18,99 €
»Es braucht eine Transformation hin zu einem integralen spirituellen Bewusstsein.« (Marion Küstenmacher)
Sie werden Einblick bekommen in eine faszinierend neue Sicht auf den christlichen Glauben
Sie werden die Bibel mit anderen Augen lesen und können ihre mystische Tiefe verstehen
Sie werden die spirituellen Erfahrungen Ihres Lebens neu zu deuten wissen
Sie werden selbstbestimmt Ihre persönliche Weiterentwicklung steuern können
Sie werden Lust bekommen, zu den Pionieren zu gehören, mit denen das Christentum der Zukunft beginnt
Marion Küstenmacher beschreibt das Entwicklungspotential der größten Weltreligion aus einer aufgeklärt integralen und spirituell erfahrenen Perspektive – mit einer Fülle von Impulsen aus Psychologie, Philosophie, Theologie, Biologie und Soziologie. Das Buch ist ein idealer Einstieg in die integrale Spiritualität nach Ken Wilber aus jüdisch-christlicher Perspektive. Es bietet zahlreiche neue Erkenntnisse zu den großen integralen Modulen Quadranten, Stufen, Linien, Zustände, Typen, Schatten und drei Gesichter Gottes. Dazu gibt es erstmals integrales Material zu den Bewusstseinsstufen im Blick auf typische Sprachmuster, Stufenwechsel, das Böse, die Liebe, Bibel und Textauslegung, Gebet, Kirche u. v. m. 135 Übungen für Einzelne und Gruppen dienen der praxisnahen Anwendung. Die perfekte Ergänzung für alle Leserinnen und Leser von »Gott 9.0« – und alle Christen, die in die Zukunft aufbrechen wollen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 660
Marion Küstenmacher
IntegralesChristentum
Einübung in eine neuespirituelle Intelligenz
Mit Illustrationen von Werner Tiki Küstenmacher
Für Tiki.
Danke.
Für alles.
INHALT
AUFMACHEN Einleitung
AUFBAUEN Holons – Das Ganze und die Teile
Vertikal: Eros und Agape
Horizontal: Agenz und Kommunion
Wohin strebt das Christentum?
Zum Üben und Vertiefen
AUFKLÄREN Quadranten – Die vier Seiten der Wirklichkeit
Vier Perspektiven, um die Wirklichkeit zu erfassen
Drei weitere Beispiele mit spirituellem Hintergrund
Mehr zu den vier Quadranten
Die Frage nach der Wahrheit
Das Kreuz und die Quadranten
Zum Üben und Vertiefen
AUFWACHSEN Stufen – Die Außenseite des Glaubens
1.0 BEIGE
Nur wer fühlen kann, entwickelt ein Gefühl für sich selbst
Berührung als erste Sprache Gottes
Handauflegen als Gebet
Zum Üben und Vertiefen
2.0 PURPUR
Bei den Schimpansen oder den Gorillas sitzen?
Zusammengehörigkeit und Bindungsgewissen
Jesus und sein Modell der Menschheitsfamilie
Wunder und Reliquien: Greifbares für das Unbegreifliche
Magische Versuchungen
Zum Üben und Vertiefen
3.0 ROT
Das tierische Erbe der Gewalt
Gewalt und Empathie
ROTE Ehrenkulturen und das Ethos der Vergeltung
Was Kinder in ROT brauchen
Tabubrüche
In Scham-Wut gefangen
Aggression und Furor im Opfer-Täter-Feld
Der heilige Anarchist und ein Stall voll böser Buben
Den Mythos erlösender Gewalt enttarnen
Befreiende Exodus-Energie
Zum Üben und Vertiefen
4.0 BLAU
Konvention und Tugendkultur
Kultur der Würdigung
Die drei Möglichkeiten von Normen
Höflichkeit – Vor wem verneigst du dich?
Im BLAUEN Käfig gefangen
Die Kreativitätskrise des BLAUEN Gottes
Zum Üben und Vertiefen
5.0 ORANGE
Die Entdeckung der Freiheit
Der kreative Zweifel
An einen nicht vorhandenen Gott glauben?
Der Feind der Moderne: religiöser Fundamentalismus
Konsequenter Atheismus und die Vernunft
Der religiöse Atheismus und das Gefühl für das Erhabene
Fasten im Kopf, »Pyro-Theologie« und »Atheism for lent«
Zum Üben und Vertiefen
6.0 GRÜN
Was Igel und Fuchs wissen
Spiritueller Subjektivismus
Der Wunsch nach Gemeinschaft
Bedingungsloses Dazugehören
Bedrohte Freiheit in der Republik des Fühlens
Mitgefühl in Aktion
Die Freude am interreligiösen Dialog
Zum Üben und Vertiefen
7.0 GELB
Der ethische Anker
Alle Stufen sehen und im eigenen Inneren wiedererkennen
Paradoxien überall, von Anfang an
Erregende Verständlichkeit des Unverständlichen
Zum Üben und Vertiefen
8.0 TÜRKIS
Die optische Täuschung des Getrenntseins überwinden
Mindsight und durchatmende Inspiration
The Story of Interbeing
Christusfraktale verwirklichen
Zum Üben und Vertiefen
9.0 KORALLE
Kosmozentrisches Bewusstsein
Der LOGOS vor, hinter und in allem
Unfertige Wesen im Meer aller Möglichkeiten
Zum Üben und Vertiefen
TYPISCHE SPRACHMUSTER DER STUFEN
Zum Üben und Vertiefen
DIE RIVALITÄT DER STUFEN UND IHRE WECHSELSEITIGE KRITIK
Typische wechselseitige Vorwürfe der Stufen
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
Zum Üben und Vertiefen
DAS DUNKLE – ZU HÖLLE, BÖSEM, SÜNDE UND SCHULD IN DEN STUFEN
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
Zum Üben und Vertiefen
LIEBE IN DEN STUFEN
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
FRAGEN ZU DEN STUFEN FÜR EINZEL- UND GRUPPENARBEIT
Fragen zur Einzelarbeit
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
Zum Üben und Vertiefen
Fragen für eine feste Gruppe
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
Zum Üben und Vertiefen
Partner- und Gruppenmeditation
Zum Üben und Vertiefen
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
DIE GANZE SPIRALE IM BLICK BEHALTEN
Allen Wertestufen in der eigenen Haltung Raum geben
Zum guten Handeln auf allen Wertestufen
AUFBRECHEN Stufenwechsel – Transformation durchleben
Voraussetzungen für einen gelingenden Stufenwechsel
Die Ängste der Stufen erkennen
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
Hypertransformation und Turbowandel
Die Wandergruppe – Das Feld im Prozess des Stufenwechsels
Der Status einer Stufe: offen, blockiert, geschlossen
Von offenem PURPUR zu geschlossenem BLAU
Die innere Dramaturgie von Stufenwechseln: Die Phasen von ALPHA bis GAMMA
Zum Üben und Vertiefen
AUFRÄUMEN Schattenarbeit – Korrekturprozesse
Was ist psychologisch gesehen der Schatten?
Der negative Schatten
Der positive Schatten
Den dunklen Bruder befreien
Arroganz und Verletzlichkeit – Ein Beispiel für die 3-2-1-Schattenarbeit
Der Schatten des Königs
Enge Feinde – Vom Schatten bedrohte Werte
Typen und Schatten
Stufen und Schatten
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
Gebet und Schatten
Die Vorteile von 3-2-1-Schattenarbeit
Zum Üben und Vertiefen
AUFSCHLIESSEN Bibel – integral lesen und verstehen
Die Bibel als Buch der Gotteserfahrungen
Wie die Stufen die Bibel unterschiedlich lesen und nutzen
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
Die Deutung eines biblischen Textes nach Stufen: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11-32)
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
Zum Üben und Vertiefen
AUFSCHWINGEN Beten – Blick der Stufen auf das Eine
1.0 BEIGE Gebet des Körpers
Zum Üben und Vertiefen
2.0 PURPUR Gebet des Stammes
Zum Üben und Vertiefen
3.0 ROT Gebet der Kämpfer
Zum Üben und Vertiefen
4.0 BLAU Gebet der Rechtgläubigen
Zum Üben und Vertiefen
5.0 ORANGE Gebet der Mündigen
Zum Üben und Vertiefen
6.0 GRÜN Gebet der Pluralisten
Zum Üben und Vertiefen
7.0 GELB Gebet der Integralen
Zum Üben und Vertiefen
8.0 TÜRKIS Gebet der Holisten
Zum Üben und Vertiefen
9.0 KORALLE Gebet der Werdenden
Zum Üben und Vertiefen
Überblick Beten durch die Stufen
Zum Üben und Vertiefen
AUFLEUCHTEN Die drei Gesichter Gottes
ES – Das 3. Gesicht Gottes: staunende Ehrfurcht
Zum Üben und Vertiefen
DU – Das 2. Gesicht Gottes: hingebungsvolle Liebe
Zum Üben und Vertiefen
ICH BIN – Das 1. Gesicht Gottes: Einssein mit allem
Zum Üben und Vertiefen
AUFWACHEN Zustände – Die Innenseite des Glaubens
Drei klassische Typen von MystikerInnen
1. Der Pilger, die Pilgerin
Zum Üben und Vertiefen
2. Der Liebende, die Liebende
Zum Üben und Vertiefen
3. Der Alchimist, die Alchimistin
Die Bewusstseinszustände und der Bildungsweg der Seele
Grobstofflich – Wachbewusstsein – einbilden
Zum Üben und Vertiefen
Subtil – Traumschicht – ausbilden
Zum Üben und Vertiefen
Kausal – Tiefschlaf – entbilden
Zum Üben und Vertiefen
Einssein – Nicht-Zweiheit – Ebenbildlichkeit
Zum Üben und Vertiefen
Dienst in der Welt – Erneuertes Wachbewusstsein – Überbilden
Zum Üben und Vertiefen
Die dreifache dunkle Nacht
AUFSTREBEN Linien – Entfaltungsmöglichkeiten
Lebensfragen und Forscher zu den Entwicklungslinien
Zum Üben und Vertiefen
Wie gehen wir mit den Linienintelligenzen in unseren Gemeinden um?
