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Trost finden. In einer Welt, die so überwältigend, ängstigend, fordernd sein kann. Trost finden im Empfinden von Schönheit, weil das, so Gabriele von Arnim, nicht weniger ist als Selbsterhalt. «Ich brauche Schönheit. Den Trost der Schönheit. Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten. An Wege, Räume, Purzelbäume.» Der Trost der Schönheit ist eine schillernde Verbindung aus autobiografischem und essayistischem Erzählen: keine Kulturgeschichte, die ihren Gegenstand mit Theorie einhegen will, sondern eine literarische Spurensuche. Gabriele von Arnim fragt nach den Formen und Wirkungen dessen, was wir schön nennen; nach dem Glück und den dunklen Seiten der Empfindsamkeit. Die Suche führt zurück in die Kindheit, zu einem Mädchen aus kühl geführtem Haus, das erst lernen muss, zu fühlen, um Schönheit – einen tröstlichen Moment lang – in all ihrer endlichen Fülle wahrnehmen zu können. Nach dem Spiegel-Bestseller Das Leben ist ein vorübergehender Zustand ein neuer bewegender Bericht aus dem Innern. Ein Buch, das den Blick weitet für die Welt um uns und ihre Vergänglichkeit, das Mut macht zum Aushalten von Ambivalenz.
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Seitenzahl: 222
Gabriele von Arnim
Eine Suche
Seit dem Tod ihres Mannes, der nach zehn mit Würde, Wut und Zärtlichkeit gelebten Krankheitsjahren gegangen war, hatte Gabriele von Arnim lange gebraucht, um ihr zerfleddertes Ich einzusammeln, sich als ein Wesen wiederzufinden, das einen eigenen Körper, einen eigenen Atem, ein eigenes Leben haben kann und hat: eine Frau, die – was ihr ganz undenkbar schien, als er noch lebte – für sich allein den Balkon wuchernd bepflanzt und glücklich in Baumkronen schaut; die gelernt hat, Schönheit zu wollen, den Trost der Schönheit – nur für sich.
«Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten. An Wege, Räume, Purzelbäume. Der Trost der Schönheit ist vielleicht Eskapismus, aber ganz gewiss auch notwendiger Selbsterhalt. Ist Schutzraum gegen das Dämonengezischel aus Kindheit und Gegenwart. Darüber zu schreiben: ein Abenteuer.»
Der Trost der Schönheit ist eine schillernde Verbindung aus autobiographischem und essayistischem Erzählen: keine Kulturgeschichte, die ihren Gegenstand mit Theorie einhegen will, sondern eine literarische Spurensuche. Gabriele von Arnim fragt nach den Formen und Wirkungen dessen, was wir schön nennen; nach dem Glück und den dunklen Seiten der Empfindsamkeit. Die Suche führt zurück in die Kindheit, zu einem Mädchen aus kühl geführtem Haus, das erst lernen muss, zu fühlen, um Schönheit – einen tröstlichen Moment lang – in all ihrer endlichen Fülle wahrnehmen zu können.
Ein bewegender Bericht aus dem Innern. Ein Buch, das den Blick weitet für die Welt um uns und ihre Vergänglichkeit, das Mut macht zum Aushalten von Ambivalenz.
Gabriele von Arnim wurde 1946 in Hamburg geboren. Sie hat studiert, promoviert und zehn Jahre als freie Journalistin in New York gelebt. Danach schrieb sie u.a. für DIE ZEIT und SÜDDEUTSCHE, BR und WDR und arbeitete als Moderatorin für ARTE, SDR/SWR und SF. Sie schreibt Rezensionen für Zeitungen und Hörfunk, moderiert Lesungen, hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt in Berlin. Das Leben ist ein vorübergehender Zustand stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde begeistert besprochen. «Ein unglaubliches Buch», befand Sten Nadolny. «Eine heilende Zumutung.»
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2023 by Gabriele von Arnim
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Linnéa Andersson
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-01654-5
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Ich habe Gedanken, die, wenn ich
sie verwirklichen und lebendig machen
könnte, den Sternen ein neues Licht,
der Welt eine neue Schönheit
und den Herzen der Menschen
größere Liebe bringen könnten.
