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Wenn du einen Garten und eine beste Freundin hast, wird dir im Leben nichts fehlen!
Joan und Maggie sind auf den ersten Blick grundverschieden. Während sich die Witwe Joan in ihrem großen Haus sehr allein fühlt, dreht sich das Leben der jüngeren Maggie darum, dass sie zwischen zwei Jobs noch Zeit für sich findet. Der Zufall bringt die beiden zusammen, und schließlich zieht Maggie zu Joan ins Haus. Gemeinsam wagen sie den Neuanfang, der für beide einen Hoffnungsschimmer bereithält. Aber wird Maggies aufkeimende Anziehung zu ihrem Lieblingskunden diese Harmonie zerstören? Und was soll Joan von dem mysteriösen Landschaftsgärtner halten, der ihren großen, wunderschönen Garten wiederbelebt – ein Mann, der selbst einen Verlust zu verkraften scheint?
Warm und hoffnungsvoll. Mit ihrem unverkennbaren Charme und Witz beweist Debbie Macomber, dass die besten Beziehungen, wie die perfekten Blüten, immer das Warten wert sind. Lesen Sie auch die anderen ans Herz gehenden Romane der Bestsellerautorin!
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Seitenzahl: 393
Autorin
Debbie Macomber begeistert mit ihren Romanen Millionen Leser*innen weltweit und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen überhaupt. Wenn sie nicht gerade schreibt, strickt sie oder verbringt mit Vorliebe viel Zeit mit ihren Enkelkindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Port Orchard, Washington, und im Winter in Florida.
Lesen Sie weitere gefühlvolle Sommerromane von Debbie Macomber:
Das kleine Cottage am Meer
Liebe mit Meerblick
Die Bucht der Wünsche
Liebe mit Aussicht
Unser Sommer am Meer
Debbie Macomber
Roman
Deutsch von Nina Bader
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Must Love Flowers« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2023 by Debbie Macomber
This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House,
a division of Penguin Random House LLC.
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © living4media / Westermann, Jan-Peter; www.buerosued.de
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
LH ∙ Herstellung: sam
ISBN: 978-3-641-31680-8V001
www.blanvalet.de
Sommer 2023
Liebe Freunde,
nachdem ich Unser Sommer am Meer geschrieben hatte, dachte ich wirklich, meine Zeit als Autorin sei vorüber. Nach vierzig erfolgreichen Jahren war es an der Zeit, mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen und mich in den Ruhestand zu begeben. Viele von euch haben protestiert: »Das kannst du nicht machen, das kannst du einfach nicht machen.« Andere schrieben mir, gratulierten mir zu meinem Entschluss und dankten mir für all meine Geschichten.
Fairerweise muss ich sagen, dass ich mich vom Gedanken an den Ruhestand schnell verabschiedet habe. Als Erstes erstellte ich eine Liste von all den Projekten, die ich in Angriff nehmen wollte. Gewiss, es war an der Zeit, einen Gang zurückzuschalten, Schränke auszuwischen und Schubladen auszumisten, da jede einzelne sich irgendwie in eine Krimskramsablage verwandelt zu haben schien. Ich freute mich darauf, in meinem Handarbeitszimmer zu werkeln und Ordnung hineinzubringen. Meine Stricknadeln warteten nur darauf, dass ich sie zur Hand nahm. Ich erwog sogar, wieder zu studieren.
Aber vier Monate später war ich gelangweilt, ruhelos und hatte keinen einzigen Punkt meiner Liste abgearbeitet. Okay, einen Schrank hatte ich ausgeräumt. Wisst ihr, da war diese Geschichte von einer Witwe, die mir keine Ruhe mehr ließ, bis ich mich schließlich an meinen Computer setzte und mich ans Werk machte. Und wisst ihr was? Ich war wieder ich selbst.
Ich hätte nicht vier Monate brauchen sollen, um zu erkennen, dass ich am glücklichsten bin, wenn ich schreibe. Das bedeutet nicht, dass ich zu demselben Veröffentlichungsplan zurückkehre, den ich in den vergangenen Jahren eingehalten habe, aber ich werde auch weiterhin Geschichten erzählen. Der springende Punkt ist dieser: Ich bin zum Schreiben geboren, und es macht mich glücklich.
Eure Unterstützung bedeutet mir alles, und ich danke euch für euer Vertrauen in mich. Euer Feedback war und wird für mich immer die treibende Kraft für meine Storys bleiben.
An dieser Stelle möchte ich dem wundervollen Verlagsteam danken, das hinter mir steht. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ihr an mich glaubt. Und ich bin froh um eure Weisheit, wenn es darum geht, ein Buch Gestalt annehmen zu lassen.
Wie ich schon sagte, euer Feedback ist mir immer willkommen. Ihr könnt mich auf allen Plattformen der sozialen Netzwerke erreichen. Wenn ihr es vorzieht, mir zu schreiben, hier die Adresse: P.O. Box 1458, Port Orchard, WA. 98366
Wärmstens,
Debbie
Für all jene Witwen, die sich alleine,
verwirrt und überfordert wiederfinden.
Und Jenny Berry, Janice Alexander, Barbara Johnson.
Für ihre Entschlossenheit, ihre Stärke und ihren Mut.
Zum dritten Mal in ebenso vielen Minuten blickte Joan Sample auf die Küchenuhr. Sie hatte erwartet, dass sich ihr jüngster Sohn inzwischen gemeldet hätte. Sie hatte Nick zum Dinner eingeladen und sein Lieblingsessen gekocht, obwohl es ihr Geburtstag war. Er hatte nicht geantwortet, und sie war nicht sicher, ob er überhaupt kommen würde oder nicht. Der Esszimmertisch war gedeckt, und die Hühnchen-Enchiladas sowie der spanische Reis und das Bohnenpüree wurden im Ofen warmgehalten. Joan mochte Hühnchen-Enchiladas nicht besonders. So weit war es also gekommen – sie musste ihren Sohn bestechen, damit er sie besuchte. Steve, ihr Ältester, hatte eine gute Entschuldigung, da er in der Nähe von Phoenix lebte. Aber er hatte wenigstens angerufen.
Sie ließ sich in ihren Lieblingssessel im Wohnzimmer sinken und griff nach der Fernbedienung. Im Fernsehen kamen die wöchentlichen Sonntagsnachrichten, die sie sich regelmäßig ansah. Großaufnahmen. Nur dass Joan kein Wort von dem hörte, was gesagt wurde, und außerdem interessierte sie sich nicht sonderlich dafür. Es gab ohnehin selten etwas Positives zu berichten.
Der Muttertag lag eine Woche zurück, und ihre Söhne hatten ihr einen Strauß aus Callas und weißen Rosen sowie eine Schachtel Pralinen geschickt. Wenigstens hatten sie sich daran erinnert, wie sehr sie Blumen liebte. Es war ihr Pech, dass sie nur sieben Tage später Geburtstag hatte. Steve und Nick schienen zu denken, mit den Blumen und den Pralinen ihre Pflicht getan und Muttertag und ihren Geburtstag zugleich abgedeckt zu haben.
Das mangelnde Interesse ihrer Söhne, die ihr gegenüber wenig Liebe oder Anerkennung zeigten, würde ihr nicht so zu schaffen machen, wenn nur Jared noch leben würde. Ihr Mann hatte sie am Muttertag nie vergessen und sich immer bemüht, ihren Geburtstag zu etwas ganz Besonderem zu machen. Auch nach vier Jahren trauerte sie noch um ihn. In dem Moment, als Jared für tot erklärt worden war, war ihre ganze Welt in sich zusammengebrochen.