Zum Üben und Vertiefen
AUFLEBEN Typen – Persönlichkeitsreifung
Verschiedene Typen in den Quadranten
Psychologische Typologien
Alle Typen kann man auf allen Stufen antreffen
Die Entwicklungslinien und die Enneagrammtypen
Die eigene Typeinschätzung integral überprüfen
Mögliche Verwechslungen zwischen Typen und Stufen
Wie reden wir über- und miteinander?
Zuhause in meiner eigenen Klimazone
Zum Üben und Vertiefen
AUFHOLEN Kirche – integrale Impulse
Die Kirchen und das dogmatische Nadelöhr
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
Die Quadranten und die Kirchen
Zum Üben und Vertiefen
Die Kunst, eine Gemeinschaft zu bilden
Zum Üben und Vertiefen
1.0 BEIGE
2.0 PURPUR
3.0 ROT
4.0 BLAU
5.0 ORANGE
6.0 GRÜN
7.0 GELB
8.0 TÜRKIS
9.0 KORALLE
AUFSUCHEN Namensregister
Anmerkungen
Dank
AUFMACHEN Einleitung
Seit dem Erscheinen des Buches »Gott 9.0«, das ich zusammen mit Tilmann Haberer und meinem Mann Werner Tiki Küstenmacher geschrieben habe, sind nun acht Jahre vergangen. Es hat inzwischen die achte Auflage erreicht und sich zu einer Art Standardwerk für einen integralen Blick auf das Christsein gemausert, das auch von vielen Nicht-Christen als Einführung in das integrale Bewusstsein geschätzt wird. Es wurde ins Englische, Lettische und Niederländische übersetzt und hat dank der englischen Ausgabe Leser in über 15 nicht-europäischen Ländern gefunden.
Vor allem aber hat es einen Wunsch von uns drei Autoren erfüllt. Wir hofften, mit diesem evolutionären Modell anderen Menschen ermutigende Impulse für ihren eigenen spirituellen Weg zu geben. »Gott 9.0« basiert auf einer Kombination aus dem sozialpsychologischen Werte-Modell »Spiral Dynamics«, der integralen Philosophie Ken Wilbers, einer progressiven, postkonfessionellen Theologie und dem reichen Schatz der interreligiösen Mystik. Es ging uns bei diesem Weg aber nicht nur um eine private »Selbstversorgung« und persönliches spirituelles Wachstum. Ebenso entscheidend schien uns die kollektive Anstrengung, ein Gespür für die wesentlichen Bausteine einer tragfähigen »Religion von morgen« (Ken Wilber) zu entwickeln und sie zu realisieren. Wir sind die Generation, deren Aufgabe es ist, das Werden einer neuen, lebendigen Gestalt des Christentums zu fördern und in unserem eigenen Leben zu erforschen. Diesen Wunsch nach einer Transformation unserer Religion und einer gemeinsamen Weiterentwicklung im Christentum teilen ganz offensichtlich sehr viele unserer Leserinnen und Leser. Sie haben über unsere Webseite inzwischen über 12.000 der farbigen Lesezeichen bestellt und im Freundeskreis weitergegeben. »Gott 9.0« wird in Schulen, kirchlichen Bildungshäusern, in Gemeinden, Hauskreisen und spirituellen Salons vermittelt, es ist zum Inhalt von Weiterbildungen für Pfarrerinnen, Pfarrer, Priester, Ordensleute und haupt- und ehrenamtliche Kirchenmitarbeiter geworden. Dabei tauchte immer wieder der Wunsch nach Vertiefung und praktischen Übungen auf, mit deren Hilfe man sich die Inhalte noch besser verständlich machen kann.
In diesem neuen Buch»Integrales Christentum« versuche ich, diesem Wunsch nachzukommen. Ich bin mir dabei bewusst, dass ich das mit meinen Skizzen nur in sehr bescheidenem Umfang leisten kann. Ich hoffe auf viele weitere integrale Beiträge aus Theologie und Religionspädagogik, um den Blick auf das integrale Christentum der Zukunft zu weiten und den Weg dorthin zu verbreitern und zu vertiefen.
Ken Wilber formulierte in seinem Buch »Integrale Spiritualität« den schönen Begriff der kosmischen Adresse. Damit ist der jeweilige Aufenthaltsort gemeint, von dem aus jemand spricht. Er ergibt sich aus der individuell aktuellen Kombination der verschiedenen Perspektiven von Quadranten, Stufen, Linien, Zuständen und Typen. Mit jeder Bewusstseinsveränderung verschiebt sich dieser Standort und damit die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Man befindet sich dann tatsächlich in einem anderen »Weltenraum«, wie Wilber sagt.
Zu Ihrer Orientierung beim Lesen dieses Buches möchte ich Ihnen darum vorab ein paar Sätze über meinen persönlichen Hintergrund sagen (integral Informierte werden daraus sicher meine kosmische Adresse ableiten können). Seit 1873 haben meine Ahnen Generation für Generation gemischt konfessionell geheiratet. Ich bin also familiär schon 150 Jahre lang ökumenisch vorgeprägt. Meine Eltern waren eher kirchendistanziert, Glaube war für sie Privatsache. Es gab keine negativen Gottesbilder in meiner Kindheit, dafür aber einen wunderbaren Zugang zu christlichen Symbolen und Kunst. Als Kind hatte ich einige naturmystische Erlebnisse, die mir einen ersten, unvergesslichen Geschmack vom Einen vermittelten. Als Konfirmandin hatte ich mir etwas ähnlich Ergreifendes von meinem ersten hochheiligen Abendmahl erhofft. Von der Realität an meinem Konfirmationstag war ich so enttäuscht, dass ich am Abend meiner Konfirmationsfeier am liebsten aus der Kirche ausgetreten wäre. Eine Freundin schenkte mir zum fünfzehnten Geburtstag mein erstes Mystikbuch, Texte von Edith Stein, die mich tief beeindruckten. Anfang der 1970er Jahre stieß ich für eine Weile zu den flippigen Jesus People, wo sich US-Soldaten und deutsche Jugendliche im Saal eines Missionsordens zu »Hippiegottesdiensten« trafen. Mit sechzehn wurde ich dann eines der ersten Mitglieder der neu gegründeten Würzburger Teestubengemeinde. Es war ein klarer Schritt hin zu GRÜN mit ersten integralen Elementen: Wir waren ökumenisch, basisdemokratisch, links, charismatisch, sozial engagiert in Drogen- und Eine-Welt-Arbeit, experimentierten mit neuen Gottesdienstformen, erlebten musikalische Kreativitätsschübe und allerhand außergewöhnliche Bewusstseinszustände, wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben werden. Dazu kam eine konsequente, der Aufklärung verpflichtete, historisch-kritische Bibelexegese durch unseren Gemeindeleiter, den Neutestamentler Dr. Erhard Griese. Er vermittelte uns die geistige Freiheit von ORANGE und eine echte Prozesstheologie: Man ist nicht einfach Christ, sondern bestenfalls ein Christ im Werden, der immer wieder einen Anfang zu machen hat. Ein wichtiger Gedanke von ihm war auch: Suche die Gemeinschaft, aber hänge dich nicht an sie allein, sondern an Jesus Christus als inneren Meister. Die Gemeinschaft mit ihm ist die entscheidende, wo immer sie dich auch hinführt. Diese Haltung hat mich durchs Studium begleitet und nie verlassen, es war für mich nie ein Problem, Wissenschaft und Glauben zusammenzuhalten.
Das Lernen ging nach dem Studium und im Beruf weiter. Ich war fasziniert von Tiefenpsychologie und systemischen Ansätzen, profitierte stark von der franziskanischen Spiritualität meines Lehrers Richard Rohr, wurde Enneagrammlehrerin, machte Ausbildungen u. a. in Spiral Dynamics Integral und Wertimagination, begann 1992 mit der Praxis des Herzensgebets und fand immer mehr mein inneres Zuhause bei den Mystikern und Mystikerinnen. Sie beschrieben Bewusstseinszustände, die ich auch erlebt hatte, mir alleine aber nicht hatte deuten können. Eine unglaubliche Erleichterung, auch wenn ich mir alles mühsam selbst zusammensuchen musste. Meine innere Welt wurde reicher, auch durch mühsame, kräftezehrende Transformationsprozesse. 1997 verlor ich in der Mitte der Schwangerschaft ein Baby und musste es tot zur Welt bringen. Danach fiel ich in eine seelische Krise, nichts konnte mich trösten. Meine Rettung war das gerade erschienene Buch »Eros, Kosmos, Logos« von Ken Wilber. Ich wusste von der Passion, die er durch den Tod seiner Frau erlitten hatte, und vertraute ihm. Ich kaute diesen dicken Wälzer Satz für Satz durch und erlebte diesen Prozess als Heilungsweg und geistige Auferstehung zu GELB. Philosophie und Spiritualität befreien, wenn sie existenziell überzeugen. Hier eröffnete sich mir eine riesige Metaebene, dargestellt von einem klaren Geist, der mir die Module des integralen Denkens erschloss. Die Puzzleteile meines spirituellen Weges fingen an, sich mit Hilfe der integralen Landkarte zu verschränken, zu ordnen, zu vertiefen. Die Geschichte des Christentums erstand neu vor meinen Augen, ebenso die Dynamiken in unserer Gesellschaft. Altes konnte ich loslassen oder anders wertschätzen, Neues tauchte auf und konnte elegant anschließen. Zwanzig Jahre später kann ich sagen, dass die integrale Philosophie und Spiritualität mein Bewusstsein entscheidend verändert haben. Nach wie vor sehe ich, dass sie mir helfen, mich als Christin im großen Pilgerstrom meiner Religion froh nach vorne zu bewegen. In einer Religion, für die Gott, der unentwegt Neues ermöglicht, immer wieder einen neuen Anfang setzt und ihr eine klare Richtung vorgibt: hin zu immer mehr Mitgefühl, Inklusivität und Liebe, wie sie uns Jesus, der Lebendige, vorgelebt hat.
Ich hoffe, dass es Ihnen beim Lesen dieses Buches ähnlich geht. Es würde seinen Zweck erfüllen, wenn es Ihnen den Reichtum und die zur Entfaltung drängenden Möglichkeiten des Christentums ein Stück näherbringt. Ich wäre glücklich, wenn es Sie dazu inspiriert, Ihren eigenen und unverzichtbaren Beitrag zu einem integralen Christentum zu leisten, einfach an dem Ort, wo Sie stehen und wirken können – so wie ich es versucht habe. Machen wir uns auf!
