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Was, wenn der Regen nie aufhören würde? Wenn der Bodensee unaufhaltsam stiege und die Stadt Überlingen langsam im Wasser versänke? Wie würden die Menschen reagieren? "Die Fluten rissen alles mit sich - und nun auch die Hoffnung der Menschen. Der Regen schlug weiter wie mit Dreschflegeln auf den Ort ein, während die Dunkelheit der Nacht heraufzog. Überlingen war nicht nur eine Stadt in der Flut, sie war eine Stadt in der Agonie. Und der Regen, der nie enden wollte, erschien den Menschen wie das Wehklagen eines erbarmungslosen Himmels, der sie endgültig zu vergessen schien." "Es ist surreal. Als hätte die Natur beschlossen, uns alle zu verschlingen, uns auszulöschen." "Haben wir etwa unser ganzes Leben lang versucht, dieser Frage auszuweichen? Wir tun so, als hätten wir ewig Zeit, als könnten wir alles ändern, wenn wir nur lange genug kämpfen. Aber jetzt sieht es so aus, als wäre nichts von dem, was wir getan haben, von Bedeutung gewesen."
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Seitenzahl: 154
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“Wir lassen uns das Leben nicht verbittern,
keine Angst, keine Angst, Rosmarie!
Und wenn die ganze Erde bebt,
und die Welt sich aus den Angeln hebt.
Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,
keine Angst, keine Angst, Rosmarie!”
……….
(„Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“,
Musik: Michael Jary, Text: Bruno Balz, 1939)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Auf dem Bistrotischchen stand ein leerer Prosecco-Kübel. Es war ein strahlend leichter Sonntagnachmittag im Herzen des Hochsommers. In Überlingen – dem zweifellos schönsten Ort am Bodensee – schien die Welt stillzustehen. Die Luft war warm, schwer von den Düften der blühenden Rosen im Stadtgarten und vom frisch gemähten Gras der Liegewiese an der Seepromenade. Die Sonne legte einen goldenen Schleier über den weitläufigen Garten der Gründerzeitvilla am Ufer. Ein Schwarm winziger Mücken tanzte aufgeregt im Lichtschein.
Rosmarie von Pretzenhoff, die Oberbürgermeisterin der beschaulichen Stadt, schloss für einen Moment die Augen und atmete entspannt ein. Neben ihr auf der Hollywoodschaukel, die sanft im Rhythmus einer unsichtbaren Brise hin und her wiegte, lehnte ihre Partnerin Fee Binninger, zweifach geschiedene Schulte und Watzlawick, den Kopf an Rosmaries Schulter. Die beiden galten als unzertrennliches Paar seit Rosmarie vor anderthalb Jahren mit Fees Hilfe als gewiefte Redenschreiberin in das höchste Amt der Touristenhochburg gewählt worden war.
Fee, eine Journalistin und Influencerin mit scharfem Verstand und einer unstillbaren Neugier für die Geschichten hinter den Schlagzeilen, legte ihren Arm um Rosmarie und zog sie näher an sich heran. Die Geräusche der Stadt waren fern, gedämpft vom Summen der Bienen, dem gelegentlichen Rascheln der Blätter und dem Plätschern des Springbrunnens inmitten des Seerosenteichs. Es war einer dieser seltenen erfüllten Augenblicke, in denen die Zeit bedeutungslos schien, und die ganze Welt auf die Größe dieser intimen Idylle geschrumpft war.
Die zehn Jahre jüngere Fee, die wegen der brütenden Hitze nur mit einem Bikini bekleidet war, stand auf, ging in die rustikale Küche und brachte Rosmarie ein großes Glas kühle Waldmeisterbowle mit Schuss. Die schlanke, naturblonde Oberbürgermeisterin, der man ihren Beruf nicht ansah – man hätte aufgrund ihres umwerfenden Aussehens eher auf ein mittelreifes Katalogmodel getippt – räkelte sich, richtete sich auf und nahm einen Schluck aus dem dargereichten Kristallglas. Die Nachmittagshitze hatte sie ausgezehrt und erneut durstig gemacht. „Es könnte ruhig einmal wieder regnen“, sagte sie Fee, die ihren Kopf auf Rosmaries Schoss gelegt hatte, und strich ihr zärtlich über den Rücken.
