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Gepäckkontrolle! Lorraine bleibt gelassen: Sie will nur ihren Vater besuchen, der hier in Mexiko lebt. Doch da findet die Polizei überraschend den "Stern von Yucatán" in ihrem Koffer. Wer hat ihr diesen uralten kostbaren Kultgegenstand ins Gepäck geschmuggelt? Lorraine muss fliehen, quer durch ein Land, das ihr fremd und gefährlich erscheint. Aber dabei gerät sie unversehens an einen faszinierenden Mann: den Abenteurer und Überlebenskünstler Jack Keller. Auf seinem Boot entkommen sie ihren Verfolgern - nicht aber ihren leidenschaftlichen Gefühlen füreinander, als leuchtend hell der Mond über dem Meer von Yucatán aufgeht ...
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Seitenzahl: 364
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Debbie Macomber
Der Stern von Yucatan
Roman
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Moon Over Water
Copyright © 1998 by Debbie Macomber
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Übersetzt von Margret Krätzig
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Stefanie Kruschandl
Titelabbildung: Corbis Images, Düsseldorf
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN eBook 978-3-95576-221-6
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
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Herr, gib ihrer Seele ewigen Frieden …”
Lorraine Dancy schloss die Augen, als die erste Schaufel Erde auf den Sarg ihrer Mutter traf. Der Klang schien hundertfach verstärkt von allen Seiten auf sie einzustürzen und überlagerte die Worte von Pater Darien. Dort unten im Sarg lag ihre Mutter Virginia Dancy, und sie verdiente sehr viel mehr als eine Decke aus Kentucky-Erde.
Am Abend des ersten April hatte Lorraine die Mitteilung erhalten, ihre Mutter sei auf dem Freeway in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Zuerst hatte sie das für einen grauenhaften, widerlichen Aprilscherz gehalten, doch der mit Lehm besprenkelte Sarg war sehr real, und sein Anblick zerriss ihr das Herz.
Der Druck in ihrer Brust wurde stärker, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen, und sie zitterte, während sie an diesem grauen Nachmittag den Worten des Priesters lauschte.
Nach einer Weile entfernten sich die Freunde, die gekommen waren, ihrer Mutter das letzte Geleit zu geben. Pater Darien nahm sacht Lorraines Hände und sprach aufrichtige, mitfühlende Trostworte. Unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung brachte sie einen knappen Dank hervor.
Dann blieb sie am Grab zurück.
“Liebling.” Gary Franklin, ihr Verlobter, trat näher und legte ihr einen Arm um die Taille. “Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.”
Sie widersetzte sich und blieb stehen, als Gary versuchte, sie zur wartenden Limousine zu bringen. Sie war noch nicht so weit, ihre Mutter zu verlassen. Noch nicht. Es machte alles so endgültig, wenn sie sich jetzt umdrehte und ging.
Das hätte alles nicht passieren dürfen. Das konnte nicht wirklich wahr sein. Die Realität ließ sich jedoch nicht leugnen – das offene Grab, die Grabsteine, der lehmige Boden. Ängste bestürmten sie von allen Seiten und ließen sie frösteln. Sie war nicht sicher, ohne die Liebe und Unterstützung ihrer Mutter weiterleben zu können. Virginia war ihr Prüfstein im Leben gewesen, ihr Vorbild, eben ihre Mutter.
“Liebes, ich weiß, das ist schwierig für dich, aber du kannst nicht hier bleiben.” Gary versuchte erneut, sie vom Grab wegzubringen.
“Nein”, sagte sie mit fester Stimme. Dass der Tod ohne Vorwarnung gekommen war, machte alles so besonders schwierig und schmerzlich. Sie hatten noch an diesem Wochenende miteinander gesprochen. Solange sie denken konnte, waren sie als verschworene Gemeinschaft gegen den Rest der Welt angetreten. Sie hatten sich besonders nahegestanden. Nicht ein Tag war vergangen ohne Kontakt zueinander – durch ein Gespräch, einen Besuch oder eine E-Mail. Am Samstag hatten sie über eine Stunde telefoniert, um die Hochzeitsvorbereitungen zu besprechen.
Ihre Mutter war begeistert gewesen, als sie Garys Antrag angenommen hatte. Virginia hatte Gary immer gemocht und die Verbindung sehr unterstützt. Zudem waren die beiden blendend miteinander ausgekommen.
Noch letztes Wochenende – noch vor wenigen Tagen war ihre Mutter am Leben gewesen. Im Telefonat hatte Virginia genau dargelegt, wie sie sich die Hochzeit ihrer einzigen Tochter vorstellte. Sie hatten über das Hochzeitskleid, die Brautjungfern, die Blumenarrangements und die Einladungen diskutiert.
Lorraine hatte ihre Mutter nie freudiger und aufgeregter erlebt. In ihrem Enthusiasmus hatte Virginia sogar über ihre eigene Hochzeit vor vielen Jahren mit der großen und einzigen Liebe ihres Lebens gesprochen. Sie sprach selten von Lorraines Vater. Die Erinnerungen an ihn waren das Einzige, was sie nicht mit ihrer Tochter teilte – jedenfalls nicht mehr, seit Lorraine das Teenageralter erreicht hatte. Es waren sehr private Erinnerungen, und Virginia schien sie in ihrem Herzen zu verschließen. Sie hatten ihr durch die langen, einsamen Jahre der Witwenschaft geholfen.
Lorraine konnte sich nicht an ihren Vater erinnern. Er war gestorben, als sie knapp drei war. Offenbar war ihre Mutter so unsterblich in Thomas Dancy verliebt gewesen, dass sie nie in Erwägung gezogen hatte, wieder zu heiraten. Kein Mann könnte es mit Thomas aufnehmen, hatte sie einmal zu Lorraine gesagt.
Die Liebesgeschichte ihrer Eltern war sehr romantisch gewesen. Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter oft vom wunderbaren Thomas Dancy erzählt. In späteren Jahren hatte sie dann immer weniger über ihn gesprochen. Lorraine erinnerte sich jedoch an die Erzählungen von früher. Ihr Vater war ein hochdekorierter Kriegsheld gewesen, und die beiden hatten allen Widrigkeiten getrotzt, um zu heiraten. Das waren die Abenteuer- und herrlichen Gutenachtgeschichten ihrer frühen Kindheit gewesen, die einen tiefen und bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hatten.