Fernando Pessoa (1888–1935)
Es regnet und stürmt. Unfreundlich sei es da draußen, hat die Nachbarin gesagt, die schon mit ihrem Hund spazieren war, hat vom unfreundlichen Draußen gesprochen, als sei das Draußen ein mürrischer Mensch. Es ist November, die Zeit des fahlen Lichts, der Anfechtungen, der Trübnis und des pandemischen Hustens. Ich sitze an meinem kleinen Frühstückstisch und schaue matt aus dem Fenster in die Tristesse, lasse den Blick gleiten hinunter auf die Straße, auf der Menschen sich ducken unter ihren Schirmen, die sie klammernd halten, damit der Wind sie ihnen nicht entreißt. Sie schlagen die Krägen ihrer Mäntel hoch und hasten durch Pfützen auf dem Gehweg. Auf einmal aber sehe ich am Zaun des Spielplatzes auf der anderen Straßenseite einen – vom Regen glänzend schimmernden – länglichen Wunderteppich aus gelben, braunen, rötlichen und grünen Blättern. Kein Trugbild. Sondern schönste Wirklichkeit. Ein bunter, nass glitzernder, freundlicher Blätterstreifen. Ein zartes Glücksgefühl durchzieht mich, und ich mache mir zufrieden meinen Frühstückstoast.
Ich brauche Schönheit. Den Trost der Schönheit. Denn, wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume. Schönheit kann Gefühle befreien, kann uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen. «Und was schön ist, bringt Freude», heißt es bei Euripides. Ganz so einfach ist es nicht. Denn Schönheit ist die kleine Glut, das kleine Entzücken, das große Gebrause, Schönheit ist aber auch der Stich ins Herz. Und immer wieder ist sie Zuflucht, die ich brauche – ein Blick, ein Stein, eine Rose, ein Wolkengarten. Die zärtliche Abendsonne im Nacken.
Ich brauche die kleinen Gesten – das Lächeln des Jungen, der mir die Tür aufhält, das fröhliche Winken der fremden Frau, die mich im Frühling mit einem riesigen Tulpenstrauß aus dem asiatischen Gemüseladen kommen sieht.
Der Trost der Schönheit ist auch Verteidigung der eigenen kleinen Wirklichkeit gegen die WeltWirklichkeit. Gegen die nächtlichen Angriffe auf meine Gefasstheit. Wenn Bilderfetzen, Gedankenfragmente, Phantasien, Wirbel, Entsetzen und Hast als Flimmergestöber im Kopf durcheinanderstürzen. Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes, Ängste, Hoffnungen, Nachrichten. Es wütet die Zusammenhanglosigkeit, und der Tinnitus schreit zufrieden ob des Getümmels. Auch Banalitäten blähen sich auf in der stillen Dunkelheit. Überflüssige Füllmasse für den strapazierten Kopf, der nicht mehr aufnehmen will, was er jeden Tag hört und liest und denkt, und es doch gewissenhaft speichert.
Wir leben in Zeiten extremer Herausforderungen – politisch, gesellschaftlich, ökologisch, ökonomisch, seelisch. Wir zerstören unsere Welt in atemberaubender Geschwindigkeit. Wachstum – dieses fragwürdige, längst umstrittene ökonomische Gebot – bedeutet Verbrauch, immer mehr Verbrauch. Dabei kaufen wir doch jetzt schon lauter unsinniges Zeug, das wir gar nicht brauchen. Was könnte ich ausmisten bei mir?
Es gebe seit 2020, schreibt der Sozialpsychologe und Klimawarner Harald Welzer in seinem Buch «Aufhören», mehr tote Masse als Biomasse auf der Erde, also mehr Hergestelltes als Lebendiges. Seither sehe ich eine Welt vor mir mit mehr Plastikenten als Radieschen, mehr Lautsprechern als Vögeln, mehr Stühlen als Bäumen. Wenn wir so weitermachen, gibt es irgendwann mehr Autos als Menschen. In den USA kommen schon jetzt 650 Autos auf 1000 Einwohner. Weltweit werden 3,1 Autos pro Sekunde produziert. Wieder wurde ein Vorgarten in der Nachbarschaft zugepflastert. Soll es ein Parkplatz werden?
Atmen, tief atmen. Einatmen, Ausatmen. Atmen.
«Wahrscheinlich alle Religionen lehren», schreibt Navid Kermani, «daß … sich bei jedem Atemzug die Weltseele – also das, was alle Geschöpfe miteinander verbindet – mit der einzelnen Seele vermischt.»
Atmen, tief atmen. Einatmen, Ausatmen. Atmen.
