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Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Chomsky in dem 2012 geführten Gespräch mit Vltchek, sind Hunderte Millionen Menschen direkt oder indirekt als Folge westlicher Kriege und Interventionen ermordet worden. Hinter beinahe allen Konflikten, Kriegen und Auseinandersetzungen auf der Erde verbergen sich die meist unsichtbaren wirtschaftlichen oder geopolitischen Interessen des Westens. Unsere Medien schweigen still und berichten praktisch nichts darüber. So sind in der Demokratischen Republik Kongo in den letzten Jahren sechs bis zehn Millionen Menschen durch ugandische und ruandische Milizen niedergemetzelt worden; die Milizen handelten im Auftrag westlicher Regierungen und Großkonzerne, die an Rohstoffe wie Coltan, Uran und Diamanten gelangen wollen. Unter Obama stürzten die Vereinigten Staaten die Regierung von Honduras und machten das Land zu einem der schrecklichsten und ärmsten Orte der westlichen Welt, das aber weiterhin wichtige US-Luftwaffenstützpunkte beherbergt. Solche Untaten bilden eine Fortsetzung des europäischen Kolonialismus und Imperialismus früherer Zeit und richten sich vornehmlich gegen ›Unpersonen‹, wie Orwell all jene Menschen nannte, die wir nicht wahrnehmen. Die Politik des Westens stellt in Sachen Terrorismus alles andere weit in den Schatten. Unsere Medien praktizieren eine Zensur durch Auslassung von Informationen, durch Fehldarstellungen und Ablenkungen, größtenteils ohne sich selbst darüber bewusst zu sein. Das Buch ist eine perfekte Einleitung in Chomskys politisches Denken und eine erfrischende Lektüre für jeden, der die Rolle des Westens in der Welt verstehen möchte.
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Seitenzahl: 235
Avram Noam Chomsky (* 7. Dezember 1928 in Philadelphia, Pennsylvania, USA) ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Seine Vielseitigkeit, seine wissenschaftlichen und politischen Publikationen und Vorträge machen ihn zu einem der am meisten gelesenen und zitierten lebenden Publizisten. Die New York Times hatte ihn einst den »einflussreichsten westlichen Intellektuellen« genannt, oder »den bekanntesten Dissidenten der Welt«.
Chomsky gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen der politischen Linken Nordamerikas. Er bezeichnet sich als libertären Sozialisten, sympathisiert mit dem Anarchosyndikalismus und ist Mitglied der Industrial Workers of the World sowie der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft.
Andre Vltchek ist Schriftsteller, Filmemacher und investigativer Journalist. Er hat an zahlreichen Orten der Welt Erfahrungen gesammelt und darüber berichtet.
Aus dem Amerikanischen von Sven Wunderlich
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograpfie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Noam Chomsky & Andre Vltchek: Der Terrorismus der westlichen Welt
ebook UNRAST Verlag, Juni 2014 ISBN 978-3-95405-019-2
©UNRAST-Verlag, Münster, 2014 Postfach 8020, 48043 Münster – Tel. (0251) 66 62 93www.unrast-verlag.de – [email protected] Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
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Umschlag: kv, Berlin Satz: UNRAST Verlag, Münster
Könnte jener Mann, mit dem ich den Zustand unserer Welt diskutierte, als bedeutendster Intellektueller des 20. Jahrhunderts‹ bezeichnet werden? Als der ›meistzitierte Mensch unserer Zeit?‹ Oder als mutiger Kämpfer gegen weltweite Ungerechtigkeiten und gegen die Unterdrückung von Milliarden wehrloser Männer, Frauen und Kinder? Könnte er – doch solche hochtrabenden Worte und Lobeshymnen würden ihm nicht gefallen.
Für mich ist NOAM CHOMSKY aber auch jemand, der Rosen liebt, der ein Glas Wein genießt, der voller Warmherzigkeit und Gefühl über die Vergangenheit spricht und von Menschen erzählt, die ihm in vielen Ländern der Welt begegnet sind; er versteht es, Fragen zu stellen und anschließend aufmerksam den Antworten zu lauschen; er ist ein liebenswerter, mitfühlender Mensch und zugleich ein lieber Freund.
An einer der Wände von Noams Büro im Massachusetts Institute of Technology (MIT) hängt ein Foto von Bertrand Russell, auf dem folgendes Zitat geschrieben steht: »Mein Leben wurde bestimmt durch drei einfache, überwältigend starke Leidenschaften: dem Verlangen nach Liebe, dem Drang nach Erkenntnis und einem unerträglichen Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.«
Wenn ich an dieses Zitat denke, glaube ich immer, es stammte von Noam. Vielleicht liegt es daran, dass er so handelt, als entspräche es seiner Lebensphilosophie.
