Hause fehlt ihr oft ein ebenbürtiger Gesprächspartner.«
»Aber das stimmt doch gar nicht, Walter!« protestierte Marian. »Ihre Schwester erzählt mir da ganz andere Sachen«, sagte Lady Eastlake. »Sie schreiben, nicht wahr, Mr. Hartright?«
Ich hatte Marian soeben eine Tasse gereicht und beugte mich vor, um mir selbst eine zu nehmen. Lady Eastlakes Gesicht war kaum zwei Fuß von dem meinen entfernt, und ich spürte die geballte Kraft ihres festen Blicks. Wieder konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, auf Herz und Nieren geprüft zu werden – zu welchem Zweck, konnte ich mir allerdings nicht vorstellen.
»Ich habe ein Buch geschrieben«, antwortete ich. »Aber es ist nur die Geschichte einer Verschwörung gegen meine Frau, die zu erzählen ich einzig durch meine Verwicklung in die Angelegenheit befähigt war. Vielleicht wäre es daher richtiger, mich einen Chronisten zu nennen, nicht einen Schriftsteller.«
Lady Eastlake nickte.
»Oder vielleicht auch nur einen Herausgeber«, fuhr ich fort. »Denn soweit wie möglich habe ich die Geschichte in den Worten derer erzählt, die mit den Ereignissen am direktesten in Verbindung standen und daher in der Lage waren, einen wahrheitsgetreuen Bericht zu geben. Zu ihnen zählt auch Marian, deren Tagebuch eine Informationsquelle von unschätzbarem Wert darstellte.«
Ich blickte Marian an. Ich erwartete, daß sie mir widersprechen und sagen würde: Unsinn, Walter: Du bist viel zu bescheiden. Aber sie beobachtete mich nur aufmerksam, und ihr dunkler Teint rötete sich vor Aufregung. Als ich mich wieder Lady Eastlake zuwandte, erblickte ich im Augenwinkel den mit Photographien überhäuften Tisch.
»Vielleicht könnte man sagen«, fuhr ich fort, »beim Malen strebe ich nach Kunst. Während …«
»Während Sie beim Schreiben eher eine Kamera sind?« ergänzte Lady Eastlake.
»Genau«, sagte ich. Mich verblüffte ihr Scharfsinn nicht weniger als die Unhöflichkeit, mir einfach ins Wort zu fallen. Wieder sah ich Marian an. Sie lächelte Lady Eastlake zu, als wolle sie ausdrücken: Hab ich es nicht gesagt? Der Gedanke, daß zwischen den beiden Frauen ein geheimes Einverständnis herrschte, dessen ahnungsloses Objekt meine Person war, brachte mich durcheinander.
»Darf ich mir die Frage erlauben«, sagte ich (zugegebenermaßen etwas kühl), »ob das Ganze auf etwas hinausläuft?«
Lady Eastlake antwortete nicht sofort. Sie wechselte erneut einen verstohlenen Blick mit Marian, dann zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und strich es sorgfältig auf ihrem Schoß glatt. Schließlich räusperte sie sich und sagte:
»Mr. Hartright, würden Sie bitte die Tür schließen?«
Ich tat es.
»Ich erwarte selbstverständlich nicht, daß Sie vor Ihrer Frau etwas geheimhalten«, fuhr sie fort. »Aber ich muß sie zuallererst bitten, über dieses Gespräch mit niemandem sonst zu reden.« Eine solche Bedingung, das spürte ich ganz deutlich, konnte ich nicht akzeptieren, ohne mehr zu wissen, aber es war schwierig, dies auf höfliche Weise zum Ausdruck zu bringen. Sie muß meine Gedanken erraten haben, denn sie sagte:
»Ach, machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Ehre, Mr. Hartright. Ich werde Ihnen keinen Mord gestehen und auch keine Kindesentführung. Die Anwesenheit Ihrer Schwester in diesem Raum sollte Ihnen dafür bürgen.«
Damit hatte sie recht, und ich nickte. Sie fuhr fort:
»Meine Sorge gilt einzig und allein dem Schutz meines Mannes. Seine Stellung – die er weiß Gott nie angestrebt hat – ist ohnehin schon schwierig genug, und keinesfalls möchte ich in der Nähe seines Stuhls in ein Wespennest stechen.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Danke.« Sie warf einen wachsamen Blick zur Tür und fuhr dann im Flüsterton fort: »Kennen Sie zufällig einen Mann namens Thornbury?«
»Nein«, antwortete ich. »Wer ist das?«
»Ein Journalist«, sagte sie. »Und wie ich fürchte, ein ziemlicher Schurke.«
»Das ist nicht weiter überraschend«, sagte ich. »Ein Zyniker würde sagen, das eine ist gewissermaßen die Voraussetzung für das andere.«
Lady Eastlake lachte. »Ich kenne ihn nicht persönlich«, sagte sie, »aber wie ich von meinen Freunden gehört habe, ist er entschlossen, einen armen und häufig mißverstandenen Toten zu verleumden, dem die Möglichkeit versagt ist, sich zu wehren – aus dem einzigen Grund, das armselige Buch zu verkaufen, an dem er schreibt. Es handelt sich dabei, so fürchte ich, nicht nur um eine schwerwiegende Schändung des Andenkens eines einzelnen Menschen, sondern ganz Englands und der gesamten englischen Kunst. Denn der, über den er schreibt, war meiner Ansicht nach und nach Ansicht vieler anderer das größte Genie unserer Zeit.« Und da auf einmal trat mir urplötzlich erneut das Bild der Queen Anne Street vor Augen, und im selben Moment wußte ich, warum mir die Straße so bekannt vorgekommen war. Für einen kurzen Augenblick war ich wieder ein achtjähriger Junge und saß in einer Droschke neben meinem armen Vater. Die Winterkälte verdichtete unseren Atem zu Dampf, und ich schmiegte mich an ihn, der mir in seinem dicken Mantel Wärme und Geborgenheit gab. Als wir an einem hohen Haus mit schmutzigen Fenstern und einer schweren Eingangstür vorbeirumpelten, legte mein Vater seine behandschuhte Hand auf die meine und wies aus dem Fenster. »Siehst du, Walter«, sagte er. »Das ist Queen Anne Street Nummer 47. Hier wohnt das größte Genie unserer Zeit.«
Und jetzt, innerhalb von nur sechs Stunden, war ich erstmals nach dreißig Jahren wieder diese Straße entlanggegangen und hatte genau diesen Satz wiedergehört. Ohne zu überlegen, sagte ich zu Lady Eastlake: »Meinen Sie Turner?«
