Herrn Lämmles ausgefallener Traum von Freiheit, Glück und Sonnenschein - Friedrich von Schilbach - E-Book

Herrn Lämmles ausgefallener Traum von Freiheit, Glück und Sonnenschein E-Book

Friedrich von Schilbach

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Beschreibung

Die Erzählung "Herrn Lämmles ausgefallener Traum von Freiheit, Glück und Sonnenschein" handelt von der Sehnsucht eines kleinen Beamten nach Ruhe vor seiner Frau und der Arbeit und der Suche nach Erlebnissen. Er ändert sein Leben radikal und fährt mit einem Wohnmobil durch Europa. Lämmle ist ein scharf beobachtender, aber zynischer Misanthrop, der immer wieder in unglaubliche und unterhaltsame Geschichten eintaucht.

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„Woanders ist es auch nicht besser.“

oder:

„Wo immer du hingehst Es nützt nichts. Wo du auch seist Du entrinnst nicht. Am besten wird es sein Du bleibst sitzen Und wartest Auf das Ende.“

(Bertolt Brecht: Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

An einem trüben Dienstagmorgen versank Herr Lämmle im Büro auf YouTube gebannt in eine Videoanimation. Sie trug den Titel: „Zeitraffer der Zukunft: Eine Reise ans Ende der Zeit.” In hypnotisierendem Tempo entfaltete sich auf dem Bildschirm die gesamte Geschichte der Erde, der Milchstraße und des Universums. Ein rasanter Ritt durch die Zeit. Er sah, wie das Magnetfeld der Erde im Jahr 2800 kippte und wie bis zum Jahr 5000 der Meeresspiegel unaufhörlich anstieg. Im Jahr 63‘000 endete die Warmzeit. Danach wurde es auf unserem Planeten durch Vulkanausbrüche und Asteroideneinschläge so richtig ungemütlich. Spätestens im Jahr 8‘300‘000 löschte ein tödlicher Gammastrahlenblitz einen Großteil allen Lebens aus. Im Jahr 40‘000‘000 schmolz dann die Antarktis. Das wunderte Herrn Lämmle. Er hatte das Ende des Eises um den Südpol schon sehr viel früher erwartet, denn dies sagten die Klimaschützer bereits seit Jahrzehnten panisch voraus. „Nun denn“, dachte er, „schlecht Ding will Weile.“ Er schaute weiter. Rund 150 Millionen Jahre in der Zukunft entstand auf der Erde ein neuer Superkontinent. Nach 400 Millionen Jahren, als die Leuchtkraft der Sonne anstieg, wurde es vollends ernst. Denn dies führte zum Ende der Photosynthese und dem Absterben der Pflanzen. Nach rund einer Milliarde Jahren verdampften schließlich die Ozeane. Um das Jahr 2,8 Milliarden war es auf der Erde so heiß geworden, dass jegliches Leben verschwunden war. Die Sonne dehnte sich weiter aus und blähte sich nach 5,5 Milliarden Jahren zu einem roten Riesen auf. In 7 Milliarden Jahren von heute wurde dann die Erde durch die sterbende Sonne zerstört. Das genügte eigentlich schon. Lämmle wurde schwindlig. Da war das Video aber erst 3 Minuten und 18 Sekunden alt. Der Zeitraffer lief gnadenlos und exponentiell weiter. Es wurde immer verrückter. Zur Hälfte der Animation war Herr Lämmle bereits bei über 500 Milliarden Billionen Billionen Billionen Jahren angelangt. Sein Verstand hatte schon längst kapituliert. Verstört knabberte er an seinem Mandelhörnchen und spulte das Video bis zum Ende vor. Bis zum Jahr 10100. Da ging im Universum für immer das Licht aus. Die Zeitreise hatte seine Vorstellungskraft mehr als gesprengt und ihm die Dimensionen der kosmischen Zeitläufte vor Augen geführt. Ein schwindelerregendes Gefühl der Unendlichkeit und gleichzeitig der eigenen Vergänglichkeit ließ ihn verloren und erschöpft auf seinem Bürostuhl zurück.