Marion Küstenmacher
Gröbenzell bei München
Ostern 2018
AUFBAUEN Holons – Das Ganze und die Teile
Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Galater 3,28
So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.
Epheser 3,18-19
Die Vielen werden Eines und um eines vermehrt.
Alfred North Whitehead (1861–1947), Mathematiker und Prozessphilosoph
Der Kósmos besteht aus Holons – immer weiter aufwärts und immer weiter abwärts. Das Höhere umfängt das Niedrigere, und alle Entwicklung ist zugleich Einbindung.
Ken Wilber (* 1949), Bewusstseinsphilosoph
Der Begriff Holon kommt aus dem Griechischen (, hólos und , on »das Teil eines Ganzen Seienden«), stammt ursprünglich von Arthur Koestler1 und wurde von Ken Wilber übernommen. Holon benennt ein Ganzes, das aus Teilen besteht und die Tendenz hat, selbst Teil oder Subholon eines größeren Ganzen zu werden. Holons finden wir als Grundprinzip der Selbstorganisation überall in der Natur: Zellkern – Zelle – Gewebe – Organ – Körper. Auch hier lässt sich kein Teil ohne Auswirkung auf die Gesamtstruktur verändern. Holons sehen wir auch in der Kunst: Note – Akkord – Takt – Strophe – Lied. Sie zeigen sich auch in sozialen Organisationsstrukturen: Haus – Weiler – Dorf – Gemeinde – Kleinstadt – Kreisstadt – Großstadt – Megacity.
Die russische Puppe veranschaulicht dieses kreative Streben nach einem Umfassenden:
Ein Holon bettet sich in ein größeres Holon ein und wird zum Subholon.
Nehmen wir ein Wort von Paulus, z. B. Freiheit (in Gal 5,1a). Es ist ein Holon, ein Ganzes, das aus zwei Subholons, den Silben Frei- und -heit besteht und noch tiefere Subholons, seine acht einzelnen Buchstaben, umfasst. Das Wort Freiheit ist gleichzeitig aber auch ein Subholon: Es ist Teil eines Satzes aus sechs Wörtern: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Dieser Satz ist das nächstgrößere, umfassendere Holon. Es entsteht durch einen kreativen Prozess, ein Fortschreiten hin zu etwas ganz Neuem. Zusammen erzeugen diese sechs Subholons einen neuen, gemeinsamen Sinn, den kein Subholon alleine schaffen könnte. Dieser Satz wird dann vom nächstgrößeren Holon, einem Textabschnitt, umschlossen. Und so geht es weiter von Holon zu Holon: Das ganze Kapitel 5 ist Teil des Holons Galaterbrief, der ein Subholon des Neuen Testaments ist, das zusammen mit dem Alten Testament das Superholon unserer Bibel bildet, die wiederum Teil einer Bibliothek heiliger Schriften der Weltreligionen als nächstem Holon sein könnte. Was immer gerade das größte, umfassendste Holon sein mag, in ihm sind alle Subholons enthalten. Das ist von höchster Bedeutung. Die Zerstörung eines Subholons (oder einer niedrigeren Ebene) könnte den Untergang aller darüberliegenden Holons bewirken. Insofern ist die intuitive Hochachtung der jüdischen Schriftmystik vor dem einzelnen Buchstaben stimmig. Keiner darf ausgelassen oder verändert werden. Ohne die Subholons Buchstaben gäbe es kein biblisches Wort, keinen Text, keine Schrift, durch den hindurch Gott erkannt werden könnte. Die Buchstaben werden als heilige Grundbausteine meditiert und gewürdigt. Sie führen gemeinsam hinauf zum alles umfassenden Absoluten – eine tiefe Verneigung vor dem holarchischen Prinzip Ganzes/Teile.2
Dieses grundsätzliche Vermögen von Holons/Subholons, die sich zu immer umfassenderen Holons/Subholons entwickeln können, funktioniert nach dem Prinzip Integrieren und Transzendieren (auch Aufnehmen und Überschreiten genannt). Das gilt auch für unsere menschliche Bewusstseinsentwicklung. Wenn wir die holarchische Kette Vorschüler – Grundschüler – Gymnasiast – Student – Doktorand – Professor nehmen, wird klar, dass es immer vom Einfachen zum Komplexen geht. Man kann nicht als Professor anfangen und sich dann zum Vorschüler hinauf entwickeln. Das berührt aber nicht die gemeinsame Menschenwürde der beiden. Selbstverständlich ist der Vorschüler als Mensch gleichrangig wie der Professor, hier gibt es keinen Unterschied. Der Professor hat aber, wenn er auf seine gesamte intellektuelle Entwicklung zurückschaut, eine komplexere Wissensorganisation, einen höheren Grad an Bewusstsein und damit mehr Tiefe. Sein Status schließt alle vorigen Wissensstadien ein. Alle seine Subholons zusammen haben dagegen eine größere Spannweite.
Aus Studien der Entwicklungspsychologie wissen wir inzwischen, in welchen Schritten sich der menschliche Geist schrittweise ausdifferenziert und holonisch entfaltet: Er reift von egozentrischem zu ethnozentrischem zu weltzentrischem zu kosmozentrischem Bewusstsein heran. Mit zunehmender Komplexität kann unser Bewusstsein immer mehr umfassen und einbeziehen.
Aus aufeinanderfolgenden Holons/Subholons entsteht also eine Wachstumshierarchie oder besser eine Holarchie, ein Fortschreiten zu einer immer noch komplexeren Einheit. Dabei kann man vier Grundtendenzen oder Zugkräfte beobachten:
1. Selbstüberschreitung bzw. Transzendieren
2. Selbstanpassung bzw. Verbinden
3. Selbsterhaltung bzw. Autonomie
4. Selbstauflösung bzw. Regression
Vertikal: Eros und Agape
Am Beispiel der neun Bewusstseinsstufen sieht das so aus: Jede Stufe ist ein Holon mit Subholons unter sich und umfassenderen Holons über sich. Innerhalb jeder Stufe gibt es eine vertikale und eine horizontale Dynamik. Vertikal streben die Stufen sowohl aufwärts und abwärts. Dabei geht es um Weiterentwicklung und gleichzeitigen Zusammenhalt.
Den nach oben strebenden Antrieb zu weiteren Stufen und einer immer komplexeren Selbstorganisation nennt Wilber Eros. Mit Hilfe dieser verlockenden Zugkraft gelingt einem Holon die Selbstüberschreitung. Es transzendiert hinauf in ein umfassenderes Holon und bettet sich in die nächste Stufe ein. Vertikale Veränderungen nach oben zeigen sich als evolutionärer Aufschwung zur nächsten Stufe, als epochaler Quantensprung mehrerer Stufen gleichzeitig oder als entschlossener, revolutionärer Ausbruch aus einer blockierten Stufe (mit allen Risiken eines Absturzes). Das Beispiel unten zeigt 5.0 ORANGE, das nach 6.0 GRÜN als seinem nächsten umfassenden Holon strebt. Wenn ein Holon Angst vor dem Schritt zum nächsten Holon hat, spricht Wilber von Phobos. Die Furcht zeigt sich als Allergie des Holons gegen alles, was über es hinausführt. Die Stufe gerät in Stillstand, erlebt Lähmungen, erstarrt in sich selbst. Beobachten können wir das z. B. in allen religiösen Orthodoxien, die sich weigern, den Weg vom mythischem 4.0 BLAU zu modernem 5.0 ORANGE zu gehen. Oder bei postmodernen Christen in 6.0 GRÜN, die allergisch auf 7.0 GELB (und Modelle wie dieses) reagieren, weil sie Hierarchien generell ablehnen.
Die vertikalen Kräfte in der Spirale. Eros (hier bei 5.0 ORANGE) strebt nach oben, Agape (hier bei 4.0 BLAU) umarmt nach unten.
Das zweite vertikale Streben in der Spirale kümmert sich darum, alle früheren Stufen einzubinden. Wilber nennt diese große Umarmung Agape. Sie wird sichtbar in einem Holon, dem es gelingt, alle ihm vorausgegangenen Subholons so zu umschließen, dass keines unterdrückt wird und alle ihre besten Potenziale und Charismen ins Ganze einspeisen können. Im vorigen Beispiel umarmt 4.0 BLAU seine drei Subholons und verbindet damit die Stufen 1.0 bis 4.0 zu einem neuen, lebendigen Holon. Wenn man sich bei dieser Aufgabe, eine große Klammer zu bilden, allerdings zu sehr auf die früheren Stufen fixiert, ohne den eigenen Weg nach oben offenzuhalten, droht eine Regression. Die unteren Stufen können dann unverhältnismäßig erstarken. Das wiederum schwächt die komplexeren Stufen in ihrer Weiterentwicklung oder lässt sie so verkümmern, dass sie sogar vom Verschwinden und Tod bedroht sind. Wilber nennt die Tendenz zur regressiven Selbstauflösung Thanatos.
Aktuell stehen sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche vor diesem Problem. Die katholische Kirche ist sehr stark im Umarmen der Stufen von 4.0 BLAU abwärts. Aus ihrer Agape zieht sie ihr Selbstverständnis als Hüterin des Glaubens und tut sich schwer mit dem kleinsten Schritt hin zu einer modernen Theologie in 5.0 ORANGE. Lieber schaltet man seine kreativsten und klügsten Theologen und Mitarbeiter aus, die ihre Kirche hin zu 5.0 ORANGE und 6.0 GRÜN verändern wollen. Die protestantische Kirche dagegen lebt eigentlich vom Eros, der Schubkraft nach vorne, mit der es ihr immer wieder gelang, eine »Theologie des Vorsprungs« zu entwickeln. In mancher Hinsicht schon in 5.0 ORANGE und 6.0 GRÜN beheimatet, kommt man auf evangelischer Seite heute um der Ökumene willen mit der Transformation alter reformatorischer Positionen auch nicht mehr groß weiter. Die wechselseitigen Gesten sind freundlicher geworden, inhaltlich bewegt sich angesichts der dramatischen Folgen für beide Konfessionen viel zu wenig. Es ist nicht genug Agape da, um noch genug Menschen ab 5.0 ORANGE einzubinden, und ohne Eros verlieren beide an Attraktivität. Sie werden von den Menschen zu wenig als Förderbänder des Glaubens und der spirituellen Weiterentwicklung durch die höheren Stufen erlebt. Thanatos, das große Kirchensterben, greift um sich. Frustrierte treten aus, spirituell offene Menschen jenseits von 4.0 BLAU suchen anderswo ihr Heil. Was könnte helfen? Die katholische Kirche könnte auf ihre eigene, katholische Weise protestantischen Eros entwickeln und leidenschaftlich zu 5.0 ORANGE streben. Und die protestantische Kirche könnte auf kluge evangelische Weise endlich ein jahrhundertealtes Versäumnis nachholen und mit hingebungsvoller Agape ein als katholisch empfundenes Element integrieren, die Mystik als Innenseite des Glaubens.
