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»Gärten sind Orte der Selbst- und Gottesbegegnung.«
(Marion Küstenmacher)
Ein Gartenbuch der ganz besonderen Art, das alle Sinne öffnet für die Wunder des Lebendigen. Marion Küstenmacher lädt in 71 Ausflügen ein, das göttliche Geheimnis hinter Pflanzen, Tieren und einfachen Dingen zu entdecken. Sie lässt den Garten zu einem Ort der Meditation und zu einem Quell mystischer Gedanken werden. Gedanken, die unsere Daseinsfreude und ein positives Lebensgefühl beflügeln.
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Seitenzahl: 218
Marion Küstenmacher
Der Seele einen Garten schenken
Vom Zauber der Blumenund einfachen Dingen
INHALT
GARTENTRÄUME
oder Was die Seele aufblühen lässt und heilt
AHORN
oder Die Wiederentdeckung des Eigenen
AKELEI
oder Die Trinität als Kunstwerk
AMEISEN
oder Die Wärme der Heiligen
APFELBAUM
oder Spirituelles Reifen
BANK
oder Die gelassene Anschauung Gottes
BIENEN
oder Das Sammeln des Unsichtbaren
BIRKE
oder Das Charisma des Loslassens
BLUMENTÖPFE
oder Vom Nutzen des Zerbrochenen
BRENNNESSEL
oder Aggression und Abwehrkraft
BUCHE
oder Pilgern wie ein Baum
EFEU
oder Immergrünes Altern
ESCHE
oder Leben im Kraftfeld Gottes
FARN
oder Lob des Schattens
FEUERDORN
oder Im Leiden wachsen
FLIEDER
oder Die Zärtlichkeit des Augenblicks
FUCHSIE
oder Der Blick fürs Große und Ganze
FROST
oder Innehalten im Vakuum
GÄNSEBLÜMCHEN
oder Vom Trost der kleinen Dinge
GARTENARBEIT
oder Der Dialog mit dem Notwendigen
GARTEN EDEN
oder Wachstumschancen der Erkenntnis
GEIßBLATT
oder Umschlungen von Liebe
GETHSEMANE
oder Die Einsamkeit Gottes im Menschen
GIEßKANNE
oder Die vier Arten, seine Seele zu wässern
GLOCKENBLUME
oder Die mystische Stille
GLÜHWÜRMCHEN
oder Der Tanzboden der Schöpfung
GRABEN
oder Sakramentales Basiswissen
GRAS
oder Himmlische Zuneigung
GRÜN
oder Umschlossen von Liebe
HAGEBUTTE
oder Die Würde der späten Dinge
HERBSTLAUB
oder In Schönheit loslassen
HOLUNDER
oder Das Gesetz der Freundlichkeit
HORTENSIE
oder Die Farben des Vorübergehens
HYAZINTHE
oder Die Heiterkeit des Heiligen Geistes
JAHRESZEITEN
oder Die Freude über dem Herzen
KLEE
oder Wo das Glück wächst
KOMPOST
oder Der Mist in unserem Leben
KÜRBIS
oder Die Mathematik der Maßlosigkeit
LÖWENZAHN
oder Der Pionier im Weiten Raum
MADONNENLILIE
oder Reinheit als Geistesgegenwart
MOHN
oder Geschwister der Dankbarkeit
MOOS
oder Die Kompetenz der Einfachheit
NARZISSE
oder Erleuchtete Beziehungen
NEBEL
oder Fülle und Nichts
NEST
oder Geborgen im Verborgenen
PFINGSTROSE
oder Vom gründlichen Misslingen
PIKIEREN
oder Schöpferische Einsamkeit
RITTERSPORN
oder Der Wohlgeruch Gottes
ROSE
oder Das Siegel der Verschwiegenheit
SAMENTÜTCHEN
oder Die Multiplikation der Wandlung
SCHERE
oder Der Schmerz der Beschneidung
SCHMETTERLINGE
oder Extravaganz ist ein Name Gottes
SCHNEEGLÖCKCHEN
oder Heilige Schlaflosigkeit
SONNENBLUME
oder Wechselseitiges Erkennen
SPINNWEBEN
oder Das Netzwerk des Bewusstseins
STEINBRECH
oder Vertrauen und Stehvermögen
TAU
oder Die fließende Perle der Ruhe
TRÄNENDES HERZ
oder Das Sakrament der Tränen
TULPE
oder Die Spekulation Gottes
UNKRAUT
oder Radikale Ehrlichkeit
VEILCHEN
oder Die Kunst der Unterscheidung
VERGISSMEINNICHT
oder Der Teppich der Barmherzigkeit
WACHSEN LASSEN
oder Die Geste des Wartens
WASSER
oder Strömungsmuster der Seele
WEG
oder Die mystische Mobilmachung
WERKZEUGE
oder Die verborgene Ganzheit
WIND
oder Die Farbe der Erneuerung
WOLKEN
oder Nichtwissen, Bejahen, Bezeugen
WURZELN
oder Nach unten wachsen
ZAUN
oder Das Geschenk der Grenze
BIST DU DER GÄRTNER?