Sie hörten im Radio, das auf einem Fensterbrett der edelsanierten Villa stand, SWR3 „am Mittag“. Fee summte einen angestaubten Hit von Madonna mit. Die Hitze ließ die Luft vibrieren und von der Anlegestelle der Weißen Flotte her dröhnte dumpf ein Schiffhorn. „Drei Uhr, die MS Überlingen. Kapitän Seliger“, sagte die 42-jährige Oberbürgermeisterin, die sogar die Fahrpläne der Ausflugsschiffe vor ihrer Wahl auswendig gelernt hatte, um sicherzugehen, alle etwaigen Fragen der Wählerschaft beantworten zu können.
Das Schiff legte tatsächlich pünktlich an, denn aus dem Radio tönten nun die 15-Uhr-Nachrichten. Rosmarie lauschte halb im Dämmerzustand, halb aufmerksam, wie der Sprecher monoton die üblichen Geschehnisse verkündete. Sie merkte erst auf, als er am Ende mit eindrücklicherer Stimme sagte: „Und nun noch eine ganz besondere Wettermeldung für den Bodenseeraum. Ich übergebe an unseren Wettermann“. „Hör zu“, sagte sie zu Fee, „da kommt was!“ Wegen des ohrenbetäubenden Zwitscherns der Vögel in den Sträuchern eilte sie zum Fenster und drehte die Lautstärke des Radios auf.
„Eine massive Gewitterfront zieht von Westen heran“, teilte die besorgte Stimme des Mannes im Radio mit. „Vor allem im Bereich des Bodensees ist am frühen Abend mit heftigen Niederschlägen und Unwettern zu rechnen. Von Veranstaltungen im Freien wird abgeraten.“
„Na, siehst du“, lachte Fee. „Du wolltest ja unbedingt, dass es regnet. Und was Frau Oberbürgermeisterin sich wünscht, das wird sofort gemacht!“ „So ist es recht“, gab Rosmarie mit nicht nur gespielter Arroganz zurück. „Nur schade, dass es dann wohl mit unserem Zucchini-Grillabend nichts mehr wird. Wir können es uns ja drinnen bei einem Rosé mit Kerzen und etwas Musik gemütlich machen.“
Ihr Haar, hell und glänzend wie das Sonnenlicht, fiel in weichen Wellen über ihre Schultern. Es war stets perfekt frisiert, ein äußeres Zeichen der Kontrolle, die sie in allen Aspekten ihres Lebens ausübte. Das blonde Haar umrahmte ein Gesicht, das auf den ersten Blick sanft und einladend wirkte – hohe Wangenknochen, volle Lippen, und ein Lächeln, das sie im Handumdrehen aufsetzen konnte. Doch hinter dieser perfekten Fassade lag etwas Unerbittliches, eine Härte, die sich in ihren stahlblauen Augen spiegelte. Diese Augen, so kühl und klar wie ein Winterhimmel, ließen keinen Zweifel daran, dass sie gewohnt war, das zu bekommen, was sie wollte. Sie waren aufmerksam, forschend, immer auf der Suche nach Schwächen in ihren Gegnern und Möglichkeiten, ihre Macht auszubauen.
Rosmarie lächelte und legte ihre Hand auf Fees. „Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor der Wolkenbruch kommt“, sagte sie leise, als wollte sie diesen innigen Moment mit ihrer Liebsten festhalten. In ihren Gedanken regten sich bereits die Pflichten, die Verantwortung, die auf sie als Oberbürgermeisterin zukommen könnten. Denn ein drohendes Unwetter konnte bedeuten, dass sie bald nicht mehr nur die verliebte Frau sein konnte, die hier in der Sonne lag, sondern wieder ihren beruflichen Verpflichtungen nachgehen und Entscheidungen treffen musste.