Kopfschmerzen plagten ihn, er konnte es aber nicht lassen. Erneut vertiefte er sich in den Anfang der Zeitraffer-Animation. Er befand sich wieder im Jahr 2800. „Was für ein Segen, dass ich solche Zeiten nicht durchleben muss“, reflektierte er. Behutsam schob er den Regler zurück in Richtung Gegenwart. 2300, 2200, 2100 – diese Epochen waren für ihn noch nachvollziehbar. Er beobachtete, wie sich die Lebensbedingungen auf der Erde durch den menschengemachten Klimawandel und die zunehmende Urbanisierung dramatisch veränderten. Im Jahr 2075 war sein Heimatplanet bereits kaum mehr wiederzuerkennen. Ab 2043 entstand eine Siedlung auf dem Mars. Ein vergeblicher Versuch des Entkommens. Herr Lämmle fragte sich, ob er die Kolonisierung des roten Planeten noch erleben würde. Er würde dann bereits 80 Jahre alt sein. „Wenn das hier alles so weitergeht“, sinnierte er, „die Zerstörung der Umwelt, die Kriege, frage ich mich schon, ob ich überhaupt die nächsten 20 Jahre erleben werde – und wenn doch, ob ich dann noch gesund genug sein werde, um das Leben hier zu genießen. Und selbst, wenn ich dazu in der Lage sein werde: Möchte ich das alles überhaupt noch?“

Herr Lämmle stand von seinem Schreibtisch auf und ging zum Kaffeeautomaten. Es war 7:30 Uhr. Wie üblich war er in aller Frühe ins Büro gegangen, um der häuslichen Enge und ehelichen Öde zu entfliehen. Bis 8 Uhr, wenn allmählich sein Vorgesetzter und die Kollegen eintrafen, hatte er Zeit, nachzudenken und ungestört im Internet nach Informationen zu suchen, die sein Interesse weckten. Üblicherweise verließ er sein Zuhause bereits um halb Sieben, dreißig Minuten bevor seine Frau erwachte. So konnte er den morgendlichen Unterhaltungen in den heimischen Mauern geschickt aus dem Weg gehen.

Er stand mit einem Becher faden Automatenkaffees in der Mitarbeiterküche der Stadtkämmerei und betrachtete die vertrockneten Rosinenbrötchen vom Vortag, die jemand aus Anlass des 50. Geburtstags einer Kollegin mitgebracht hatte. Da aber die meisten im Home-Office gearbeitet hatten, waren die Backwaren übriggeblieben. Niemand wollte sie mehr. Lämmle steckte sie in eine Plastiktüte, um sie am Abend auf dem Heimweg an die Schwäne im See zu verfüttern. Danach schweiften seine Gedanken zurück zur Videoanimation: „Erleben! Ja, das wäre es. Einmal etwas wirklich erleben. Etwas Aufregendes und Spannendes tun. Einfach etwas anderes, statt nur die verbleibenden fünf Jahre bis zur Pensionierung jeden Morgen 4578 Schritte von der Haustür bis zu meinem abgewetzten Bürostuhl zurückzulegen und abends müde wieder nach Hause zu schleichen.“

2

Herr Lämmle versah seinen Dienst in der Kämmerei der Stadt Überlingen am Bodensee nun schon seit 45 Jahren. Im Lauf der Jahre hatte die Behörde mehrmals ihren Namen geändert und war einige Male umstrukturiert worden. Doch die Tätigkeiten, die hinter den dicken Mauern des historischen Gebäudes verrichtet wurden, blieben im Wesentlichen die gleichen. Während seiner Dienstzeit war nicht viel Aufregendes geschehen. Vor sieben Jahren hatte er einen neuen Schreibtisch erhalten, und vor vier Jahren wurde sein Dienstcomputer ausgetauscht. Ansonsten hatte sich wenig verändert. Herr Lämmles Arbeitsplatz entsprach genau dem Bild, das man sich von einer miefigen Amtsstube macht. An den Decken der kalten Flure breitete sich gemächlich der schwarze Schimmel aus, und wenn das fahle Sonnenlicht durch die kleinen Butzenglasfenster in die engen Büros fiel, roch das auf morschen Regalen aufgetürmte Papier staubig.

Friedbert Lämmle trug jeden Tag einen mausgrauen Anzug. Davon besaß er drei identische Exemplare, die seine Frau ihm einmal bei einer Ladenaufgabe günstig gekauft hatte. Dazu kombinierte er hellbraune Schuhe von Salamander. Das war die Marke mit dem Lurchi. In Lämmles Kleiderschrank hingen vier weiße Hemden und drei Krawatten: eine smaragdgrüne und eine rubinrote, die er abwechselnd bei der Arbeit trug, sowie eine schwarze, die er sich bei Beerdigungen oder an Feiertagen umband. Er besaß keine eigentliche Freizeitkleidung. An den seltenen Urlaubstagen – er nahm kaum Urlaub, sondern ließ sich die Ferientage lieber auszahlen, da er ohnehin kaum wusste, was er mit seiner freien Zeit anstellen sollte – trug er gebügelte Cordhosen und ein – für ihn sehr gewagtes – kariertes Holzfällerhemd.