Sie hatte vor Kurzem gehört, dass der Zahnarzt, der Jareds Praxis gekauft hatte, sehr erfolgreich war. Was sie freuen sollte, weil es ihr bewies, dass Jareds Patienten den Übergang gut bewältigt hatten. Viele waren seit Jahren bei Jared in Behandlung gewesen, und da sie als Empfangsdame und Buchhalterin in seinem Büro gearbeitet hatte, war sie mit vielen von ihnen per Du.
Joan hatte es geliebt, mit ihrem Mann zusammenzuarbeiten. Für manche Paare war es schwierig, rund um die Uhr zusammen zu sein, aber nicht für sie. Sie hatten ein großartiges Team abgegeben, sich immer nahegestanden und waren Seelenverwandte gewesen. Joans Leben war leer ohne Jared. Öde. Sinnlos. Dunkel. Seit er nicht mehr da war, kam es ihr vor, als hätte sie kein Ziel mehr, keinen Antrieb, keinen Grund, morgens das Bett zu verlassen.
Kopfschüttelnd weigerte sich Joan, zuzulassen, dass sie über seinen Verlust in abgrundtiefem Kummer versank, wie es schon so oft der Fall gewesen war. Es war vier Jahre her. Vier lange, qualvolle Jahre. Die Pandemie hatte sich als alles andere als hilfreich erwiesen. Jared war erst sechs Monate tot gewesen, als das gesamte Land in den Lockdown gegangen war. Die erste Zeit hatte Joan sich im Haus verschanzt, aus Angst, sich das Virus einzufangen, und kaum die Tür geöffnet. Während die Wochen verstrichen waren und die Zeit verging, hatte Joan sich in der Isolation häuslich eingerichtet. In einem Kokon zu leben, war angenehm gewesen. Vertraut. Alltäglich.
Als die Beschränkungen gelockert wurden, ging sie nach und nach ein paar Mal pro Woche nach draußen. Nicht für lange Zeit und vorsichtshalber immer mit Maske. Sie erledigte alles, was auf ihrer Liste stand – sie hatte immer eine Liste –, und sie trödelte nicht herum, bevor sie nach Hause zurückeilte, zurück in die Sicherheit … Noch immer bestellte sie, wenn möglich, die meisten Dinge online; etwas, woran sie sich während der Pandemie gewöhnt hatte. In der Abgeschiedenheit zu leben, war die Norm geworden, und sie entdeckte, dass es ihr lieber so war. Das Leben außerhalb ihrer Haustür konnte riskant sein. Etwas, das es zu vermeiden galt.
Tief in Gedanken versunken, erschrak Joan, als ihr Telefon klingelte. Eine halbe Sekunde lang erkannte sie noch nicht einmal den Klingelton. Dann sprang sie von ihrem Sessel auf, eilte in die Küche zurück und suchte die Theke ab, wo sie, wenn sie sich recht erinnerte, das Telefon zuletzt hingelegt hatte. Sie könnte schwören, dass sie die Hälfte des Tages damit verbrachte, das Gerät zu suchen. Sie würde es ganz abschaffen, wenn dieses Ärgernis nicht hin und wieder notwendig wäre.
Ohne sich die Mühe zu machen, einen Blick auf die Anrufererkennung zu werfen, meldete sie sich nach dem vierten Klingeln. »Hallo.« Nach der hektischen Suche klang ihre Begrüßung atemlos.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, ertönte die Singsangstimme ihrer älteren Schwester Emmie.
»Danke«, sagte Joan. Ihre Schwester war zu ihrer größten Mutmacherin geworden. Emmie hatte ihr vor einigen Tagen eine hübsche Karte sowie einen Geschenkgutschein für The Cutting Edge geschickt, Joans Lieblingsfriseursalon. Emmie war mit der Inhaberin Charlene Royce befreundet, die jahrelang als Friseurin im Cutting Edge gearbeitet hatte, bevor sie den Salon gekauft hatte. Die beiden waren zusammen zur Highschool gegangen.
Emmie war ihr übliches fröhliches Selbst; ihre Stimme klang, als stünde sie kurz davor, herzlich zu lachen. Joan und ihre Schwester standen sich trotz der räumlichen Distanz sehr nah.
»Machst du irgendetwas Besonderes, um deinen Ehrentag zu feiern?«
Joan zuckte als Antwort die Achseln, obwohl ihre Schwester dies nicht sehen konnte. »Nicht wirklich. Für jemanden in meinem Alter ist das nicht mehr notwendig.«
»Wie alt bist du noch gleich?«, frotzelte Emmie.
Ihre Schwester wusste genau, der wievielte Geburtstag es war. »Vierundfünfzig. Bitte erinnere mich nicht daran.«
»Bei dir klingt es so, als wärst du siebzig.«
Genauso fühlte sie sich auch. »Das werde ich bald genug sein.«
»Aber jetzt noch nicht. Du hast eine ganze Menge Leben vor dir, kleine Schwester«, tadelte Emmie sie. »Was du brauchst, ist eine Änderung deiner Einstellung. Tu zur Abwechslung mal etwas, das Spaß macht. Geh raus und genieß das Leben, atme die frische Luft. Mach einen Spaziergang um den Green Lake. Geh shoppen und leg dir ein neues Outfit zu. Nimm einen Untermieter auf.«
»Einen Untermieter?« Was für eine verrückte Idee. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Schwester sich dabei dachte. »Ich werde mich an die Umsetzung machen.«
Emmie steckte voller guter Ideen, von denen Joan in der nächsten Zeit jedoch keine umzusetzen gedachte.
»Ich meine es ernst. Du musst aus deinem Schneckenhaus herauskommen, und der beste Weg, kleine Schwester, besteht darin, etwas für jemand anderen zu tun. Ich verspreche, dass du dich bezüglich des Lebens im Allgemeinen besser fühlen wirst, wenn du eine Möglichkeit findest, anderen Menschen etwas zu geben. Ich habe mit Charlene gesprochen, als ich deinen Gutschein bestellt habe, sie nimmt eine Untermieterin auf und ist schon ganz aufgeregt.«
Joan verdrehte die Augen Richtung Decke. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Trotzdem ist es etwas, worüber man nachdenken sollte. Indem du einen Untermieter aufnimmst, würdest du jemandem helfen, und dieser Jemand könnte dir dann helfen. Jared ist seit vier Jahren tot. Es ist Zeit, dass du wieder zu leben beginnst.«
Joan musste nicht extra daran erinnert werden, wie lange es her war, seit sie ihren Mann verloren hatte. Man verbrachte nicht fünfundzwanzig Jahre mit einem Menschen, lebte zusammen, arbeitete zusammen, teilte alles miteinander und kam dann einfach so über den Verlust hinweg, nur weil es Zeit war.
»In mancher Hinsicht kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen.« Selbst jetzt noch gab es Tage, an denen sie Jared einen im Internet entdeckten Witz oder etwas erzählen wollte, das sie gelesen hatte. Sie hatte sich kürzlich dabei ertappt, ihm von einer Idee berichten zu wollen, die ihr bezüglich des Streichens der Küche gekommen war, nur um erkennen zu müssen, dass er fort war. Mehr als nur fort. Er war tot und begraben.