„Ja! Lass uns den Tag noch ein wenig genießen, bevor der Sturm kommt“, flüsterte Fee und zog Rosmarie wieder dicht an sich. Und für einen kostbaren Augenblick schloss Rosmarie ihre Augen und erlaubte sich, nur die Wärme und das Hier und Jetzt zu spüren.
Dr. Karlo Schmid war ein in Fachkreisen bekannter Agrarwissenschaftler. Er betrachtete die Welt durch die präzise Linse der Logik und Empirie. Sein Körper war schmal, fast hager, als ob all seine Energie in seinen wachen Geist floss, anstatt in seine physische Erscheinung. Die Schultern leicht nach vorne gebeugt, wie von der Last des Wissens, das er trug, oder vielleicht von den unzähligen Stunden, die er über Büchern verbracht hatte.
An diesem sonnigen Sonntagnachmittag jedoch, als er die schattigen Pfade zwischen dem kleinen Ort Aufkirch und dem Hödinger Berg entlangwanderte, erlaubte er sich – sogar als er an einem zu dürren Maisfeld und einem mehltaubefallenen Zuckerrübenacker vorbeikam – für einmal seine Disziplin zu vergessen und seinen Gedanken nachzuhängen. Zu sehr bedurfte er der Erholung von dem Schock, den ihm der völlig unerwartete Tod seiner geliebten Trudi vor einer Woche beschert hatte.
Sein Gesicht war schmal und von feinen Linien durchzogen, die von den vielen Jahren intensiven Denkens und der Anspannung stammten. Die großen, dunklen Augen, hinter einer schlichten, runden Brille verborgen, funkelten vor Intellekt und Neugier. Sie hatten etwas Forschendes, als könnten sie durch die Oberfläche der Dinge direkt in das Herz der Materie blicken. Der pensionierte Witwer suchte Abstand zu den alltäglichen Dingen. Er wollte ab nun nur noch Schönes sehen, kein Leiden, keine Tränen und kein Vergehen mehr. Die Wanderung im Hinterland von Überlingen mit Ausblick auf die Schweizer Berge tat ihm gut. Der schwüle Nachmittag, die Schritte durch Wälder und über Felder, lenkten ihn ab und weckten in ihm ein Staunen über die maßlose Üppigkeit der Natur, das tief in jedem Menschen schlummert.
Der Pfad war ausgetreten und schmal, flankiert von hohen Gräsern, die sich im sanften Wind wiegten. Die Sonne stand hoch am Himmel, ihr Licht flimmerte durch das Blätterdach der alten Eichen, die den Weg säumten. Karlo ließ seine Finger durch die Spitzen der Gräser gleiten und atmete tief die warme Luft ein, die nach Sommer und trockener Erde roch. Das Haar, leicht zerzaust und graumeliert, stand in alle Richtungen ab, als ob er es sich während des Nachdenkens unbewusst durchwühlte.
Als er bald danach den höchsten Punkt des Hödinger Bergs erreicht hatte, blieb er stehen und ließ seinen Blick über den Bodensee schweifen. Der See lag unter ihm wie ein endloses blaues Band, das sich wohlig im Sonnenlicht spiegelte. Segelboote glitten gemächlich über die weiche Wasseroberfläche, weiße Dreiecke auf tiefblauer Leinwand. Die Insel Mainau schimmerte in der Ferne, ein grünes Juwel inmitten des glitzernden Wassers.
Karlo hob eine Hand, um seine Augen vor der Sonne zu schützen, und sah in die Ferne. Der Himmel war makellos blau, das prickelnde Hellblau eines perfekten Sommertages. Nur weit im Westen sammelten sich ein paar graue Wolken, kaum mehr als ein schmaler Streifen am Horizont. Sie wirkten noch unschuldig, wie flüchtige Schatten, die den unschuldigen Himmel nur leicht trübten. Doch Karlo wusste es besser. Er hatte auf dem Internet die meteorologischen Karten eingesehen. Er wusste, dass das, was dort am Horizont lauerte, mehr bedeutete als nur eine vorübergehende Laune des Wetters.