Horizontal: Agenz und Kommunion
Im Gegensatz zu den transformatorischen vertikalen Prozessen verlaufen horizontale Dynamiken innerhalb einer Stufe. Durch diese Translation dehnt sich eine Stufe aus, stabilisiert sich und gewinnt an Substanz. Sie reift immer mehr aus. In gesunder Form erzeugt sie dabei eine anschwellende Kommunion im Sinne von Verantwortung, Teilhabe, Fürsorge, Güte und Einbindung in das Ganze. Eine fehlentwickelte Kommunion entsteht dagegen, wenn die Bewegungen innerhalb einer Stufe morbide Beziehungen, Unterwerfungen oder Verschmelzungen erzeugen, denen man nicht mehr entkommt. Jesus war ein Meister der Kommunion. Er band die unterschiedlichsten Menschen aus allen Schichten zusammen, ließ keine Schranken gelten, übte Fürsorge für Ausgeschlossene, Kranke und Arme. Sein Prinzip der offenen, nicht-exklusiven Tischgemeinschaft ist das große Symbol für Kommunion schlechthin. Die fehlende Abendmahlgemeinschaft der beiden großen Konfessionen verletzt Jesu Botschaft und Liebe fundamental und ist durch nichts zu entschuldigen. Sie ist auf skandalöse Weise eine morbide Verweigerung von Beziehung und Verbundenheit durch Unterwerfung unter dogmatische Regularien, die sich völlig von Jesus entfernt haben. Das kommt der Selbstaufgabe des Christlichen gleich.
Neben der teilhabenden Kommunion gibt es bei der horizontalen Entfaltung auch den Bewegungsspielraum für individuelle Autonomie, genannt Agenz. Diese Energie sorgt in gesunder Form für den inneren Antrieb zur selbstständigen Gestaltung des eigenen Lebens. Sie ermöglicht innere Freiheit, Souveränität und Unabhängigkeit. Zudem dient sie im Idealfall dem Recht und der Gerechtigkeit. Jesus zeigt ein hohes Maß an selbstbewusster Agenz im Umgang mit seiner Herkunftsfamilie oder seinen Jüngern. Noch deutlicher drückt er Agenz gegenüber den religiösen Autoritäten seiner Zeit aus, den Pharisäern und Schriftgelehrten. Souverän nimmt er für sich in Anspruch, die Gesetze neu interpretieren zu können, damit sie dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Immer wieder hebt Jesus bei vielen Menschen Störungen im Agenz-Bereich auf. Er befreit sie aus Bindungsängsten, aus lähmenden Schuldgefühlen und ermutigt sie, sich nicht mehr unterdrücken zu lassen.
Die horizontalen Kräfte Kommunion (hier bei 5.0 ORANGE) und Agenz (hier bei 4.0 BLAU) finden sich auf jeder Stufe.
Wohin strebt das Christentum?
Die Zielrichtung des Christentums ist klar: Sein höchster Eros ist es, immer mehr Christusbewusstsein zu wecken. Seine Agenz ermöglicht von Holon zu Holon ein immer freieres Leben im Geist Jesu. Und seine umfassende Agape strebt danach, alle Menschen und Lebewesen auf allen Stufen so zu umarmen, dass sich die göttliche Liebe auf Erden als Kommunion aller mit allen realisieren kann. In Eros und Agape, in Agenz und Kommunion ist Gott selbst am Werk, als »sanfte Überredung zur Liebe, die in allem wirkt«3 und den ganzen Kosmos als Superholon durchdringt.
Zunehmende Komplexität über die Stufen: Aus einem Holon wird ein Subholon, das in ein nächstgrößeres Holon integriert und transformiert wird.
Zum Üben und Vertiefen
ÜBUNGEingebettet sein. Wenn Sie Ihre Lebenszusammenhänge, Arbeit und Beziehungen betrachten, worin fühlen Sie sich überall eingebettet? Wo sind Sie ein lebendiger Teil eines größeren Ganzen? Geht es Ihnen gut damit? Wie sorgen Sie selbst dafür, dass es diesem Ganzen gutgeht? Wie sorgt dieses Ganze für Sie?
ÜBUNGUnserHolon Gemeinde. Überlegen Sie im Team, wie die vier Zugkräfte Eros und Agape, Agenz und Kommunion in Ihrer Pfarrei oder Kirchengemeinde wirken. Sammeln Sie konkrete Beispiele aus der realen Situation vor Ort. Sind alle gleichmäßig vertreten? Fehlt eine? Gibt es ungesunde Aspekte bei diesen Kräften? Welche sollte stärker ins Spiel kommen? Warum? Zu welcher tendieren Sie persönlich am meisten? Wie bringen Sie das ein? Welche Zugkraft ist Ihnen am fremdesten? Was wäre, wenn Sie diese für Sie inferiore (vernachlässigte) Kraft mehr berücksichtigen würden?
AUFKLÄREN Quadranten – Die vier Seiten der Wirklichkeit
Alle vier Quadranten haben mit der Innenseite und der Außenseite eines Holons in seiner individuellen und kollektiven Form zu tun. Diese vier Ecken des Kosmos sind offensichtlich sehr grundlegende Wirklichkeiten. Man könnte sagen, dass sich der GEIST als alle vier Quadranten manifestiert.
Ken Wilber (* 1949), Integraler Philosoph
Als Menschen sind wir wahrnehmende Wesen mit Perspektiven und persönlichen Blickrichtungen. Egal, wohin wir schauen, in uns, zwischen uns oder außerhalb von uns, wir befinden uns dabei bereits immer schon in einer Perspektive von Subjektivität, Intersubjektivität und äußerlicher Objektivität.
Michael Habecker (* 1953) und Sonja Student (* 1953), integrale Pioniere
Ken Wilber hat es in seiner integralen Philosophie unternommen, die Ansätze und Geltungsansprüche der unterschiedlichsten Wissenszweige und Wissenschaftsansätze in einem Gesamtmodell zusammenzufügen. Dabei stand er vor der Aufgabe, auch die Fülle spirituellen Erfahrungswissens einzubinden, um die größtmögliche Zahl sämtlicher Erkenntniswege darzustellen. Er wollte das Wissen aus den alten Weisheitstraditionen und Religionen mit dem Wissen moderner Wissenschaft verbinden – zwei scheinbar völlig getrennte Lager.
Wilber erkannte, dass alle diese Ansätze auf ihre eigene Weise Wirklichkeit beschreiben können, wobei keine Richtung völlig danebenliegt, aber auch nicht allein zu einhundert Prozent recht hat. Alle liefern begrenzte Teilwahrheiten, die sie aus ihrem Fachbereich gewinnen können. Die Quadranten umfassen sämtliche Bereiche unserer Wirklichkeitswahrnehmung und Erkenntnismöglichkeiten. Das heißt, alle beobachtbaren Phänomene lassen sich einem der vier Quadranten zuordnen.4 Jedes Ereignis, jede Person oder jedes Ding hat sowohl eine Innen- als auch eine Außenseite. Außerdem kann es sich in individueller oder kollektiver Form präsentieren. Auf keinen Aspekt darf man verzichten, weil jeder wichtige Informationen und Wahrheiten enthält.
Vier Perspektiven, um die Wirklichkeit zu erfassen
OL: ICH, subjektiv, individuell. Das Innere des Individuums, der Ort des Bewusstseins: Was sind meine Gedanken, Gefühle, Ideen, Einsichten, Träume, Visionen, persönlichen Glaubensvorstellungen, spirituellen Erfahrungen? Was ist mir bewusst, was liegt bei mir im Schatten und im Unbewussten? Wie deute ich mir das alles?
OR:ES, objektiv, individuell. Das Äußere eines Individuums, Dings, das dokumentierbare Verhalten und der objektiv nachweisbare Zustand des Einzelnen. Der objektive, wissenschaftliche Blick auf etwas Singuläres und die messbaren Fakten und Daten dazu.
UL:WIR, intersubjektiv, kollektiv. Das Innere eines Kollektivs, kulturelle Gepflogenheiten, Traditionen, gemeinsame Weltsichten, geteilte Werte und Moralvorstellungen: In welchen Beziehungen stehen wir?
UR: SIE (Plural-ES), interobjektiv, kollektiv. Das Äußere eines Kollektivs und seine objektiven Gegebenheiten. Materielle Komponenten, technisch-wirtschaftliche Basis, Organisationsstrukturen, Produktionskräfte, architektonische Strukturen, geopolitischer Standort, Gesellschaftssysteme – messbare Fakten und Daten von Systemen aller Art.
Entscheidend ist, dass alle vier Quadranten gleichberechtigte Perspektiven sind und immer gemeinsam in ein und demselben Moment erscheinen (emergieren). Es ist ähnlich wie bei dem Papierfaltspiel Himmel und Hölle, bei dem sich die verschiedenen »Erkenntnishorizonte« nur öffnen, wenn man alle vier »Tütchen« gleichzeitig in der Hand hat und bewegt.
Alle vier Quadranten erscheinen gleichzeitig und gleichberechtigt.