Vielleicht war das einer der Gründe, warum sie bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahr gewartet hatte, ehe sie sich verlobte. Jahrelang hatte sie den Mann gesucht, der ihrem Vater glich: nobel, ehrlich, mutig, ein integerer Mensch mit hohen Idealen. Niemand schien diesen Ansprüchen zu genügen, bis Gary Franklin in ihr Leben getreten war.
“Lorraine, alle sind gegangen.” Gary schlang den Arm fester um ihre Taille.
“Noch nicht. Bitte.” Sie mochte ihre Mutter nicht in einem feuchten kühlen Grab zurücklassen, wo sie doch noch nicht einmal fünfzig gewesen war. Der Schmerz war unerträglich. Schließlich übermannte er sie, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
“Komm, Kleines, lass uns gehen”, drängte Gary sanft und mitfühlend.
Lorraine wich einen Schritt zurück. Sie wollte Gary nicht um sich haben. Sie konnte jetzt niemand ertragen, sie wollte nur ihre Mutter zurück. “Oh, Mom”, schluchzte sie auf und konnte nicht mehr aufhören zu weinen.
Gary drehte sie in seinen Armen zu sich herum und drückte sie tröstend an sich. “Lass es raus, Liebes. Es ist okay. Wein dich aus.”
Lorraine barg das Gesicht an seiner Schulter und weinte wie in jener Nacht, als der Streifenpolizist ihr die tragische Nachricht überbracht hatte. Wie lange Gary sie weinen ließ, wusste sie später nicht mehr. Jedenfalls bis ihre Augen brannten, die Nase lief und keine Tränen mehr kommen wollten.
“Das Haus wird sich langsam füllen. Du wirst dort erwartet”, erinnerte Gary sie.
“Ja, wir sollten gehen”, stimmte sie zu und putzte sich die Nase mit einem Papiertaschentuch, das er ihr reichte. Sie war dankbar, dass Virginias Nachbarin Mrs. Henshaw alle Trauergäste ins Haus ließ. Inzwischen fühlte Lorraine sich etwas ruhiger und beherrschter. Die Trauergäste würden mit ihr über ihre Mutter reden wollen, da sie als Einzige von der Familie übrig war. Deshalb musste sie ihre Gefühle unter Kontrolle bringen.
Zusammen mit Gary ging sie zum Parkplatz, fort vom einzigen Elternteil, den sie gekannt hatte. Ein kleiner Trost bestand darin, dass ihre Eltern nach fünfundzwanzig Jahren Trennung wieder vereint sein würden.
Lorraine konnte nicht schlafen, aber sie hatte es auch nicht anders erwartet. Sie müsste erschöpft sein und war es auch, da sie seit Tagen kein Auge zugetan hatte. Diese letzte Woche war die emotional strapaziöseste ihres Lebens gewesen. Doch sogar jetzt, nach der Beerdigung und der Trauerfeier, war sie zu unruhig, um in Schlaf zu verfallen.
Gary hielt es für keine gute Idee, die Nacht im Haus ihrer Mutter zu verbringen. Vermutlich hatte er recht. Ihr Urteilsvermögen hatte genau wie alle anderen Fähigkeiten unter dem Schock der Todesnachricht gelitten.
Die Trauerfeier hatte hier, in Virginias Haus stattgefunden. Das war ihr sinnvoll erschienen, da ihr Apartment für so viele Gäste viel zu klein war und ein Restaurant ihr zu unpersönlich vorkam. Die Gemeindemitglieder der St. John’s Kirche, in die Virginia all die Jahre treu zur Messe gegangen war, sowie eine große Gruppe von Nachbarn, Mitarbeitern und Freunden waren gekommen, Lorraine ihr Beileid auszusprechen. Allen fiel es offenbar schwer, den plötzlichen Tod von Virginia Dancy hinzunehmen.
Virginia war eine gläubige Katholikin und ein aktives Mitglied der Gemeinde gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie im Kirchenchor gesungen und unermüdlich für ihre Kirchen-“Familie” gearbeitet. Als Börsenmaklerin mit einer großen nationalen Firma hatte sie sich in der Geschäftswelt einen Namen gemacht. Der Umsatz ihrer Firma war hoch, doch Virginia hatte lernen müssen, dass Geschäftsfreundschaften oft nur flüchtig waren. Dennoch war ihr Haus zur Trauerfeier voller Menschen.
Lorraine wurde, entgegen ihrer Annahme, als Gastgeberin nicht gebraucht. Freunde und Nachbarn sorgten mit Aufläufen, Pasteten, Broten und Salaten für reichhaltige Verköstigung, die im Esszimmer angeboten wurde. Getränke, Gläser, Teller und Besteck standen in der Küche auf den Arbeitsplatten.
Lorraine war allen dankbar, vor allem Gary, der sich liebevoll und hilfreich um alles kümmerte. Trotzdem hatte sie während des Empfangs das dringende Bedürfnis, allein zu trauern, ohne von Menschen bedrängt zu werden. Leider war das ausgeschlossen. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Trauergäste ebenfalls Trost suchten. Also nahm sie deren Beileidsbekundungen entgegen und schlüpfte selbst in die Rolle des Trösters.
Nicht lange, und sie war so erschöpft, dass sie sich in den Lieblingssessel ihrer Mutter fallen ließ. Dort zu sitzen half ihr, sich der geliebten Mutter verbunden zu fühlen. Es dämpfte den Schmerz der Einsamkeit, der sie in einem Raum voller Menschen zu verzehren drohte.
Eine große Welle an Mitgefühl und guten Ratschlägen war ihr entgegengeschwappt.
“Natürlich möchtest du das Haus behalten …”
Lorraine hatte genickt.
“Natürlich willst du das Haus verkaufen …”
Lorraine hatte genickt.
“Deine Mutter war eine wundervolle Frau …”
“Wir werden sie alle vermissen …”
“Sie ist jetzt an einem glücklicheren Ort …”
“… welch eine sinnlose Tragödie.”
Lorraine hatte jedem und allem zugestimmt.
Es war bereits dunkel, als der Letzte ging. Gary hatte ihr beim Aufräumen geholfen und sie dann gedrängt, in ihre eigene Wohnung zurückzukehren. Oder wenigstens mit zu ihm zu kommen. Er konnte nicht verstehen, warum sie hier bleiben wollte. Aber wie sollte er auch. Er hatte keinen Elternteil verloren.