Jetzt war es an ihr, sich zu wundern. Sie starrte mich mit halboffenem Mund an, dann blickte sie zu Marian: »Haben Sie …?« Marian war nicht weniger verblüfft. »Nein«, rief sie. »Ich habe nichts gesagt. Walter, wie hast du bloß …?«
Ich muß zugeben, daß ich versucht war, ihre Verwirrung noch zu steigern und mich auf eine geheimnisvolle Eingebung zu berufen, aber ich sagte nur: »Ach, ich habe bloß geraten.« Und um weiteren Fragen zuvorzukommen (denn die beiden machten noch immer erstaunte Gesichter) fuhr ich fort: »Dann schreibt Mr. Thornbury also die Lebensgeschichte von Turner?«
»Das behauptet er jedenfalls.«
»Aber wenn Sie ihn nie getroffen haben«, sagte ich, »woher wissen Sie dann, daß es ein diffamierendes Werk ist?«
»Ich habe seine Vorgehensweise verfolgt, Mr. Hartright, und zwar mit wachsender Beklommenheit. Einige von Turners engsten Freunden lehnten es in weiser Voraussicht ab, überhaupt mit ihm zu sprechen. Größten Glauben hat er offenbar einer Clique von böswilligen Klatschmäulern geschenkt, von denen die meisten Turner kaum kannten. Und die haben ihn, wie in solchen Fällen üblich, auf andere verwiesen, die nicht besser sind als sie selbst.«
Ich muß gestehen, daß mir als erstes das alte Sprichwort in den Sinn kam: Kein Rauch ohne Feuer. Vielleicht spürte sie meine Skepsis, denn sie fuhr fort:
»Niemand, der so herausragend war wie Turner, hätte es vermeiden können, sich unter den weniger Erfolgreichen oder weniger Begabten Feinde zu schaffen – insbesondere niemand, der Schmeicheleien und Konventionen so gründlich verachtete, wie er es tat. Sie kennen sicher all die Geschichten, die über ihn in Umlauf sind.«
Ihre fragend hochgezogenen Augenbrauen schienen eine Antwort zu fordern, aber ich schwieg, denn außer ein paar abgedroschenen Anekdoten über seinen Geiz und seine nuschelnde Redeweise, die an der Akademie kursierten, wußte ich in Wahrheit beschämend wenig über ihn. Sie wartete eine Weile, ehe sie fortfuhr:
»Es läßt sich nicht bestreiten, daß er ein sonderbarer, launischer und exzentrischer Mensch war, aber ein Ungeheuer war er nicht, und er hat ein besseres Andenken verdient als Klatsch und Tratsch.« Sie beugte sich vertraulich zu mir herüber. »Ich habe ihn in seinen letzten Lebensjahren gut gekannt. Ja« – dabei geriet ihre Stimme ins Wanken, und in ihren Augen schimmerten Tränen – »man hat mir berichtet, er hätte auf dem Sterbebett meinen Namen gerufen. Ich kann das nur als eine Verpflichtung verstehen. Als die Verpflichtung, sein Andenken zu schützen.« Sie wischte sich hastig die Augen trocken, dann knüllte sie ihr Taschentuch zusammen. »Mr. Hartright, ich möchte Sie bitten … ich möchte Ihnen vorschlagen …, es sich durch den Kopf gehen zu lassen, selbst eine Lebensgeschichte J.M.W. Turners zu schreiben.«
Ein paar Sekunden lang war ich buchstäblich sprachlos vor Erstaunen. Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf herum und verflüchtigten sich wieder, bevor ich sie in Worte fassen konnte. Ich spürte Marians Blick auf mir ruhen, aufmerksam, ängstlich, ja flehend. Das Gefühl, daß ihre Hoffnungen und ihr Glück auf eine bestimmte, mir noch nicht erklärliche Weise von meiner Antwort abhing, verwirrte mich nur noch mehr. Vielleicht mißdeutete Lady Eastlake meine Bestürzung als Berechnung, denn sie sagte:
»Ich habe mit einem mir bekannten Verleger gesprochen, der mir versichert hat, daß es für ein solches Buch durchaus einen Markt gibt …«
»Das macht mir keine Sorgen. Ich …«
»Und ich bin sicher, daß ich im Namen aller Freunde Turners spreche, wenn ich sage, daß wir glücklich wären, dies zu unterstützen …« Sie brach ab, denn sie merkte, daß meine Gedanken in eine andere Richtung gingen. »Wie bitte?« fragte sie, »Sie glauben, daß andere eher dafür in Betracht kämen?«
Ich nickte. »Beispielsweise Sie selbst.«
»Wie gesagt, meine Verbindung zu Sir Charles … Und außerdem bleiben einer Frau viele Türen verschlossen, die sich einem Mann wie selbstverständlich öffnen.«
»Ich kann nicht glauben …«, begann ich.
»Sie müssen sich vorstellen, Mr. Hartright, daß der arme Turner wie ein Einsiedler gestorben ist«, sagte Lady Eastlake. »Die meisten, die ihn gut kannten, sind längst tot. Von denen, die noch am Leben sind, käme vor allem Mr. Ruskin in Frage, aber« – sie lächelte sanft – »er schwebt in viel zu hohen Sphären, als daß er so etwas in Erwägung ziehen würde. Meine Situation kennen Sie bereits. Und was meinen Mann betrifft – er steht, fürchte ich, gar nicht zur Debatte.«
»Oh, ja, das verstehe ich«, sagte ich. »Aber …«
Sie schien es nicht gehört zu haben.
»Sowohl Mrs. Booth, Turners Haushälterin, als auch sein Freund George Jones sind gutherzige Menschen, aber …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Offen gesagt, die beiden sind der Aufgabe nicht gewachsen. Und Mr. Jones verbringt, glaube ich, jetzt sowieso die meiste Zeit damit, den Herzog von Wellington zu spielen. Die beiden könnten Ihnen bestenfalls mit brauchbaren Berichten behilflich sein.«
Sie hielt inne, und wieder war ich um die richtigen Worte verlegen. Marian brach das Schweigen.
»Es gibt sonst tatsächlich niemanden, Walter. Wenn du es nicht machst, wird Thornbury unwidersprochen bleiben und triumphieren.«
»Und unterschätzen Sie sich nicht, Mr. Hartright«, fügte Lady Eastlake hinzu. »Im Unterschied zu Thornbury sind Sie ein Künstler, der Turner als Maler versteht …«
»Aber Sie können doch nicht mich und ihn …!« entfuhr es mir unwillkürlich.