Jeder Moment gibt seine Basisform und seine innersten Qualitäten gleichzeitig über alle vier Quadranten an den nächsten Moment weiter. Dabei wird der vorige von dem neuen Moment umarmt und inkludiert (das Integrieren oder Einschließen des Bisherigen). Gleichzeitig fügt der neue Moment einen eigenen, neuen kreativen Aspekt, eine kosmische »Novität« hinzu (das Transzendieren hin zu etwas Neuem). Idealerweise sind dabei alle vier Quadranten beteiligt. Wenn dieses Integrieren und Transzendieren in allen vier Quadranten gleichermaßen von Moment zu Moment durch wechselseitige Resonanz stattfindet, spricht Ken Wilber vom »Tetra-Ergreifen des Neuen«. Wenn das aber nicht für alle vier Quadranten gilt, wird das Neue irgendwo in einem der anderen Quadranten behindert, verformt oder sogar aufgehoben. Es hört auf, hier zu existieren. So entstehen Spannungen und Schieflagen, die Konflikte nähren. Jeder Quadrant ist also für die Existenz und Weiterentwicklung aller anderen unabdingbar und mitverantwortlich. Alle stehen in Wechselwirkung zueinander. Die häufig praktizierte einseitige Betonung eines einzelnen Quadranten nennt man Quadrantenabsolutismus. Er erzeugt blinde Flecken in der Wahrnehmung und Hindernisse bei der Problemlösung. Es ist also wichtig, dass man immer alle vier Quadranten berücksichtigt und keinen unter den Tisch fallen lässt, gleich, ob man eine Situation erfassen, einen Menschen würdigen, einen Text verstehen, eine Organisationsstruktur ändern oder ein Problem lösen will. Die Bündelung aller vier Quadranten öffnet den Blick für das Ganze: Wenn alle vier Quadranten berücksichtigt und eingebunden werden, kommt man zu klareren Einschätzungen, stimmigeren Handlungsstrategien und langfristig wirkenden Lösungen.
Zur Illustration hier das Beispiel Kranksein im Blick auf die vier Quadranten:
Drei weitere Beispiele mit spirituellem Hintergrund
Die Jakobspilgerin. Wenn ich auf dem Jakobsweg laufe (Ich, OR), mache ich dabei innere Erfahrungen (Ich, OL). Diese kann ich unterwegs mit meinen Mitpilgern teilen und mit den spirituellen Werten abgleichen, die ich aus meinem bisherigen religiösen Kontext mitbringe (Wir, UL). Und schließlich kann ich zu Hause in meiner Gemeinde darüber einen Vortrag halten (Es, OR) oder eine Herberge für Jakobspilger einrichten (Sie, UR).
Ein Gespräch zwischen zwei Wüstenvätern der frühen Kirche: Ein Bruder wandte sich an den Wüstenvater Sisoes (Dialog, UL): »Ich sehe an mir, dass das Denken an Gott dauernd in mir ist (innere Erfahrung, OL).« Der Altvater antwortete: »Das ist nichts Großes, wenn dein Denken (OL) bei Gott ist. Groß ist es vielmehr, einzusehen, dass man unter allen Geschöpfen steht (Beziehungsstatus, UL). Das und die körperliche Mühe (konkrete physische Erfahrung, OR) führen zur Gesinnung der Demut (innere Haltung, OL).«5
Die Audienz beim Kaiser. Der Sufi (Mensch mit mystischen Erfahrungen, OL) Farid wurde von seinen Nachbarn bedrängt (Wir-Raum, UL), an den Kaiserhof in Delhi (Herrschergebäude, UR) zu gehen, um vom Kaiser Akbar eine Gefälligkeit für das Dorf (Siedlung, UR) zu erbitten. Als der Mystiker in der Residenz (UR) ankam, verweilte Akbar gerade im Gebet (beobachtbarer Vorgang, OR). Schließlich gewährte der Kaiser dem Mystiker eine Audienz (Gespräch, UL). Farid fragte: »Was habt Ihr denn gebetet?« (Inhalt, OL). Akbar antwortete (Gespräch, UL): »Ich habe den All-Erbarmer gebeten, dass er mir Reichtum, Erfolg und ein langes Leben schenken möge« (persönliche Wünsche, OL). Als er das vernommen hatte, machte Farid auf der Stelle kehrt (OR) und verließ den Palast (UR) mit den Worten: »Ich war gekommen, um einen Kaiser zu treffen. Aber ich habe nur einen Bettler getroffen, genau wie all die anderen« (individuelle Erkenntnis, OL).
Mehr zu den vier Quadranten
OL, subjektiv, individuell, innen Ich: Mein Weltinnenraum
OL ist der Quadrant, in dem wir lernen, nach innen zu gehen und unsere eigene Innerlichkeit zu erforschen. Welche Stimmungen, Gefühle (Emotionen, Affekte), Bilder, Gedanken, Motive, Werte, Bedürfnisse, Wünsche entdecke ich da? Was löst das in mir aus? Wie deute ich sie mir? Und noch grundsätzlicher: Wer bin ich? Was ist mein Ich? Was ist nicht Ich? Was sind meine Intentionen und Ziele im Leben? Was darf ich wollen? Was kann ich glauben und hoffen?
Entwicklung in OL dreht sich zunächst um die psychologische Gestaltung der »big five«, der fünf zentralen Dimensionen der Persönlichkeit: 1. Neurotizismus – wie ausgeprägt ist meine Tendenz zu negativen Emotionen, etwa Ärger, Angst oder Depression? 2. Extraversion – wie bereitwillig gehe ich auf andere zu? 3. Offenheit für Erfahrungen – wie sehr suche ich nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen? 4. Verträglichkeit – wie flexibel kann ich Mitgefühl und Selbstbestimmung verbinden? 5. Gewissenhaftigkeit – wie steht es um meine selbstgesteuerte Motivation und kann ich zielbewusst und adäquat handeln?
Die bewusste Auseinandersetzung dient dem inneren Aufräumen (siehe Schattenarbeit). Fixierungen, Leidenschaften oder abgewehrte und unterdrückte emotionale Haltungen können sich dann nicht zu starren Charaktereigenschaften verfestigen.
Ziel ist ein selbstständiger, aufgeklärter, nüchtern-wohlwollender Umgang mit der eigenen Persönlichkeit. Der Soziologe Thomas J. Scheff nennt das den »ästhetisch distanzierten Modus«.6 Zu wenig Selbstdistanz erzeugt ungebremstes Ausagieren der eigenen Gefühle und aggressiven Impulse. Extremer Subjektivismus zeigt sich als Sentimentalität, Hyperempfindlichkeit oder Narzissmus. Zu viel Selbstdistanz äußert sich in verkopftem Wegschieben der eigenen Gefühle, in Snobismus, kaltem Rationalismus, Sarkasmus oder Nihilismus.
Deswegen finden wir in der Bibel, bei erfahrenen Seelsorgern und den MystikerInnen zahlreiche Empfehlungen, nicht nur die tiefen Versenkungsgrade zu erforschen (siehe Zustände), sondern die eigene Persönlichkeit genau zu erforschen und aktiv ihre Transformation mitzugestalten.
Dazu trägt schon eine tägliche kleine Selbstbefragung am Abend bei: 1. Was habe ich heute empfangen? 2. Was habe ich heute gegeben? 3. Welche Probleme und Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet? 4. Wofür bin ich heute dankbar?
Hilfreich ist auch die Meditation der Herzensgüte. Schließen Sie die Augen, und machen Sie sich eine Freude bewusst, die Sie erlebt haben. Legen Sie dieses Gefühl in Ihr Herz, bis es ganz davon erfüllt ist und mit Offenheit und Liebe darauf antwortet. Schicken Sie dann dieses Gefühl der Herzensgüte mit einem Lächeln durch Ihren ganzen Körper. Spüren Sie, wie sich Wärme, Glück, Freundlichkeit und innere Ruhe überall in Ihnen ausbreiten. Setzen Sie Ihrer Liebe und Gutherzigkeit keine Grenzen! Lassen Sie sie einfach weiterströmen, hin zu einem Familienmitglied, Freund, Nachbarn, der Gemeinde, einem Land oder dem ganzen Planeten. Verschenken Sie Ihre Herzenswärme, grenzenlose Güte und Wohlwollen in alle Richtungen und an alle Menschen, Tiere, Pflanzen und Strukturen dieser Erde. Kehren Sie zum Abschluss in Ihr eigenes Herz zurück und verweilen Sie noch einen Augenblick, bevor Sie die Übung beenden.
UL intersubjektiv, kollektiv, innen Wir: Unsere geteilte Geschichte
Religiöse Kultur entsteht durch Beschreiben, Sammeln, Bündeln, Abgleichen von spirituellen Erfahrungen. Das ist die Basis des WIR-Quadranten. Im Laufe der Jahrhunderte entstand so ein gemeinsames Feld, das erzählt (Bibel), ausgedeutet (Lehre), verbindlich gesetzt (Dogma), weitergegeben (Tradition) und rituell ausgestaltet (Kultus) wird.
UL bewahrt uns davor, eine rein subjektive, privatisierte Religiosität (OL) zu pflegen. UL ist der Quadrant der religiösen Kommunikation, in dem sich viele Menschen treffen und gemeinsam über ihre spirituellen Erfahrungen austauschen können. Die Begegnung mit dem anderen transzendiert das Ich, erweitert sein Bewusstsein. Dieser Quadrant bietet dafür seinen ganzen Reichtum an: Diskussion, Debatte, Einspruch, Reflexion, miteinander und voneinander lernen, Verbundenheit, Gemeinschaft, Vernetzung, gemeinsames Gestalten und Feiern, Erinnern und Planen, Begreifen von Entwicklungsprozessen, biografischen Verflechtungen, Balance zwischen mir und anderen, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung und vieles mehr.
Der intersubjektive Quadrant sollte ein angstfreier Raum sein für eine offene Verständigung über unsere existenziellen Erfahrungen und ein darauf basierendes spirituelles Leben. Martin Bubers (1878–1965) Formel »Das Ich wird Ich erst am Du« gilt auch für das interkulturelle Gespräch der drei Buchreligionen. Der Religionssoziologe Klaus-Peter Jörns (* 1939) erinnert daran, dass die drei Buchreligionen Judentum, Christentum, Islam um des eigenen Überlegenheitsanspruchs willen historisch sehr lange im Ethnozentrismus verweilten und sich zu sehr von der Begegnung mit dem Du der anderen Religionen abgeschottet haben. Jörns spricht sogar davon, dass sie »durch das Gebot der Nichtvermischung in den Inzest geraten sind und auch eine inzestuöse Theologie betreiben.«7 Jede Theologie profitiert aber von der Möglichkeit, die eigenen Erkenntnisse im religiösen Dialog vertiefen zu können. Ein gutes Beispiel sind wieder die MystikerInnen der drei Religionen, die an den offiziellen Orthodoxien vorbei lebhaften Gedankenaustausch betrieben und davon profitierten, dass sie wechselseitig Bilder und Gedanken der anderen Religionen aufnahmen, um ihre eigenen spirituellen Erfahrungen besser verstehen und beschreiben zu können.