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»Gehen wir draußen spazieren«, sagte Noam vor vielen Jahren zu mir, als wir uns zum ersten Mal Angesicht zu Angesicht in New York City trafen. »Ich spendiere Ihnen eine Tasse Kaffee«, veralberte er mich. »Sie wissen ja, ich bin ein wohlhabender Amerikaner...«
Wir holten uns zwei Tassen bei einem der hiesigen Stände und blieben stundenlang auf einer Parkbank in der Nähe der New Yorker Universität sitzen. Wir sprachen, tauschten unsere Notizen aus und diskutierten über die Welt. Natürlich hatte ich ebenfalls die US-Staatsbürgerschaft, doch in unserem kleinen Spiel war Noam tatsächlich ein »wohlhabender Amerikaner« –ausgerechnet er!
Vom ersten Moment an, den ich mit ihm verbrachte, fühlte ich Liebenswürdigkeit und Kameradschaft. Ich war so entspannt, als bestünde kein Altersunterschied zwischen uns und als begegnete ich einem alten Freund wieder, statt einem der bedeutendsten Denker unserer Zeit.
Von dieser Zeit an hatten wir unsere eigene Geschichte und schrieben uns jahrelang Briefe – über Politik und die Verbrechen des Westens, aber auch über viel einfachere Dinge wie unsere Leidenschaft für Wissen und die Ursprünge dieser Leidenschaft. Bei ihm war einer der Auslöser dafür der berühmte Zeitungsstand in der Nähe der U-Bahnstation am Broadway (in der 72. Straße), welcher Noams Verwandten gehört hatte. In meinem Fall war es meine russische Großmutter, die mir unzählige Literaturklassiker vorzulesen begann, als ich kaum einmal vier Jahre alt war.
Noam schrieb mir viel über seine Familie, wie es war, in den Vereinigten Staaten aufzuwachsen, über seine Tochter, die damals in Nicaragua lebte, und über seine geliebte Frau Carol. Wie Noam brachte mir Carol eine Menge Liebenswürdigkeit entgegen, las meine ersten politischen Schriften und schenkte mir ihre warmherzige, aufrichtige Unterstützung und Ermutigung. »Carol hatte keine Wahl. Sie musste eine namhafte Linguistin und Professorin werden, denn schließlich musste ja jemand die Familie ernähren, und ich war ständig im Gefängnis«, erklärte mir Noam in einer seiner Mails, in der er sich an die Zeit des Vietnamkriegs erinnerte.
Ich schrieb ihm über meine eigene Kindheit, die kompliziert und häufig verstörend gewesen war, weil ich in einer gemischtrassigen Familie aufwuchs. Meine Mutter war asiatisch–russischer Abstammung, mein Vater war Europäer. Wir tauschten uns über viele Dinge aus, die nicht nur mit unserer Arbeit zu tun hatten: Noam war wie ein enger Verwandter für mich, wie eine Vaterfigur, die in meinem Leben so sehr gefehlt hatte; zugleich war er für mich aber auch ein Vorbild für Mut, Scharfsinn und Aufrichtigkeit.
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Während sich Noam unermüdlich auf Reisen begab und Länder und Menschen besuchte, die seine Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen konnten, beschloss ich eines Tages, meine Tätigkeit in den Kriegszonen wieder aufzunehmen und in Konfliktgebiete zu reisen, wo beständig (über Jahrzehnte und Jahrhunderte) Millionen von Menschenleben ausgelöscht worden waren.
Diese Menschen waren abgeschlachtet worden – im Namen von Freiheit, Demokratie und anderen erhabenen Parolen – aber nichtsdestoweniger abgeschlachtet. Ich schrieb, ich filmte und fotografierte; ich wurde Zeuge so vieler Grausamkeiten und zerstörter Leben, Zeuge von Ereignissen, die zu beschreiben mir häufig zu schwer fällt und zu schmerzvoll ist. Ich hatte jedoch das Gefühl, es tun zu müssen, um darüber Bescheid zu wissen, um es zu verstehen, um Zeugnis von den ›Randgebieten‹ abzulegen und Berichte zu erstellen, die in unserer Zeit so selten geworden sind.
Die überwiegende Zahl der Ereignisse, die das Leid unzähliger Menschen weltweit zur Folge hatten, war mit Habgier und dem Verlangen nach Macht und Kontrolle verbunden. Ihr Ursprung lag beinahe immer im ›alten Kontinent‹ und seinem mächtigen und skrupellosen Ableger auf der gegenüberliegenden Seite des Atlantiks. Die Ursache könnte mit verschiedenen Begriffen belegt werden – Kolonialismus, Neokolonialismus, Imperialismus oder die Profitgier der Konzerne. Derlei Begriffe bedeuten jedoch wenig, und verglichen mit dem angerichteten Leid sind sie praktisch bedeutungslos.