»Vielleicht war er ein General, und Sie – verzeihen Sie – sind nur ein Oberst«, gab Lady Eastlake zurück. »Aber alle Künstler gehören ein und demselben Regiment an, kämpfen in denselben Schlachten und streben nach demselben Sieg. Und dann«, fuhr sie fort, noch ehe ich widersprechen konnte, »sind Sie, wie Sie ja selbst gesagt haben, ein Chronist, der weiß, wie man die unterschiedlichsten Zeugenberichte sammelt, bewertet und aneinanderfügt.«
»Und ein Kämpfer, der seine Entschlossenheit, ein großes Unrecht wiedergutzumachen, schon einmal unter Beweis gestellt hat«, ergänzte Marian.
Lady Eastlake nickte. »Gibt es eine idealere Besetzung?«
Dann schwiegen sie und ließen mich über das Gesagte nachdenken. Erneut versuchte ich, Ordnung in meine schrill tönenden Gedanken zu bringen, die bis auf einen, der die Klarheit eines Glockenklangs hatte, in meinem Kopf wild durcheinanderpurzelten. Schließlich sagte Marian:
»Das alles kommt so unerwartet für den armen Walter. Wir sollten ihm Zeit lassen, sich die Sache zu überlegen.«
»Ja, natürlich«, sagte Lady Eastlake.
Und dabei beließen wir es. Wir sprachen nicht mehr davon, und nachdem wir noch eine Weile die üblichen Nettigkeiten ausgetauscht hatten, standen Marian und ich auf und verabschiedeten uns. Erst als Stokes uns aus dem Zimmer geleitete, sagte Lady Eastlake:
»Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören, Mr. Hartright.«
Auf dem Heimweg sprachen wir wenig. Ich versuchte immer noch, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ich dachte an Dich und die Kinder und daran, wie sich unser Leben verändern würde, wenn ich Lady Eastlakes erstaunlichen Vorschlag annähme. Dazwischen drängten sich heftige Gefühle – Angst und gleichzeitig eine schwindelerregende Heiterkeit –, deren Ursprung ich nicht genau zurückverfolgen konnte, welche aber aus einer verborgenen Quelle meines Bewußtseins hervorzusprudeln schienen.
Marian war ungewöhnlich verkrampft. Damals schenkte ich dem weiter keine Beachtung, ich machte nur eine kurze Bemerkung. Jetzt aber glaube ich, sie hat mein Schweigen so gedeutet, als ob ich wütend auf sie sei. Denn als wir zu Hause in unserem Salon angelangt waren und die Tür hinter uns zugemacht hatten, legte sie mir die Hand auf den Arm und sagte:
»Hoffentlich denkst du nicht, daß ich einen Fehler gemacht habe, Walter.«
»Wieso denn?« fragte ich. »Weil du mich zu Lady Eastlake gebracht hast?«
»Nein«, erwiderte sie. »Weil ich dich dorthin gebracht habe, ohne dir den Grund dafür zu verraten. Sie hat darauf bestanden, daß du erst dann von der Sache erfährst, wenn sie dich kennengelernt hat und beurteilen kann, ob sie dich überhaupt für geeignet hält. Aber als ich dich da sitzen sah, so verwirrt, kam ich mir wie eine Verräterin vor. Oder vielmehr, ich hatte das Gefühl, daß du mich für eine Verräterin hältst.«
Die arme Marian! »Ich war vollkommen überrumpelt, das gebe ich zu«, sagte ich. »Aber ich habe keinen Augenblick gedacht, daß du mich verraten hast oder es nicht gut mit mir meinst.«
»Da bin ich aber froh.« Sie schwieg einen Augenblick, sah auf ihre Tasche hinunter und spielte mit der Schlaufe. Als habe sie beschlossen, etwas zu sagen, was ihr schon lange auf den Nägeln brannte, platzte sie plötzlich heraus: »Können wir offen miteinander reden, Walter?«
»Soweit ich weiß, könnte dich nichts davon abhalten, offen zu reden, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast«, sagte ich. »Und ich bin überzeugt, es liegt nicht in meiner Macht, es zu verhindern.«
Sie lachte, und ihre Stimme hatte etwas von ihrer alten Fröhlichkeit zurückgewonnen, als sie fortfuhr: »Ich sagte ›wir‹, nicht ›ich‹«.
»Gut«, erwiderte ich.
Wir nahmen nebeneinander auf dem Sofa Platz. Die Abenddämmerung war schon hereingebrochen, aber keiner von uns schlug vor, Licht zu machen. Vielleicht hatten wir beide das Gefühl, es sei leichter, unsere Herzen zu öffnen, wenn wenigstens unsere Gesichter von der zunehmenden Dunkelheit verhüllt wurden. Schließlich begann sie:
»Vor vielen Jahren sagte ich zu dir, daß wir immer Freunde bleiben sollten, Walter, erinnerst du dich?«
»Ja«, sagte ich und nahm ihre Hand. »Und das werden wir auch.«
»Hoffentlich«, erwiderte sie. »Aus diesem Geist heraus möchte ich jedenfalls jetzt sprechen. Du hältst mich vielleicht für zudringlich; aber bitte glaube mir, dahinter steckt allein schwesterliche Liebe für dich und Laura.«
»Natürlich glaube ich dir«, sagte ich. »Über nichts anderes in meinem Leben bin ich mir sicherer.« Das war tatsächlich der Fall, trotzdem wartete ich mit einiger Beklommenheit auf das, was folgen würde. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, und meine Beine waren bleischwer. Wenn Davidson in diesem Augenblick hereingekommen wäre und »Feuer!« gerufen hätte – ich bezweifle, daß mich meine Beine bis zur Tür getragen hätten.
»Danke«, sagte Marian. Sie holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Weißt du, wenn man so eng zusammenlebt wie wir, entgehen einem auch nicht die kleinsten Stimmungsveränderungen des anderen.«
»Ja«, sagte ich.
»Bei dir«, fuhr sie fort, »habe ich neuerdings eine solche Veränderung bemerkt. Du bist so unruhig und zerstreut geworden. Du malst und zeichnest viel weniger als früher. Und auch wenn du nach wie vor ein liebevoller Ehemann, Vater und Bruder bist, kommt es mir manchmal so vor, als fiele es dir schwerer als früher. Als ob … als ob du dich zwingen müßtest, präsent zu sein.«
»Es ist schwierig für mich, hier zu malen«, sagte ich, »solange das Atelier noch nicht fertig ist. Und wie du weißt, war ich sehr damit beschäftigt, alles zu planen und die Arbeiten zu überwachen.«
»Das fehlende Atelier hat dich bisher nie am Malen gehindert«, sagte sie. »Und die Bauarbeiten kannst du, glaube ich, getrost den Handwerkern überlassen. Es ist völlig überflüssig, daß du ihnen zwanzigmal am Tag erklärst, was sie tun sollen.«
Ich erinnerte mich, wo sie mich an jenem Nachmittag gefunden hatte, und war froh, daß die Dunkelheit die Röte verbarg, die mir ins Gesicht schoß.