»Ich weiß, wie schwer diese Zeit für dich gewesen ist.« Emmies Stimme wurde weicher. »Ich habe es früher schon vorgeschlagen, und du hast mich immer abgeschmettert, aber Joan, Süße, du solltest erwägen, mit einem Therapeuten zu sprechen.«
Bei nahezu jedem Gespräch mit ihrer Schwester wurde dieses Thema angeschnitten. Jedes Mal blockte Joan sofort ab, weil sie nicht bereit war, mit einem Fremden über den Schmerz in ihrem Herzen zu diskutieren. Es fiel ihr schwer, mit anderen über Jared zu sprechen, ohne dass ihr prompt die Tränen in die Augen schossen. Sie würde sich zu Tode schämen, wenn sie in der Gegenwart eines Fremden zusammenbräche. Es war zu erwarten, dass sie sich in ein emotionales Wrack verwandeln würde, weil sie sich nicht würde beherrschen können.
»Wenn schon kein Therapeut«, fuhr Emmie fort, die offenbar nicht gewillt war, das Thema fallenzulassen, »dann eine Selbsthilfegruppe zur Trauerbewältigung. Ich habe gehört, das kann sehr hilfreich sein.«
»Nein, danke.«
»Joan, denk wenigstens darüber nach. Es kann doch nichts schaden. Du würdest Leute treffen, die in derselben Situation sind wie du, die jemanden verloren haben, den sie so geliebt haben wie du Jared. Du würdest die Unterstützung bekommen, die du brauchst, und einen Weg finden, dich der Zukunft zu stellen.«
Joan schüttelte automatisch den Kopf. »So einfach ist das nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich würde weinen, und du weißt, wie sehr ich das hasse.« Sie sah sich selbst in einer Runde sitzen und sich die Augen ausweinen, sodass sie nicht mehr würde sprechen können. Dann würde sie sich die Nase schnäuzen müssen, und wenn sie das täte, würde es wie der Schrei einer Gans klingen. Nein, das kam nicht infrage.
»Du bist dumm. Wenn du einen Gefühlsausbruch hast, glaubst du nicht, dass die Leute es verstehen würden? Ich vermute, jeder in der Gruppe hat selbst eimerweise Tränen vergossen.«
»Ich werde darüber nachdenken«, bot Joan in der Hoffnung an, es würde ihre Schwester beschwichtigen.
»Wirst du das?«
Joan schloss kurz die Augen. Emmie ließ nicht locker. Ihre Schwester weigerte sich, dieses Thema fallen zu lassen, egal wie unangenehm es für Joan war. »Warum ist dir das so wichtig?«, wollte sie wissen.
»Warum?«, wiederholte Emmie. »Weil du meine Schwester bist und ich mir Sorgen um dich mache, weswegen ich auch glaube, es würde dir helfen, einen Untermieter aufzunehmen, um ins Leben zurückzufinden. Du bist eine richtige Einsiedlerin geworden.«
»Das stimmt nicht. Ich gehe raus … okay, nicht oft, aber ich leide nicht an Platzangst.«
»Wenigstens etwas«, sagte Emmie und wechselte dann endlich das Thema. »Es war nett, mit Charlene zu plaudern … Sie hat The Cutting Edge während der Pandemie gekauft, und der Laden läuft gut.« Charlene stylte schon seit Jahren Joans Haare und war auch mit ihr befreundet.
»Ich habe davon gehört«, sagte Joan. Sie war stolz darauf, dass ihre gemeinsame Freundin diesen Schritt gewagt hatte.
»Verrate mir, wann du das letzte Mal bei Charlene warst, um dir die Haare schneiden zu lassen.«
Es war nett von ihrer Schwester, nicht extra zu erwähnen, dass Joan mehr als nur einen Haarschnitt brauchte. In den letzten Jahren hatten ihre Haare die Farbe von Salz und Pfeffer angenommen, wobei das Grau dominierte. Vielleicht sollte sie in Erwägung ziehen, sie wieder färben zu lassen, so wie sie es früher getan hatte.
»Das ist schon eine Weile her«, gab Joan widerstrebend zu.
»Eine Weile?«
»Okay, zwei Jahre.«
»Wie ich es erwartet habe!« Emmie war noch nie der Typ gewesen, der sich ein »Ich habe es dir ja gleich gesagt« verkniff. »Versprich mir, dass du einen Termin vereinbarst.«
»Versprochen.« Ein Schnitt würde ihr guttun. Ihr Haar war lang und zottelig geworden und musste dringend in Form gebracht werden. Jared hatte sie mit kürzeren Haaren gemocht, und sie hatte sich an den pflegeleichten Stil gewöhnt. Sie brauchte jeden Morgen nur ein paar Minuten zum Kämmen, dann sah sie präsentabel aus, bevor sie ins Büro ging – früher zumindest. Jetzt reichten ihr die Haare bis zur Schulter. Da sie an die Länge nicht gewöhnt war, band sie sie zusammen, weil sie ihr oft ins Gesicht fielen. Diese Frisur ließ sie älter wirken, und das nicht auf eine schmeichelhafte Weise. Der einzige Mensch, den sie an den meisten Tagen sah, war ihr eigenes Spiegelbild, also war es eigentlich egal.
»Ich möchte, dass du mir nach dem Termin ein Foto schickst, damit ich das Ergebnis sehen kann«, verlangte Emmie.
»Mache ich.« Joan hatte fest vor, ihr Versprechen zu halten. Alles, was sie brauchte, war ein Anreiz, einen Termin mit Charlene zu vereinbaren.
»Wie geht es den Jungs?«, fragte Emmie als Nächstes.
»Gut. Sie haben mir zum Muttertag einen Blumenstrauß geschickt.« Die Pralinen, die sie gleich in die Tiefkühltruhe gesteckt hatte, erwähnte sie nicht. Sie aß selten Süßigkeiten oder hatte welche im Haus. Als Zahnarzt hatte Jared alles missbilligt, was zu Karies führen konnte.
»Was ist mit deinem Geburtstag?«
»Steve hat angerufen. Er war aufgeregt, stell dir vor, er hat die Empfehlung für eine Beförderung bekommen, die er wollte.« Ihr Gespräch war kurz gewesen und lag Joan auf der Seele. Steve hatte mehrmals Zoe erwähnt, eine Frau, mit der er sich traf. Es hatte nach einer ernsthaften Beziehung geklungen, und Joan hatte darauf gewartet, dass ihr Sohn eine Verlobung verkündete. Als sie nach Zoe gefragt hatte, hatte Steve schnell das Thema gewechselt und das Gespräch unter einem Vorwand beendet. Statt zu erzählen, wie kurz der Anruf gewesen war, sagte sie: »Steve ist der neue Direktionsassistent im Verteilcenter.« Ihrem Sohn machte sein Job bei Rick’s Sporting Looks Spaß, er war gut darin und rasch aufgestiegen. Mit siebenundzwanzig war er Manager des Centers geworden und hatte innerhalb der nächsten paar Jahre schnell Karriere gemacht. Joan war beeindruckt von Steves Arbeitsmoral. Trotz ihrer Befürchtungen bezüglich seiner Beziehung war sie sowohl auf Steve als auch auf Nick stolz.
»Das ist ja großartig. Trifft er sich noch mit … wie heißt sie doch gleich?«
»Zoe«, half Joan nach.