Und was tue ich in dieser Welt? Was verdränge ich, was übersehe ich, was nehme ich hin, wo mache ich mit? Denke ich streng genug? Handle ich genug? Was heißt genug? Wie geht es mir eigentlich?
Es sitzt die Angst in mir (immer drängeln sich dort Ängste), nicht mehr genug Zeit zu haben, alles einzufangen, damit ich es erzählen kann. Immer will ich mir alles erzählen. Als könnte ich mit dem Erzählten ruhiger leben als mit dem Unerzählten. Und natürlich hat das alles auch mit dem Altern zu tun. Mein Gesicht liegt in Falten. Mein Geschirr ist angeschlagen. Mein Küchentresen hat Flecken. Wir sind abgenutzt, gehen dahin, strapaziert und zerbrechlich.
Man könnte doch meinen, man würde abgebrühter im Alter, weil man schon so viel gesehen hat. Aber je älter ich werde, desto mehr nehme ich die Welt wahr, desto mehr bedrängt mich, was ich sehe, höre, lese, bedenke. Der Schutzschild zwischen dem Wahnsinn dort (welcher Sinn liegt eigentlich im Wahn?) und meinem Sein hier wird dünner. Die Scheuklappen fliegen davon im Sturm. Und das, was ich sehe, höre, lese, bedenke, bleibt nicht als kühles Wissen in mir, eingefroren und ungefühlt, es berührt mich, sticht mich, bedroht, durchzieht, bedrückt mich.
Ich brauche Trost. Ein Gefühl, das mich wärmt, behütet, mich sichert in mir. Weil mich angeht, was mich erschreckt. Wie wird sie sein die Welt, in der meine Enkel leben werden und alle anderen mit ihnen? Wie eigen-willig werden sie sein können. Werden sie sagen und singen dürfen, was sie sagen und singen wollen. Werden sie ihren Kindern zeigen können, dass aus Raupen Schmetterlinge werden.
Ich brauche Trost, weil mich die Welt beschwert, wie sie ist.
Mich ängstigt der Verlust des Konzepts von Gemeinwohl, die Herablassung der Habenden gegenüber den Habenichtsen, die Radikalisierung derjenigen, die Ungewissheit und Fragen nicht aushalten und Antworten wollen. Egal, welche, egal, wie falsch sie auch sein mögen. Hauptsache, es sind Antworten, die sie in die Welt schreien können. Es ängstigt mich die Verrohung von Sprache und Handlung. Es ängstigen mich die Waffensucht, die Menschenverachtung, die Terroristen, die Rassisten, die Sexisten und Misogynisten, die auf andere herabsehen müssen, um sich selbst stark zu fühlen.
Es ängstigen mich die staubigen Dürren, die alles verschlingenden Fluten, die sterbenden Bäume, die versiegelten Städte und wir, die wir – fast – so weitermachen wie bisher. Ich fürchte mich vor den leeren Phrasen, den zynischen Machtspielen und der gierigen Verantwortungslosigkeit. Dem «Weiter so» der Höhnischen und Rücksichtslosen, die die Erde ausbeuten, vergiften, zerstören.
Und es sind nicht nur sie, ich bin es auch. Auch ich hänge sicher noch irgendwo am Haken des strukturellen Rassismus, ruhe traulich in meiner bequemen kleinen Wirklichkeit, habe ein Auto und steige hin und wieder in ein Flugzeug. Viel zu hoch ist mein «Weltverbrauch», wie Harald Welzer es nennt. Ich lebe behaglich, gönne mir Refugien, bin Teil des allgemeinen GiermatzLebens.
«Spaziergang im Regen, Schwimmen im Bergsee in Tirol. Oper in München – alles herrlich, sanft und fast verwerflich schön. Alles wird gespeichert», so steht es in meinem Tagebuch, «um den Nachrichten aus der Welt standhalten zu können.»
Das sind Sätze einer Person, die mit Privilegien lebt. Aber darf ich nicht verzagen, weil es mir gut geht? Wie verhalte ich mich richtig. Was heißt richtig. Wie sicher ist mein innerer Kompass.
Wie unangemessen ist es, meinen Cappuccino unter dem Blätterdach hoher Bäume zu trinken, während in Afghanistan Menschen, die auch von unserer Regierung schmählich im Stich gelassen wurden, sich verstecken, bangen, darben, in ständiger Todesfurcht leben – was wir uns nicht einmal vorstellen können. Wie ist es, zu Hause zu sitzen und auf seinen Mörder zu warten? Da kann man nicht mal eben im Bergsee baden, um Kräfte zu sammeln.