oder Die Auferstehung der Seele
GARTENTRÄUME
oder Was die Seele aufblühen lässt und heilt
Stellen Sie sich Ihren Traum-Garten vor.
Wie auch immer er aussehen mag,
lassen Sie in Ihrer Vorstellung etwas Platz frei,
damit Sie neue Samen säen können,
und etwas Raum, damit die Engel spielen können.
Terry L. Taylor
Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass das Leben mit dem Tag beginnt, an dem man einen Garten anlegt. Unabhängig von der Größe, ist jeder Garten ein Stück natürlicher Lebensraum, ein Bild für die Fülle des Lebens überhaupt. Gärten helfen auf wunderbare Weise, Lebensgefühl und Daseinsfreude zu steigern. Arbeiten, essen, sich ausruhen, spielen, mit Tieren und anderen Menschen zusammen sein, Gespräche führen, zuhören, schweigen, nachdenken, sogar schlafen, beten oder meditieren – all das ist im Garten möglich. Zum Glück spielt es dabei keine Rolle, ob Sie ein passionierter Gärtner sind, der viel Zeit und Geld in den Garten steckt und unermüdlich eigene Ideen umsetzt, oder ob Sie Ihren Garten lieber naturnah haben, frei nach dem Motto »leben und leben lassen« ...
Ganz gleich, zu welchem Typus Sie sich rechnen – fleißige wie lässige Gärtner wissen im Grunde ihres Herzens, dass sie im Garten von geheimnisvollen und heilsamen Kräften umsorgt werden. Dazu brauchen Sie nicht einmal einen eigenen Garten zu haben! Es genügt, sich irgendwo von einer Blume, einem Baum oder einem Stein ansprechen zu lassen. Wenn dabei etwas in Ihnen aufblüht, haben Sie den Weg in Ihren inneren Traum-Garten schon gefunden. Er ist unerschöpflich, von unendlicher Schönheit und ein wunderbarer Raum, um sich selbst und Gott zu begegnen. Ein Raum, »in dem die Engel spielen können«.
Während ich an diesem Buch schrieb, habe ich voller Staunen gemerkt, wie viele Dichter und Mystiker direkt aus ihren innersten Seelengärten zu mir sprechen. Sie kommen deshalb mit ihren wunderbaren Gedanken immer wieder zu Wort, wie gute Freunde, die man gerne zu sich einlädt. Sie alle haben mich gelehrt, »mit der hellen Geduld der Liebe die grüne Sprache zu lernen«, wie die Dichterin Rose Ausländer einmal sagte.
Ich hoffe, dass dieses Buch Sie beim Lesen dazu inspiriert, dem Zauber der Blumen und einfachen Dinge im eigenen Traum-Garten nachzugehen. Schenken Sie Ihrer Seele einen Gartenblick. Es gibt nichts Schöneres, als sich dabei vom Schöpfergeist überraschen zu lassen. Ihnen allen und meinen Kindern Simon, Lukas und Sophia widme ich dieses Buch – mit dem Wunsch, dass in unseren inneren Gärten immer Engel spielen werden.
AHORN
oder Die Wiederentdeckung des Eigenen
Ich werde den Ahorn wiederfinden.
Einmal, am Ende der Tage,
wird es sein, daß ich zu ihm sage:
Ahorn – wo warst du so lang?
Ina Seidel
Merkwürdigerweise ist der Ahorn ein in der Pflanzenmythologie unbesetzter Baum. Weder in den Naturreligionen noch im Christentum oder im Volksglauben hat er eine Rolle gespielt. Dabei ist er widerstandsfähig, geradlinig, aufrecht und eine besonders auffallende Schönheit, wenn er sein Haupt in Gelb, Orange oder Rot für den Herbst entflammt. Keinem Gott oder Heiligen oder Dämon geweiht, hat er es geschafft, sich als Baumsymbol für uns Menschen freizuhalten.