Ich empfand höchste Achtung und Bewunderung für Noams Arbeit, doch wollte ich ihm nie nachfolgen, sondern seine Bemühungen ergänzen. Während er auf intellektueller sowie politischer und aktivistischer Front tätig war, versuchte ich, in den Kriegszonen und an den ›Tatorten‹ Beweise in Wort und Bild zu sammeln.
Noams Aktivitäten hätten besser und wirkungsvoller kaum sein können. Ihn und sein brillantes Wirken nachzuahmen oder nochmals zu bestätigen hätte keinen Sinn ergeben.
Stattdessen reiste ich in die Demokratische Republik Kongo, nach Ruanda, Uganda, Ägypten, Israel, Palästina, Indonesien, Osttimor, Ozeanien und an viele weitere Orte, welche Opfer der Ausbeutungen, Demütigungen und Blutbäder geworden waren, die von westlichen Hauptstädten durchgeführt oder in die Wege geleitet worden waren. Ich wollte in anderer Weise darstellen, was Noam sagte und was er beschrieb.
Wir tauschten jahrelang unsere Notizen aus und verglichen sie miteinander, manchmal regelmäßig, manchmal nach langen Unterbrechungen, doch stets mit großer Sorgfalt. Ich begriff, dass wir für dieselbe Sache kämpften: für das Recht auf Selbstbestimmung und für eine wirkliche Freiheit der Menschen weltweit. Wir bekämpften den Kolonialismus und den Faschismus, in welcher Gestalt sie auch in Erscheinung traten.
Wir sprachen diese Worte nie aus und suchten nie nach einer genauen Definition unserer Tätigkeit. Für Noam schien der Kampf gegen Ungerechtigkeiten so natürlich wie das Atmen. Für mich wurde es zu einer besonderen Ehre und einem großartigen Abenteuer, Hand in Hand mit ihm zu arbeiten und Bilder und Berichte anzufertigen, die durch seine Einsichten inspiriert waren.
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Nachdem ich Zeuge einer Vielzahl grausamer Konflikte, Invasionen und Kriege auf allen Kontinenten der Erde geworden bin und Nachforschungen darüber angestellt habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sie beinahe alle durch die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens heraufbeschworen worden sind. ›Informationen‹ über diese mörderischen Ereignisse und das Schicksal derer, die von Kolonialimperien ohne viel Nachdenken vernichtet oder geopfert wurden, hat man zurückgehalten oder grotesk verdreht.
George Orwell nannte Menschen, die außerhalb Europas, den Vereinigten Staaten und einer geringen, ausgewählten Zahl asiatischer Länder leben, ›Unpersonen.‹ Auch Chomsky verwendet diesen Begriff gerne in sarkastischer Weise. Bei genauerem Hinsehen wird überdeutlich, dass diese Milliarden ›Unpersonen‹ in Wahrheit den Großteil der Menschheit ausmachen.
Was ich in westlichen Zeitungen lesen konnte und was ich auf der Welt beobachtete, passte irgendwie nicht zusammen. Gescheiterte, feudalistische Staaten wurden als ›lebendige Demokratien‹ gefeiert, unterdrückerische religiöse Regime wurden ›tolerant‹ und ›gemäßigt‹ genannt, während national und sozial orientierte Staaten unentwegt dämonisiert wurden. Deren alternative Entwicklungen und Gesellschaftsmodelle wurden in Misskredit gebracht und in den düstersten vorstellbaren Farben gemalt.
Kluge Propagandabeauftragte in London und Washington sorgten dafür, die Weltöffentlichkeit vor ›unangenehmen Wahrheiten zu schützen.‹ Öffentliche Meinungen, Ideologien und Wahrnehmungen sind konstruiert und wie massenproduzierte Autos oder Smartphones mittels Werbung und Propaganda vermarktet worden.
Noam hat mehrere Bücher über die Propagandarolle der Massenmedien geschrieben, die für ein Verständnis der Kontrolle und Machtausübung in unserer Welt von wesentlicher Bedeutung sind. Auch ich habe unzählige Berichte verfasst und Beispiele für die ideologische Gehirnwäsche durch westliche Mächte und deren Institutionen angeführt, wobei ich mich häufig mit der Propaganda, mit den Manipulationen der Massenmedien und ähnlichen Fragen befasst habe.
Die Fehlinformationen des Westens zielen eindeutig auf Länder, die den westlichen Diktaten nicht gehorchen wollen: Kuba, Venezuela, Eritrea, China, Iran, Simbabwe, Russland. Zugleich werden Nationen in den Himmel gehoben, die ihre Nachbarländer im Auftrag westlicher Interessen ausrauben oder über die eigene verarmte Bevölkerung herfallen: Ruanda, Uganda, Kenia, Indonesien, Saudi-Arabien, Israel, die Philippinen und viele weitere Länder.