Und doch: Wir können nur etwas ändern, wenn wir etwas tun. Und dafür brauchen wir Kraft. Es sei die Kraft der Hoffnung der Minderheiten, die die Welt verändere, hat eine der argentinischen «Madres de Plaza de Mayo» gesagt, der Mütter, die dort standen und protestierten, weil ihre Söhne und Töchter verschwunden waren, verschleppt von der Regierung.
Die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Silvia Bovenschen hat – mit ihrem untrüglichen Gespür für das Elend unserer Welt – geschrieben, dass sie sich vom Heute verabschiede, weil sie in ihm keine Poesie und schon gar keinen «Trost für das Leiden der Kreatur» zu sehen vermöge.
Man braucht Courage, um einen solchen Satz zu schreiben. Weil man neben den Fakten und dem Wissen das Fühlen zulässt, den Schmerz hineinlässt in die Zone der Empfindsamkeit. Wie gern und wie oft möchten wir uns schützen mit NichtWissen-, durch NichtErkennenWollen von gesellschaftlichen Entwicklungen. Wissen tut weh. Und das Erkennen erst recht, weil man dann das Wissen fühlt.
«Bloß nichts fühlen», hat mir vor vielen Jahren eine Frau gesagt, die ich gefragt hatte nach der Stimmung im Deutschland der NachNaziZeit. «Bloß nie mehr etwas fühlen.»
Sie kam aus der Generation, in der man ohnehin Gefühle verwerflich fand und sie fürchtete, weil sie so unkontrolliert durch den Äther dringen. Die Abwehr hatte Tradition in Deutschland. Schon Fontane lässt Effi Briests Mutter sagen: «Aber man lebt doch nicht bloß in der Welt, um schwach und zärtlich zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist.»
Und ausgerechnet im Nationalsozialismus hatten sich viele emotional ausgetobt, sich verausgabt in ihrem Lustrausch für Hitler. Der exilierte Schriftsteller Hans Sahl hat diese Ausbrüche einmal den «kollektiven Orgasmus» der Deutschen genannt.
Jetzt also hatten sie sich leergefühlt und pflegten das angeblich ungefährliche Vakuum.
Bloß nichts fühlen.
Und wenn das Wort «fühlen» vorkam, dann in dem kernigen Spruch: «Wer nicht hören will, muss fühlen.» Fühlen hieß, körperlichen Schmerz zugefügt bekommen durch Züchtigung. Wer nicht gehorchte, kriegte einen «Bax mit dem Hammer», «mit dem Lineal was auf die Fingerspitzen», «mit dem Gürtel den Hintern versohlt».
Wer nicht hören will, muss fühlen.
Wenn Worte Türen zuschlagen können, können Worte sie auch wieder aufschieben. Ich werde meinen Kopf in den Wind halten und all die Worte, die in ihm sind, verwehen lassen. Damit es für eine Weile still wird in mir. Leer wie ein weißes Blatt ohne Buchstaben. Aber jedes Blatt will beschrieben werden. Es wartet. Manchmal halte ich einen Spiegel vor die Buchstaben, damit ich die Worte nicht lesen kann.
Und wenn man einen Spiegel vor die eigene Kindheit hält? Verzerrt sich das Bild? Erkennt man dann mehr? Vielleicht brauche ich Trost, weil ich zu oft ungetröstet durch meine Tage gehatscht bin. Denn wer Trost braucht, muss Schwäche zugeben. Und dort, wo ich herkomme, war man nicht schwach. Da wahrte man den Schein, mied das Sein.
Bloß nichts fühlen.
«Mein Kind», sagte der Vater, «reiß dich zusammen. Das Wichtigste im Leben ist die Disziplin.»
«Und die Gesundheit», lachte die Mutter, die immer fröhlich sein musste. «Und die Gesundheit», wiederholte sie, was ich unfreundlich fand, denn ich war krank – ein lahmendes, übergewichtiges, verzagtes Kind.
Dem Diktum des Bloß nichts fühlen zu entkommen, war ein langer Weg. Der vom Panzer über den Trotz – wie viel Kraftverschwendung! – zur Einsicht in die eigene Schwäche führte. Das ist Befreiung und Beschwernis zugleich. Denn wer Schwäche zugibt, wird zwar innerlich stärker, aber Schwäche zu spüren heißt auch, empfindlicher zu werden für den Mangel, die Schwächen in sich und um einen herum. Unter der Entbehrung zu leiden, wie Silvia Bovenschen es tat, als sie im Heute keinen Trost mehr fand für das Leiden der Kreatur.