Ahorn, wo warst du so lange? Seine Stunde schlägt jetzt, im Zeitalter des individuellen Suchers. Der individuellen Persönlichkeit, die bereit ist, sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln. Der starke Ahorn ist unser Platzhalter für die Erinnerung, dass wir hier sind, um das Ur-Eigene in uns zu suchen. Um ganz wir selbst zu sein. Der Ahorn ist unser Vorbild, während wir lebenslang lernen, uns an »das erste Sakrament des Universums« zu halten, wie der amerikanische Astrophysiker Brian Swimme rät: »Es geht um den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Alles in dir drängt danach, gestaltet und freigelassen zu werden. Lass die Freigebigkeit des Universums geschehen. Mehr bedarf es nicht. Hast du den Mut, das Universum mit deinen Schätzen zu überhäufen?« Der Ahorn verkörpert den Mut und die Kraft, die wir investieren müssen, um unsere Entwicklungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen und zu einer einzigartigen Gestalt zu werden. Sein Rat heißt: Vertrauen in das Eigene bei größtmöglicher Offenheit für das Ganze.
Der Weg dorthin führt über Resonanz. Der Ahorn kann in seinem hellwachen Inneren ein wunderbares Klangholz heranreifen lassen. Das innerste Fleisch des festen Ahorns ist resonanzbereit. Aus ihm werden Resonanzböden für Gitarren, Geigen, Celli oder Panflöten gebaut. Hörendes, widerklingendes Holz, erfüllt von der Sehnsucht, dass sich mit der Zeit die unverwechselbare Melodie des Kosmos in seine Jahresringe einprägt wie Musik in die Rillen einer Schallplatte.
Während der Ahorn symphonische Ringe um seinen Kern wachsen lässt, richtet er sich zu einer stattlichen Höhe auf. Er realisiert sich, indem er in seinem Inneren Bewusstsein und in seinem Äußeren Gestalt annimmt. Dem tiefen leidenschaftlichen Klang in seinem Inneren schenkt er eine stabile äußere Form. Er öffnet die mächtigen Äste voller Mitgefühl und Wärme für alles Geschaffene und ist so dem Leben zugeneigt. Das ist die kosmische Musik, die im Ahorn immerzu erklingt. Und die man hört, wenn man sich an seinen Stamm lehnt als ein tief Bezauberter, der nun selbst bereit ist, sich der Anstrengung dieses universellen Prozesses zu unterziehen. Die Suche beginnt. Ahorn, wo war ich so lange?
AKELEI
oder Die Trinität als Kunstwerk
Eine schöpfungsbezogene Trinitätslehre fordert uns auf, zu Werkzeugen des Geistes zu werden, zu Kanälen seiner Gnade und Schönheit. Und dazu kommen wir am besten, wenn wir aus unserem Leben ein Kunstwerk machen.
Matthew Fox
Die zierliche Akelei war eine der Lieblingsblumen der Gotik. Selbst so fragil gebaut wie ein feingeripptes gotisches Gewölbe, hebt sie ihre Blütenkrönchen mit den lang nach innen gezogenen Sporen zum Himmel. Diese nach oben aufgetriebenen Honigblätter zerfließen in wunderschönen matten Farben: puderrosa, milchweiß, vanillegelb, blassblau, himbeerrot, tiefviolett. Für die Maler der Gotik war die hochstängelige Waldblume ein bevorzugtes trinitarisches Symbol. Vermutlich deshalb, weil sich jeder ihrer Stengel in drei aufspaltet und an jedem Ende drei rundbogige Blätter trägt, die selbst wieder dreigeteilt sind. Der Bauplan der Akelei enthält die Drei in ihrer potenzierten Form. »Omnis creatura significans«, alles Geschaffene ist ein Zeichen und Hinweis, sagt Alanus ab Insulis, ein französischer Scholastiker aus dem 12. Jahrhundert, man muss es nur sehen und verstehen können. Die gotischen Künstler sprachen mit der Akelei »durch die Blume« von Gott und setzten sie in ihre Bilder als Zeichen für die geheimnisvolle dreifache Anwesenheit Gottes in der Welt.