“Fahr du nach Hause”, bat sie ihn. “Ich komme schon zurecht.”
“Darling, du solltest nicht allein sein. Nicht heute Nacht.”
“Ich möchte aber allein sein”, beharrte sie und konnte es nicht erwarten, dass er endlich ging. Sie verstand sich selbst nicht recht. Sie liebte Gary und wollte den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen, aber im Moment ertrug sie ihn nicht. Sie musste mit ihrem Kummer und ihrem Schmerz allein fertig werden.
“Du brauchst mich”, betonte Gary liebevoll besorgt.
“Ja, stimmt, aber nicht im Moment.”
Enttäuschung sprach aus seiner Miene, doch Gary fügte sich nickend, wenn auch widerwillig. “Du rufst an, wenn du deine Meinung änderst, ja?”
Sie versprach es ihm.
Er küsste sie in einer liebevollen Geste des Trostes auf die Stirn. In der Abendkühle fröstelnd, stand sie auf der Veranda und sah ihm nach, wie er davonfuhr.
Sie spülte das restliche Geschirr und wanderte dann ziellos durchs Haus, wobei sie an der Schwelle jedes Zimmers stehen blieb. Zärtlich strich sie über die Dinge, die ihrer Mutter besonders lieb und teuer gewesen waren.
Sie fand Trost in der Gewissheit, dass Virginia in den letzten Tagen ihres Lebens glücklich und schier begeistert gewesen war, eine große Hochzeit ausrichten zu dürfen.
Lorraine hatte kaum Garys Antrag angenommen, als Virginia auch schon damit begann, umfangreiche Pläne für das Fest im Oktober zu schmieden. Ganz der Tradition verhaftet, hatte sie lediglich ein wenig die Stirn darüber gerunzelt, weil Lorraine sich anstatt des üblichen Verlobungsringes eine kleine Smaragdkette hatte schenken lassen.
“Jetzt hast du deinen Willen, Mom”, flüsterte Lorraine und blickte auf den Ehering an ihrer Linken, der ihrer Mutter gehört hatte. Auf der Innenseite waren die Worte eingraviert: “Ich liebe dich für immer, Thomas”. Der Mann vom Beerdigungsinstitut hatte ihr den Ring an dem Tag übergeben, als der Sarg geschlossen wurde. Lorraine hatte ihn angesteckt und würde ihn erst abnehmen, wenn sie ihren eigenen Ehering an den Finger steckte. Ihre Mutter hatte diesen Ring seit ihrer Trauung getragen.
“Was soll ich nur ohne dich machen, Mom?”, flüsterte Lorraine in die Stille der Nacht hinein, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es wunderte sie, dass sie noch weinen konnte.
Sie musste an die Enttäuschungen denken, die sie ihrer Mutter bereitet hatte. Sie hatte das Medizinstudium nach dem zweiten Jahr aufgegeben und stattdessen eine Ausbildung als Krankenschwester und Heilpraktikerin absolviert. Virginia hatte zwar kaum etwas dazu gesagt, war aber mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden gewesen, das wusste sie. Sie hoffte, diese Enttäuschung wieder gutgemacht zu haben, als sie Gary kennen lernte. Er verkaufte medizinisches Zubehör an ihren Arbeitgeber “Group Wellness”.
Dass sie eine eher nachlässige Katholikin geworden war, hatte ihrer Mutter ebenfalls missfallen. Aber sie hatte sich nun mal nie so mit der Kirche identifizieren können wie Virginia.
“Es tut mir so leid, Mom”, flüsterte sie und hoffte, ihre Mutter nicht in zu vielem enttäuscht zu haben.
Nach Beendigung ihres emotionsgeladenen Rundgangs durch das Haus duschte sie und zog das Nachthemd über, das sie Virginia zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Nach kurzem Überlegen entschloss sie sich, im Zimmer ihrer Mutter zu schlafen, anstatt in ihrem eigenen. Wenn sie als Kind Angst gehabt hatte, war sie immer zur Mutter ins Bett gekrochen. Sie hatte auch jetzt Angst. Angst vor der Zukunft, Angst, allein und ohne Familie zu sein.
Als sie schlaflos dalag, tröstete sie sich mit ihren Erinnerungen. Sie hatten viele glückliche Stunden mit dem Kochen umfangreicher Menüs, dem Gucken alter Filme, die sie beide liebten, oder dem Austauschen von Lieblingsbüchern verbracht. Virginia hatte in verschiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen der Kirche mitgearbeitet, und Lorraine hatte an so manchem Abend Pakete für Bedürftige gepackt oder Briefumschläge gefüllt. Ihre Mutter war eine wunderbare Frau gewesen, und sie war stolz auf sie. Eine harte Arbeiterin, aber mit einem freundlichen Herzen, klug und großzügig.
Nach etwa einer Stunde gab Lorraine es auf, einschlafen zu wollen. Sie setzte sich auf und griff nach dem gerahmten Foto ihrer Eltern auf dem Nachttisch. Das Bild zeigte eine junge, schöne Virginia in einem bodenlangen Kleid mit einem Kranz aus Wildblumen auf dem Kopf. Ihr langes, glattes Haar reichte ihr fast bis zur Taille. In einer Hand hielt sie ein kleines Bouquet aus Wildblumen, mit der anderen die Hand ihres Mannes. Ihre Augen strahlten vor Glück, während sie direkt in die Kamera blickte.
Thomas Dancy daneben war groß, bärtig und trug das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Er sah seine Frau liebevoll an. Dem Foto merkte man an, wie sehr die beiden einander zugetan waren.
Erst letztes Wochenende, als sie über ihre Hochzeitspläne gesprochen hatten, hatte sie ihre Mutter mit diesem Foto aufgezogen und sie als “Blumenkinder” verspottet. Virginia hatte es mit Humor genommen und lediglich erwidert: “Das ist lange her.”