»Richtig. Sie sind ja inzwischen schon eine ganze Weile zusammen.«
»Ja«, stimmte Joan zu, ohne irgendetwas hinzuzufügen. In mancher Hinsicht fühlten sich die kurzen Gespräche mit Steve wie eine Art Pflichterfüllung an, als wollte ihr Sohn sie wissen lassen, dass er ihren Geburtstag nicht vergessen hatte, aber zu beschäftigt sei, um mehr als ein paar Minuten für sie erübrigen zu können.
»Was treibt denn Nick zurzeit so?«, erkundigte sich Emmie als Nächstes.
»Nick hat immer drei oder vier Eisen im Feuer«, erwiderte Joan. »Er arbeitet an einem großen Bauprojekt mit, einem Apartmentkomplex in Seattle.« Schon als Jugendlicher war Nick am glücklichsten gewesen, wenn er einen Hammer, Nägel und ein Stück Holz in den Händen gehalten hatte. Er war der geborene Tischler.
Jared schien es nie gestört zu haben, dass sich keiner seiner Söhne entschieden hatte, in seine Fußstapfen zu treten und auf dem Gebiet der Medizin tätig zu werden. Steve hatte das College mit einem Diplom in Supply Chain Management abgeschlossen, und Nick war direkt nach der Highschool Tischlerlehrling geworden. Ihr Mann hatte keinen Druck auf die Jungen ausgeübt und sie ihren eigenen Weg gehen lassen. Joan war diejenige gewesen, die gehofft hatte, entweder Steve oder Nick würde eines Tages Jareds Praxis übernehmen, aber das sollte nicht so sein.
Ihr Telefon summte, kündigte eine eingehende Nachricht an.
»Ich glaube, das ist jetzt Nick«, sagte sie. Ihr Herz machte vor Freude darüber, dass er bald zum Dinner vorbeikommen würde, einen Satz. »Wir sprechen später weiter.«
»Vergiss nicht, mir ein Foto zu schicken, wenn Charlene mit deinen Haaren fertig ist.«
»Wird gemacht. Jetzt muss ich mich aber sputen.«
Joan beendete das Gespräch mit Emmie und checkte die Nachricht.
Sie war von Nick, der lieber einen Text schickte, als anzurufen. Es tue ihm leid, dass er nicht zum Dinner kommen könne.
Kein Grund. Keine echte Entschuldigung.
Wieder einmal verbrachte sie wie in den letzten vier Jahren ihren Geburtstag alleine.
Joan starrte auf den Computerbildschirm, während sie überlegte, welche Buchstaben sie für Wordle wählen sollte. So begann sie gewohnheitsmäßig jeden Morgen. Das Wortspiel half ihr, geistig fit zu bleiben, ebenso wie das aus tausend Teilen bestehende Puzzle des Eiffelturms, an dem sie gerade arbeitete. Unglaublich kleine Teilchen lagen auf dem Küchentisch verstreut. Früher einmal hatte sie an diesem Eichenholztisch die Mahlzeiten für ihre Familie serviert. Heutzutage diente er verschiedenen Zwecken, wobei »Familie« zu keinem davon gehörte.
Früher einmal …
Joan schob den Stuhl zurück und ging in die Küche, um sich eine weitere Tasse Kaffee einzuschenken, als sie hörte, wie die Vordertür geöffnet wurde. Einen Augenblick lang rann ein Anflug von Angst ihren Rücken hinunter, bis ihr einfiel, dass der Sicherheitsriegel vorgeschoben war. Wer sich hier Zutritt verschaffen wollte, brauchte einen Schlüssel.
»Mom?«, rief Nick, als erwartete er, dass sie neben der Tür stand und auf seine Ankunft wartete.
»Hier.« Sie kam mit dem Kaffeebecher aus der Küche zu ihm in die Diele. Er stand vor der Treppe, die zu den beiden oberen Schlafzimmern führte. Es waren diese Zimmer gewesen, die Jared zu dem Kauf des Hauses bewogen hatten. Das Hauptschlafzimmer befand sich im Erdgeschoss, weit weg von den Jungen, die vor allem als Teenager dazu geneigt hatten, die ganze Nacht lang aufzubleiben.
Ihr Sohn starrte sie eine Minute lang an, bevor sich seine dunkelbraunen Augen, die denen seines Vaters so glichen, verengten.
Beunruhigt fragte sie: »Alles in Ordnung?«
Eine Vielzahl von Problemen schoss ihr durch den Kopf, gerade so wie ein Felsbrocken, der einen Hang hinunterrollte. Hatte ihr Sohn seinen Job verloren? War er in einen Autounfall verwickelt? Hatte Nick eine besorgniserregende medizinische Diagnose erhalten?
»Yeah, alles bestens«, gab er zurück. Er klang abgelenkt.
»Das ist gut.« Sie seufzte erleichtert. Sie hatte genug eigene Probleme und fühlte sich nicht in der Lage, noch mehr zu verkraften. »Es ist nur so, dass du normalerweise nicht so früh hier auftauchst. Was ist los?« Sie winkte ihm, ihr in die Küche zu folgen, wo sie ihm automatisch einen Kaffee eingoss. Wie sein Vater war Nick koffeinsüchtig.
»Wir fangen heute Morgen später an, wir warten auf eine Inspektion.« Nick setzte sich an den Tisch und starrte das zu drei Vierteln vollendete Puzzle an. Er griff nach einem Teil, betrachtete es und legte es dann an seinen Platz.
Joan hatte Mühe, ihn nicht daran zu hindern. Das war ihr Puzzle, und sie zog es vor, es selbst zusammenzusetzen. Die Befriedigung, die sie daraus zog, das Gefühl, etwas geleistet zu haben, war der Grund dafür, dass sie sich stundenlang damit beschäftigte. Sie brauchte keine Hilfe, und vor allem wollte sie keine.
»Tut mir leid, dass ich an deinem Geburtstag nicht da war«, verkündete Nick sachlich.
»Du hast mir eine Nachricht geschickt.« Aber er hatte ihr keinen Grund genannt, warum er nicht hatte kommen können. Sie vermutete, dass er sich entschieden hatte, den Tag mit seinen Freunden zu verbringen und sich das Spiel der Seahawks anzuschauen. Die Pfanne mit den Hühnchen-Enchiladas stand unangerührt im Kühlschrank. Bevor er ging, würde sie dafür sorgen, dass er sie mitnahm, sonst würde sie das Essen am Ende in den Müll werfen.
Nick wandte den Blick ab. »Sorry, ich habe gearbeitet.«
»An einem Sonntag?«
»Mom, wir haben bei diesem Projekt einen eng getakteten Zeitplan. Wenn wir mit unserem Teil nicht rechtzeitig fertig werden, dann halten wir die anderen Teams auf. Ich sage dir, diese Elektriker können ziemlich ungemütlich werden, wenn wir nicht fertig sind, sobald sie die Leitungen legen wollen.«
»Ich hoffe, sie bezahlen dir die Überstunden.«
Nick blickte von dem Puzzle auf und grinste jungenhaft. »Yup. Was mich zu dem Grund für meinen Besuch bringt.«
»Oh?«
»Ja. Da ich das Dinner mit dir verpasst habe … Wie wäre es, wenn ich dich zum Essen ausführe?«
Die Einladung überraschte sie freudig. Joan konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal auswärts gegessen hatte. Sie bestellte gelegentlich bei DoorDash und auch bei Uber Eats. Es erschien ihr irrsinnig, das Haus zu verlassen, um allein essen zu gehen. Früher einmal … Da war es wieder, es zog sich hartnäckig durch ihr Leben. Sie und Jared hatten einen regelmäßigen Ausgehabend gehabt.