Mit einem leisen Seufzen nahm er seinen Rucksack ab und setzte sich auf die rote Parkbank unter der ausladenden Linde. Seine Kleidung war funktional, beinahe achtlos gewählt – ein alter Tweedanzug und ein knittriges Hemd. Die Schuhe waren abgewetzt von langen Spaziergängen, wo er seinen Gedanken nachhing. In seinem Gepäck hatte er eine abgenutzte Ledermappe, darin ein Papierblock, dessen Seiten voll von Formeln, Skizzen und Beobachtungen waren. Doch an diesem Tag war dieser Block nur ein stiller Begleiter, denn Karlo fühlte sich – angesichts des Verlustes seiner Frau – abgekoppelt von den wissenschaftlichen Problemen, die ihn normalerweise beschäftigten.
Sein Blick glitt über die leicht gewellten Hügel, die sich in Richtung des Sees absenkten, und er stellte sich vor, wie die Wolken in wenigen Stunden dicker und dunkler werden würden, wie sie sich bedrohlich über die Landschaft schieben und schließlich ihre Last über dem Bodensee entladen würden. Er wusste, dass es ein heftiger Sturm werden könnte, doch hier, in diesem Augenblick, war es schwer zu glauben, dass diese friedliche Szene bald von Donner und Blitz zerrissen werden würde.
Nach einer Weile in Gedanken versunken, stand er schließlich auf und setzte seinen Weg fort, der ihn hinab zum Schloss Spetzgart führte. Das Schloss, eine altehrwürdige Anlage, lag in exponierter Prachtlage über dem See. Karlo kannte den Weg zurück nach Überlingen auswendig. Der Hödinger Berg war einer seiner Lieblingsplätze, ein Ort, an dem er bereits als Heranwachsender oft Zuflucht gesucht hatte, wenn ihm die Welt zu laut und die Gedanken zu schwer geworden waren.
Während er den steilen Hang hinunterging, hielt er immer wieder inne, um den Anblick des Bodensees und des gegenüberliegenden Bodanrücks ein letztes Mal zu genießen, bevor der Himmel sich bald schließen und das Licht schwinden würde. Sein Gang war unsicher, manchmal fast stolpernd, als wäre er mehr in seinem Kopf als in der Realität verankert.
Die Wolken im Westen wirkten nun schon ein wenig bedrohlicher, ihre Kanten schärfer, als ob sie sich auf den bevorstehenden Kampf gegen die Sonne vorbereiteten. Karlo spürte eine seltsame Vorahnung in sich aufsteigen, eine Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und einem tiefen, archaischen Respekt vor den Kräften der Natur.
Als er das Schloss erreichte, war der Himmel direkt über ihm noch immer blau, doch über dem See war die Grenze zwischen Himmel und Erde bereits undeutlich geworden, verschmolzen zu einem düsteren Grau. Davor prangte bedrohlich eine schwarze Wand. Karlo blieb auf dem Panoramasträßchen, das nach Goldbach und zum Ufer hinunterführt, noch einmal kurz stehen, blickte auf den sich langsam eindunkelnden Bodensee und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Sturm losbrach. Die Getreideähren und Rebenblätter bewegten sich zart im trügerisch leichten Wind. Er beschleunigte seine Schritte, um noch vor dem Anbruch des Regens in seinem Zuhause in der „Dorf“ genannten spätmittelalterlichen Oberstadt von Überlingen anzukommen.
Fee und Rosmarie brachten die Kuchenteller, Gläser und das Kaffeegeschirr hinein und bedeckten die Hollywoodschaukel mit einer Allwetterplane. Rosmaries Gang war fest und sicher, jeder Schritt eine Aussage: Hier bin ich, und ich werde nicht gestoppt. Sie war eine Frau, die die Zügel fest in der Hand hielt, und das wusste sie. Jede Bewegung, jede Geste war kalkuliert und zielgerichtet – ein Spiegel ihrer Entschlossenheit.