Angst und Nihilismus haben sich weltweit breit gemacht – die Angst davor, ins Visier genommen zu werden, von den scheinbar allmächtigen Weltherren aus dem Westen ›bestraft‹, gebrandmarkt, ausgegrenzt oder an den Pranger gestellt zu werden.
Propagandabeauftragte, die fest in den Medien und Universitäten des Westens etabliert sind, haben ebenfalls nihilistische Ansichten verbreitet. Diese Propagandafunktionäre sind beauftragt, alle fortschrittlichen und unabhängigen Ideen und Ideale, die verschiedengestaltig aus allen möglichen Winkeln der Erde stammen, unter Beschuss zu nehmen. Optimismus, Leidenschaften und sämtliche Träume von einer besseren Weltordnung sind attackiert, vergiftet, verleumdet oder zumindest verspottet worden.
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Nicht selten verspürte ich Verzweiflung, doch war ich nie gewillt, den Kampf aufzugeben. Zu viel stand auf dem Spiel, und meine persönliche Erschöpfung schien demgegenüber bedeutungslos.
Wenn ich auf meinen Reisen um die Welt Tag und Nacht an meinen Filmen und Büchern arbeitete, dachte ich häufig an Noam. Er war der gefestigtste und in intellektuellen und moralischen Dingen verlässlichste Mensch, den ich kannte. Seine Hingabe und sein Mut, aufrecht und stolz den ›Panzern‹ des Imperiums entgegenzutreten, waren für mich Ermutigung und Inspiration zugleich. Auf einmal fühlte ich das brennende Verlangen, mich mit ihm zu verbünden und in einem Gespräch zusammenzubringen, was ich über den beunruhigenden Zustand unserer Welt gelernt hatte.
Also schrieb ich Noam und lud ihn ein, zwei Tage oder länger vor angeschalteten Kameras mit mir über die Welt zu diskutieren. Er stimmte wohlwollend zu, und seine bewundernswerte doch protektive Assistentin Bev gab freundlich ihren Segen. Es würde also geschehen! Ich einigte mich mit meinem japanischen Filmredakteur Hata Takeshi rasch auf die gemeinsame Produktion einer Filmversion unserer Unterhaltung. Pluto Press, mein in London ansässiger Verleger, entschied sich dafür, unsere Diskussion in Buchform herauszubringen. Alles ging blitzschnell.
Geld war keines nötig. Hata brachte ein kleines und hochprofessionelles Team japanischer Filmemacher nach Boston. Sie erkannten die Bedeutung des Projekts, wollten keine finanzielle Entschädigung im Voraus haben und arbeiteten nach dem ungewissen Versprechen einer künftigen Vergütung.
Ich flog von Afrika nach Europa und von dort weiter nach Santiago de Chile. Dann begab ich mich auf die lange Reise von Temuco nach Boston, wo meine Begegnung mit Noam stattfinden würde. Während ich durch die Länder Lateinamerikas reiste, die lange mein Zuhause gewesen waren, sammelte ich Filmmaterial; es waren jene Länder, die früher vom Imperialismus verwüstet worden waren, die jetzt aber befreit und auf einmal voller Optimismus und Farbe waren – offen sozialistisch und frei.
Yayoi flog von Kenia nach Boston, um ihre Hilfe und Unterstützung anzubieten. Unser in Boston ansässiger Freund Fotini half uns bei der Unterkunft und beim Transport. Die Filmcrew traf bereits zwei Tage vorher ein. Alles klappte.
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Zwei Tage und viele Stunden lang diskutierten wir am MIT die Verantwortung westlicher Staaten für die unzähligen Massaker und den jahrhundertelangen Terror überall auf der Welt. Trotz des so schmerzvollen und ergreifenden Themas ging unsere Unterhaltung mühelos und offenherzig vonstatten.
Wir waren nicht in allen Punkten gleicher Meinung: Noam schien optimistischer als ich über den Arabischen Frühling und die Situation in der Türkei zu denken. Und im Gegensatz zu mir schien er überzeugt, dass der Westen seine Kontrolle über die übrige Welt am Ende verlieren würde. Wir teilten jedoch alle wesentlichen Vorstellungen. Es war eine Diskussion zweier enger Verbündeter, die im Kampf für dieselbe Sache ihre Kräfte miteinander vereinten.