Leider war dies das einzige Foto in ihrem Besitz, auf dem ihre Eltern zusammen abgebildet waren. Alles andere war vor Jahren in einem Feuer zerstört worden, als sie gerade in die Grundschule gekommen war. An das Feuer selbst konnte sie sich gar nicht erinnern, bis ihr Jahre später das Fehlen vieler Dinge bewusst wurde: Fotos ihrer Eltern, Briefe und die Orden ihres Vaters. Lorraine wusste, dass Virginia O’Malley Thomas Dancy in ihrem ersten Jahr auf dem College kennen und lieben gelernt hatte. Der Vietnamkrieg trennte sie, als ihr Vater sich Anfang der Siebziger freiwillig zur Army meldete. Er überlebte die Kämpfe und kam als Held zurück. Ein Jahr später zeigte sich bei einer Routineuntersuchung etwas Ungewöhnliches in seinem Blutbild. Die Anomalie stellte sich als Leukämie heraus. Innerhalb von sechs Monaten war Thomas tot, und Virginia war eine junge Witwe mit einem Kind.
Viele Jahre hindurch hatten Virginias Eltern ihnen finanziell geholfen, aber Lorraines Großeltern mütterlicherseits waren beide in den achtziger Jahren gestorben. Die Familie ihres Vaters war ihr unbekannt. Ihre Mutter hatte noch einen jüngeren Bruder. Wegen seines Drogen- und Alkoholkonsums hatten die beiden jedoch bestenfalls flüchtigen Kontakt gehabt. Zuletzt hatte Virginia vor etwa fünf Jahren von ihm gehört, als er anrief und sie um Geld für eine Kaution bat. Lorraines einzige Cousine lebte irgendwo in Kalifornien. Von der hatte sie allerdings, seit sie dreizehn war, nichts gehört oder gesehen.
Mit anderen Worten, sie war allein auf der Welt.
Das Telefonläuten schreckte sie auf. Sie fuhr herum und schnappte sich den Hörer. “Hallo”, sagte sie atemlos, nicht sicher, wen sie erwarten konnte.
Es war Gary. “Ich wollte mich nur überzeugen, dass bei dir alles in Ordnung ist.”
“Alles klar”, erwiderte sie.
“Möchtest du, dass ich zu dir komme?”
“Nein.” Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich allein sein möchte? Sein Drängen wurmte sie, es sah ihm nicht ähnlich.
“Ich glaube, es ist einfach nicht gut für dich, allein zu sein.” Er hatte das schon mehrmals betont. “Ich weiß, das ist ein schrecklicher Schock für dich gewesen, aber du solltest dich jetzt keinesfalls isolieren.”
“Gary, bitte, ich habe heute Nachmittag meine Mutter begraben. Ich … ich habe sonst niemand.”
Nach dieser Bemerkung entstand eine betretene Pause. “Du hast mich”, widersprach er leise und hörbar verletzt.
Sie bedauerte ihre gedankenlose Wortwahl, ärgerte sich aber zugleich über seine Aufdringlichkeit. “Ich weiß, wie das geklungen haben muss, und es tut mir leid. Aber für mich ist alles noch so schmerzlich. Ich brauche Zeit, mich zu erholen und mich an die neue Situation zu gewöhnen.”
“Hast du dich entschlossen, das Haus zu verkaufen?”, fragte Gary.
Lorraine verstand nicht, warum sich alle Welt Sorgen um das Haus machte. “Ich … ich weiß es noch nicht.”
“Es wäre durchaus sinnvoll, es zum Verkauf anzubieten, findest du nicht?”
Sie schloss die Augen und suchte nach Antworten. “Ich kann solche Entscheidungen jetzt nicht treffen. Gib mir ein bisschen Zeit!”
Sie musste ungeduldig geklungen haben, denn Gary war sofort zerknirscht.
“Du hast recht, Darling, es ist zu früh. Wir werden uns später damit befassen. Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du mich brauchst.”
“Versprochen”, flüsterte sie.
Nach einigen Abschiedsworten beendete sie das Telefonat. Als sie den Hörer auflegte, fiel ihr Blick auf den Radiowecker. Verblüfft bemerkte sie, dass es erst neun war. Ihr kam es vor wie Mitternacht. Sie legte sich wieder hin, starrte gegen die Decke und ließ ihre Gedanken in die Zukunft wandern. Ihre Mutter würde nicht auf der Hochzeit sein und die Geburt ihrer Enkel nicht erleben. Virginia Dancy hatte sich sehr darauf gefreut, Großmutter zu werden.
Anstatt sich weiter mit ihrem Verlust zu befassen, dachte sie an Garys unerwarteten Anruf. Gary hatte nicht unrecht, das Haus war ein Problem. Falls es längere Zeit leer stand, würde es langsam verfallen. Ganz zu schweigen davon, dass leer stehende Häuser Vandalen anzogen. Sie würde bald eine Entscheidung treffen müssen, auch über finanzielle und rechtliche Angelegenheiten. Allerdings hatte sie das Testament ihrer Mutter noch nicht einmal gesehen.
Immer eines nach dem anderen, sagte sie sich. Diesen Rat hatte ihr die Mutter schon in der Kindheit gegeben, und sie war immer gut damit gefahren.
Der Anruf von Dennis Goodwin, dem Anwalt ihrer Mutter, kam, als Lorraine bereits wieder zur Arbeit ging. Sie hatte erwartet, von ihm zu hören. Dennis hatte ihr auf dem Friedhof angekündigt, es seien einige rechtliche Dinge zu klären, und er würde sich melden. Sie nähmen jedoch kaum fünfzehn, zwanzig Minuten ihrer Zeit in Anspruch. Er hatte vorgeschlagen, sich wegen der Terminabsprache zu verständigen, und sein Anruf kam genau eine Woche nach der Beerdigung.
Lorraine erschien zur verabredeten Zeit, um die Einzelheiten aus dem Testament ihrer Mutter zu hören. Die Empfangssekretärin begrüßte sie freundlich und drückte dann den Knopf der Sprechanlage. “Lorraine Dancy ist hier”, kündigte sie an.
Einen Moment später erschien Dennis Goodwin im Vorzimmer. “Lorraine”, grüßte er herzlich, “schön, Sie zu sehen.” Er führte sie in sein Büro.
Lorraine wusste, dass ihre Mutter Dennis gemocht und ihm absolut vertraut hatte. Sie hatten in Louisville im selben Gebäude gearbeitet. Während dieser Zeit hatte er als ihr Vertragsanwalt gearbeitet, ihr Testament aufgenommen und sie in anderen rechtlichen Belangen vertreten.
“Setzen Sie sich”, forderte er sie auf. “Wie geht es Ihnen unter diesen Umständen?”