Ganz fern im Hintergrund vernahmen sie ein erstes Grollen. Fee schloss die Tür und schlüpfte in einen langen Rock, da die heranrollende Gewitterzelle bestimmt einen Temperatursturz mit ich bringen würde.
Kurz darauf schloss Dr. Schmid in der Friedhofstrasse die alte hölzerne Haustür auf. Ein erster Tropfen traf sein Brillenglas.
Über dem Bodensee begann die Welt sich zu verändern. Der Himmel, der noch vor wenigen Stunden in ungetrübtem Blau erstrahlt hatte, färbte sich nun in düstere Grautöne. Die ersten Anzeichen des herannahenden Unwetters waren fast unmerklich, doch für diejenigen, die aufmerksam waren, lag eine Spannung in der Luft. Von Westen her rollten die Wolken heran, dick und dunkel, wie ein drohender Schatten, der sich langsam, aber unaufhaltsam über das Land schob.
Das Grollen begann leise, ein entferntes Murmeln, das sich in der Stille der späten Nachmittagshitze verlor. Doch bald wurde es lauter, durchdrang die Landschaft wie der Schlag eines gewaltigen Herzens, dessen Puls die Erde zum Beben brachte. Blitze zuckten über den Himmel, Risse aus grellweißem Licht, die den Wolkenberg kurzzeitig zerrissen und dann wieder in die Dunkelheit zurücksanken. Mit jedem neuen Donnern schien der Himmel tiefer herabzusinken, als wollte er die Erde verschlingen.
Die Schwüle war unerträglich geworden. Eine elektrische Spannung lag in der Luft. Die Ahnung eines kommenden Unheils ließ wirre Gedanken durch die Köpfe schießen. In den Gärten von Überlingen flüchteten die Vögel hektisch in die Bäume, ihre Flügel schlugen wild in der aufkommenden Brise, die bereits die ersten Blätter von den Zweigen riss. Die Tiere spürten die Bedrohung instinktiv, ihre Bewegungen wurden hastiger, unsicher. Katzen duckten sich unter Sträucher, Hunde jaulten und bellten. Selbst die Insekten schienen zu verstummen, ihre summenden Geräusche ertranken im Rauschen des herannahenden Sturms.
Die Menschen spürten nun ebenfalls das Nahen des plötzlichen Wetterumschwungs, zunächst als ein Knistern in der Luft, das die Haare im Nacken aufstellte und ein unbehagliches Gefühl im Magen hinterließ. Die friedvolle Stimmung des Sonntags verblasste, als ob die Natur eine unsichtbare Hand ausstreckte und nach allem griff. Fensterläden wurden hastig geschlossen, Gartengeräte in die Schuppen gebracht. Aus den Häusern von Überlingen blickten die Bewohner besorgt zum Himmel, von wo die ersten schweren Tropfen auf die Erde prasselten, jeder einzelne ein Vorbote des kommenden Unwetters.
In den Straßen wurden die letzten Passanten, die sich noch nicht in ihre Behausungen gerettet hatten, von einer plötzlichen Bö erfasst, die wie ein kalter Atemzug aus dem Nichts erschien und die Luft zum Kreischen brachte. Blätter und Staub wirbelten auf, Äste knarrten bedrohlich in den Wipfeln der Bäume. Das Licht wurde seltsam, verfärbte sich zu einem unheilvollen Gelb, bevor es rasch in mattes Beige und dann in ein bedrohliches Dunkel überging. Die Welt schien in einem bizarren Zwielicht zu stehen, weder Tag noch Nacht, sondern etwas Unheimliches dazwischen.
Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel, diesmal so nahe, dass das Licht die Schatten der Alleebäume auf den Straßen tanzen ließ. Das Donnern folgte unmittelbar darauf, eine gewaltige Explosion, die die Gebäude wie ein Erdbeben erzittern ließ. Die Deckenleuchten schwankten und Geschirr klirrte. Kinder, die bis jetzt noch mutig an den Fenstern gestanden hatten, wurden von ihren besorgten Eltern zurückgerufen, die Rollläden wurden eilig heruntergelassen. Die Stadtbewohner schlossen sich ein, verbarrikadierten sich gegen die unbändige Gewalt, die sich am Firmament zusammenbraute.