Eine Weile war sie mit Freunden in Verbindung geblieben. Eine Gruppe Schulkameraden vom College hatte sich drei oder vier Mal im Jahr zum Lunch getroffen. Das war seit der Pandemie nicht mehr passiert. Seit dem Lockdown schienen alle getrennte Wege zu gehen.
Nach Jareds plötzlichem Tod infolge eines schweren Hirnaneurysmas war Joan von Familienangehörigen und Freunden mit Mitgefühl und Unterstützung überschüttet worden. Das hatte jedoch schnell aufgehört, und als Covid gekommen war, hatte absolute Funkstille geherrscht. Dabei war es geblieben.
»Na, was sagst du dazu?«, fragte Nick und riss sie so aus ihren Gedanken.
Einen wilden Moment lang rang sie mit sich, hielt es für das Beste, für sicherer, abzulehnen, aber dann änderte sie ihre Meinung. Ein Dinner sollte ihr keine solche Angst einjagen. Sich wieder daran zu gewöhnen, das Haus zu verlassen, war das, was sie brauchte, wenn sie im Leben wieder nach vorne schauen wollte. Emmie würde sich freuen, wenn sie erfuhr, dass Joan sich Mühe gab.
»Äh, sicher. Wo würdest du gerne hingehen?«
»Mom«, erwiderte er grinsend, »es ist dein Geburtstag. Du entscheidest.«
»Du möchtest, dass ich entscheide?« So verrückt es auch für eine Frau war, die ein hektisches Büro geleitet und sich um alles außerhalb der eigentlichen Zahnbehandlungen gekümmert hatte, fand sie es plötzlich schwierig, auch nur die kleinste Entscheidung zu treffen.
»Yup. Ich habe Geld, um es zu verprassen.« Er wirkte sehr zufrieden mit sich. »In jedem Restaurant in der Stadt.«
»Was, wenn ich sage, ich möchte bei Canlis essen?« Das legendäre Restaurant in Seattle hatte oft eine Warteliste von mehreren Wochen. Jared und Joan waren an ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag zum Dinner dort gewesen und hatten die Erinnerung an diese Mahlzeit wie einen Schatz gehütet. Das Personal des Canlis hatte den Abend zu etwas ganz Besonderem gemacht.
Nick zuckte mit keiner Wimper. »Ich bezweifle zwar, dass ich einen Tisch reservieren kann, aber ich werde es versuchen.«
Joan machte es Spaß, ihren Sohn zu necken. »Glaubst du, das Il Lucano hat den Lockdown überlebt?« Der im Familienbetrieb geführte Italiener hatte zu ihren und Jareds Lieblingsrestaurants gehört. Joan hatte nirgendwo einen besseren Auberginenauflauf gegessen.
»Ich weiß es nicht.« Nick kramte sein Telefon aus der Tasche, tippte darauf herum und hatte innerhalb einer halben Sekunde die gesuchte Information. Er blickte auf, lächelte und nickte. »Sieht aus, als wären sie noch im Geschäft, genau wie wir. Ich werde anrufen und für morgen Abend um halb sieben einen Tisch reservieren. Klingt das gut?«
»Perfekt.« Es erstaunte sie, in welche Aufregung diese Einladung sie versetzte. Es war eine Ewigkeit her, seit es etwas Außergewöhnliches gegeben hatte, worauf sie sich hatte freuen können. Dass die Einladung von ihrem Sohn gekommen war, machte sie erst recht zu etwas Besonderem.
»Ich sollte jetzt besser zur Arbeit gehen«, sagte Nick, als er vom Tisch aufstand und seinen leeren Kaffeebecher in die Küchenspüle stellte. »Ich komme morgen um sechs vorbei. Sei dann fertig, okay?«
»Natürlich, und nach dem Dinner kannst du die Enchiladas mit nach Hause nehmen.«
Seine Augen leuchteten auf. »Mein Lieblingsessen. Danke, Mom.« Nick küsste sie auf die Wange, bevor er zur Tür hinausstürmte.
Freudig erregt und zögernd zugleich begab sich Joan schnurstracks zu ihrem Schlafzimmerschrank, um zu überprüfen, was sie zu diesem Anlass anziehen könnte. Als sie an dem Ganzkörperspiegel an der Schranktür vorbeikam, musste sie zwei Mal hinschauen. Kein Wunder, dass ihr Sohn sie so seltsam angesehen hatte. Sie sah verheerend aus. Ihre Haare waren nicht gekämmt, und sie trug alte Jeans, ein vom häufigen Waschen ausgebleichtes Seahawks-Sweatshirt, Slippers und hatte noch nicht einmal Lippenstift aufgelegt. Der Kontrast zu den Tagen, wo sie mit Jared ins Büro gegangen war, traf sogar sie selbst wie ein Schlag. Früher einmal war sie stolz auf ihre äußere Erscheinung gewesen.
Früher einmal galt für viele Dinge, gestand sie sich ein. So viel hatte sich geändert, und zwar nicht zum Guten.
Statt ihr Spiegelbild anzustarren, ließ sie beschämt darüber, sich derart vernachlässigt und nicht auf ihr Äußeres geachtet zu haben, den Kopf hängen. Dies war der dritte Tag in Folge, wo sie dieselbe zerschlissene Jeans und das ausgebleichte Sweatshirt trug.
Abgesehen davon, dass sie auf die Veranda getreten war, um die Post zu holen, war sie seit einer Woche nicht mehr nach draußen gegangen. Früher einmal hatte sie den schönsten Garten in der Straße gehabt, sie war für ihre Liebe zu Blumen bekannt gewesen. Jetzt kam es nur noch selten vor, dass sie Zeit im Freien verbrachte. So viel Verlust, so viel Kummer. Sogar ihr Stolz auf sich selbst war auf der Strecke geblieben. Kein Wunder, dass Nick sie angesehen hatte, als wäre sie eine Fremde. Joan erkannte ja selbst ihr Spiegelbild kaum wieder, geschweige denn die Frau, die aus ihr geworden war.
In diesem Moment fiel ihr das Geburtstagsgeschenk von Emmie wieder ein. Es gab keinen besseren Grund für einen Friseurtermin als eine Verabredung zum Dinner mit ihrem Sohn. Sie zwang sich dazu, sich nicht länger Vorwürfe zu machen, und ging zu der Kommode, auf der sie Emmies Geburtstagskarte abgelegt hatte. Sie öffnete sie, griff nach dem Geschenkgutschein und fühlte sich fast schwindelig. Sie ging aus, und zu diesem Anlass beabsichtigte sie, tipptopp gestylt zu sein, was auch immer das hieß. Als Erstes benötigte sie einen Termin und machte sich auf die Suche nach ihrem Telefon. Sie hatte die Angewohnheit, es überall im Haus herumliegen zu lassen. Es dauerte einige Minuten, bis sie es auf der Badezimmerablage entdeckte.
Als sie danach griff, fiel ihr Blick auf das ungemachte Bett, und sie hielt mitten in der Bewegung inne. Als sie noch gearbeitet hatte, hatte sie nie das Haus verlassen, bevor die Spülmaschine leer geräumt und das Bett gemacht waren. Nie. Irgendwie hatte sie, ohne es überhaupt zu merken, all die kleinen Dinge, die ihr einst wichtig gewesen waren, zusammen mit allem anderen, ihr Aussehen mit eingeschlossen, schleifen lassen.