Vermutlich leiden wir alle. Aber viele glauben nicht an die Versehrung in sich, verweigern der nackten Wahrheit den Zutritt, verpanzern ihr Gemüt. Und verpassen sich. Verändern sich nicht, werden nicht, wer sie sein könnten.
Ich bin verletzt und fürchte mich, bin beunruhigt und heiter, lebe gern. Alles auf einmal. Alles durcheinander. Suche Trost im Wort, im Bild, im Klang, im Wald. Will Wärme, Nähe, Schönheit, quecksilbrige Gefühle. Manchmal genügt ein Biss in die Krokantschokolade mit Meersalz. Meist braucht es mehr als den kleinen beglückenden Genuss. Trost dringt ein in tiefere Schichten, in den Raum der Stille in uns, in den wir hineinatmen, bis uns Flügel wachsen.
Der Trost der Schönheit ist vielleicht Eskapismus, ist aber ganz gewiss auch notwendiger Selbsterhalt. Darüber zu schreiben: ein Abenteuer. Als male man Sätze in den Sand, obgleich ein Sturm sich nähert und gleich alle Buchstaben verwehen wird. Man kann Schönheit nicht sehen, hören oder lesen, ohne Verheißung zu spüren und zugleich um ihre und die eigene Vergänglichkeit zu wissen. Erhabenheit, Ehrfurcht, Furcht – Schönheit kann uns in widerstreitende Gefühle katapultieren. Lebendige Schönheit ist nicht nur schön oder gar adrett im herkömmlichen Sinn. Sie provoziert, überwältigt und nimmt auch Unglück und Räudiges in sich auf.
Die Schauspielerin Angela Winkler, die neben ihrer enormen Bühnenpräsenz ein intensives Leben mit Kindern, Mann und Häusern in vielen Ländern hatte, schreibt in ihren autobiographischen Skizzen: «Für mich heißt Theaterspielen auch, die Kinderkacke wegzumachen, und ich möchte, dass das immer zu spüren ist: eine große Liebe und Verantwortung zum Kleinen, Hässlichen, Schrägen. Ich ziehe meine Kraft aus den Dissonanzen.»
Es dauert, bis man weiß, was einem guttut.
Es dauert, bis man weiß, was man braucht.
Dass man auch Schönheit braucht.
Bei mir jedenfalls hat es gedauert. Bis ich Schönheit nicht nur denken, sehen, hören, sondern auch erahnen konnte in ihrer existenziellen Dimension. Bis ich Trost fand in ihr. Den ich festhalte und gehen lasse. Denn wenn ich mich klammere an den Trost, verliert er Kraft.
Kürzlich schrieb eine Freundin: «Lass uns das Schöne genießen, wo es ist.» Wenn man das nur immer so genau wüsste. Wie oft wir es wohl gar nicht sehen, weil wir an den falschen Orten suchen. Es geht darum, Schönheit und Schönes im Alltag, in verborgenen Schlupflöchern aufzuspüren – im Schmerz, im Zitronenduft, im Atmen, in Krisen und Dissonanzen oder in dem im Regen schimmernden Blätterteppich am Spielplatzzaun.
Und auf einmal, mitten hinein ins Schreiben über Schönheit, Lebendigkeit, Kraft und Trost, greifen Putins Truppen die Ukraine an. Auf einmal ist Krieg. Krieg in Europa. Ein Eroberungskrieg einer Nuklearmacht. Es werden Bomben abgeworfen auf Menschen in ihrem Alltag. Auf Krankenhäuser und Kindergärten. Häuser stürzen brennend zusammen, Menschen fliehen, werden verletzt, sterben. Sie suchen Schutz in U-Bahn-Schächten, üben das Schießen, bauen Molotowcocktails, schweißen Barrikaden, um sich zu wehren in verzweifelter Wut. Vor Lebensmittelläden bilden sich lange Schlangen. Die Apotheken haben nicht genug Medikamente, die Krankenhäuser haben von nichts genug. Ein Krieg, dem keine Bedrohung für den Angreifer vorausgegangen war. Ein Krieg nebenan.