»Nein«, fuhr sie fort, »die Gründe dafür liegen sehr viel tiefer. Und ich glaube sie zu kennen.«
Ich brauche Dich nicht damit zu belasten
Ich wünschte, ich könnte Dir ersparen, was sie als nächstes sagte; es wird Dir bestimmt wehtun und Du wirst schlecht von mir denken. Aber es ist die Wahrheit, und Du mußt sie erfahren, weil Du mich sonst nicht mehr richtig kennst.
»Lieber Walter«, fuhr sie in ruhigerem, sanfterem Ton fort. »Du bist das Opfer deiner eigenen Empfindsamkeit. Niemand könnte dir bei Kenntnis aller Umstände im Ernst vorwerfen, von der Heirat mit Laura in ungehöriger Weise profitiert zu haben und das Vermögen mit ihr zu teilen, das ihr zu guter Letzt zufiel. Doch mit eben diesen Vorwürfen quälst du dich, wenn ich recht sehe. Du weißt, daß dein Verhalten stets untadelig war und daß du ihr mehr Glück geschenkt hast, als sie in ihrem Leben jemals erfahren hat. Und trotzdem … trotzdem hegst du den leisen Verdacht, daß du zu einem Kostgeldempfänger geworden bist, und das macht dir schwer zu schaffen.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber in Wirklichkeit fand ich nicht die Kraft, es abzustreiten. Sie hatte einen dunklen Winkel meines Wesens ausgeleuchtet und dort ein Geschwür entdeckt, das ich bis dahin nicht hatte benennen können.
»Noch schlimmer«, fuhr sie fort, »ist aber, daß du in deinem Inneren eine gewisse Leere spürst. Du hast alles, was einen Mann in den Augen der Welt glücklich machen könnte; eine liebevolle und zärtliche Ehefrau, zwei reizende Kinder, ein schönes Anwesen und die Achtung deiner Künstlerkollegen. Aber etwas fehlt dir; eine Aufgabe, die dich wirklich packt und dich über die Sorge um Familie und Haus hinaustreibt.«
Ich nickte, und ich glaube, das merkte sie; denn sie drückte meine Hand fester. »Das ist nichts, wofür du dich zu schämen brauchtest«, sagte sie. »Nur ist dir wie allen edlen Naturen bewußt, daß Familie und Haus an sich bedeutungslos sind, wenn sie nicht in Verbindung zu einem höheren Zweck stehen.«
Draußen quietschte und rumpelte ein Wagen über das Kopfsteinpflaster. Ich klammerte mich dankbar an dieses Geräusch und hüllte mich darin ein wie in einen Mantel; denn in meinen Augen standen Tränen.
»Schon seit Monaten«, so Marian weiter, »zerbreche ich mir den Kopf darüber und suche nach einer Möglichkeit, dir Erleichterung zu verschaffen. Und daher habe ich mich auch so gefreut, als Lady Eastlake mir von ihrer Sorge um Turners Lebensgeschichte erzählte. Dies, so dachte ich, wäre eine große Aufgabe, die zu erfüllen du genau der Richtige bist.« Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Du weißt hoffentlich, daß ich dir gern helfen werde, wie schon einmal, als uns das Schicksal in einem gemeinsamen Kampf zusammengespannt hat. Lieber Walter, bitte sag doch, daß du es übernehmen wirst!«
Einmal, es ist viele Jahre her – weißt Du noch? –, nannte ich Marian unseren guten Engel. Und das ist sie tatsächlich, denn wie ein Engel scheint sie besser als wir selbst zu wissen, was gut und richtig für uns ist.
Eine Weile vermochte ich nicht zu sprechen. Dann aber brachte ich nicht mehr heraus als: »Ich danke dir!«
Und deshalb, meine Liebe, werde ich morgen an Lady Eastlake schreiben und ihr sagen, daß ich unter bestimmten Voraussetzungen ihr Angebot annehme. Und (falls sie akzeptiert) wirst Du eine ganz neue Seite an mir kennenlernen: Ich war Zeichenlehrer, Detektiv, Ehemann, Bauaufseher, und jetzt bin ich bald auch noch – ausgerechnet – Biograph!
Es ist spät geworden und kalt. Ich werde jetzt schlafen gehen und das Kissen an mich drücken, das noch den Duft Deiner Haut und Deines Haars trägt.
Gute Nacht,
Walter
inhaltsnotiz eines briefes von walter hartright
an lady eastlake, 19. juli 185-
1. Danke für Ihre Einladung; es hat mich sehr gefreut, Sie endlich kennengelernt zu haben.
2. Bin nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen, daß ich Ihren Vorschlag annehmen werde, eine Lebensgeschichte J.M.W. Turners zu schreiben.
3. Muß allerdings eine Bedingung stellen. Respektiere Ihre Gefühle gegenüber Turner, aber weder sie noch der Wunsch, Thornbury einen Strich durch die Rechnung zu machen, kann das Motiv meines Schreibens sein. Werde nicht mehr und nicht weniger tun als versuchen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen (und die Wahrheit ist bei einer Biographie, glaube ich, notgedrungen gleichbedeutend mit den Fakten!). Werde vollkommen unparteiisch den Spuren folgen. Kann daher nicht versprechen, daß ich das Porträt entwerfen werde, das Ihrem Wunsch entspricht.
4. Hoffe, Sie verzeihen mir meine Unverblümtheit, aber besser, die Dinge werden von Anfang an klargestellt. So lassen sich spätere Mißverständnisse vermeiden.
brief von lady eastlake an walter hartright,
19. juli 185-
Fitzroy Square 7,
Mittwoch
Lieber Mr. Hartright,
vielen Dank für Ihren Brief von heute morgen und dafür, daß Sie meiner Ungewißheit so rasch ein Ende gesetzt haben.
Ich bin sehr glücklich, daß Sie meinen Vorschlag annehmen, und werde Ihnen meine ganze Unterstützung gewähren. Und ja – natürlich akzeptiere ich, daß die Wahrheit Ihr einziges Ziel sein muß. Etwas anderes würde ich auch gar nicht erwarten. Und hätte ich auch nur einen Augenblick den Verdacht gehegt, daß Sie sich von parteilichen Überlegungen leiten ließen, hätte ich Sie gar nicht erst gebeten, eine Aufgabe zu übernehmen, die so eindeutig allerhöchste Lauterkeit erfordert.