Die Inhalte unseres Gesprächs reichten, wie der Buchtitel andeutet, von Hiroshima bis zum Drohnenkrieg – von den frühen Tagen der Kolonialherrschaft bis zu modernen Methoden des westlichen Propagandaapparats. Doch unser Gedankenaustausch brachte uns auch zurück zum Zeitungsstand in der 72. Straße und zum Broadway in New York City. Er führte uns nach Nicaragua, nach Kuba, nach China, Chile und Istanbul – in so viele Gegenden der Welt, die uns am Herzen liegen.
Ich begann unsere Diskussion, indem ich erklärte, dass nach dem Zweiten Weltkrieg meiner Rechnung zufolge ungefähr 55 Millionen Menschen als direkte Folge des westlichen Imperialismus getötet und weitere hunderte Millionen auf indirekte Weise umgebracht worden sind. Am Ende unserer Diskussion legte Noam dar, dass man stets die Wahl hat: etwas gegen die Situation zu unternehmen oder untätig zu bleiben.
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Nach unserem Gespräch reiste ich monatelang um den Globus. Ich sammelte Filmmaterial und Bilder für unser Buch. Ich wollte veranschaulichen, worüber wir sprachen, und unsere Zuschauer und Leser durch unsere Worte – doch ebenso durch Bilder – mit einbeziehen. Wochenlang teilte ich die Hoffnungen und Träume ägyptischer Revolutionäre in Kairo und Port Said sowie die Frustration liebenswürdiger drusischer Bewohner der durch Israel besetzten Golanhöhen in Syrien. Ich fotografierte und filmte in verschiedenen Konfliktgebieten Afrikas, Ozeaniens und Asiens.
Noam lag richtig: Es ist einfach, sich geschlagen zu geben und zu erklären, dass man nichts tun kann. Es ist einfach, den Fernseher anzuschreien und zu erklären, dass der Kampf bereits verloren ist. Dann wird sich jedoch nie etwas ändern. Und so vieles muss sich ändern, wenn die Menschheit überleben und gedeihen soll. Die Alternative besteht darin, Tag und Nacht an echten Veränderungen zu arbeiten und dafür zu kämpfen. Dieser Weg ist schwieriger zu beschreiten, zugleich aber mit viel größeren Bereicherungen verbunden.
Unser Ausflug, geprägt von Arbeit und Kampf, war atemberaubend. Wir brachten dabei keine Opfer – es war für uns ein Vergnügen und ebenso ein Privileg. Zur Zeit unseres Gesprächs kannte ich Noam bereits seit über 15 Jahren. Es war eine große Ehre für mich, ihn zu kennen, mit ihm zusammenzuarbeiten und unmittelbar von ihm zu lernen.
Nachdem sich unsere Wege wieder getrennt hatten, warf mich das Leben immer wieder in Schlachtfelder und Konfliktgebiete. Ich dachte oft an Noam, an all das, was er gesagt hatte, und in meinen Gedanken fragte ich ihn nicht selten um Rat. Ich entwickelte eine Gewohnheit: Immer, wenn die Bedingungen brutal wurden, erinnerte ich mich an jenen Leitsatz, der in Noams Büro hängt: »Mein Leben wurde bestimmt durch drei einfache, doch überwältigend starke Leidenschaften: dem Verlangen nach Liebe, dem Drang nach Erkenntnis und einem unerträglichen Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.«
ANDRE VLTCHEK,
Kota Kimabalu, Malaysia 26. März 2013http://andrevltchek.weebly.com
ANDRE VLTCHEK
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind weltweit schätzungsweise 50 bis 55 Millionen Menschen als Folge des westlichen Kolonialismus und Neokolonialismus getötet worden. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit haben sich wahrscheinlich die meisten Massaker der Menschheitsgeschichte ereignet. Die überwiegende Zahl dieser Massaker wurde im Namen erhabener Parolen wie Freiheit und Demokratie verübt. Eine Handvoll europäischer Länder sowie Staaten, die von Herrschern größtenteils europäischer Abstammung regiert werden, haben die Interessen des Westens – die Interessen der ›wichtigen‹ Leute – auf Kosten eines Großteils der Menschheit vorangetrieben. Man hat die Abschlachtung von Millionen hingenommen und diese Abschlachtungen für unvermeidbar, ja sogar für gerechtfertigt gehalten. Die meisten Menschen im Westen scheinen erschreckend schlecht darüber informiert zu sein.
Neben den etwa 55 Millionen Menschen, die als direkte Folge dieser durch den Westen angezettelten Kriege getötet wurden, kamen mehrere hundert Millionen indirekt durch prowestliche Militärputsche und anderweitige Auseinandersetzungen ums Leben – unbemerkt und in völligem Elend. Globale Ereignisse dieser Art werden im Westen selten hinterfragt und selbst in den eroberten Gebieten oft widerspruchslos hingenommen. Ist die Welt wahnsinnig geworden?