In Irland hat sich dieser wache Blick für Hinweise auf die göttliche Triade bis heute erhalten. An ganz alltäglichen Dingen übt man sich in das paradoxe Bewusstsein ein, dass Drei eins sind. Drei Glieder hat ein Finger und doch bewegen sie sich gemeinsam. Dreiblättrig ist der Klee, und doch sagt man nur Kleeblatt. Rauhreif, Schnee und Eis, alles zergeht zu Wasser. Sonne, Sonnenstrahl und wärmendes Licht, alle drei sind eins. Drei Personen sind in Gott, und doch ist er immer derselbe Ein-Heilige. Der unsichtbare, dreieinige Gott wird für uns Menschen sichtbar in all dem, was er hervorbringt und bewirkt. Und nun soll auch noch die Akelei ein »vestigium trinitatis«, ein Versteck für das »offene Geheimnis« der Trinität sein? Am besten kann sich jeder dieses »Gesamtkunstwerk« von Vater, Sohn und Heiligem Geist selbst erschließen, indem er sich mit dem Geheimnis Gottes im eigenen Inneren verbündet. Ich habe einen sonnigen Maimorgen lang die Akelei meditiert und bin dabei immer froher und heiterer geworden, ein gutes Anzeichen für die wohlwollende Nähe des dreieinigen Gottes.
Zuerst kam ich auf die schöpferische Seite Gottes: Wer einmal eine Akelei im Garten angesiedelt hat, weiß, mit welcher Leichtigkeit sich diese zarte Pflanze selbst aussät. Sie produziert eine Unzahl winzig kleiner schwarzbrauner Samenkörnchen und verteilt sie aufs Großzügigste. Damit repräsentiert sie die kreative Kraft Gottes, die das Leben im Übermaß weitergibt und gar nicht aufhören kann, sich zu verbreiten. Genauso war es mit meiner Akelei. Sie war eines Tages einfach da, schob ihren grazilen Stengel empor und bildete eine Fülle sanft gerundeter Blätter, immer in Dreiergruppen angeordnet und in mattes Grün getaucht, das ins Silberne spielt. Auch wenn dieses Kunstwerk scheinbar aus dem Nichts auftauchte und keinen Ursprung hatte, so brachte es selbst unendlich viele Samen hervor.
Den zweiten trinitarischen Aspekt der Akelei sehe ich in ihrer dem Menschen zugewandten Seite. Als Waldblume ist sie zu uns Menschen in die Gärten gezogen, hat ihre im Wald geübte Diskretion preisgegeben, um uns nahe zu sein. Kam nicht ähnlich Gott in Jesus zu den Menschen, indem er seinen unendlichen Abstand gegen Nähe tauschte? Die Akelei erscheint in der gotischen Ikonographie manchmal als ein reines Christussymbol, zum Beispiel auf dem Fußboden unter den musizierenden Engeln des Genter Altars der Brüder van Eyck. Die christliche Mystikerin Hildegard von Bingen entdeckte als Erste die Heilkraft der Akelei und gab ihren Kranken Akeleihonig gegen Verschleimung der Atemwege, Halsschmerzen und Mandelentzündung. Frei sprechen können, mit Gott und den Menschen, das war die gute Botschaft von Jesus Christus. Der Heiland verkörpert die heilende Seite Gottes.
Der dritte Aspekt ist der des Heiligen Geistes als der »ersten Gabe Gottes an die Menschen«. Man kann ihn als Bewegung Gottes verstehen und als sein persönliches Engagement in der Welt, das wie die Akelei immer für Überraschungen gut ist. Im letzten Jahr standen meine schönsten seidenblauen Akeleien noch zu Füßen eines eisernen Obelisken mit Clematis. Heuer lächelten mich dort ihre purpurvioletten Schwestern an, während meine blauen Lieblinge sich einen Platz im Rosenbeet gesucht und die rosa Pracht mit einer lavendelfarbenen Note ergänzt hatten. Eine Komposition, die ich dem lebendigen Schöpfergeist im Herzen der Welt verdanke.
Ein paar Stunden im Zwiegespräch mit einer Blume haben mein trinitarisches Verständnis revolutioniert. Jetzt weiß ich: In der Trinität zeigt sich Gott als Gesamtkunstwerk in der Welt.
AMEISEN
oder Die Wärme der Heiligen
Alles kommt von Gott.