“Etwa so, wie man es erwarten kann”, erwiderte sie. Sie fand es nicht mehr nötig, den eigenen Kummer zu verbergen, um andere zu trösten. Die letzte Woche war sehr schwierig für sie gewesen. Ohne Garys Unterstützung hätte sie sie kaum ertragen.
“Wie Sie ja wissen”, begann der Anwalt und beugte sich zu ihr vor, “kannte ich Ihre Mutter bereits etliche Jahre. Sie war eine der talentiertesten Börsenmaklerinnen, die mir begegnet sind. In den Achtzigern empfahl sie mir den Kauf von Aktien einer kleinen Firma in Seattle namens Microsoft. Wegen dieses Tipps werde ich mich in einigen Jahren vorzeitig aus dem Beruf zurückziehen können. Allein von dieser Investition kann ich leben.”
“Mom liebte ihre Arbeit.”
“Sie hat selbst sehr klug investiert”, fügte er hinzu. “Um Ihre Finanzen müssen Sie sich für lange Jahre keine Gedanken machen.”
Diese Mitteilung hätte sie aufheitern müssen, doch sie hätte lieber ihre Mutter zurückgehabt. Keine noch so große finanzielle Sicherheit konnte ihr ersetzen, was sie verloren hatte. Die Hände im Schoß gefaltet, wartete sie, dass er fortfuhr.
“Vor vier Jahren kam Ihre Mutter zu mir und bat mich, ihr Testament aufzusetzen.” Dennis rollte mit seinem Sessel vom Schreibtisch weg und langte nach einer Akte. “Nach den testamentarischen Bestimmungen sind Sie ihre einzige Erbin. Unser Treffen wäre unter normalen Umständen gar nicht nötig gewesen.”
Lorraine runzelte die Stirn.
“Aber im Falle eines vorzeitigen Todes hatte Virginia mich gebeten, persönlich mit Ihnen zu sprechen.”
Lorraine rutschte nach vorn auf die Stuhlkante. “Mom wollte, dass Sie mit mir sprechen? Worüber?”
“Über Ihr Medizinstudium.”
“Ach so.” Sie seufzte tief. “Mom hat meine Entscheidung damals nie verstanden.”
Der Anwalt zog die Brauen hoch. “Wie meinen Sie das?”
“Es war eine große Enttäuschung für Mom, als ich mich entschloss, das Studium an den Nagel zu hängen.”
“Und warum haben Sie das getan?”
Lorraine sah aus dem Fenster, obwohl sie den Ausblick kaum wahrnahm.
“Das hatte viele Gründe”, erwiderte sie leise und sah auf ihre Hände hinab. “Ich interessiere mich sehr für Medizin. Mom wusste das. Ich habe zwar das Herz eines Arztes, aber mir fehlt die Härte im Konkurrenzkampf. Ich verabscheute, was ich im Studium erlebte, dass nur die Stärksten durchkamen. Ich wollte das nicht. Vielleicht bin ich faul, ich weiß es nicht, aber ich habe alles, was ich wollte, in meinem jetzigen Beruf.”
“Wie das?”
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. “Ich mache fast so viel wie ein Arzt, aber ohne das Gehalt und ohne den Ruhm.”
“Ich glaube, Ihre Mutter hat das sehr wohl verstanden”, widersprach Dennis, obwohl Lorraine vermutete, dass er sie nur trösten wollte. “Aber sie wollte, dass Sie wissen, die finanziellen Mittel sind vorhanden, sollten Sie sich jemals entschließen, Ihr Studium wieder aufzunehmen.
Lorraine brannten Tränen in den Augen. “Hat sie Ihnen erzählt, dass ich mich vor Kurzem verlobt habe?”
“Nein, das hat sie nicht erwähnt. Meinen Glückwunsch.”
“Danke. Gary und ich haben es ihr erst kürzlich ge…” Lorraine ließ den Satz unbeendet. Der Anwalt wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurückgewann und weitersprechen konnte.
“Sollten Sie es sich überlegen und Ihr Medizinstudium doch wieder aufnehmen, werde ich alles tun, um Ihnen zu helfen.”
Sein Angebot überraschte sie. “Danke, aber das werde ich wohl nicht tun. Nicht, da Gary und ich gerade unser gemeinsames Leben beginnen wollen.”
“Nun ja, ich hatte versprochen, es zu erwähnen, falls sich die Gelegenheit dazu ergibt, und es macht mich traurig, dass es dazu kommen musste.”
Innerhalb weniger Minuten hatte Dennis die Bestimmungen des Testaments verlesen und reichte ihr die notwendigen Papiere. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, gab er ihr ein weiteres Blatt.
“Was ist das?”, fragte sie.
“Eine Inventarliste des Schließfaches. Ich bin gestern Nachmittag zur Bank gegangen und habe alles herausgeholt. Es ist alles da.” Er stand auf und nahm einen großen Umschlag von der Kommode. “Überzeugen Sie sich bitte, dass alle aufgeführten Dokumente vorhanden sind.”
Da es von ihr erwartet wurde, entleerte Lorraine den Inhalt des Umschlages auf den Tisch und verglich die einzelnen Unterlagen mit den Posten der Liste. Sie hatte das alles schon einmal gesehen oder zumindest davon gehört. Das nahm sie zumindest an, bis sie auf einen geöffneten Brief stieß, der an ihre Mutter adressiert war. Wie eigenartig, dachte sie und betrachtete die bunten ausländischen Marken.
“Wissen Sie vielleicht etwas über diesen Brief?”, fragte sie den Anwalt.
“Nein, nichts. Ich fand es seltsam, dass Virginia etwas so Persönliches zu den Dokumenten packte, die alle rein geschäftlich waren.”
“Er ist aus Mexiko”, stellte Lorraine überflüssigerweise fest.
“Ja, ist mir aufgefallen.”
“Vor sieben Jahren abgestempelt.” Sie zog ein einzelnes Blatt aus dem Umschlag. Nachdem sie es rasch überflogen hatte, drehte sie es um und las die Unterschrift. Sie japste, hob den Kopf und sah Dennis Goodwin fassungslos an.
“Sie … Sie wussten ganz bestimmt nichts davon?” Sie konnte ihren Schock nicht verbergen.
“Lorraine, ich weiß wirklich nichts von dem Brief. Ich war der Anwalt Ihrer Mutter, nicht ihr Vertrauter. Was sie in ihrem Schließfach unterbrachte, hatte nichts mit meiner Rolle als Anwalt zu tun.”