Schauen wir ins Judentum: In der hebräischen Bibel wird der soziale, intersubjektive Prozess UL als gegenseitiges Verbundenheitsgefühl beschrieben, das miteinander in Treue zur Gemeinschaft immer wieder neu erzeugt wird. So entsteht Zedaka, was deutsche Bibelübersetzungen sehr ungenügend mit Gerechtigkeit bezeichnen. Nach Gerhard von Rad (1901–1971) prägt die Zedaka als zentraler Begriff und »höchster Lebenswert« die Spiritualität des gesamten Alten Testaments. Zedaka umfasst alle Lebensbeziehungen: Menschen, Tiere, Umwelt, Gesellschaft, Kultur, Gott. Sie ist »das, worauf alles Leben, wenn es in Ordnung ist, ruht«. Darum gibt es »eine fast somatische Verbundenheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft.«8 Eine gelungene intersubjektive Verbundenheit umhüllt alle wie ein Mantel (Jesaja 61,10) und erzeugt spürbar das, was Menschen auf der GRÜNEN Stufe als »good vibrations« bezeichnen würden.
Wer immer seine eigene Geschichte erzählen und damit immer auch unsere gemeinsame Geschichte ausdrücken möchte, darf sich auf Zedaka berufen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber nannte diese Erkenntnis sein »Bekehrungserlebnis«, eine Korrektur seiner einseitigen Fixierung auf individuelle ekstatische Erlebnisse (OL). Anlass war der Besuch eines ihm unbekannten jungen Mannes, den er »empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein«. Obwohl Buber seinem Gast höflich und freundlich Zeit widmete, musste er wenig später erfahren, dass er dessen »stummen Hilferuf« nicht wahrgenommen hatte und ihm damit in keiner Weise gerecht geworden war. Bubers Gast, der »schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde«, war im ersten Weltkrieg gefallen.9 Für Buber war das keine Begegnung, sondern eine »Vergegnung«. Von da an wurde Buber zum bedeutenden Vertreter der intersubjektiven Bezogenheit im Sinne der Zedaka: »Du wirst gewollt für die Verbundenheit.«
Das christliche Bild dafür ist »der Leib Christi«, an dem alle in lebendiger Verbundenheit teilhaben. Jeder kann so für und mit allen anderen Christus sein, für Menschen, Tiere, Natur, alles Lebendige. UL macht bewusst, dass alle gemeinsam unentwegt eine gigantische Geschichte der Verbundenheit erzählen und niemand aus dieser Geschichte herausgestrichen werden darf. Jeder ist notwendig, damit alle anderen sich in ihm als Gegenüber erkennen können. Wechselseitiges Einfühlen stiftet die Gemeinschaft der Mitfühlenden.
Die typische Verengung dieses Quadranten äußert sich in Gleichmacherei und der Nivellierung von Unterschieden, in der Verachtung und Verfolgung Andersdenkender, in kultureller Massenidentität, Vergemeinschaftungsdruck und Gruppenzwängen bis hin zur Gleichschaltung um der perfekten Harmonie willen. Religiöse Ressentiments erzeugen einen auf Trennung fixierten Sakramentalismus und exklusiven Konfessionalismus. Der ursprünglich allen gemeinsame Raum für den lebendigen Austausch über unsere spirituellen Erfahrungen wird dann ständig geteilt: in heilig und profan, weltlich und kirchlich, evangelisch und katholisch, theistisch und atheistisch. Fixierte und streng verteidigte »allgemein gültige« Glaubensinhalte frieren so den flüssigen Prozess ein, in dem sich Individuen eigentlich ständig über ihre spirituellen Erfahrungen austauschen müssten, um miteinander eine lebendige Kirche zu kreieren.
Der christliche Schriftsteller Frederick Buechner (* 1926) beschreibt in seinen Büchern diese flüssigen Prozesse als »unsere geteilte Geschichte«. In seiner Autobiografie Telling Secrets hält er fest: »Meine Geschichte ist weiß Gott nicht deshalb wichtig, weil sie meine ist, sondern weil sie, wenn ich sie irgendwie richtig erzähle, auch Ihre ist [...] Es geschieht exakt durch diese Geschichten in all ihrer Eigentümlichkeit, dass Gott selbst sich jedem von uns intensiver und persönlicher zeigt. Wenn das wahr ist, bedeutet es aber auch umgekehrt, dass der Verlust unserer gemeinsamen Geschichten uns menschlich und spirituell gründlich verarmen lässt.«10 Wir sollten uns darum erzählen, wonach wir uns wirklich sehnen, wovor wir uns am meisten fürchten oder was eine Familie wirklich ausmacht. Über das Teilen unserer Geschichten kommen wir nicht nur den anderen, sondern auch uns selbst näher. Und Christus selbst. Seine und unsere Geschichte berühren sich, gleich ob wir ihn in unserem Leben anwesend oder abwesend erleben. Wir haben es in uns, schreibt Buechner, füreinander »Christusse« zu sein. Und das ist es unbedingt wert, erzählt zu werden, weil wir damit Wunder der Liebe und Heilung hervorbringen können. Mit Hilfe unserer Geschichten können wir zusammen mit Jesus segnen, vergeben, Freude und Leid teilen, so dass Gottes Geschichte und unsere Geschichte am Ende eine ist.
OR (Es objektiv individuell außen): Meine sichtbaren Taten
Dieser Quadrant ist für uns in der Regel der sichtbarste. Hier werden die konkreten Daten zu unserer Person gesammelt: Körperliche bzw. medizinische Daten (Geschlecht, Alter, Körpergröße, Blutgruppe, BM-Index, Blutdruck), Leistungsnachweise (Schulzeugnisse, berufliche Qualifikationen, Sprachkenntnisse, Fertigkeiten, Kompetenzen). Eine Überbetonung dieses Quadranten wäre die übertriebene Fixierung auf Körperliches (Essen, Sex, Beautywahn), auf alles Materielle, auf eigenen Besitz und persönliche Macht.
In OR erscheint alles, was ein Individuum konkret tut. In spiritueller Hinsicht ist dieser Quadrant daher der Lackmustest für jeden Glauben. Jesus hat immer wieder deutlich gemacht, dass nicht unsere Worte, sondern unser Handeln entscheidend ist. Im Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen (Mt 21,28-32) bietet er den Hohepriestern und Ältesten eine typische rabbinische Diskussion zu dieser Frage an. Jesus erzählt ihnen von einem Vater, der seine beiden Söhne auffordert, im Weinberg zu arbeiten. Der erste Sohn sagt, dass er keine Lust hat. Dann tut es ihm leid und er geht doch. Der zweite Sohn sagt zu, geht aber dann doch nicht hin. Jesus fragt nun, wer von den beiden den Willen des Vaters erfüllt hat. Für die Juden ist die Antwort völlig klar: Natürlich der erste! Entscheidend ist aus jüdischer Sicht, was wir letztlich tun.
Der jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel (1907–1972) beschreibt die jüdische Wertschätzung des oberen rechten Quadranten so: »Wir glauben nicht an Taten, wir glauben durch Taten. Durch Tun begreifen wir. Ein Jude wird zu einem Sprung ins Tun aufgerufen, nicht zu einem Gedankensprung. Man erwartet von ihm, dass er seine Bedürfnisse überwindet, dass er mehr tut, als er versteht, um mehr zu verstehen, als er tut. Durch die Ekstase des Tuns lernt er, der Gegenwart Gottes gewiss zu sein. Das Göttliche singt in unseren Taten, es wird in unserem Tun enthüllt [...] Judentum steht und fällt mit dem Gedanken der absoluten Bedeutung menschlicher Taten. Sogar Gott schreiben wir die Tat zu. Imitatio Dei [die Nachahmung Gottes] geschieht durch Taten. Die Tat ist die Quelle der Heiligkeit.«11
Ein innerer Sinn oder Glaube wird lebendig, wenn man ihn im Handeln erfährt. Innere Hingabe und Tun sind eins.
Auch Ken Wilber betont in der integralen Philosophie, dass wir unseren Schwerpunkt letztlich da haben, wo wir handeln und wie wir uns verhalten. Die Kurzformel dafür lautet: Das Sein ist da, wo das Handeln ist.
Die jüdische Tradition stellt Spiritualität immer in die Gemeinschaft des Gottesvolkes (UL). Man sollte nicht alleine für sich (OL) einen spirituellen Weg gehen und sich von der Gemeinschaft aktiv separieren (OR). Darum kennt das Judentum auch weder Mönche, Nonnen, Eremiten noch den Zölibat. Einem möglichen Quadrantenabsolutismus (OR) von einzelnen Gottessuchern wird damit entgegengewirkt. Es gibt dazu eine interessante Passage in der Thora (4. Mose 6,1-8), wo von einem Nasir, Mann oder Frau, die Rede ist, der oder die sich für eine begrenzte Zeit Gott weiht und bestimmte asketische Regeln einhält (z. B. Fasten, Alkoholverzicht). Ein Nasir verlässt dazu die soziale Gemeinschaft und ist für die Zeit seines Gelübdes »dem Herrn heilig«. Im Christentum würde man dafür hohes Ansehen genießen. Die Thora aber verlangt vom Nasir bei der Rückkehr ein »Sühneopfer«. Offensichtlich liegt die Sünde bei aller Heiligkeit darin, dass man sich zeitweilig von der Gemeinschaft isoliert hat!12 Rabbiner mahnen in der Seelsorge immer wieder: Trenne dich nicht von der Gemeinschaft! (UL), schneide dich nicht von der realen Umwelt (UR) ab und mache dir klar, dass Religion bedeutet, dass du persönlich (OL) zu einem konkreten Engagement in der Welt verpflichtet bist (OR). Ein spirituelles Konzept, das alle vier Quadranten berücksichtigt.