NOAM CHOMSKY
Bedauerlicherweise besteht eine bittere Konkurrenz um das größte Verbrechen des Westens. Als Kolumbus die westliche Hemisphäre betrat, lebten dort etwa 80 bis 100 Millionen Menschen in fortschrittlichen Zivilisationen. Sie trieben Handel, lebten in Städten und so weiter. Es sollte nicht lange dauern, bis ungefähr 95 Prozent dieser Menschen verschwunden waren. In dem Gebiet, das wir heute das Nationalgebiet der Vereinigten Staaten nennen, lebten rund 10 Millionen Native Americans, doch um 1900 waren es einer Volkszählung zufolge nur noch 200.000. Doch all dies wird bestritten. In den führenden linksliberalen Zeitungen der angloamerikanischen Welt wird es schlicht geleugnet... beiläufig und kommentarlos.
Dem Medizinjournal The Lancet zufolge sterben jedes Jahr sechs Millionen Kinder, weil ihnen grundlegende medizinische Mittel fehlen, die ihnen mit geringsten Kosten zur Verfügung gestellt werden könnten. Diese Zahlen sind weithin bekannt. Allein im Süden Afrikas sterben täglich 8000 Kinder an Mangelernährung und leicht therapierbaren Krankheiten – Verhältnisse wie in Ruanda, Tag für Tag. Es wäre ein Leichtes, dem ein Ende zu bereiten.
Und womöglich bewegen wir uns auf den ultimativen Genozid zu – auf die Zerstörung der Umwelt. Diese Tatsache findet jedoch kaum Beachtung, und tatsächlich bewegen sich die Vereinigten Staaten rückwärts. In Amerika herrscht jetzt große Begeisterung darüber, dass wir durch aufwändige Techniken zur Gewinnung fossiler Brennstoffe ein Jahrhundert der Energieunabhängigkeit erreichen könnten, dass die US-Hegemonie ein weiteres Jahrhundert bestehen bleiben wird, dass wir in Sachen Öl zum neuen Saudi-Arabien werden und Ähnliches. In seiner Rede zur Lage der Nation sprach Präsident Obama 2012 voller Begeisterung darüber – und auf dieselbe Begeisterung stößt man in Artikeln der nationalen Presse, in Wirtschaftszeitungen und anderswo. Zwar findet man einige Bemerkungen über lokale Umwelteffekte wie etwa die Zerstörung der Wasserversorgung, die Vernichtung der Ökologie und so fort, doch praktisch nichts darüber, wie die Welt, wenn wir weitermachen wie bisher, in einhundert Jahren aussehen wird. Trotz der ganz grundlegenden Natur dieser Probleme wird darüber nicht diskutiert. Solche Probleme sind in unseren an Märkten orientierten Gesellschaften gewissermaßen angelegt, und sogenannte ›externe Effekte‹ bleiben unbeachtet. Was kein Teil eines bestimmten Geschäftsvorgangs ist, und was andere in Mitleidenschaft zieht, bleibt unberücksichtigt.
ANDRE VLTCHEK
Ich verfolge das Verschwinden mehrerer Länder in Ozeanien (im Südpazifik). Ich habe einige Jahre auf Samoa gelebt und bin viel durch die Gegend gereist. Mehrere Länder, wie Tuvalu und Kiribati, aber auch die Marshall-Inseln, denken bereits über Massenevakuationen ihrer Bevölkerung nach. In Ozeanien, doch genauso auf den Malediven und an anderen Orten gibt es Inseln und Atolle, die bereits jetzt unbewohnbar werden. Kiribati könnte das erste Land sein, das vom Erdboden verschwindet. In den Massenmedien wird behauptet, diese Länder würden sinken. In Wirklichkeit sinken sie keineswegs, sondern Flutwellen überschwemmen die Atolle, zerstören die ganze Vegetation und kontaminieren die Wasserversorgung, wenn es eine gibt. Als Folge davon werden diese Länder unbewohnbar oder geraten in eine zu große Abhängigkeit von allen möglichen Importen – von Wasser bis hin zu Lebensmitteln.
Ich war überrascht, bei meiner Arbeit in Tuvalu keine Presse vorzufinden, außer einer japanischen Filmcrew, die irgendetwas Unbedeutendes drehte – irgendeine Seifenoper, die auf dem Funati-Atoll spielte. Da dachte ich: Dies ist eines der am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogenen Länder, das aufgrund des steigenden Meeresspiegels bald vom Angesicht der Erde verschwinden könnte, und die Medien berichten nichts darüber!