Entschlossen legte sie das Telefon weg, eilte um das Kingsize-Bett herum, brachte es in Ordnung und legte die Zierkissen auf ihre Plätze. Wochenlang waren sie unbeachtet und vergessen in die Ecke gestopft gewesen. Genauso fühlte sich Joan an den meisten Tagen.
Als sie damit fertig war, hatte sie das Gefühl, eine Kleinigkeit erreicht zu haben. Sie nahm das Telefon und setzte sich auf die Bettkante, während sie in ihrer Kontaktliste nach Cutting Edge Salon suchte. Die Frau am Empfang meldete sich, und Joan wurde klar, dass sie sich lächerlich machte. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie so kurzfristig einen Termin bekam. Charlene war gewöhnlich wochenlang im Voraus ausgebucht. Wie dumm von ihr, sich einzubilden, ihre Freundin würde ihren Terminplan in der letzten Minute für sie ändern.
»Hallo«, wiederholte die Frau am Empfang.
»Oh, sorry.« Joan merkte, dass sie nicht geantwortet hatte. »Hier spricht Joan Sample, und ich hätte gern einen Termin bei Charlene für einen Haarschnitt.« Aus einem Impuls heraus beschloss sie, das Grau beizubehalten. Sie hatte sich diese silbernen Strähnen verdient und würde sie nicht verstecken. Es war so, wie es war.
»Charlene hat die nächsten zwei Wochen leider keinen Termin frei. Wann möchten Sie denn kommen?«
Genau das, was Joan erwartet hatte. »Ich dachte mir schon, dass das der Fall sein könnte.«
Anscheinend hatte sie ihre Enttäuschung nicht gut verborgen, denn die Frau fuhr fort: »Wir haben eine neue Angestellte, Bailey. Sie ist sehr gut, und sie hat noch kurzfristig Termine frei, falls Sie einen früheren suchen.«
Wenn sie zwei Wochen auf Charlene wartete, fürchtete Joan, dass sie einen Vorwand finden würde, um sich zu drücken. »Ich nehme nicht an, dass Bailey morgen Nachmittag Zeit hat?« Es war fast mehr, als sie zu hoffen wagte.
»Sie hat gerade heute Morgen eine Absage bekommen. Würde Ihnen drei Uhr passen?«
»Ja, das wäre perfekt.«
»Sehr gut. Ich trage Sie ein. Wir freuen uns, Sie morgen Nachmittag um drei zu sehen, Joan.«
»Danke. Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagte die freundliche junge Frau, bevor sie das Gespräch beendete.
Joan wäre am liebsten in ihrem Schlafzimmer herumgehüpft. Jetzt würde sie ein für alle Mal diesen Staubwedel, den sie momentan als Frisur bezeichnete, gebändigt bekommen. Genug war genug. Es war nur eine Kleinigkeit, und doch kam es ihr wie ein großer Schritt vor.
Als Nächstes checkte sie ihren Schrank und verbrachte ein paar Minuten damit, Kleiderbügel von einer Seite zur anderen zu schieben, bevor sie sich für eine Seidenbluse mit Blumenmuster und einer schlichten Schleife am Hals entschied. Den dunkelblauen Rock hatte Jared besonders gemocht. Er hatte es nie versäumt, ihr ein Kompliment zu machen, wenn sie ihn trug.
Eine unerwartete Welle der Trauer schlug über ihr zusammen, riss sie mit einem tiefen Gefühl des Verlusts fast mit sich. Die freudige Erregung, die sie gerade eben noch genossen hatte, verflog so schnell, wie sie gekommen war, und ließ sie hohl und leer zurück. Es waren die kleinen Dinge, die sie an ihrem Leben mit Jared am meisten vermisste. Ein getauschtes Lächeln, die Witze, die niemand außer ihnen verstand, sie beide aber in Lachsalven ausbrechen ließen. Seine sanfte Berührung, bevor er jede Nacht das Licht ausknipste, seine liebevollen, anerkennenden Worte. All das war ihr genommen worden, und sie wusste nicht, ob sie sich eine Zukunft vorstellen konnte, von der er kein Teil mehr war.
Jared war die Liebe ihres Lebens. Sie hatten sich auf dem College kennengelernt, und von dem Tag an, an dem sie einander vorgestellt worden waren, hatte es keinen anderen mehr gegeben. Sie waren füreinander bestimmt gewesen. Ohne ihn war alles noch nicht einmal mehr ein halbes Leben. Es war überhaupt kein Leben mehr. Nur eine bloße Existenz.
Joan schluckte das Selbstmitleid hinunter und kehrte in die Küche zurück, entschlossen, nicht zuzulassen, in das schwarze Loch der Trauer zurückzufallen. In ihren Augen brannten Tränen, die sie heftig zurückzwinkerte. Seit Jareds Tod hatte sie Meere von Tränen vergossen und wachte auch jetzt noch oft mit nassen Wangen auf. Sie trug ihren Schmerz mit sich herum wie Bleigewichte um ihr Herz. An manchen Tagen war dieser Schmerz so intensiv, dass sie sich fragte, warum sein Verlust sie nicht umgebracht hatte.
Erst gegen Mittag bekam sie Hunger. Sie schaltete die Lokalnachrichten ein, obwohl sie nicht wusste, warum. Es wurde nur über das Wetter, über Verkehrsprobleme und über Updates bezüglich der wachsenden Verbrechensrate berichtet. Während sie mit halbem Ohr dem Reporter zuhörte, studierte sie das Puzzle und kaute an einem Apfel, den sie in Erdnussbutter stippte. So pflegte Steve, ihr älterer Sohn, seine Äpfel zu essen. Joan musste zugeben, dass es eine gute Art war, Obst und Proteine zu mischen. Der Gedanke an ihren älteren Sohn rief ihr das letzte Gespräch wieder ins Gedächtnis. Es war ihr so vorgekommen, als hätte er nicht schnell genug vom Telefon wegkommen können. Das beunruhigte sie. Zu einer anderen Zeit hätte sie ihn gefragt, was zwischen ihm und Zoe vorgefallen war. Diesmal aber hatte sie es bequemer gefunden, nicht näher darauf einzugehen, und bereute das nun.
Sie hörte den Postboten auf der Veranda, und da sie nichts Besseres zu tun hatte, öffnete sie die Tür und griff nach den wenigen Sendungen im Kasten, der auf der linken Seite der äußeren Tür angebracht war. Die meisten ihrer Rechnungen wurden dieser Tage online bezahlt, und bei allem, was mit der Post kam, handelte es sich hauptsächlich um Werbung. Sie rechnete nicht damit, dass sich sonst noch jemand an ihren Geburtstag erinnert hatte, aber sie kam nicht dagegen an, es sich zu wünschen.
Einen Augenblick später stand sie neben dem Mülleimer in der Küche und warf automatisch den Flyer für den Ausverkauf bei Salesway sowie ein paar Prospekte weg. Eines für einen Whirlpool, ein anderes von einer Firma, die ihre Regenrinne erneuern wollte. Wenn sie anrief und um einen Kostenvoranschlag bat, konnte sie einen Geschenkgutschein von Amazon im Wert von fünfzig Dollar bekommen. Wow.
Der nächste Brief erweckte ihr Interesse. Er kam von der Hauseigentümergemeinschaft und war an sie persönlich adressiert. Joan riss den Umschlag auf und las das Schreiben.