UR (Sie bzw. Plural-Es interobjektiv kollektiv außen): Die große Welt da draußen
In diesem Quadranten geht es darum, eine objektive Perspektive gegenüber allen beobachtbaren Strukturen einzunehmen. Dabei analysiert man, wie alle Teile funktionell zusammenpassen und auf welche Weise sie ein Ganzes bilden. Die wichtigste Frage von UR lautet deshalb: »Wie funktioniert das?« Man geht also von materiellen Gegebenheiten aus, die sich als biologische, kosmologische, soziale oder technische Geflechte zeigen: Diese beobachtbaren Systeme sind für UR die primäre Realität. Wissenschaftler studieren sie mit ihren objektiven Methoden und liefern Beweise in Form von empirischen Daten.
Die komplexen Strukturen und Organisationen, die auf diese Weise untersucht werden können, sind endlos. Viele davon haben wir Menschen im sozialen Bereich selbst geschaffen: politische Parteien, Krankenhäuser, Sportvereine, Finanzämter, Verkehrsbetriebe, Theater, Landwirtschaft, Versicherungen, Schulen, Gerichtshöfe, Fabriken, Orchester, Stadtwerke, Krankenhäuser, Bürgervereine, Armeen, Freizeitparks, Social Media, Ministerien, TV-Sender, Diplomatische Vertretungen, NASA, Seniorenheime, UNICEF, Fußballclubs, EU, Olympische Spiele, UNO, Nobelpreiskomitee, NATO, Museen usw.
Die meisten dieser genannten Systeme gab es zur Zeit Jesu nicht. Jesus würde sie vielleicht zu dem zählen, was »des Kaisers« ist, also zu den äußeren gesellschaftlichen und politischen Strukturen der realen Welt, in der man lebt. Jesus selbst war definitiv kein Empiriker, der durch Galiläa lief und Datenmaterial über Schafzucht, Fischereiquoten, Saatgut, Zollwesen oder Weinanbau sammelte. Aber er nahm seine Außenwelt in seine Gleichnisse hinein und verlieh ihr damit die Tiefe, die man in den beiden linken subjektiven Quadranten finden kann. Zudem war Jesus ein wacher Beobachter sozialer Systeme, wirtschaftlicher Strukturen und politischer Machtverhältnisse. Er übte an ihnen Kritik, wenn sie Menschen schadeten und nur den Funktionären und ihrem Machterhalt nützten. Man kann sich also durchaus in diese wache, kritische Beobachterposition von Jesus hineinbegeben, wenn man den Blick auf die vielen dezidiert christlichen Strukturen und Systeme richtet, die in der Bibel naturgemäß nicht vorkommen: Dekanate, Diözesen, Bistümer, Synoden, Ordensgemeinschaften, Kirchensteuersysteme, Bischofskonferenzen, CVJM, Kirchenleitungen, Kirchenchöre, theologische Fakultäten, kirchliche Landvolkshochschulen und Akademien, Konzile, diakonische Hilfswerke, Stiftungen, Weltkirchenrat, christliche Handwerkervereine und Studentenwerke, Bibelgesellschaft etc. etc.
Hier tritt das Christentum in seinen real existierenden, sichtbaren Strukturen zutage. Alle möglichen theologischen Positionen und spirituellen Erfahrungen haben sich über Jahrhunderte in diese materiellen Bausteine des Christentums eingeprägt, formen sie weiter und bestimmen unser Bewusstsein und unseren Lebensstil mit. UR erforscht die Regeln und Rahmenbedingungen, die sie erzeugen und mit denen sie sich selbst organisieren. Nichts davon ist sakrosankt. Alle können und müssen sich kritisch überprüfen lassen, mit all den analytischen Möglichkeiten, die dieser Quadrant selbst hervorgebracht hat. Und natürlich können sie reformiert und weiterentwickelt werden.
Als Schatten dieses Quadranten kann sich ein plumper Reduktionismus zeigen. Hier akzeptiert man nur das rein Materielle (»Ich glaube nur, was ich sehe oder was man beweisen kann«). Systeme werden nur nach Zweckmäßigkeit, Nutzen und Effizienz bewertet (Gemeinden werden zu Verwaltungseinheiten). Quantitative statt qualitative Lösungen setzen sich durch, weil man sich auf Zahlen, empirische Daten und Statistiken fixiert und die »weichen« Faktoren der beiden subjektiven linken Quadranten ausklammert.
Die Frage nach der Wahrheit
» (ti estin aletheia) – Was ist Wahrheit?« (Joh 18,38). Ist es nicht seltsam, dass Jesus diese berühmte Frage des Pilatus nicht beantwortete, obwohl Jesus doch sonst Diskussionen nicht auswich? Sein Schweigen macht deutlich: Wahrheit ist nicht eindeutig zu definieren. Es kommt auf die Situation, den Kontext, den Standpunkt des Fragenden und die Sichtweise des Befragten an. Was ist für wen, wann, warum und unter welchen Bedingungen wahr und wirklich? Auf welchen Fakten beruht unsere Einschätzung von wahr oder falsch? Allein diese Fragen zeigen schon, dass Wahrheit für Menschen heute immer eine Frage der Relation ist. Statt einfach eine absolute Wahrheit zu behaupten, fragt man also besser: Von welcher Perspektive, von welchem Quadranten aus stellen wir die Wahrheitsfrage? Und wie kann ein Quadrant sie beantworten und wie nicht?
Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas (* 1929) hat in seiner berühmten »Theorie des kommunikativen Handelns«das Feld der Wahrheit mit drei Begriffen abgesteckt.13
1. OL: Es gibt die persönliche Wahrhaftigkeit, die innere Stimmigkeit im Subjekt, meine innere Wahrheit. Sie ermittle ich durch Introspektion: Was fühlt sich tief in mir wahr und richtig an? Wann und warum interpretiere ich selbst etwas als wahr? Was sind meine Kriterien? Was macht mich sicher? Hier geht es um mein ganz subjektives Wahrheitsempfinden, um meine Aufrichtigkeit, Integrität und Vertrauenswürdigkeit. Natürlich ist hier Vorsicht geboten. Ich kann mich selbst belügen und mich gründlich über mich täuschen. Im besten Falle drücken sich in diesem Quadranten tatsächlich meine wirklichen Intentionen und meine Authentizität aus.
2. OR: Dann gibt es die objektiv überprüfbare Wahrheit zu einem Individuum, wie sie in der Welt der Tatsachen betrachtet wird: Was sagt sein tatsächliches Verhalten aus? Stimmt seine innere Wirklichkeit mit objektiven, wissenschaftlichen Tatsachen oder der empirisch erfassbaren Datenlage überein (Falsifikation)? Auch hier ist Vorsicht geboten. Daten können missinterpretiert oder gefälscht werden; neue Informationen und Fakten können auch bisherige wissenschaftliche Befunde ungültig machen. Im besten Fall haben wir einen wissenschaftlichen Pool von soliden Daten, Fakten und verwertbarem Wissen.
3. UL: Die dritte »Wahrheitsregion« nennt Habermas Richtigkeit oder die Wahrheit zwischen uns. Richtigkeit wird erreicht, wenn ein Konsens über das erzielt wurde, was für die Mitglieder einer Gruppe Gültigkeit haben soll. Sie ist also ein Regulativ für soziales Verhalten und erzeugt anerkannte Normen. Richtigkeit wird gemeinsam kulturell konstruiert und verlangt nach ständigem intersubjektivem Abgleich. Aus wechselseitig bestätigter Richtigkeit entsteht so das gemeinsame Feld von Gerechtigkeit, kultureller Angemessenheit und Fairness. Richtigkeit setzt den empathischen Wunsch nach Verstehenwollen, sowie den wechselseitigen Respekt vor dem anderen und seiner Wahrheit voraus. Und wieder gilt: Vorsicht! Auch eine Gruppe, die sich einig ist und eine gemeinsame Wahrheit als richtig vertritt, kann sich selbst belügen und sich furchtbar täuschen.
Die Aspekte der Wahrheit nach Jürgen Habermas
4. UR: Hier geht es wieder um technisch-strategisch verwertbares Wissen aus der Welt der Tatsachen. Diesmal ist es die interobjektiv überprüfbare Wahrheit über Systeme und Institutionen: Was kann auf empirischem Weg über das Gesamtsystem als wahr erkannt werden? Passen diese wissenschaftlich falsifizierten Befunde und soliden Daten zu allen miteinander vernetzten Teilen dieses Systems? Welche interobjektiv beschreibbaren Strukturen und Prozesse sind nachweislich belegbar? Auch hier wieder: Vorsicht im Blick auf möglicherweise missinterpretierte oder gefälschte Daten! Neue Informationen und Fakten können bisherige Erkenntnisse ungültig machen. Im besten Fall gewinnt man in diesem interobjektiven Quadranten einen wissenschaftlich soliden Befund von soliden Daten, Fakten und verwertbarem Wissen über die betrachteten Systeme.
Die beiden linken Quadranten zeigen die subjektive bzw. intersubjektive Relevanz von Wahrheit. Die beiden rechten Quadranten verorten Wahrheit objektiv bzw. interobjektiv. Alle vier emergieren gleichzeitig und gleichberechtigt miteinander, werden aber oft nicht als gemeinsames Feld der Wahrheit wahrgenommen. Entsprechend unterschiedlich ist der Umgang mit der Frage nach der Wahrheit.
Wir sehen das genau am Gespräch zwischen Jesus und Pontius Pilatus. Bevor Pontius Pilatus seine Wahrheitsfrage stellt, erklärt ihm Jesus im Verhör, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei. Es gehört also nicht zur rechten Seite der beiden objektiven Quadranten, denn hier würden seine Jünger darum kämpfen, dass er nicht verurteilt wird. Jesus grenzt seine Aussagen also erst einmal klar vom politischen Bereich ab und macht deutlich, dass er von »seinem Reich« auf der linken Seite der subjektiven Quadranten spricht. Pilatus vertritt im Verhör die römische Justiz (UR) und versucht äußere Fakten über Jesus (OR) herauszubekommen. Er fragt nach dem politischen Anspruch von Jesus: »Du bist also ein König?« Jesus bejaht das, aber bleibt konsequent auf der subjektiven Seite seiner individuellen Wahrhaftigkeit (OL): »Ich bin geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll.« Diese Wahrheit ist eine mystische Wahrheit: seine nonduale Einheitserfahrung mit Gott, für die er als authentischer Zeuge eintritt. Natürlich berührt das die Unsagbarkeit der Mystik. Die Wahrheit des EINEN, der Geschmack des EINEN lässt sich nicht erörtern. Es ist eine »unsagbare« Wahrheit, die genau darin allem Sagbaren überlegen ist. Alles Sagbare beruht auf getrennten Perspektiven und benennt Teilwahrheiten, die wir uns anbieten können. Die Frage nach der Wahrheit markiert also bereits eine Trennung, ein Heraustreten aus dem fraglosen Einssein.