NOAM CHOMSKY
George Orwell hatte eine Bezeichnung für diese Menschen: ›Unpersonen.‹ Die Welt teilt sich in Leute wie wir, und in Unpersonen – die bedeutungslosen anderen. Zwar bezog sich Orwell auf eine zukünftige totalitäre Gesellschaft, doch dasselbe gilt in der unseren. Mike Curtis, ein ausgezeichneter junger britischer Diplomatiehistoriker, verwendete dieses Wort in einer Studie über die Verwüstungen, die das britische Imperium nach dem Zweiten Weltkrieg anrichtete. Das Schicksal von Unpersonen kümmert uns nicht.
Hier bestehen Parallelen zum Umgang mit der einheimischen Bevölkerung in der sogenannten Anglosphäre – den Ausläufern Englands: Vereinigte Staaten, Kanada und Australien. Diese Gesellschaften waren ungewöhnlich imperialistisch; sie beherrschten die indigenen Völker nicht nur, sondern sie rotteten sie aus. Sie eroberten ihre Länder und Siedlungen, und in den meisten Fällen vernichteten sie sie. Wir denken nicht darüber nach. Wir fragen nicht, was in der Vergangenheit mit ihnen geschah – und tatsächlich leugnen wir es auch.
ANDRE VLTCHEK
Historisch war das in beinahe allen europäischen Kolonien der Fall – in sämtlichen Regionen der Welt, die durch europäische Kolonialimperien beherrscht wurden. Die ersten Konzentrationslager wurden nicht von den Nazis in Deutschland errichtet, sondern vom britischen Imperium in Kenia und in Südafrika. Und gewiss war der von den Deutschen an europäischen Juden und Roma verübte Holocaust nicht der erste deutsche Holocaust; die Deutschen waren bereits an schrecklichen Massakern an der Südspitze Südamerikas und in der Tat auf der ganzen Welt beteiligt gewesen. Die Deutschen hatten schon den Großteil des Herero-Stammes in Namibia ausgelöscht, doch all das wird in Deutschland und im übrigen Europa kaum diskutiert. Der Angriff auf die Herero war grundlos, es steckte keine Logik dahinter. Der einzige Grund war die vollkommene Verachtung, welche die Deutschen der einheimischen Bevölkerung entgegenbrachten.
Man höre sich jedoch die Wehklagen so vieler Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg an: Wie konnte es nur geschehen, dass die vernünftigen, philosophierenden und von Grund auf friedliebenden Deutschen so urplötzlich Amok liefen, bloß weil sie nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich gedemütigt worden waren! Niemand hätte von so freundlichen Leuten einen solchen Gewaltausbruch erwarten können. Naja, man hätte ihn nicht erwarten können, wenn man das Volk der Herero, die Bewohner Samoas und die Mapuche-Indianer nicht als menschliche Wesen betrachtet und die deutsche Kolonialgeschichte im übrigen Afrika vergisst.
NOAM CHOMSKY
Zur Zeit des Holocaust wurden die Roma in ganz ähnlicher Weise behandelt wie die Juden. Doch auch das wird kaum erwähnt, und die Verfolgung der Roma nicht allgemein eingestanden. So beschloss etwa die französische Regierung im Jahr 2010, in Frankreich lebende Roma zum Elend und Terror nach Rumänien abzuschieben. Man stelle sich einmal vor, Frankreich würde jüdische Holocaust-Überlebende an einen Ort vertreiben, wo sie weiterhin gefoltert und terrorisiert würden. Das ganze Land würde vor Wut explodieren. Doch diese Vertreibung vollzog sich ohne jeden Kommentar!
ANDRE VLTCHEK
In der modernen Tschechischen Republik wurden Mauern gebaut, um die Roma auszugrenzen, und vor verhältnismäßig kurzer Zeit (vor wenigen Jahrzehnten) ließ man Ghettos inmitten tschechischer Städte errichten. Das rief schaurige Erinnerungen an die dreißiger und vierziger Jahre wach, als die Tschechen mit den Nazis kollaboriert hatten und bei der Gefangennahme der Roma behilflich gewesen waren. Doch natürlich sind die Tschechen jetzt seit den neunziger Jahren treuergebene Alliierte des Westens und in den Augen der Massenmedien daher zu einer unberührbaren Nation geworden. Der Umgang mit den Roma in der Tschechischen Republik übertrifft an Brutalität bei weitem alle Taten, die Mugabe in Zimbabwe gegen weiße Bauern verübte.