Dennoch hoffe ich, daß Sie nicht das Gefühl haben, ich will Sie in unangemessener Weise beeinflussen, wenn ich Ihnen empfehle, sich zuallererst an Mr. Ruskin, Mr. Jones und Mrs. Booth zu wenden, unabhängig davon, mit wem Sie sonst noch sprechen werden. Ich gebe Marian zusammen mit diesem Brief die Adressen und werde heute abend selbst an Mr. Jones und Mrs. Booth schreiben und ihnen ankündigen, daß sie bald von Ihnen hören werden. Sie wissen ja, Mrs. Booth hat es abgelehnt, mit Mr. Thornbury zu sprechen, und daher könnte ich mir vorstellen, daß – zumindest anfangs – Marian als Frau ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit leichter gewinnen könnte. Was Mr. Ruskin betrifft, so fürchte ich, daß ein Brief von mir Ihnen auch nicht viel hilft, also müssen Sie sich ein Herz fassen und den großen Mann selbst stören.
Ihre sehr ergebene
Eliz. Eastlake
brief von walter hartright an laura hartright,
20. juli 185-
Lesesaal der Bibliothek des British Museum,
Donnerstag
Meine innig Geliebte,
danke für Deinen Brief und für Florries und Walters Zeichnungen – wenn ich nicht aufpasse, werden die beiden ihren Vater bald überflügelt haben!
Gestern schrieb ich an Ruskin und an George Jones, habe aber von beiden noch keine Antwort erhalten. Um nicht untätig herumzusitzen, habe ich mich – wie Du dem Absender entnehmen kannst – in den neuen Lesesaal der Bibliothek des British Museum begeben. (Nebenbei gesagt, ein gewaltiges Gebäude, das mir zu einer neuen Kategorie von Bauwerken zu gehören scheint; weiträumig und still und ehrfurchtgebietend wie eine große Kathedrale und trotzdem kein Tempel zu Ehren Gottes, sondern zu Ehren unseres Wissens über Seine Schöpfung. Hat man je dergleichen versucht? Vielleicht in Alexandria; aber das damalige Wissen der Menschheit über die Welt war vergleichsweise kläglich. Hier in London wurde erstmals der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in Stein und Zement errichtet, und wer kann schon sagen, ob uns das zum Segen oder Fluch gereichen wird.) Ich will hier soviel wie möglich über Turner herausfinden, und wenn ich bedenke, was ich bisher schon alles erfahren habe, glaube ich, daß meine Biographie schnell geschrieben sein wird. Er wurde am Tag des heiligen Georg 1775 in London geboren; er zeichnete; er malte; er starb. Bis auf ein paar wenige Besonderheiten wie seine Reisen durch dieses Land und durch Europa wissen wir so gut wie nichts über das alltägliche Einerlei seines Lebens. Weder war er verheiratet, noch duellierte er sich; weder schürte er eine Revolution, noch erklärte er einer Prinzessin seine Liebe. Ein solches Leben haben eine Million Engländer geführt, und in ihrer Familie und in ihrem Freundeskreis gab es niemanden, der dieses Leben für sonderlich bemerkenswert hielt. Was Turner auszeichnet, ist einzig die bedingungslose Hingabe an seine Kunst, was zwar großartige Gemälde zeitigte, für einen Biographen aber nur eine magere Ausbeute ergibt. Ich empfinde beinahe Mitleid mit dem armen Thornbury, der womöglich in Verleumdungen einen Ausweg sucht – ein verzweifelter Versuch, dem dünnen Süppchen seiner Schilderung etwas mehr Aroma zu verleihen.
Daher glaube ich, daß Deine Befürchtungen grundlos sind, obwohl ich Dich gut verstehe. Natürlich wird es unerwartete Schwierigkeiten geben, die ich nicht unterschätzen darf, aber ich bin sicher, daß wir nur noch zwei bis drei Wochen getrennt sein werden. Andernfalls, das verspreche ich Dir, würde ich auf der Stelle an Lady Eastlake schreiben und ihr mitteilen, daß ich es mir anders überlegt habe. Aus Turners engstem Bekanntenkreis, der offensichtlich bedauernswert klein war, ist heute so gut wie keiner mehr am Leben; und mit den paar noch verbliebenen Freunden zu sprechen (vorausgesetzt, sie sind bereit, mit mir zu sprechen!) dauert nur wenige Tage. Anschließend muß ich Tagebücher, Briefe und so weiter durchforsten, vor allem solche aus der frühen Zeit, aus der vermutlich überhaupt keine Zeugen mehr am Leben sind. Aber dann kann ich mit meiner Ausbeute nach Limmeridge zurückkehren und dort weiterarbeiten. Auch wenn ich wahrscheinlich ein, zwei Mal für ein paar Tage zurückkommen muß, werde ich sicherlich in Cumberland sein, bevor wir im Spätherbst alle zusammen nach London zurückkehren. Mach Dir also keine Sorgen, meine Liebe! Und laß mich am Schluß noch eine eigene Sorge aussprechen: Es hat mich so gefreut zu hören, daß Du unsere Lieblingsplätze im Moor aufsuchst, aber meinst Du wirklich, in Deinem gegenwärtigen Zustand ist es klug, so weite Strecken zu Fuß zurückzulegen – und vor allem ohne Begleitung, die Dir notfalls behilflich sein kann? Sei bitte vorsichtig.
Dein Dich innig liebender Gatte
Walter
brief von walter hartright an laura hartright,
1. august 185-
Brompton Grove,
Dienstag
Meine innig Geliebte,
heute morgen hat mich Dein Brief erreicht. Danke! Ich gestehe, ich hatte gehofft, er käme nicht allein, denn in den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, erst dann an der Lebensbeschreibung weiterarbeiten zu können, wenn ich von Jones und Ruskin etwas gehört hätte (mit dem Ergebnis, daß ich zu Davidsons sichtlichem Verdruß in Erwartung der Post im Haus umherschlich wie ein Wolf im Käfig, der den Vollmond herbeisehnt).
Aber Dein Brief hat mir neuen Schwung gegeben; und sobald ich ihn zu Ende gelesen hatte, beschloß ich, zum Angriff überzugehen und einen eigenen Zugang zu Turners Leben zu finden. Ich muß zugeben, daß ich keine klaren Vorstellungen hatte, wie oder wo ich anfangen sollte (ich glaube, ich hatte die Idee im Hinterkopf, wenn alle Stricke reißen, könnte ich ins Athenaeum gehen, wo ich womöglich auf jemanden stoßen würde, der sich an ihn erinnerte). Mein Ziel war einfach nur, aus dem Haus zu gehen und zu sehen, wohin es mich treibt. Und auch wenn es wunderlich erscheint, ich glaube, mein Wunsch hat sich erfüllt.