Noch ist er nebenan. Aber bei jedem Polizei- oder Feuerwehrauto, das auf der großen Straße heult, sehe ich die Bilder aus der Ukraine vor mir. In die Tage und Nächte, ins Denken und Fühlen sickert das Gift des Leids. Es ist Frühling. Überall berstende Knospen, kleine Blätter, lebendiges Grün. Und dann ein Bild vom Krieg: eine Straße mit schwarzverkohlten, toten Bäumen. Kein Blatt, keine Zuversicht. Kein Frühling.
Kann ich weiterschreiben über Trost und Schönheit, während es gleich neben einem Atomkraftwerk brennt. Wäre es besser zu schweigen? Oder brauche ich auch jetzt oder gerade jetzt Trost und Schönheit, weil ich seelenwund bin.
Ich suche meinen Weg, wie jeder ihn jetzt sucht für sich – mitten in der andauernden Pandemie, im nahen Krieg, angesichts drohender Hungersnöte, gefährdeter und zerstörter Energieversorgung, schmelzender Gletscher, aussterbender Arten. Wir kennen doch alle die Verzweiflung, die wie ein wütend hungriger Wolf unsere Gemüter zerfetzt. Und dann suchen wir Rettung. Obhut. Manche Menschen brauchen in Krisen blitzschnelle Antworten, haben Meinungen, die sie entschieden verkünden. Für mich sind Krisen Orte des Zweifels, des Fragens und Suchens, Momente der großen Unsicherheit.
Es dauert, bis ich begreife, dass ich auf Zerstörung nicht mit Selbstzerstörung antworten will. Denn Verzweiflung schwächt, neigt dazu, entmutigt aufzugeben, ist erschöpfte Einwilligung in das, was ist. Das können wir uns nicht leisten. Resignation ist Flucht. Und wenn man daran glaubt, wie ich es lerne zu glauben, dass die Welt ein Energiekosmos ist, der in Balance gehalten werden muss, um sich nicht gänzlich selbst zu vernichten, dann muss man gerade jetzt, angesichts von Zerstörung und Gewalt, von Hass und Mord, von Hunger und Angst, schöne Gegengifte brauen, muss Freundlichkeit und Stille ins All atmen, Zuwendung und Aufmerksamkeit und – wer kann – sogar Güte. Navid Kermani schreibt: «Schon wenn du einatmest, bist du verbunden mit der ganzen Welt. Jedes Mal, wenn du ausatmest, nimmt die Welt Anteil an dir.»
Auch und gerade jetzt gilt es, Schönheit zu suchen und zuzulassen in unserem Leben, obgleich wenige Kilometer entfernt alles zerstört wird, was lebendige Schönheit ausmacht. Es ist die Zeit, Schönheit zu gestalten, zu empfinden und zu teilen, um eine Balance herzustellen zwischen Erstarrung und Lebenskraft, zwischen der einen Wahrheit und der anderen, um zu helfen, die Welt ein bisschen zu heilen. Als kleiner Mensch in einer kleinen Nussschale, unterwegs auf dem rauen, großen Wirklichkeitsmeer.
«Nicht leicht», sagt ein Freund, «in diesen Zeiten über Trost und Schönheit zu schreiben.»
«Aber», antworte ich, «wer über Trost und Schönheit schreibt, schreibt immer auch über Angst und Schrecken.»
Der ukrainische Straßenkünstler Gamlet, so erzählt es Sonja Zekri in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, malte ein Bild, auf dem man einen Menschen sieht mit einer Schutzweste und zwei Vögeln auf seinem rechten Arm.
«Behalte das Gleichgewicht» steht darüber.
Eine Suche,
eine Fahrt auf einem großen Fluss mit vielen
Nebenarmen, ein Gehen über viele Brücken,
ein Springen über Furten, ein Mäandern,
ein SichAusruhen auf Inseln aus Worten und Sätzen,
ein SichVerlieren
im Weltschrecken,
im Dämonengezischel der Kindheit,
im Gestrüpp der Erinnerungen und des Lebens,
ein Weitergehen auf dem Weg
in den Trost der Schönheit
und ihrer Drachensaaten;
Fragmente, Vignetten, Momente, Wolkenwege, Träume
und immer wieder auch ein lebenssattes Grinsen.