Lorraine ließ sich gegen die Sessellehne sinken und legte eine Hand an die Kehle. “Könnte … könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?” Ihr Mund war trocken, und ihre Stimme wurde rau. Das konnte einfach nicht wahr sein! Es war zu verrückt!
“Ich bin gleich zurück.” Dennis verließ das Büro und kam kurze Zeit später mit einem Pappbecher voll Wasser zurück.
Lorraine trank ihn in mehreren schnellen Schlucken leer, schloss die Augen und versuchte zu verdauen, was sie soeben erfahren hatte.
“Tut mir leid, falls Sie der Brief aus der Bahn geworfen hat”, sagte Dennis.
“Sie haben ihn wirklich nicht gelesen?”, fragte sie mit zittriger Stimme.
“Nein, natürlich nicht. Es wäre in hohem Maße unethisch, so etwas zu tun.”
Lorraine wartete, bis sie einigermaßen emotionslos sprechen konnte. “Es sieht so aus, Dennis”, erklärte sie ruhig, “dass mein Vater wohl doch nicht tot ist.”
Thomas Dancy wurde von einem Albtraum aus tiefem Schlaf gerissen. Er schlug die Augen auf und atmete durch. Ein Windhauch wehte durch das offene Schlafzimmerfenster, und ein voller Aprilmond warf kaltes Licht in den Raum.
Ich habe nur geträumt, sagte er sich. Es war immer derselbe Traum, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. Obwohl inzwischen dreißig Jahre vergangen waren, hatte er nichts an Intensität verloren. Thomas durchlitt jedes entsetzliche Detail – und wie stets erwachte er am selben Punkt, vor Angst und Entsetzen zitternd. Und jedes Mal fühlte er sich ungeheuer erleichtert, dass es nur ein Traum war. Wieder musste er sich klarmachen, dass das Schlimmste vorüber war. Er war einmal durch diese Hölle gegangen und hatte überlebt.
Thomas warf das Laken zurück und setzte sich in der Dunkelheit auf die Kante der dünnen Matratze, noch ganz benommen von den Nachwirkungen des Albtraumes. Selbst vollkommen wach, spürte er die Angst in allen Knochen.
Er hatte sehr viel verloren damals, Anfang der Siebziger. Bei Weitem der größte und schwerste Verlust waren seine Frau und seine Tochter gewesen. Doch der Traum hatte nichts mit ihnen zu tun.
Um seine Niedergeschlagenheit zu verscheuchen, stellte er sich Ginny und die kleine Raine bei seinem Abschied nach Vietnam vor. Ginny war sehr jung gewesen und wunderschön. Das Gesicht tränenüberströmt, hatte sie ihre kleine Tochter in den Armen gehalten. Abgesehen von allem anderen, was in den Jahren dazwischen schief gegangen war, konnte ihn dieses besondere Bild immer aufmuntern.
Sie war zum Flughafen gekommen, um ihn zu verabschieden, als er in einen Krieg zog, den er nicht verstand und den er nicht kämpfen wollte. Es hatte ihn fast umgebracht, seine Familie an jenem Tag zu verlassen, und am Ende war er es gewesen, der andere umbringen musste.
Das alte Schuldgefühl stieg in ihm hoch, und er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass seine Gedanken wieder diesen Weg gingen. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, als könnte er so die Reste des Traumes und alle damit einhergehenden Erinnerungen vertreiben.
Es funktionierte nicht.
Er begann wieder zu zittern, stand auf, ging zum Fenster und starrte in die Nacht. In einiger Entfernung sah er die Spiegelung des Mondlichtes auf dem glatten Wasser der Bucht. Er musste sich bewusst machen, dass der Krieg mit all seinen Gräueln weit hinter ihm lag.
Der Krieg verblasste in seinen Gedanken, stattdessen kamen Erinnerungen an Ginny zurück. Trotz der vielen vergangenen Jahre, und obwohl sie ihn verlassen hatte, liebte er sie immer noch. Er hatte sich hier, in El Mirador, ein neues Leben geschaffen, und er betrachtete Mexiko seit Langem als seine Heimat. Hier war er ein einfacher Mann und lebte ein einfaches Leben. Er war nie reich gewesen, und Geld hatte ihm nie besonders viel bedeutet. Ginny hatte das verstanden.
Ginny …
Ehe sein Traum in die Bilder und Geräusche eines brutalen Krieges übergewechselt war, hatte er seine Frau Ginny gesehen, wie sie mit zwanzig gewesen war. Sie war so real gewesen wie jetzt die Fensterbank unter seinen Fingern.
Sein Herz wollte überquellen, wenn er nur an sie dachte. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung auf dem Universitätscampus. Als jungfräulich und verklemmt hatte er sie abgetan. Aber das Klischee von Gegensätzen, die sich anziehen, hatte in ihrem Fall sicher gestimmt. Er hatte an die Ideale der Sechziger geglaubt – Studentenrevolte und Freiheit in allen Dingen –, sie verachtete Ideologien.
Zufällig besuchten sie dieselbe Englischvorlesung und saßen sich gegenüber. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Ginny war eine Versuchung gewesen, der er nicht widerstehen konnte. Er hatte es nicht beabsichtigt, aber ehe er sich versah, war er in sie verliebt gewesen.
Und sie in ihn.
Ein schwaches Lächeln entspannte seine Gesichtszüge, als er an das erste Mal dachte, als sie miteinander geschlafen hatten. Ginny war noch unberührt gewesen. Obwohl er selbst reichlich Erfahrung gehabt hatte, war ihm an diesem Nachmittag klar geworden, dass er zum ersten Mal wirklich geliebt hatte. Die Ehrlichkeit dieser Liebe hatte ihn für immer verändert.
Er wollte sie heiraten, was nichts mit Anstand und Moral, aber alles mit seinem Herzen zu tun hatte. Sie trafen sich jeden Tag nach den Vorlesungen und gingen verrückte Risiken ein, um in seinem Zimmer oder ihrem zusammen sein zu können. Nachdem sie einmal miteinander geschlafen hatten, konnten sie nicht mehr darauf verzichten. Das gegenseitige Verlangen überlagerte alle Vernunft.