Im Hyde Park herrschte noch ein größeres Gedränge als sonst, aber ich mied die von Kutschen befahrenen Wege und folgte den schmaleren Pfaden, vorbei an Hecken und über grasbewachsene Anhöhen. Manchmal konnte ich mir für einen Augenblick sogar vorstellen, ich befände mich nicht mitten in einer der größten Städte der Welt, sondern in einem idyllisch ländlichen Garten Eden. Der Weg führte mich schließlich über einen Waldsaum hinaus zum Serpentinenteich, der vom schweren Himmel niedergedrückt dalag wie ein frisch eingelassenes Bad, glitzernd in düsterem zinngrauem Glanz. Unter Aufsicht ihrer Kindermädchen spielten Kinder mit Reifen oder Stöcken am Ufer, betteten ihre Puppen in Wägelchen oder jagten einem albernen Hündchen nach (ein Bündel aus weißen Locken und ohne erkennbares Gesicht), das einen Ball entführt hatte und ihn halb zerbiß. Ein kleiner Junge weinte bitterlich, und ich blieb stehen und fragte ihn nach dem Grund.
»Ich habe meine Ente verloren«, schluchzte er und deutete auf eine hölzerne Lockente, die weit ins Wasser abgedriftet war und auf die echten Enten in der Mitte des Sees zuzusteuern schien. Hier trat erstmals das Schicksal in Aktion; denn ich lief zu den Bäumen hinüber, brach einen Zweig ab und (nach mehreren Fehlschlägen – ich hatte die Ente schon erwischt, dann entglitt sie mir wieder, ich erwischte sie wieder) gelang es mir, das Spielzeug an Land zu ziehen und seinem Besitzer zurückzugeben. Ohne diese kleine Verzögerung wäre ich fünf Minuten später nicht mehr an dieser Stelle gewesen, als plötzlich eine Stimme meinen Namen rief:
»Hartright!«
Ich wandte mich um, ohne den modisch gekleideten jungen Mann, der aus der Menge heraus lächelnd auf mich zuschritt, gleich zu erkennen. Erst als er auf den Stock deutete, den ich noch immer in der Hand hielt, und lachend meinte: »Na? Willst du dir was zum Abendessen fangen?«, erkannte ich ihn an seiner Stimme.
»Travis!« rief ich.
Kein Wunder, daß ich ihn nicht erkannt hatte, denn er hatte sich einen Bart stehen lassen und seine gewohnte Aufmachung gegen ein kariertes Wams und einen neuen weichen Filzhut eingetauscht. Er trug eine große Mappe bei sich, die er sich unter den Arm klemmte, als er einen makellosen gelben Handschuh auszog und mir die Hand schüttelte.
»Wohin gehst du?« fragten wir beide gleichzeitig und mußten lachen.
»Zu Sir William Butteridge«, sagte er. Er gab sich Mühe, dabei lässig zu wirken, aber er strahlte über das ganze Gesicht, und im Versuch, dieses Lächeln zu unterdrücken, artikulierte er die folgenden Worte so undeutlich, daß ich nur verstand: »… über … zu sprechen.«
»Über was zu sprechen?«
»Einen Auftrag.«
»Wirklich? Das ist ja großartig!« sagte ich. Natürlich freute ich mich für ihn; aber ich kann nicht leugnen, daß ich auch eine Spur Neid empfand, dem allerdings rasch ein Gefühl der Befriedigung über meinen eigenen Auftrag folgte, ebenso rasch aber das Bedauern darüber, daß ich zur Geheimhaltung verpflichtet war und daher dem »Sir William Butteridge« nicht eine »Lady Eastlake« entgegensetzen konnte.
»Ist es hier drin?« fragte ich und wies mit dem Kopf auf die Mappe.
»Nur ein paar Entwürfe. Willst du’s sehen?«
Er legte die Mappe auf eine Bank und klappte sie auf. Darinnen befanden sich Skizzen einer kränklich aussehenden jungen Frau mit wallendem Haar, die sich an einen Säulenstumpf klammerte. »Sie erleidet eine Ohnmacht beim Anblick ihres Geliebten«, erklärte Travis und deutete auf einen verschwommenen Fleck auf der linken Bildseite. »Er kehrt nach sieben Jahren Abwesenheit tödlich verwundet zurück. Glaube und Reinheit, das ist es, was Sir William vorschwebt. Ich denke, es ist mir gelungen, findest du nicht?«
»Es gefällt ihm gewiß sehr.« Mir schoß dabei durch den Kopf, daß Sir William, seit er durch die Enteignung von Witwen und Waisen beim Bau der Eisenbahn ein Vermögen gemacht hatte, sicher ein stärkeres Bedürfnis nach Glauben und Reinheit hatte als die meisten anderen Menschen; aber ich sagte nichts.
»Mit mittelalterlichen Motiven läßt sich derzeit gutes Geld machen«, sagte Travis, der vielleicht spürte, daß er mich als Künstler nicht zu beeindrucken vermochte und es jetzt als Mann von Welt versuchte. »Hör auf mich, Hartright. Suche dir einen Ritter und eine Dame und fang an.«
»Ich habe im Moment keine Zeit«, sagte ich. Ich zögerte einen Augenblick, um ihm Gelegenheit zu geben, nach dem Grund zu fragen. Aber er war damit beschäftigt, seine Skizzenblätter wieder zu verstauen, also fuhr ich fort: »Sag mal, was fällt dir zu Turner ein?«
»Turner? Ich habe ihn kaum gekannt«, sagte er und verschnürte die Mappe. »Mein erstes Dinner in der Akademie war sein letztes. Ich sah ihn ein paarmal bei den Firnistagen vor der Akademieausstellung, aber es wäre mir nie eingefallen, ihn anzusprechen.« Er sah mich an und schüttelte in einem lautlosen Lachanfall seine schweren kastanienbraunen Locken. »Das wäre nicht anders gewesen, als zum Altar hinaufzusteigen und sich selbst vom Meßwein zu bedienen.«
»War er wirklich so außergewöhnlich?« fragte ich.