Ich beuge mich über die Ameisen
und erblicke in ihren glänzenden,
schwarzen Augen
Gottes eigenes Angesicht.
Nikos Kazantzakis
»Geh zur Ameise und lerne von ihr«, beginnt ein Weisheitsspruch aus dem Alten Testament, den man noch immer beherzigen kann. Auch wenn für Gärtner die kleinen Krabbler wegen ihrer Blattlaus-»Zucht«, unterhöhlten Plattenwegen und Ameisennestern mitten im Rasen nicht unbedingt nützliche Tierchen sind. Ihr Ruf ist entsprechend schlecht. Sie werden oft abschätzig als »Soldaten« bezeichnet, die seelenlosen Befehlsempfängern gleichen. Nun sind Ameisen gewiss keine Einzelgänger, aber zu einer »Ameisenmaschine« gleichgeschaltet sind sie nun auch wieder nicht. Die winzigen Tiere haben zusammen eine Lebensform entwickelt, bei der es jeder einzelnen Ameise gelingt, im großen Durcheinander und Gewimmel des Ameisenhaufens ein gemeinsames Ganzes zu erkennen. Das ist etwas, was uns Individualisten heutzutage oft schrecklich schwer fällt. Wir sind fürchterlich viel mit uns selbst beschäftigt. Und auf die anderen schauen wir oft nur, wenn wir etwas brauchen oder uns entlasten wollen.
Ameisen dagegen leben in einer so tiefen Verbundenheit miteinander, dass ihnen ein solches Verhalten reichlich fremd ist. Zu ihrem persönlichen Leben gehört als tragendes Leitbild das der Zusammengehörigkeit. Es ist – wie bei manchen uralten Volksstämmen auch – so stark ausgeprägt, dass Biologen von einer »Überseele« sprechen, die alle Stammesangehörige gemeinsam in den Dienst nimmt.
Anders als viele von uns verzichtet eine Ameise also nicht auf ihr rechtmäßiges Erbteil, anderen zu dienen. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das Erwachen der Ameisen aus dem Winterschlaf. Einige Ameisen bleiben auch bei kalten Temperaturen wach und krabbeln ab und zu aus der riesigen Überwinterungskammer in anderthalb Meter Tiefe (einer garantiert frostfreien Zone) nach oben zur Nestkuppel. Wenn die Sonne scheint und es wärmer wird, wärmen sie sich im Freien auf, laufen dann zu ihren im Schlaf erstarrten Artgenossen zurück und geben ihnen durch ihre bloße Nähe eine Portion Wärme ab. So minimal sie auch sein mag, die Wärmeboten tauen auf diese Weise mit viel Geduld langsam ihre im Kühlhaus liegenden Geschwister auf. Nach und nach erwacht eine nach der anderen, krabbelt ebenfalls nach oben und hilft mit, die Wärme nach unten zu tragen, bis endlich die große Masse des Volkes wach ist und seine Arbeit aufnehmen kann.
Spirituell gesehen, könnte man sagen, die Ameisen leisten den Dienst von Heiligen. Echte Heilige verstehen es, andere mit einer Wärme zu umhegen, die sie nicht von ihrer gegenseitigen Sympathie ableiten, sondern allein vom Wärmegrad ihrer Gottesliebe. Weil sie überreichlich ist, reicht sie weit über einen hinaus. Echte Heilige tragen die Wärme ihres Gottesbildes so lange zu anderen hin, bis diese selber auftauen und nun auch die Liebe Gottes in ihrem Herzen spüren. Das kann sich bis zur Glut steigern, die Gott in einem Menschenherzen anzuzünden versteht. Der Zisterzienser Adam von Perseigne (gestorben 1221) kannte das Geheimnis: »Wen die Glut der himmlischen Liebe in Brand gesteckt hat, der wird flüssig und steckt mit dieser Glut andere an.« Diese Glut der Liebe überzeugt mehr als tausend Worte. Diese Glut macht auch sehend. Denn sie sorgt dafür, dass man wie die Heiligen das Angesicht Gottes in allen Mitgeschöpfen erkennen kann. Es strahlt tief im Inneren von uns allen auf, unwiderstehlich, hinreißend und hingebungsvoll – wie in den glänzenden, schwarzen Augen der Ameisen.