Er merkte lange vor Ginny, dass sie schwanger war. Als gute Katholikin hatte sie keine Verhütung betreiben wollen. Der Himmel wusste, er hatte wirklich versucht, sie nicht zu schwängern … doch Ginny umschlang ihn mit den Beinen, dass es ihn schier um den Verstand brachte. Und sie verhinderte, dass er sich rechtzeitig zurückzog. Gerade so, als hätte sie es darauf angelegt, dass es passierte.
Zu der Zeit mietete er ein Zweizimmerapartment abseits vom Campus. Ihr einziges Möbelstück war eine abgewetzte Matratze in einer Ecke. Das Kochen erledigten sie auf einer einzelnen Platte. Der Mangel an materiellen Dingen kümmerte sie jedoch wenig. Sie waren zu verliebt, sich deshalb Sorgen zu machen.
Ginnys konservative Familie war entsetzt über die äußerlichen Veränderungen an ihr, als sie in den Ferien mit ihm im Schlepp heimgekommen war. Ginnys Haar hatte bis zur Taille gereicht, und ihre Kleidung bestand aus weiten Blusen, bunten langen Baumwollröcken und Sandalen. Ihre Eltern mochten ihn nicht, umso weniger, als sie erfuhren, dass er ihre mit Auszeichnung von der Schule gegangene Tochter geschwängert hatte. Es überraschte ihn nicht, dass sie entschieden gegen eine Heirat waren. Zu den Dingen, die ihn in den folgenden Jahren belasteten, gehörte, dass er einen Keil zwischen Ginny und ihre Familie getrieben hatte.
Sie schrieben sich ihre Ehegelübde selbst, und auf Ginnys Drängen fanden sie einen mitfühlenden Priester, der die Zeremonie vollzog. Ihr Liebesleben war schon vorher wunderschön gewesen, doch nach der Heirat wurde es unglaublich.
Da er eine Frau zu versorgen hatte und ein Baby unterwegs war, sah er sich gezwungen, das College zu verlassen und eine Ganztagsstellung zu finden. Er hatte mal mit Medizin als beruflicher Laufbahn geliebäugelt, doch das war von Anfang an ein unwahrscheinlicher Traum gewesen. Sie wussten das beide. Außerdem hätte er das Medizinstudium nur mit einem Stipendium durchziehen können, und seine Noten waren schlechter geworden, seit er mit Ginny zusammen war. Trotzdem hätte er seine Ehe nicht gegen ein Vollstipendium an der besten medizinischen Fakultät des Landes eingetauscht.
Obwohl sie unter der Armutsgrenze lebten, waren sie rundum glücklich. Bei Lorraines Geburt war er so lange bei Ginny geblieben, wie der Doktor es gestattete. Es war die reine Hölle gewesen, sie im Kreißsaal allein zu lassen. Als die Schwester herauskam und ihm sagte, er habe eine Tochter, war er vor Glück in Freudentränen ausgebrochen.
Zwei Tage, nachdem Lorraine aus dem Krankenhaus gekommen war, ging er ins Rekrutierungsbüro der U.S.-Army, um in die Armee einzutreten. Es war nicht das, was er wollte, aber ihm blieb keine Wahl. Als er die Uniform anzog, hatte er keinen blassen Schimmer, was er verlieren würde.
Sein Albtraum handelte von Vietnam. Immer wieder erlebte er jenen Tag, als er David Williams in einem blutgetränkten Reisfeld gehalten und ihm beim Sterben zugesehen hatte. Er hatte nichts tun können, außer in Qualen zu schreien.
Er hatte Ginny von David geschrieben, doch Worte waren nicht genug, seinen Verlust auszudrücken. An jenem Tag war mehr als ein Freund gestorben. Ein Teil von Thomas Dancy war ebenfalls gestorben. Der junge Mann, der er gewesen war, der unschuldige Einundzwanzigjährige, der an die Macht der Liebe und der Güte glaubte, war ebenfalls auf diesem Reisfeld verblutet.
Er war in den Krieg gezogen als Junge, der versuchte, seine Familie zu ernähren, ohne zu ahnen, wie der Krieg einen Menschen veränderte. Nur Ginnys Liebe hatte ihm später geholfen, die Hässlichkeit jener langen Monate in Vietnam zu überwinden. In der Hälfte seiner Dienstzeit nutzte er einen Urlaub von der Truppe in Hawaii, um zu desertieren, und kehrte nie mehr in den Krieg zurück. Er verachtete, was aus ihm geworden war.
Die Army führte ihn fortan als Deserteur, doch Thomas wusste, dass seine Flucht ihm das Leben gerettet hatte. Er hätte den Verstand verloren, wenn er zurückgekehrt wäre. Eine Weile hatte er sich in San Francisco versteckt. Ginny war zu ihm gekommen, hatte ihm Liebe geschenkt und ihm seinen Verstand zurückgegeben. Bitterkeit und Hass waren allmählich schwächer geworden, bis er fast wieder normal empfand und die erlebten Gräuel zumindest verdrängen konnte.
Doch er fühlte eine moralische Verpflichtung, andere vor dem zu schützen, was er erlebt hatte. Anstatt nach Kanada zu fliehen, wie es viele vor und nach ihm taten, machte er es sich zur Aufgabe, für die Beendigung des Krieges zu arbeiten. Er trat einer Extremistengruppe bei und befreundete sich mit ihrem Anführer, José Delgado, dessen Familie in Mexiko lebte. Da Thomas nach vier Jahren Studium recht gut Spanisch sprach, bestand José darauf, dass sie seine Sprache benutzten, wenn sie über ihre Pläne redeten. Was als Vorsichtsmaßnahme begann, endete als Notwendigkeit.
“Thomas?”
Beim Klang seines Namens drehte er sich nur zögernd um.
“Wieder der Traum?”, fragte Azucena halblaut.
Er nickte nur, ohne zu erklären, dass seine Gedanken Ginny und der Tochter gegolten hatten, die er nicht mehr kannte.
Sie schlüpfte aus dem Bett und kam zu ihm, die nackten Füße schritten lautlos über den Holzboden. “Komm wieder ins Bett”, drängte sie auf Spanisch und schlang ihm die Arme um die Taille.
“Bald”, versprach er und mochte seine Erinnerungen noch nicht loslassen.
“Komm!”, lockte sie wieder und legte ihm die gespreizten Finger auf die Brust. “Ich werde dir helfen, deine schlimmen Träume zu vergessen.”
“Azucena …”
Als Antwort küsste sie ihm den Nacken und presste ihre schweren Brüste an ihn.