Am Morgen meines 74. Geburtstags wollte ich nicht in den Tag. Ich zwinkerte ihm beim Aufwachen kraftlos zu und schloss gleich wieder die Augen. Lag wie ein ausgestopftes Schlaftier zwischen den Kissen, während ein Jemand oder ein Etwas in mir herumwisperte. Ich verstand kein Wort. Wollte auch nichts verstehen. Wollte die Sätze wie Schneeflocken rieseln und schmelzen lassen, bevor ich sie hätte begreifen können.
Das Aufwachen, wenn es wie ein schwarzer Käfer auf einen zukriecht, ist ja ohnehin ein heikler Vorgang. Weil ein noch in die Nacht geschmiegter Körper, ein noch traumverlorenes Gemüt vielleicht keine Helligkeit mag und schon gar keine Gedanken daran, was der helle Tag, in dem die Welt schon lauert, von einem will. Mal kann man aufwachen und sinnen, sich der schönen Sinnlichkeit wandernder Phantasien hingeben, mal muss man aus dem Bett springen, um Schattengespinsten zu entkommen, die einen einweben wollen in ihr dunkles Netz.
Das dösende Denken ist zudem fast immer gefährlicher als die wache Reflexion. Weil die Gedanken unkontrolliert aufblitzen und umherschießen, weil Bilder aufscheinen und im Moment sich schon wieder verflüchtigen, für die man keine Vorlage findet im Leben, die einen ratlos suchen lassen nach Sinn, Inhalt und Bedeutung.
Am Morgen meines 74. Geburtstags war der Schlaf so freundlich, mich noch eine Weile bei sich aufzunehmen und mir die Labsal der Bewusstlosigkeit zu schenken. Es gibt angesichts der WeltNot immer Gründe, nicht wach werden zu wollen. Aber jetzt hatte mich eine eigene, eine ganz persönliche Wirklichkeit eingeholt. Am Tag zuvor war mir klar geworden, dass ich nicht nur allein, sondern auch alt bin. Allein, seit dem Tod meines Mannes (des II), der nach zehn mit Würde, Wut und Zärtlichkeit gelebten Krankheitsjahren gegangen war. Ich hatte lange gebraucht, um mein zerfleddertes Ich einzusammeln, mich als ein Wesen wiederzufinden, das einen eigenen Körper, einen eigenen Atem, ein eigenes Leben haben kann und hat. Eine Frau, die – was mir ganz undenkbar schien, als er noch lebte – nur für sich allein ihren Balkon wuchernd bepflanzt und glücklich in Baumkronen schaut; die gelernt hat, Schönheit zu wollen, ohne das Glück des Schönen teilen zu können, und stattdessen ihr Leben mit den Wolken bespricht. Und schreibt. Und darin Obhut findet und Halt. «You have a place to go to», sagt eine Freundin – und so ist es. Wenn ich schreibe, bin ich weniger allein.
Und alt bin ich – ja, seit wann eigentlich? Gesagt hatte ich es schon oft und scheinbar selbstverständlich. Ich sei eine alte Frau, erklärte ich, natürlich sei ich das und wisse es auch – allerdings musste ich dann immer zugeben, dass ich bei der alten Frau, von der ich sprach, nicht mich vor Augen hatte.
Das war jetzt anders. Die Kluft hatte sich geschlossen. Mir war am Nachmittag des Tages, an dem ich begriff, dass ich alt bin, eine blühende junge Frau auf der Straße begegnet, deren Gesicht so hemmungslos leuchtete, eine so blanke Freude ausstrahlte, eine so wonnevolle Frohlockung, dass ich verwirrt stehen blieb und ihr nachsah. Wann hatte ich mich das letzte Mal so vorbehaltlos, so leidenschaftlich gefreut?
Mein bissiges Ich vermutete einen Anruf des Liebsten, eine Erinnerung an die letzte Nacht. Ha, dachte ich, auch bald vorbei. Und ging weiter. Aber die Frage blieb, die Frage nach der unbedingten Freude, diesem scheinbar unendlichen Gefühl der Beglückung, das einen gleißend durchströmt. Aber wie sollte das gehen, woher sollte er kommen, der unbeschwerte Jubel nach beschwerten Jahren, ein leicht-sinniges Frohsein nach so viel Leben.
Zugegeben: Es war während der zweiten Corona-Welle im zweiten Quasi-Lockdown. Und ich war angestrengt davon, immer wieder neu abwägen zu müssen, was ich mache, was ich lasse, was ich wage, wo ich wegbleibe. War müde davon, den Weg zwischen Risiko und Räson immer wieder neu auszumessen. Fast jede Freude war mit einer kleinen Furcht verwoben. Hurra, die Enkel kommen. Hilfe, hoffentlich kommen sie ohne Corona. Wie herrlich, ich bin im Wald. Herrje, schon wieder ein japsender Jogger, der mir seine Aerosole in den Nacken schnaubt.