Doch zurück zum europäischen Kolonialismus. Es hat den Anschein, als sei der Kolonialismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (beziehungsweise seit den fünfziger und sechziger Jahren) nicht verschwunden. Je mehr ich die sogenannten Randgebiete der Erde bereise, desto mehr habe ich den Eindruck, als habe sich der Kolonialismus durch eine erhebliche Verbesserung der Propagandatechniken und durch bessere Kenntnisse im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung gefestigt. Eigentlich ist das ziemlich beängstigend: In der Vergangenheit gab es immer irgendeinen Feind – irgendeinen konkreten Übeltäter. Früher konnte man den Feind leicht in der Kolonialarmee oder in der Kolonialverwaltung sehen. Trotz des sich fortsetzenden Kolonialismus scheint es für die Menschen vieler Länder immer schwieriger zu werden, jemanden dafür verantwortlich zu machen oder präzise sagen zu können, was genau geschieht und wer die Feinde sind.
NOAM CHOMSKY
In den letzten Jahren sind einige der furchtbarsten Gewalttaten der Welt im Ostkongo verübt worden. Dort wurden drei bis fünf Millionen Menschen getötet. Doch wer ist dafür verantwortlich? Milizen begingen die Morde, doch hinter den Milizen standen unsichtbare Regierungen und multinationale Konzerne.
ANDRE VLTCHEK
Gerade habe ich einen langen Dokumentarfilm namens Rwanda Gambit beendet. Es hat mich über zwei Jahre gekostet, ihn zu vollenden. Die Zahlen übersteigen tatsächlich noch die von Ihnen erwähnten: In der Demokratischen Republik Kongo wurden sechs bis zehn Millionen Menschen getötet, ungefähr genauso viele wie Anfang des 20. Jahrhunderts durch den belgischen König Leopold II. Und Sie haben Recht: Obwohl in den meisten Fällen Ruanda, Uganda und deren Stellvertreter Millionen unschuldiger Menschen umbringen, verbergen sich stets die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens dahinter.
NOAM CHOMSKY
Man sieht die multinationalen Konzerne nicht, welche von Milizen Menschen abschlachten lassen, um Zugang zu Coltanvorkommen und anderen wertvollen Mineralien zu erlangen, die von den Menschen im Westen für ihre Mobiltelefone verwendet werden. Es geschieht auf indirekte Weise. Und viele weitere der von Ihnen beschriebenen Grausamkeiten und Verbrechen haben dieselbe Eigenschaft... manche sind jedoch sehr direkt ... wie beispielsweise der Vietnamkrieg, der zu den größten Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg zählt. Das Jahr 2011 markierte den fünfzigsten Jahrestag von John F. Kennedys Ingangsetzung des Krieges. Üblicherweise wird ein fünfzigster Jahrestag als Anlass zum Gedenken genommen – besonders wenn Grausamkeiten damit verbunden waren – doch in diesem Fall war kein einziges Wort darüber zu vernehmen. Im November 1961 entsandte Kennedy die Air Force, um mit der Bombardierung Südvietnams zu beginnen. Er genehmigte Napalm und chemische Kriegsführung, um die Ernte und die Bodenvegetation zu vernichten, und brachte Programme auf den Weg, durch die am Ende Millionen Menschen in sogenannte ›strategische Dörfer‹ getrieben wurden, bei denen es sich in Wirklichkeit um Konzentrationslager oder städtische Slums handelte.
Die Folgen der chemischen Kriegsführung sind bis heute spürbar. Besucht man Krankenhäuser in Saigon (womöglich sind Sie dort gewesen), findet man weiterhin deformierte Föten und Kinder, die durch die chemischen Giftstoffe, welche Südvietnam buchstäblich überfluteten, mit allen möglichen fürchterlichen Missbildungen und Abnormitäten geboren werden. Doch heute, nur wenige Generationen später, kümmert es praktisch niemanden mehr.
Dasselbe vollzog sich in Laos und in Kambodscha. Es wird viel darüber gesprochen, wie schrecklich Pol Pots Herrschaft in Kambodscha war, doch wird praktisch nie diskutiert, wie es eigentlich dazu kam. Anfang der siebziger Jahre bombardierte die Air Force ländliche Gebiete in Kambodscha mit einer Stärke, die sämtlichen Luftoperationen der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs im Pazifik entsprach. Die Air Force folgte Henry Kissingers Weisung, einen umfassenden Bombardierungskrieg gegen Kambodscha zu führen: »Alles einsetzen, was gegen ein bewegliches Ziel fliegen kann.« Das ist ein Aufruf zu einem Völkermord der bereits diskutierten Art. Es fällt schwer, etwas Vergleichbares in geschichtlichen Dokumenten zu finden. Die Bombardierung wurde mit einem einzigen Satz in der New York Times erwähnt, doch dann nie wieder. Außer in wissenschaftlichen Journalen und Randbereichen ist nie über das Ausmaß der Bombardierung berichtet worden, obwohl Millionen getötet und vier Länder zerstört wurden, die sich nie wieder davon erholt haben. Der einheimischen Bevölkerung sind die Ereignisse zwar bekannt, doch fehlen ihnen die Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen.
ANDRE VLTCHEK