Er brauchte sie jetzt so dringend wie immer. Trotz des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Schwangerschaft küsste er sie ohne Zurückhaltung. Und sie reagierte mit einer Leidenschaft, die seine eigene anstachelte. Als er sich zurückziehen wollte, zog sie ihn zum Bett und presste ihn an sich.
Azucena verdiente einen besseren Mann, als er je sein konnte. Sie verdiente jemand, der sie vollkommen um ihrer selbst willen liebte. Jemand, der dem Kind, das in ihr wuchs, seinen Namen gab. Es beschämte ihn, dass sie nur zwei Jahre älter war als seine Tochter. Doch das hielt ihn nicht davon ab, zwischen ihren Schenkeln einzudringen. Im Augenblick des Höhepunktes stieß er Ginnys Namen aus. Es war nicht das erste Mal, und es würde nicht das letzte Mal sein.
Lorraine hatte den Brief so oft gelesen, sie konnte ihn auswendig. Sie übernachtete nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern ausschließlich im Haus ihrer Mutter. Während sie dort war, schlief sie jedoch sehr wenig. Erschöpft und zornig saß sie Nacht für Nacht im dunklen Wohnzimmer und versuchte in dem, was sie erfahren hatte, einen Sinn zu entdecken.
Sie war sich vage bewusst, dass seit jenem Nachmittag in Dennis Goodwins Büro zwei Wochen vergangen waren. Der Morgen dämmerte, Licht strömte in den Raum, und sie hatte wieder nicht geschlafen. Sie schlummerte höchstens ein, zwei Stunden. Der tiefe, zufriedene Schlaf derer, die mit sich und der Welt im Einklang waren, schien für sie auf ewig verloren.
Die Mutter, die sie gekannt und geliebt hatte, existierte nicht mehr. Virginia – oder die Person, die sie zu sein vorgegeben hatte – war für sie nicht mehr erreichbar. Was sie getan hatte, überstieg Lorraines Fassungsvermögen. Sie kam sich vor, als sei das Fundament ihrer Welt zusammengebrochen.
Obwohl sie jedes Wort des Briefes auswendig kannte, holte sie ihn noch einmal hervor und las ihn.
Liebste Ginny!
Heute ist der einundzwanzigste Geburtstag unserer Tochter. Wo sind nur all die Jahre hin? Es kommt mir wie gestern vor, als ich Raine auf den Knien geschaukelt und sie in den Schlaf gesungen habe. Es schmerzt mich, zu erkennen, wie viel ihres Lebens ich versäumt habe.
Ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich habe nie aufgehört, dich zu lieben und zu brauchen. Ich wünschte, das Leben hätte anders für uns verlaufen können. Worum ich dich jetzt bitte, ist, dass du Raine die Wahrheit über mich mitteilst.
Die Entscheidung, ihr zu sagen, ich sei tot, haben wir gemeinsam getroffen. Zu der Zeit schien es das Richtige zu sein, aber ich habe es jeden Tag bereut. Du weißt das. Und du weißt auch, dass ich mein Wort halte. Ich habe getan, was du wolltest und mich nicht in euer Leben eingemischt. Aber ich bitte dich jetzt, Raine die Wahrheit zu sagen. Die ganze. Sie ist nun volljährig und alt genug, ihre eigenen Urteile zu fällen.
Ich unterrichte an einer kleinen Schule in der Küstenstadt El Mirador auf der Halbinsel Yucatán. Du kannst mich telefonisch unter der Nummer am Ende des Briefes erreichen. Die Schule wird dafür sorgen, dass ich deine Nachricht erhalte.
Geht es dir gut, Ginny? Liegst du nachts wach und denkst an mich, so wie ich an dich denke? Bist du glücklich? Ich habe gebetet, dass du inneren Frieden findest.
Ich werde dich immer lieben.
Thomas
Drei Wahrheiten sprangen Lorraine geradezu an, sobald sie den Brief las. Zuerst, und am wichtigsten, trotz allem, was man ihr erzählt hatte, lebte ihr Vater, und es ging ihm gut. Zweitens, er liebte sie. Als Letztes – und das belastete sie am meisten – ihre Mutter hatte sie all die Jahre belogen.
Ein lautes Klopfen an der Eingangstür riss Lorraine aus ihren Gedanken.
Sie war nicht überrascht, Gary auf der anderen Seite der Fliegendrahttür zu entdecken. “Ich dachte mir, dass du hier bist.” Er blickte in den Wohnraum und sah das Durcheinander.
“Wie spät ist es?”, fragte sie, obwohl offensichtlich Morgen war.
“Du hättest bereits vor einer Stunde zur Arbeit gemusst.”
“Ist es schon so spät?” Sie ging langsam durch den Raum, nahm Bücher, Zeitungen und Videokassetten auf und stapelte sie ordentlich auf einem Regal. Alles war besser, als Gary ansehen zu müssen. Sie wollte ihm nicht erzählen, was sie getan hatte.
“Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, um dir zu helfen”, sagte er und streckte in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. Als sie nicht antwortete, ging er in die Küche und nahm eine Dose Kaffee aus dem Schrank.
Lorraine folgte ihm.
“Es könnte eine gute Idee sein, wenn du dich anziehen würdest, damit du zur Arbeit gehen kannst”, drängte er nachdrücklich.
Anstatt mit ihm zu streiten, tat sie wie vorgeschlagen, duschte schnell und zog ihre Schwesterntracht an, obwohl sie nicht vorhatte, sich in der Klinik zu zeigen. Als sie zurückkehrte, begrüßte sie der Duft von frisch gebrühtem Kaffee.
“Reden wir”, bat Gary und deutete ihr mit einer Geste an, sich an den Tisch zu setzen.
Wieder gehorchte sie, weil es zu viel Energie gekostet hätte, sich ihm zu widersetzen.
Er nahm den Stuhl ihr gegenüber. “Liebes, ich weiß, wie schwer das alles ist, aber du musst weiterleben.”
Sie tat nicht so, als würde sie ihn nicht verstehen. “Das ist mir klar, und ich werde weiterleben.”
“Das ist ein guter Start.” Er nippte an seinem Kaffee und seufzte tief, als hätte er sich vor dieser Konfrontation gefürchtet. “Seit dem Treffen mit dem Anwalt deiner Mutter warst du nicht mehr du selbst.”
“Ich weiß.”