Aber es war nicht wirklich Corona, das mir die rückhaltlose Hingabe ans Freuen versagte, es ist das gelebte Leben, das mich immer wieder ermattet. Erfahrungen machen uns stark, heißt es – und es stimmt. Aber schwere Zeiten rauben uns auch aus. Marode Kindheiten, Krankheiten, abgewetzte Ehen; das Wissen, hier und da gescheitert zu sein, andere verletzt zu haben und selbst verletzt geblieben zu sein. So viel Schmerz, mit dem man im Alter eben auch lebt. Und wenn man – wie ich – zehn Jahre einem Kranken, der nicht sprechen, nicht gehen, nicht lesen und nicht schreiben konnte, jeden Tag Mut zugesprochen und mit der eigenen Lebensenergie seine zu sichern gesucht hat, bleibt man erschöpft zurück. Es fehlt immer wieder die Lustkraft für Neues, es fehlt die Unschuld, ein Reservoir der Ahnungslosigkeit. Es fehlt die davongeflogene Zeit.
Als ich einmal in irgendeinem Frühling an irgendeinem Morgen aus einem meiner Fenster sah, erschrak ich, weil die Blüten der großen Kastanie im Hof fast schon verblüht waren. Schon wieder war Zeit, war Schönheit vergangen, ohne dass ich ihr Vergehen wahrgenommen, ohne dass ich oft genug und genau genug und glücklich genug in die Kastanie geschaut hatte, während sie blühte.
Carpe diem, schrieb Horaz 23 v.Chr. in einer seiner Oden, um uns aufzufordern, den Tag zu pflücken, sich seiner zu erfreuen im so rasch dahin- und davonfließenden Leben. Einen ganzen Tag genießen zu wollen, das scheint mir seit langem zu nimmersatt, eine zu dreiste Erwartung. Und so ist für mich längst aus dem Tag der Moment geworden, das Carpe momentum. Den Moment wahrnehmen, wertschätzen, in ihm sein. Nicht vor einer Wiese mit Hunderten von blühenden Osterglocken stehen und an den zickigen Chef denken, nicht ins Kino gehen und von der Oper träumen, nicht mit Freunden beim Essen sitzen und sich sehnen nach Stille. Thich Nhat Hanh, der berühmte und von vielen verehrte vietnamesische Mönch hätte angesichts eines solch zerstreuten Aufmerksamkeitsgeflatters lächelnd ausgerufen: «You miss your appointment with life.»
Zeit ist zu kostbar, zu flüchtig, um sie zu verschwenden. Das schnellste Tier in der Luft, der Wanderfalke, fliegt mit einer Höchstgeschwindigkeit von 322 Stundenkilometern. Das Tempo der Lebenszeit kann man nicht messen, aber man kann es fühlen. Es rast. Ich habe das immer gewusst und erst spät begriffen. Habe unbedacht das Leben eingeatmet. Heute kann ich der vor mir fliehenden Zeit nicht immer gelassen zulächeln, sondern möchte sie lockend zurückrufen. Weil ich immer noch nicht alles gelebt habe, was ich leben wollte. Weil die Freunde krank werden und sterben und ich doch noch tanzen wollte mit ihnen, denken, lieben, streiten, sehen und erkennen. Gefühle wagen.
Ich muss lernen, endlich im Schneckengang zu leben. Ganz gemächlich, ganz behutsam. Mehr sehen, mehr entdecken, innehalten. Nicht nur das Imposante bewundern, sondern auch Stäubchen und Körnchen wahrnehmen, die Form und Struktur von Mandel oder Walnuss, die Schönheit der Orangenschale; auf die Welt des HöherSchnellerWeiter antworten mit bedächtiger Intensität.
Die langsamste Schnecke ist übrigens die Bananenschnecke, die in einer Stunde nur zehn Zentimeter zurücklegt, während unsere heimische Weinbergschnecke vergleichsweise rennt und sieben Meter in der Stunde schafft. Schon lese ich mich fest in dem Artikel über die langsamsten Tiere und weiß jetzt zum Beispiel, dass das Seepferdchen sich in einer Stunde nicht mehr als eineinhalb Meter fortbewegt.