Stöhnend kniff sie die Augen zusammen und wollte mit dem Fuß aufstampfen. Laut dem Vorstand der Gemeinschaft hatte sie gegen Absatz 104 der Hausordnung verstoßen, die sowohl Jared als auch sie unterzeichnet hatten. Ihre Gartenpflege entsprach nicht dem Standard; ihr Garten war ein Schandfleck für die Gemeinde geworden und minderte die Grundstückswerte. Man fand dies äußerst betrüblich, weil sie einst einen so schönen Garten gehabt hatte. Unverzügliches Handeln wurde gefordert. Man gab ihr vierzehn Tage Zeit, um Abhilfe zu schaffen, bevor eine Geldstrafe verhängt werden würde.
Gartenpflege. Joan verließ so selten das Haus, dass ihr nicht aufgefallen war, wie dringend der Rasen gemäht werden musste. Der momentane Zustand ihrer Blumenbeete deprimierte sie, also vermied sie es, hinzuschauen.
Jared hatte sich immer um die Gartenarbeiten gekümmert, während sie die Blumenbeete bepflanzt hatte. Nick war letzten Sommer ein paar Mal da gewesen, um den Rasen zu mähen, aber nur, wenn sie ihn anrief und um Hilfe bat. Sie wusste, dass Gartenarbeit nicht sein Ding war, und sie hasste es, ihn wieder danach zu fragen. Nick betrachtete es als Strafarbeit und war mitunter unzuverlässig, wie sein kurzer Text zu ihrem Geburtstag bewies. Joan, die das volle Gewicht des Singledaseins spürte, ließ sich in einen Sessel sinken und überlegte, wie dieses Problem am besten zu lösen wäre.
Sie spannte die Kiefermuskeln an und weigerte sich, eine hilflose Frau zu sein, die nach irgendjemandem Ausschau hielt, der ihr Problem für sie löste. Sie hatte einen Collegeabschluss und konnte einen kühlen Kopf bewahren. Sie würde tun, was andere in ihrer Situation taten: Sie würde einen Gartenservice anheuern.
Maggie Herbert griff nach ihrem Rucksack, als sie leise zu ihrer Schlafzimmertür hinaushuschte. Es galt, das Haus zu verlassen, bevor ihr Vater aufwachte. Sie hatte die Frühschicht bei Starbucks, und morgens herrschte dort immer Hochbetrieb. Was gut war, weil es half, dass die Zeit schneller verging, bevor sie zu ihren Kursen am Seattle Central College aufbrach.
Leanne, die sonst an der Kasse saß, lag mit Grippe flach, was zufällig mit einem Trip mit vier Freunden ans Meer zusammenfiel. Die Managerin hatte Maggie gebeten, einzuspringen, bis Leanne wieder da wäre. Maggie war keine Grippeexpertin, vermutete aber, dass die Krankheit drei Tage dauern würde. Sie war bereit, jede Aufgabe anzunehmen, die man ihr übertrug, solange dies weder ihre nachmittäglichen Kurse an der Schwesternschule noch ihren Lehrplan an der Grundschule beeinträchtigte. Die Abschlussprüfungen standen an, und sie war bis Mitternacht wach geblieben, hatte gelernt und versuchte, mit weniger als vier Stunden Schlaf auszukommen.
Sie musste diese Tests mit einer guten Note bestehen, da sie sich für mehrere Stipendien beworben hatte. In den Semesterferien würde Maggie in der Lage sein, zusätzliche Stunden zu arbeiten, und der Himmel wusste, dass sie sie brauchte, wenn sie je auf eigenen Füßen stehen wollte.
In diesem Punkt hegte sie echte Hoffnungen, denn sie hatte kürzlich mit Mrs. Royce gesprochen, einer Ladeninhaberin, die per Anzeige eine Untermieterin gesucht hatte. Mrs. Royce’ Mann arbeitete außer Landes, und sie wünschte sich Gesellschaft. Die Miete war fair, und Maggie hatte mehrere Empfehlungsschreiben vorgelegt. Das Vorstellungsgespräch war positiv verlaufen, und Mrs. Royce hatte versprochen, sich bei ihr zu melden, sowie sie deren Referenzen überprüft hatte. Sobald sie von Mrs. Royce hörte, war Maggie bereit, umzuziehen. Dieser Zeitpunkt konnte für sie nicht schnell genug kommen.
»Maggie.« Ihr Name ertönte vom Wohnzimmer her, was Maggie verriet, dass ihr Vater sich wieder einmal mitten in einem Alkoholexzess befand. Wahrscheinlich war er den größten Teil der Nacht wach gewesen und hatte getrunken, was dieser Tage die Regel geworden war.
Obwohl es vier Uhr morgens war, saß Roy Herbert zusammengesunken in seinem schäbigen alten Sessel. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, um Maggie anzustarren. Vermutlich würde sie doch nicht unbemerkt entkommen, obgleich sie auf Zehenspitzen von ihrem Schlafzimmer durch die Diele geschlichen war.
Maggies Herz wurde schwer. Sie hatte gehofft, längst weg zu sein, bevor ihr Vater entdeckte, dass sie sich für den Tag verabschiedet hatte. So gut es ging, vermied sie jegliches Zusammentreffen mit ihm. Der Verlust ihrer Mutter bewirkte zusammen mit seinem zunehmenden Alkoholkonsum, dass er sich oft in einer düsteren Stimmung befand.
»Hast du die Stromrechnung gesehen? Da steht drin, dass wir im Rückstand sind. Sie drohen damit, uns den Strom abzustellen.« Er warf ihr einen flehenden Blick zu. »Kannst du sie für mich bezahlen?«
Maggie unterdrückte ein Stöhnen. Ihr Vater setzte seine Schwerbeschädigtenrente in Alkohol um und erwartete dann von ihr, dass sie alle Lebenshaltungskosten übernahm. Sie arbeitete in Teilzeit und besuchte die Schwesternschule; sie konnte es sich nicht leisten, mehr zu zahlen, als sie es ohnehin schon tat.
Ihr Vater schien nicht zu verstehen oder anzuerkennen, wie hart sie arbeitete, um Geld für ihre weitere Ausbildung beiseitezulegen. Sie hatte ihm bereits Geld für die Stromrechnung gegeben. Offenbar hatte er sich davon Alkohol gekauft. Sie hätte wissen müssen, dass es so kommen würde. Mehr denn je wurde Maggie bewusst, dass sie sich eine andere Unterkunft suchen musste. Wenn sie fort war, würde ihr Dad vielleicht aufhören, sie als ständige Krücke zu benutzen.
»Was ist aus dem Geld geworden, das ich dir schon gegeben habe?«, fragte sie. Dabei gab sie sich Mühe, sich ihre Entmutigung nicht anmerken zu lassen.
Ihr Vater zuckte die Achseln. »Al und ich …«
»Ihr habt es im Half Pint ausgegeben, nicht wahr?« Sie tat ihr Bestes, um nicht anklagend zu klingen. Das mangelhafte Verantwortungsgefühl ihres Vaters war zu einer ständigen Quelle der Frustration geworden. Er verließ sich in jeder Hinsicht blind auf sie. Es war zu viel, zumal er, so weit sie es beurteilen konnte, keinerlei Anstrengung unternahm, etwas daran zu ändern.