Über dem Bodensee hatte der Sturm nun die Macht ergriffen. Die Wasseroberfläche, die zuvor ruhig und spiegelglatt gewesen war, verwandelte sich in ein tobendes, aufgewühltes Meer. Wellen brachen sich mit weißem Schaum an den Ufern, und die Boote, die trotz der wild flackernden Sturmwarnung noch immer auf dem See waren, kämpften verzweifelt gegen die entfesselten Naturgewalten. Der Wind heulte über das Wasser, trieb es in hohen Gischtfontänen an die Ränder. Erste Wassermassen klatschten knallend auf die Seepromenade. In den Pfützen schimmerten die nun unablässig feuernden Blitze. Der Himmel wurde schwarz, ein undurchdringliches Gewölbe, aus dem die Funken in kurzen, gleißenden Schüben herabstürzten.
Das erste Donnergrollen war in einen unaufhörlichen Strom aus Krach und Blitz übergegangen, der die Stadt in eine unnatürliche Dämmerung tauchte. Es war kein einfaches Gewitter mehr, das über die Stadt hereinbrach, sondern eine Urgewalt, die nichts und niemanden verschonte. Türen schlugen, der Wind rüttelte an den Dächern, und die Straßen wurden innerhalb weniger Minuten von strömendem Regen überschwemmt. Die Menschen, die sich in Sicherheit gebracht hatten, starrten in die Finsternis, ihre Herzen schlugen schnell, gefangen in Angst und Ehrfurcht.
Der Sturm warf sich mit voller Wucht auf den Ort. Die Häuser ächzten unter dem Ansturm der Windmassen, Regen trommelte wie Gewehrsalven auf die Dächer, vor den Türen bildeten sich reißende Bäche. Es wurde schlagartig kälter. Das Grollen des Donners war unaufhörlich, ein ständiges, ohrenbetäubendes Dröhnen, das den Weltuntergang erahnen ließ.
Während die Menschen sich in ihren Häusern verschanzten, als könnten sie die Launen der Natur durch dicke Mauern und verschlossene Fenster aussperren, stand die Natur draußen in ihrer vollen, rohen Kraft. Es war, als ob die Welt selbst eine Warnung aussprach, ein Mahnruf an all jene, die glaubten, die Erde sei nur ein ruhiges, gutmütiges Zuhause, das geduldig alle Versuche der Menschen, es zu zerstören, hinnehmen und sich nicht wehren würde.
Besorgt schaute die Oberbürgermeisterin hinaus in ihren Garten. Der starke Regenguss und ein brüllender Sturmhauch hatten die Pflanzen umgeknickt und die Hollywoodschaukel umgeworfen. Der neue Barbecue-Grill war gegen die Rückwand des Hauses geschleudert worden. Rosmarie seufzte, da sie ahnte, dass es nun vieler Stunden Gartenarbeit bedurfte, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Und wahrscheinlich würden am nächsten Morgen im Rathaus zahllose Meldungen über Schäden an Oberleitungen und Straßen, über umgestürzte Bäume und geknickte Laternen eingehen. Sie atmete tief durch und kippte den Rest ihres Rosé hinunter. Fee hatte sich im Schlafzimmer die Bettdecke bis über die Schultern gezogen und summte „Es regnet, es regnet, die Erde wird nass…“
Die Nacht senkte sich über Überlingen. Doch statt der erhofften Ruhe brachte sie nur noch mehr Unheil. Der Regen fiel nun in dichten Vorhängen, und der Wind hatte an Stärke gewonnen, peitschte durch die Straßen und zerrte an allem, was nicht fest verankert war. Grelle Blitze zuckten unablässig über den Himmel, erhellten die schwere Dunkelheit für Sekundenbruchteile, nur um sie danach noch schwärzer erscheinen zu lassen.