Darum wechselt Jesus zum intersubjektiven Quadranten (UL) und bietet Pilatus eine gemeinsame Verständigungsebene an: »Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.« Hier könnte zwischen beiden ein wirklicher Dialog über eigene innere Erfahrungen mit Gott beginnen; ein interessiertes wechselseitiges Zuhören, bei dem die Tiefe der spirituellen Wahrheit, die Jesus authentisch verkörpert und bezeugt, im gemeinsamen Prozess zwischen beiden als stimmig erfahren wird. Pilatus scheint das gespürt zu haben, denn er wird nach dem Verhör dreimal betonen, dass er keine Schuld bei Jesus gefunden hat. Aber Jesus steht als Gefangener dem Vertreter der mächtigen Besatzungsmacht gegenüber. Zudem ist die Situation in der überfüllten Stadt (UR) brisant, Pilatus steht unter Druck (OL), das Verhör muss ein Ergebnis bringen. Die Frage des Pilatus »Was ist Wahrheit?« markiert darum das Ende des Verhörs. Sie wird zur rhetorischen Frage, die einem anderen Menschen achselzuckend hingeworfen wird, der am existenziellen Abgrund steht und sich im juristischen Sinne nicht »vernünftig« in der harten Realität (UR) zu verteidigen weiß. Pilatus ist zudem konfrontiert mit der intersubjektiven Richtigkeit (UL) der aufgebrachten Juden, die in Jesus einen gefährlichen Gotteslästerer sehen, dessen Lehre ihren Glauben und ihre Kultusgemeinschaft in Frage stellt (UL). Obwohl Pilatus dieser Gruppe gegenüber ebenfalls subjektiv argumentiert (»Ich finde keine Schuld an ihm«, OL), findet er keine intersubjektive Lösung für den Konflikt (UL). So zieht er sich auf die interobjektive »kalte Wahrheit« des römischen Imperiums zurück, das jederzeit mit Nachdruck und notfalls Gewalt gegen die diversen religiösen »Wahrheiten« (UL) der von den Römern besetzten Regionen und Kulturen vorgehen kann (UR). Und so folgt auf die Frage nach der Wahrheit unmittelbar die übliche Folter des Gefangenen (OR) zum Zweck der »Wahrheitsfindung«. Gegen seine eigene Überzeugung (OL) versucht Pilatus mit dem willkürlichen Vorrecht der Mächtigen die passende »Wahrheit« aus einem anderen herauszupressen. Pilatus kommt auch damit nicht weiter. Am Ende erscheint er selbst als ein Gefangener im Labyrinth der Wahrheitsfindung. Er hat zwar die Wahrheit der objektiven Macht auf seiner Seite, aber nicht die Macht, seiner eigenen, subjektiven Wahrhaftigkeit zu folgen. Pilatus und die jüdische Obrigkeit bleiben verstrickt in ihre jeweiligen bedingungslosen »Wahrheits-Regime« (Michel Foucault), die den Prozess einer gemeinsamen oder individuellen Wahrheitsfindung mit Hilfe aller vier Quadranten unterwandern und verhindern.
Genau das machen wir selbst auch immer wieder. Die integrale Sicht hilft uns nun, die Suche nach der Wahrheit als ein Tetrageschehen zu verstehen.
Das Kreuz und die Quadranten
Jesus selbst hat nie das Kreuz verkündigt. Er hat Gottes Schönheit und Gottes Güte, Gottes Wahrheit und Gottes Liebe verkündigt, weil er sie aus seiner nondualen Einheitserfahrung – in Gott bin ich mit allem eins – heraus erlebt hat. Jesu ganzes Leben war Hingabe, es leuchtet wegen dieser Liebe. Es macht als erleuchtetes Leben in Gott in sich Sinn, auch ohne Kreuzigung. Jesus hat sich mit seiner Botschaft mächtige Feinde im religiösen Establishment geschaffen, die ihn aus dem Weg räumen wollten. Jesus hat diese Gefahr früh erkannt und ist ihr nicht ausgewichen. Sein Kreuzestod war eine unvermeidliche Tragödie und gleichzeitig ein Akt größter Konsequenz. Dieser Tod macht bis heute offenbar, wie kaltherzig wir auch als religiöse Menschen unsere Glaubenssysteme, Ideologien und Sicherungssysteme über jede Menschlichkeit und über die Liebe Gottes stellen.
Wie könnten wir von den vier Quadranten her Jesu Tod neu betrachten? Vielleicht in dieser Weise:
OL, individuell subjektiv, Ich. Nonduale Mystikerperspektive Jesu: »Mein Einssein mit Gott entspricht meiner tiefsten Identität. Ich habe Gott in mir als absolute Realität des Heiligen erfahren, die wahrer als wahr ist. Sie zu leugnen ist unmöglich, ich kann sie nur als bedingungslose Liebe Gottes zum Ausdruck bringen. Ich erleide das Nichtwissen der anderen über die grundsätzliche nonduale Einheit, die prinzipiell jeder Mensch erfahren kann. Das habe ich meine Jünger und Jüngerinnen gelehrt. Vielen Menschen blieb das auf Grund ihrer eigenen religiösen Bindung aber verschlossen. Sie haben mich darum gehasst und jetzt ans Kreuz gebracht. Vater, vergib ihnen, was sie tun! Sie sind blind für die göttliche Präsenz in allem, aber ich kann sie nicht dafür verurteilen. Ich weiß, dass ich auch eins mit ihnen allen bin.«
OR, individuell objektiv, Es. Dokumentation seiner Passion: Jesus wurde der Gotteslästerung bezichtigt. Da er öffentlich lehrte, gab es dafür zahlreiche Belastungszeugen. Seine konkreten Lehren wurden als reine Blasphemie (»Ich und der Vater sind eins«) erkannt, seine provokanten Aktionen waren die eines Aufwieglers. Er wurde verhaftet, von Pilatus verhört, gefoltert, verurteilt und in Jerusalem hingerichtet. Todestag: vermutlich am 14. Nisan (Freitag) im Jahr 30 oder 31 unserer Zeitrechnung.
UL kollektiv intersubjektiv, Wir. Kulturkohärenz: Jesus hat immer wieder bewusst gegen die jüdischen Gesetze und Sitten verstoßen, die Geistlichkeit provoziert (Sabbatheilungen, Gemeinschaft mit Sündern) und gewaltige Massenaufläufe erzeugt. Seine gewaltfreie Mitgefühlspraxis und sein heilsames Wirken unter den Benachteiligten und Ausgeschlossenen des Systems verschaffte ihm Freunde und Feinde. Die damalige religiöse und kulturelle Instanz fühlte sich angegriffen und als ordnungsstiftende und heilsvermittelnde Autorität grundsätzlich in Frage gestellt. Die religiöse Institution sah (paradoxerweise) in Jesus einen Menschen, der aus ihrer Sicht nicht richtig religiös war.14 Die erboste BLAUE Religionselite wehrte sich gegen seine schockierend souveräne Freiheit mit allen Mitteln und manipulierte die in die Stadt drängenden Massen. Die kulturell bedingte, lebensfeindliche religiöse Vorstellung von »erlösender Gewalt« erfasste die zum Pessachfest mit seinen blutigen Schlachtungen und Opferritualen versammelten Menschen. Sie wurden von ROTER Mordlust erfasst und wollten einen möglichst brutalen Strafvollzug sehen: »Kreuzige ihn, kreuzige ihn!« Die Jünger versteckten sich aus panischer Angst, das gleiche Schicksal erleiden zu müssen. Johannes und mehrere Frauen aus Galiläa, darunter Jesu Mutter Maria und ihre Schwester, brachten genug Mut, Liebe und Mitgefühl auf, um am Kreuz ausharren zu können. Diese kleine Gruppe symbolisiert die erste christliche Gemeinschaft, die in Mitgefühl dem sinnlosen Leiden standhält und deren Glaube dem Schrecken des Todes trotzt. Es ist ein therapeutisches Bild der inneren Gottesnähe im Geiste Jesu.
UR kollektiv interobjektiv, Sie. Systemischer Strukturahmen: Repräsentanten der etablierten Religion auf der Stufe BLAU arbeiteten mit der römischen Militärdiktatur Hand in Hand. Das Strafrecht der römischen Besatzungsmacht wurde von Pilatus gegen den »König der Juden« Jesus wegen Hochverrat und Volksaufruhr angewandt. Vor Jesus wurden unter Quirinius schon 2000 Juden wegen ähnlicher Vorwürfe gekreuzigt. Seine Jünger sind verschwunden.
Fazit: Der Tod Jesu am Kreuz dokumentiert eine Hinrichtung, mit der versucht wurde, die radikale Botschaft Jesu von Gottes bedingungsloser Liebe und der brandgefährlichen Möglichkeit des nondualen Einsseins mit Gott gewaltsam zu unterdrücken. Das Kreuz erinnert also symbolisch bis auf den heutigen Tag an sein Lebenszeugnis: dass Gott ausnahmslos für alle Menschen unmittelbar und als Liebe erfahrbar ist.
Das Kreuz Jesu integral zu meditieren bedeutet auch, sich dem Leid aus allen vier Richtungen an vier Kreuzesstationen zu nähern:
OL:ICH. Was ich selbst als Leid empfinde und wie ich es mir persönlich deute.
OR:ES. Das konkrete Leid, das mich ereilt.
UL: WIR. Unser Leiden aneinander. Das Leid, das wir uns gegenseitig zufügen. Das Leid, das wir gemeinsam ertragen. Unsere Versuche, es zu verstehen, zu deuten, zu lindern und zu überwinden.
UR: SIE. Systemische Strukturen und Umstände, die Leid erzeugen oder in Leid feststecken. Konkrete Maßnahmen gegen Ursachen und Folgen dieses Leids.