»Nicht vom Aussehen«, sagte er. »Ja, gut, außergewöhnlich schon, aber nicht so, wie du denkst. Keine eindrucksvolle Erscheinung. Er war ungefähr so groß« – er hielt die Hand etwa auf Schulterhöhe, »hatte eine große jüdische Nase, kleine runde graue Augen und trug einen riesigen Zylinderhut, dessen Flor gegen den Strich gebürstet war; dazu trug er einen altmodischen Mantel mit Rockschößen, die beinahe den Boden berührten (und auch dann nicht sehr viel schmutziger gewesen wären), und langen Ärmeln, die seine verdreckten Hände fast ganz bedeckten. So.« Er beugte sich nach vorne und äffte die lächerliche kleine Gestalt nach, die er soeben beschrieben hatte. Mehrere Passanten blieben stehen und sahen ihm zu, und ein Mädchen brach in unbeherrschtes Kichern aus. Ich mußte ebenfalls lachen – Travis sah immer dann am glücklichsten aus, wenn er boshaft war; und zu beobachten, wie er sein blasses Gesicht mit den edlen Zügen zu einer grotesken Koboldsgrimasse verzog, war von unwiderstehlicher Komik. Aber mir war unbehaglich zumute, als würde ich mich zusammen mit ihm über einen armen Unglücklichen lustig machen, dessen einziger Makel ein ungewöhnliches äußeres Erscheinungsbild war.
»Was ich meinte«, fuhr ich dazwischen, »war er wirklich so ein Genie?«
»Wenn du Genie mit Fleiß gleichsetzt, ganz bestimmt«, sagte Travis. »Er malte ununterbrochen. Bei Regen und Sonnenschein, wachend, schlafend, auf der Toilette … Ganz bestimmt kratzt er jetzt gerade Sonnenuntergänge in seinen Sargdeckel.«
»Jetzt hör aber auf«, sagte ich lachend. »Was denkst du wirklich?«
Er antwortete nicht sofort, sondern starrte mit ernster Miene auf den Boden, als suche er dort die Antwort. Schließlich antwortete er:
»Das dachten wir damals. Oder vielmehr, wir dachten, er sei ein Genie, das seine Kraft verloren hat und übergeschnappt ist.«
»Wie sehr?« fragte ich.
»Sieh dir doch nur seine späten Bilder an«, erwiderte er. »Farben, die von allem Gegenständlichen losgelöst sind. Riesige Farbkleckse, die nach überhaupt nichts aussehen – nur eben wie Farbklekse. Bilder vom Nichts, wie ein Kritiker sagte. Und alle sehr ähnlich.«
»Und wie denkst du heute darüber?« bohrte ich weiter.
Er zuckte die Schultern. »Ein paar von den frühen Arbeiten. Die holländischen Seestücke. Die Stiche.«
Ich wartete, daß er fortfuhr, aber er sagte nichts mehr. Er holte eine Uhr aus der Hosentasche, sah darauf und klemmte sich die Mappe unter den Arm.
»Weißt du jemanden«, fragte ich noch, »der ihn besser kannte?«
»Jones?«
»Dem habe ich geschrieben.«
Er zuckte wieder die Achseln und schüttelte den Kopf. Erst als wir uns schon zum Abschied die Hände geschüttelt hatten und beide ein paar Schritte unseres Weges gegangen waren, drehte er sich um und rief mir nach:
»Probier’s mal bei Davenant. Er hat sich zur Ruhe gesetzt, in Hampstead. Aber er hat ein gutes Gedächtnis und gewährt der Öffentlichkeit bisweilen gern Einblick in dessen Schätze.«
Diese kurze Begegnung brachte mir eigentlich ziemlich wenig; aber aus irgendeinem Grund – vielleicht nur aufgrund der Tatsache, daß ich endlich die Initiative ergriffen hatte – fühlte ich mich wie von einem neuen Geist beflügelt. Vielleicht sollte ich besser sagen: von einem alten Geist. Denn wie ein Gesicht in der Menge, das einem plötzlich einen lange vergessenen Spielkameraden aus der Kindheit in Erinnerung ruft, erkannte ich darin etwas, das mir längst bekannt war.
Mein Herz schlug schneller; meine Beine schmerzten vor ängstlicher Aufregung. Ich atmete tief ein, und die rußige Luft, die eine Stunde zuvor nach harter Arbeit und Krankheit gerochen hatte, bekam jetzt einen berauschenden Zauber. Kurzum, ich fühlte mich wieder wie ein junger Mann, der sich aus dem tristen Alltagstrott befreit hat und zu einem großen Abenteuer aufbricht. Hättest Du mich durch den Regent’s Park und die Avenue Road laufen sehen (eine Kutsche zu nehmen kam mir gar nicht in den Sinn), dann hättest Du Dir einbilden können, den Geist jenes anderen Walter Hartright zu sehen, der fünfzehn Jahre zuvor, von einfachen Vorsätzen und großen Hoffnungen erfüllt, dreimal die Woche zu Fuß von London nach Hampstead ging und sich nichts dabei dachte. Ich hatte in der Tat bisweilen selbst das Gefühl, dieser junge Mann ginge als mein Begleiter neben mir her. Und gewiß war er es, der mich drängte, in einem einfachen Gasthaus am Straßenrand eine Pause einzulegen und mit ihm zusammen ein einfaches Mahl aus Brot, Käse und Ale zu mir zu nehmen – ich, der würdige Herr von Limmeridge, und er, der fröhliche junge Zeichenlehrer, der frei war von der Last und dem Privileg des Besitzes und mit keinen Aussichten außer denen, die das Leben selbst bot.
Mr. Davenant (so erfuhr ich auf dem Postamt) wohnte nur wenige hundert Yard von dem alten Landhäuschen meiner Mutter entfernt in einem dieser malerischen roten Backsteinhäuser in der Church Row. Die einst ebenmäßige Fassade war unter der Last des Alters eingesunken und buckelig geworden, die Linien krumm und schief wie auf einer Kinderzeichnung (Florrie hätte ganz bestimmt geradere Linien gezeichnet!), als sei das Haus seiner klassischen Nüchternheit überdrüssig geworden und habe beschlossen, sich zu betrinken. Ein großes holzverkleidetes Erkerfenster im ersten Stock, trotzig herausragend wie das Heck eines alten Kriegsschiffes, verstärkte den unordentlichen Eindruck.
Ein junger Diener, der eine bedauernswerte Unsicherheit bei der Erfüllung seiner Pflichten an den Tag legte, öffnete mir die Tür. Als ich fragte, ob Mr. Davenant zu Hause sei, sagte er: »Ich werde ihn fragen«; einen Augenblick später kam er mit hochroten Wangen wieder und erkundigte sich nach meinem Namen; nach ein paar Schritten kehrte er nochmals um, vermutlich, um zu fragen, was ich wünsche. Er wurde aber von einer Männerstimme unterbrochen, die vom oberen Stock herunterdonnerte: »Wer ist das, Lawrence?«
»Mr. Hartright, Sir«, rief der Junge.
»Wer?«
»Mr. Hartright!«
»Und was will er?« rief der Mann, als hätte er eine Kompanie Soldaten vor sich.
»Was wollen Sie?« stotterte der Junge.