APFELBAUM
oder Spirituelles Reifen
Ein Jüngling kann nicht begreifen, dass ein Älterer seine Entzückungen, Gefühls-Morgenröten, GedankenWendungen und -aufschwünge auch einmal durchlebt habe ... – aber ganz feindselig stimmt es ihn zu hören, dass, um fruchtbar zu werden, er jene Blüten verlieren, ihren Duft entbehren müsse.
Friedrich Nietzsche
Wenn ich nach einem Sinnbild für spirituelles Erwachen suche, gibt es für mich nichts Schöneres als einen in der vollen Blüte stehenden Apfelbaum. Die duftige Wolke aus Tausenden von weiß-rosa Blütenblättern scheint über dem zarten, maigrünen Gras zu schweben. Angesichts dieser märchenhaften Reinheit öffnet sich mein Inneres selbst wie eine Apfelblüte dem Licht. Wie viel Zuversicht und Verheißung spricht aus ihr! Die Blütenpracht erinnert mich an spirituelle Aufbrüche und begeisterte Anfänge im Vertrauen auf wunderbare seelische Entfaltungsmöglichkeiten. Der Geist erscheint als »ewige himmlische Blüte«, so beschrieb es Bettina von Arnim einmal in einem Brief an Goethe. Diesen Blütentraum zu meditieren fällt leicht.
Aber dann sinkt der weiße Blütenschleier zu Boden. Übrig bleiben viele kleine harte Knöllchen. Unansehnlich und wenig inspirierend für hoch fliegende spirituelle Träumereien. Unspektakulär, ernüchternd. Und so hat es etwas gedauert, bis ich bereit war, auch von der harten Knolle etwas über die Entwicklungsphasen der menschlichen Seele zu lernen.
Nach so manchem verheißungsvollen Beginn gerät unsere innere Entwicklung oft in eine überraschend unansehnliche Phase. Der Zauber des Anfangs, »der uns beschützte und der uns half zu leben« (Hermann Hesse), ist verschwunden. Wir haben die ersten Lektionen der Selbstwahrnehmung gelernt und einige Illusionen über uns verloren. Nur unser kleines Seelenknöllchen ist übrig geblieben, unattraktiv und kümmerlich, noch weit von seiner eigentlichen Bestimmung entfernt. Das ist enttäuschend wenig. Und ich kenne nicht wenige Menschen, die sich nach einem zauberhaften Aufblühen in der Liebe Gottes enttäuscht vom spirituellen Weg abwandten, weil sie nichts vom Geheimnis des harten Knöllchens wussten und sich nun einer schönen Erfahrung beraubt sahen. Aber trotzdem enthält es das ganze Geheimnis. Der kluge Apfelbaum selbst macht keinen Unterschied zwischen Blüte, Knolle und Apfel: Für ihn ist die makellose, betörende Schönheit des Anfangs identisch mit dem harten, bitteren Übergang oder der schweren und reifen Süße der vollen Frucht.
Von Meister Eckhart gibt es dazu folgenden Gedanken: »Gott ist der, der alles in allem wirkt, er ist der Ursprung und das Ziel. Er ist also Blüte als Ursprung, Frucht als Ziel. Es gehört im eigentlichen Sinne zum Göttlichen, dass in ihm Blüte und Frucht ein und dasselbe sind.«
Das Göttliche ist also auch in der kleinen verhärteten Knolle vollständig gegenwärtig. Sie ist der Beweis seelischer Fruchtbarkeit. Mit ihr fängt inneres Wachstum an. Die Schönheit der Blüte lockte die Bienen zur Bestäubung an – Verlockung ist ein Grundprinzip der Schöpfung. Aber auch die grüne harte Knolle wird vom Entfaltungsprinzip des Kosmos umfangen: Ihre bittere Hässlichkeit schützt sie nun vor frühzeitigem Verzehr. So dient auch ein gewisses spirituelles Abweisend-Sein einer Seele zum Schutz: Sie kann sich in Ruhe entwickeln und reifen. In dieser Phase finden wir uns selbst oft unmöglich und der Stagnation preisgegeben, merkwürdig unverstanden, ungeliebt von Gott und der Welt, von allen Gärtnern unserer Seele verlassen und vergessen. Aber schließlich wird sich auch das Bittere und Verhärtete am Ende in Süße verwandelt haben, verlockend anzusehen wie ein reifer Apfel. In der Gegenwart solchermaßen gereifter Menschen kommt uns der Duft Gottes verführerisch nahe. So nahe, dass wir eine ungeheuere Lust auf Gott bekommen und nicht widerstehen können, selbst in den Apfel der Gotteserkenntnis zu beißen.