»Mach mir keine Vorwürfe«, murmelte Roy. »Ich tue, was ich kann. Du hast ja keine Ahnung, was für Schmerzen ich habe.«
Nach einer Rückenverletzung, die er sich bei einem Unfall auf der Baustelle zugezogen hatte und die verhinderte, dass er je wieder arbeiten konnte, bezog Roy schon seit Jahren eine staatliche Schwerbeschädigtenrente. Der Tod ihrer Mutter war der einzige Vorwand gewesen, den er gebraucht hatte, um mit dem Trinken anzufangen. Bier helfe ihm, den Tag durchzustehen, behauptete er und schien nicht zu erkennen, dass seine Abhängigkeit ihn bereits zum Alkoholiker machte. Maggie hatte mehrfach versucht, ihn dazu zu bringen, sich den Anonymen Alkoholikern anzuschließen. Sie hätte genauso gut gegen eine Wand reden können. Roy beharrte darauf, seine Trinkgewohnheiten unter Kontrolle zu haben; er könne jederzeit aufhören, wenn er wolle.
»Du musst diese Rechnung bezahlen, Mags, oder die Stadtwerke machen ihre Drohung wahr.«
»Ich habe dir schon alles gegeben, was ich hatte.« Sie bemerkte das leere Sixpack Bud Light, das zusammen mit ein paar leeren Whiskyflaschen neben seinem Sessel stand.
»Dad, wie konntest du so verantwortungslos sein? Wenn sie uns den Strom abstellen, ist das deine Schuld.«
Trotz ihres geringen Einkommens sollten sie nicht solche Geldprobleme haben. Das Haus hatten sie von ihrer Mutter geerbt, und es war nicht mit einer Hypothek belastet. Roy, Maggie und ihre Mutter waren nach dem Tod ihrer Großmutter hier eingezogen. Maggie war zehn gewesen, und dies war das erste Zuhause gewesen, das sie je gehabt hatte. Davor hatte die Familie in wechselnden kleinen Apartments gelebt. Seit dem Antritt des Erbes hatte Roy bezüglich der Instandhaltung wenig getan. Es regnete seit einer Weile durch das Dach, und in etlichen Teilen des Hauses machten sich Wasserschäden bemerkbar.
»Dad«, versuchte Maggie es noch einmal. »Du kannst mit dem Trinken nicht so weitermachen. Es bringt dich um. Ich kann nicht hier wohnen und zusehen, wie du dein Leben in Alkohol ertränkst. Ich will ausziehen, und du solltest wissen, dass ich eine andere Unterkunft suche.«
Das weckte die Aufmerksamkeit ihres Vaters. Er setzte sich auf und funkelte sie an. »Du würdest mich verlassen?«
»Ja. Ich kann es nicht ertragen, mit anzusehen, was du dir mit deiner ununterbrochenen Trinkerei antust. Du sagst immer, du kannst jederzeit aufhören, aber du tust es nicht, und ich kann nicht immer hinter dir herräumen. Du hast ein Problem.« Obwohl sie es nicht aussprach, hatte Maggie das Gefühl, dass der Umstand, dass sie zu Hause wohnte, seinem Lebenswandel noch Vorschub leistete. Er verließ sich blind auf sie, und diese Last war zu schwer für sie geworden.
»Das wirst du nicht tun.« Er klang zuversichtlich. »Wir wissen beide, dass du es dir nie leisten könntest, dir bei diesen Mietpreisen ein Apartment zu nehmen. Du wirst hierbleiben müssen, wenn du so versessen darauf bist, dein Geld für eine Ausbildung zu verschwenden, die du überhaupt nicht brauchst.«
»Ich werde Krankenschwester werden«, beharrte Maggie. »Das hätte Mom für mich gewollt, und es kümmert mich nicht, wie viel die Ausbildung kostet.«
Er schüttelte nur den Kopf und musterte sie spöttisch.
Maggie bemühte sich, ihn zu ignorieren. Sowie sie etwas von Mrs. Royce hörte, würde sie ausziehen. Hinsichtlich der Kosten für ein Apartment hatte ihr Vater recht. Als finanziell hart kämpfende Collegestudentin konnte sie sich die Miete nicht leisten, selbst wenn sie sich ein Apartment mit drei anderen teilte. Die Mietpreise in Seattle waren exorbitant.
»Du wirst mich nicht verlassen«, beharrte Roy. »Ich bin alles, was du hast.«
»Da irrst du dich, Dad. Ich habe vor, auszuziehen, sobald ich etwas Bezahlbares finde.«
Er kicherte höhnisch, als glaubte er ihr nicht. »Nein, das wirst du nicht. Du brauchst mich genauso sehr wie ich dich.«
Maggie hatte das alles schon früher gehört und bemühte sich, seine Worte auszublenden. »Ich muss zur Arbeit.«
Maggie ging zur Vordertür. Sie weigerte sich, sich von ihm den Tag verderben zu lassen; sie ließ seine negative Einstellung von sich abperlen wie eine Ente das Wasser von ihrem Gefieder. Es war nicht ihr Vater, der da sprach, sondern der Alkohol.
»Wag es nicht, jetzt einfach zu gehen, Mädchen. Ich rede mit dir. Wir könnten es uns leisten, die Rechnungen zu bezahlen, wenn du die Schule aufgeben und Vollzeit arbeiten würdest.«
Der Drang, empört zu widersprechen, war so groß, dass Maggie die Zähne zusammenbeißen musste, bis sie schmerzten. Ihr war bewusst, dass ihr Dad nicht klar denken konnte, und sie versuchte, sich von seinen Worten nicht entmutigen zu lassen, aber es war schwer.
»Ich werde Krankenschwester werden. Das ist es, was ich mir für meine Zukunft vorstelle, und das lasse ich mir von dir nicht kaputtmachen.« Trotz ihres Versuchs, ihn nicht an sich heranzulassen, glichen Maggies Worte Neun-Millimeter-Geschossen, von denen jedes sein Ziel traf.
»Komm schon, Mags, lass uns nicht streiten. Ich höre auf zu trinken, ich verspreche es.«
Auch das hatte Maggie schon oft gehört.
»Ich muss gehen, oder ich komme zu spät zur Arbeit.«
»Okay, aber würdest du mir etwas zum Dinner mitbringen, wenn du mit deinen Kursen fertig bist? Ich könnte einen Whopper vertragen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Wahrscheinlich würde es das Einzige sein, was er den ganzen Tag aß.
Da ihr Vater sie aufgehalten hatte, blieben Maggie, als sie bei Starbucks ankam, nur wenige Minuten Zeit. Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen; war entschlossen, mit einer positiven Einstellung das Beste aus ihrem Tag zu machen.
Sie nahm ihren Platz an der Kasse ein. Etliche der Morgengäste waren Stammkunden, die sie inzwischen beim Namen kannte. Diszipliniert, wie sie war, hatte Maggie gelernt, zu lächeln, egal, wie sehr ihr Vater sie aus der Fassung gebracht hatte. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter hegte Maggie die Hoffnung, ihm entkommen zu können.
»Guten Morgen«, grüßte sie, als sie automatisch nach einem Becher griff, um Bestellung und Name daraufzukritzeln.
Sein Helm wies ihn als Bauarbeiter aus und als jemanden, den Maggie nicht sofort erkannte. Ein Stück die Straße hinunter wurde ein großer Apartmentkomplex errichtet, und sie vermutete, dass er zu dem Team gehörte, das momentan an dem Projekt arbeitete.