»Über Turner sprechen«, sagte ich.
Der Junge gab meine Antwort an den Mann weiter, der prompt herunterschrie:
»Was zum Teufel soll das heißen?«
»Was zum …?« setzte der Junge an, jetzt derart verlegen, daß sein Gesicht glühte. Ich ging an ihm vorbei in den Flur, vorbei an einer Reihe von strengen Familienporträts und einem großen Ölgemälde am Fuß der Treppe, das die Schlacht von Waterloo darzustellen schien. Vom oberen Treppenabsatz herunter betrachtete mich ein gutaussehender etwa siebzigjähriger Mann mit einen weißen Backenbart, einer edel geformten Nase und einem heroischen Gesichtsausdruck. Er trug einen mit Farbspritzern übersäten Kittel und tippte mit dem Stiel eines Pinsels ungeduldig an das Geländer.
»Ich habe gehört, Sie hätten Turner gut gekannt«, sagte ich.
»O ja«, sagte er, »und?«
»Ich möchte seine Lebensgeschichte schreiben.«
»Tatsächlich? Bei Gott!« Er beugte sich vor, um mich genauer in Augenschein zu nehmen. »Sie sind doch nicht … wie heißt der Kerl noch …, der allen auf die Nerven geht?«
»Sie meinen Mr. Thornbury?« fragte ich.
Er knurrte etwas.
»Nein«, sagte ich.
Er überlegte einen Augenblick, ehe er mich aufforderte: »Kommen Sie rauf. Fünfzehn Minuten.«
Ein vom Mondlicht erhelltes Seestück hing im Treppenaufgang, und eine weitere Schlachtenszene – ein Haufen rotberockter Soldaten, die um einen zerrissenen Union Jack herumstanden, während der düstere Feind durch einen Nebel von Pulverdampf auf sie zukam – beherrschte den oberen Treppenabsatz. Ich blieb davor stehen und fragte:
»Von Ihnen?«
Er nickte kurz. »Ich krieg es nicht los. Heute wollen alle nur hübsche kleine Familienporträts, alle Mitglieder sauber geschrubbt und herausgeputzt wie Schneiderpuppen. Und diese dämlichen, in Ohnmacht fallenden Weiber.« Er schüttelte den Kopf. »Der reine Wahnsinn.«
Ich mußte unwillkürlich schmunzeln – er hatte Travis und mich mit einem Streich vernichtet. Aber zum Glück war er viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Hände an seiner Schürze abzuwischen, um es zu bemerken.
»Sehr eindrucksvoll«, sagte ich.
Er nickte wieder. »So, jetzt mache ich Sie nicht mehr schmutzig«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. »Guten Tag.«
Und als hätte ich mir durch diese schlichte Formalität das Recht auf sein Vertrauen erworben, drehte er sich um und führte mich in ein Zimmer, das in der Mitte durch Flügeltüren geteilt war und die ganze Breite des Hauses einnahm. Auf der einen Seite befand sich das große Erkerfenster, durch das silbrigglänzendes Licht Wände und Fußboden überflutete. In der Ferne sah man das Heideland. Das Fenster auf der anderen, der Südseite hatte keine Fensterläden, war aber mit einem Tuch verhängt, vermutlich um die Einstrahlung der Sonne abzuschwächen.
Ein riesiges unvollendetes Ölgemälde stand auf einem primitiven Gestell in der Fensternische neben einem mit Pinseln übersäten Tisch, auf dem auch ein aufgeklappter Malkasten lag. Das Bild war so gedreht, daß es das nördliche Tageslicht einfing, und daher konnte ich die Darstellung nur teilweise erkennen; aber was ich sah, war ausreichend, um das Sujet zu erraten – eine Frau zu Pferd, umringt von bewaffneten Männern, am Horizont aufgereiht Segelschiffe: Königin Elizabeth vor der spanischen Armada. Etwas erhöht in der Mitte des Zimmers saß eine Frau in einem blauen Samtumhang und mit einem großen Hut auf dem Kopf für die Hauptfigur Modell. Ihr »Pferd« war eine raffinierte Konstruktion aus drei zusammengebundenen, auf ein Gestell gelegten Polstern. Vor sich ausgestreckt hielt die Frau ein hölzernes Schwert, das – zweifellos, weil sie schon eine ganze Weile so ausharrte und ihr Arm ermüdet war – gefährlich wackelte.
»Gut«, sagte Davenant, »Sie können eine Pause machen, Mrs. Holt.«
»Gut wäre es auch, Sir«, sagte sie und nahm dabei ihren Hut ab, »wenn Sie etwas essen würden.«
»Machen Sie sich um mein Essen nur keine Gedanken«, sagte er. »Wenn ich Sie den ganzen Nachmittag hierbehalte, können Sie sich selbstverständlich eine Pastete bringen lassen. Eine Tasse Tee in der Küche, damit Sie wieder zu Kräften kommen; und dann sengen wir König Philipp weiter den Bart ab.«
»Ja, Sir«, sagte sie folgsam, verdrehte dabei aber derart spöttisch entnervt die Augen, daß es fast schon an Unverschämtheit grenzte.
»Scheren Sie sich hinaus, Sie Besen«, sagte Davenant und hob die Hand, als wolle er zum Schlag ausholen. »Und sagen Sie Lawrence, er soll uns Wein bringen.«
»Ja, Sir«, sagte sie lachend.
Als sie gegangen war, wurde es einen Augenblick still. Davenant sah aus dem Fenster, dann drehte er sich um und fixierte mich mit offenem Blick. Mit einem Ernst, wie er mir noch nie begegnet war, sagte er:
»Turner war mein Freund, Mr. Hartright. Ich werde nichts tun, was ihm Schaden zufügt. Wenn Sie Skandal- oder Klatschgeschichten hören wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte ich. »Mich interessiert nichts als die Wahrheit.«
»Die sage ich Ihnen, und zwar mit Freude«, erwiderte er. »Aber vergessen Sie nicht, ich kann nur über Dinge sprechen, die ich weiß.« Er machte eine Pause, dann zog er zwei Stühle von der Wand und murmelte: »Und ich wünschte aufrichtig, daß andere dasselbe tun. Möchten Sie sich nicht setzen?«
»Danke.«
»Manchmal denke ich, Sie könnten an jeder Haustür in London anklopfen und jemanden finden, dessen Bekanntschaft mit Turner sich einzig und allein darauf gründet, ihn einmal aus einer Kutsche aussteigen gesehen zu haben – und der trotzdem fröhlich behauptet, Turner sei der griesgrämigste, zwielichtigste und erbärmlichste Geizhals der ganzen Schöpfung gewesen.«