BANK
oder Die gelassene Anschauung Gottes
Und Jesus sagte zu seinen Freunden:
Sucht euch einen stillen Platz
und ruht euch ein wenig aus!
Markusevangelium 6,3
Ich liebe es, in meinem Garten zu werkeln, weil die Arbeit im Freien eine natürliche Art der Kontemplation für mich ist, selbst wenn die Kinder dabei herumtoben oder in Nachbars Garten der Rasenmäher rattert. Aber ich liebe es auch, einfach auf der Bank zu sitzen und eine schöpferische Pause einzulegen. Dass man sich im Garten einfach ausruht und ihn nicht als reinen Nutzgarten anlegt, war bis zum Mittelalter nicht üblich. Weder im Bauern- noch im Klostergarten standen Gartenmöbel herum. Umso bemerkenswerter ist es, dass der deutsche Dominikanerprovinzial Albertus Magnus (1193 – 1280), Theologe, Philosoph, Naturforscher, Professor und Bischof in einer Person, sich in einem seiner viel gelesenen Bücher ausführlich mit dem Thema »Gartenbank« beschäftigt.
Er liefert in seinem mittelalterlichen Bestseller über den Gartenbau sogar eine genaue Bauanleitung für eine Bank. Gartenbänke müssen ja nicht unbedingt aus Holz sein. In unserem ersten Garten war die »Bank« eine niedrige Mauer mit Sitzplatten aus Porphyr, die unsere Terrasse einfasste. Wenn die Sonne darauf schien, wärmte sich der rote Naturstein schnell auf und man konnte auch ohne Kissen angenehm darauf sitzen. Die Bank des großen Kirchenlehrers Albertus Magnus aber ist weder aus Holz oder Stein, sondern aus Rasen! Für die Rasenbank legt man am Ende einer Rasenfläche ein etwa kniehohes Hochbeet an, das man aus Brettern zimmert oder aus Ziegeln aufmauert. Es wird mit Erde aufgefüllt, links und rechts mit aromatischen Kräutern und »lieblich duftenden« Blumen bepflanzt und in der Mitte zum Sitzen mit feinem Rasen belegt.
Albertus Magnus ist ein bekennender Rasenfan: »Das Auge wird durch nichts so sehr ergötzt als durch feines, nicht zu langes Gras.« Warum Albertus Magnus so sehr für Rasen schwärmt, schreibt er an anderer Stelle, in seiner »Biblia Mariana«. Dort wagt der Heilige einen mystischen Vergleich: »Christus selbst ist das grüne Gras, das Maria, die fruchtbringende Erde, gebar.«
Wenn man sich also auf einer Rasenbank niederlässt, sitzt man gleichsam auf dem Schoß Christi und ruht sich bei ihm aus. Die grüne Bank ist dazu da, dass »sich die Sinne erholen und die Menschen sitzen können, um sich ergötzlich auszuruhen«. Albertus Magnus wünschte jedem, dass er windgeschützt und geborgen auf seiner Rasenbank sitzen und dabei reine Freude und Vergnügen an der Gegenwart Gottes empfinden kann. Von diesem stillen Plätzchen aus erfasst man, dass alles im Garten eine frohe Bewegung hin auf Gott ist, so als widmeten alle Geschöpfe sich selbst ausschließlich Gott. »Gott genießt sich selber in allen Dingen«, hat das ein anderer Dominikaner, der Mystiker Meister Eckhart, ein paar Jahrzehnte später formuliert. Für unsere Seele ist das Sich-Einlassen auf den Genuss der Gegenwart Gottes pure Erholung, weil sie damit ihre ursprüngliche Ruhe und Heiterkeit zurückgewinnt. Selbst Goethe wusste noch von der Beziehung zwischen Rasenbank und Seelenfrieden, als er 1776 in Weimar notierte: »Hab ein liebes Gärtchen vorm Thore an der Ilm ... Da lass ich mir von den Vögeln was vorsingen, und zeichne Rasenbänke, die ich will anlegen lassen, damit Ruhe über meine Seele komme.«
Natürlich kann man sich auch auf einer Gartenbank aus Holz oder Stein ausruhen und mit Gott den Garten genießen. Aber so erdverbunden, zart und uns freundlich zugeneigt wie auf der weichen Rasenbank spürt man ihn da nicht so leicht. Bei der mystischen Gotteserfahrung schließen sich Genuss und Tiefe einander nicht aus, im Gegenteil. Wie schade, dass der fromme und menschenfreundliche Albertus Magnus nicht auch eine Bauanleitung für »mystische Kirchenbänke« geschrieben hat, damit auch beim Sitzen in der Kirche der Genuss Gottes unsere Seele erfüllt ...
BIENEN
oder Das Sammeln des Unsichtbaren
Heute, wo der Frühling endlich da ist, sollten wir im Freien bei unseren Freunden leben. Gehen wir zu jenen Fremdlingen auf dem Feld und tanzen um sie wie Bienen von Blume zu Blume – bauen wir in der Bienenstockluft unsere wahren sechseckigen Wohnungen.
Dschelaleddin Rumi
Zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen gehört das verlassene Bienenhaus im Garten meines verstorbenen Großvaters. Der Zauber dieses Ortes schlug uns Kindern mit der trockenen Bienenstockluft entgegen, sobald wir durch die Tür hineinschlüpften. Geheimnisvolle Gerätschaften hingen an der Wand und schliefen dort im Halbdunkel unter einer weichen Staubdecke, ohne sich dabei von uns stören zu lassen. Ihr Verlust an Kontur und Gebrauchtwerden enthob sie unserem Zugriff. Eine Honigschleuder lehnte als tonlose Trommel würdevoll erschöpft in einer Ecke. Fahlblau verblassende Holzkisten bargen in ihrem Inneren ein seltsam stimmiges Durcheinander feiner Kiefernholzrähmchen. In manchen hingen noch leere Wabenwände, zerbrechlich wie kostbares altes Pergament. Bei schlechtem Wetter saßen wir Kinder im Bienenhaus wie im Bauch einer Arche, hörten den Regen ohnmächtig auf das flache Dach schlagen und äugten im Dämmerlicht durch die Ritzen und Einflugschlitze der verschwundenen Bienenstöcke nach draußen. Brach die Sonne wieder durch, sandte sie flach gebündeltes Licht ins Innere, strahlende Flugbahnen, auf denen statt Bienen nun Staubteilchen tanzten. Und unsere Phantasie.
Das alte Bienenhaus war ein Ort der inneren Bilder, ein Raum der Transformation. Verlorenes wurde präsent, Sichtbares veränderte sich, Unsichtbares wurde sichtbar. Obwohl ich meinen Großvater nie gekannt hatte, war er hier gegenwärtig am Werk, ich sah ihn – Pfeife rauchend – mit seinen Imkergeräten hantieren. Obwohl keine einzige Biene mehr hier summte, konnte man sich wie eine von ihnen fühlen. Worte hatte ich nicht dafür, wohl aber Augen. Jahrzehnte später erst fand ich bei Rainer Maria Rilke einen all das umschließenden Satz: »Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.«
Wir Menschenvölker sind dazu bestimmt, den Nektar des Sichtbaren in die großen, goldenen Honigwaben des Unsichtbaren zu sammeln. Gedanken, Erinnerungen, Eingebungen. Sie sind Nahrung für uns selbst, aber auch für Freunde, für Fremde, für alle Wissenshungrige, die nach uns kommen. Wenn wir wieder mit wissenden Kinderaugen sehen, dann tanzen wir wie Bienen ungehindert auf dem Strahl der Zeit. Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges ist da, erfülltes Sein, liebevolles Einverstandensein, staunendes Dasein.
Das Wesentliche ist gleichermaßen im Sichtbaren wie Unsichtbaren geborgen. Für Mystiker sind alle Dinge darum beides. Also: durchsichtig. Das ist der Rückhalt aller Dinge, Pflanzen und Geschöpfe, zwischen denen wir leben. Und darum gibt es für Mystiker auch keine Kluft zwischen den Welten. Sie sehen die Einheit in allem und leben aus ihr heraus. Christus ist ein Symbol für die Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Mensch und Gott. Und der gleichfalls unsichtbare Heilige Geist ist die inspirierende Brücke zwischen beiden Welten. Nicht selten finden wir diese Brücke gerade in dem, was uns anfänglich irritiert, ängstigt oder befremdet hat. Die Liebe zu Christus weckt die Liebe zum Fremden, Unsichtbaren, Unbekannten.