An seiner Bürotür hing ein vergilbtes Schild: „Hr. Lämmle, Sachbearbeiter Hundesteuer“. Mit 16 Jahren hatte er bei der Stadtverwaltung im damaligen Steueramt eine Lehre als Verwaltungsfachwirt begonnen. Viele Jahre seines Lebens hatte er im immer gleichen Raum verbracht. Mit Anfang 50 wurde er schließlich vom Sachbearbeiter Grundsteuer zum stellvertretenden Sachgebietsleiter Steuer befördert, nachdem der bisherige Amtsinhaber wegen eines Herzinfarkts frühzeitig in den Ruhestand versetzt worden war. Knapp fünf Jahre lang durfte sich Herr Lämmle der Position des stellvertretenden Chefs erfreuen. An den seltenen Tagen, wenn der Sachgebietsleiter Steuern, Herr Rübsamen, abwesend war, erhielt Herr Lämmle die nachgeordnete Befugnis, eigenständig Entscheidungen zu treffen, die er mit äußerster Sorgfalt und Umsicht vornahm, um ja keinen Fehler zu riskieren. Als er einmal einen Urlaubsantrag der Sachbearbeiterin Frau Wengle zu unterzeichnen hatte, verspürte er zufrieden ein gewisses Gefühl von Macht. Endlich hatte er auch einmal etwas zu sagen! Die meiste Zeit jedoch war der Stellvertreter des Sachgebietsleiters nichts weiter als dessen Sekretär, der ihm Fotokopien anfertigen, Briefkuverts beschriften und nachmittags den Schwarztee bringen musste. Ohne Zucker, dafür mit einem Spritzer Zitronensaft.

Wenige Jahre später wurde die Stadtverwaltung neu organisiert. Ein Berater von McKinsey war angeheuert worden, um die Arbeitsprozesse zu beschleunigen, Bürokratie abzubauen und ein resultatorientiertes Management einzuführen. Nach vier Monaten intensiver Arbeit legte der Berater seinen Bericht vor. Dieser kostete 80‘000 Euro und brachte als einzig nennenswerte Neuerung die Streichung einer Stelle im Bereich Steuern mit sich. Ab nun gab es in der neu geschaffenen Abteilung Kämmerei und Controlling, die dem Fachbereich 1 – Finanzen, Beteiligungen und Grundstücksmanagement – untergeordnet war, neben dem Sachgebietsleiter Steuern und seinem Stellvertreter nur noch zwei Kolleginnen. Eine davon, Frau Wengle, war zuständig für die Spitalverwaltung und die städtischen Grundstücke, während die andere, Frau Ginter, sich um Fremdenverkehrsbeitrag, Gewerbesteuer und Hundesteuer zu kümmern hatte.

Das Portfolio der Hundesteuer wurde später, anlässlich einer erneuten Umstrukturierung, Herrn Lämmle übertragen. Diese Rochade wurde von Herrn Rübsamen aufgrund Herrn Lämmles Erkrankung durchgeführt. Dieser hatte im Dienst eine transitorische ischämische Attacke erlitten, eine vorübergehende neurologische Funktionsstörung, die durch eine kurzzeitige Unterbrechung der Durchblutung einer Hirnregion verursacht worden war. Im Bodenseealemannischen wird eine solche Krankheit, die einem ausgewachsenen Schlaganfall vorausgehen kann, verniedlichend als „Schlägle“ bezeichnet.

Dieses „Schlägle“ wurde für Herrn Lämmle zu einem richtigen Schlag im Leben. Die heimtückische Krankheit hinterließ ihre Spuren. Etwas blieb zurück. Als er nach drei Wochen vom Krankenbett zurück ins Büro kam, glaubten alle – fälschlicherweise – dass er sich wieder vollständig erholt hatte. Nur Herr Lämmle bemerkte – aber teilte es keinem mit – dass seine Konzentrationsfähigkeit stark abgenommen hatte und auch seine Leistungsfähigkeit geringer geworden war. Er wurde nun schnell müde und zeigte sich öfter gereizt und ungeduldig. Schließlich begann er auch, Fehler zu machen. Bilanzen stimmten nicht mehr, Zahlen waren vertauscht und Daten in falschen Spalten eingetragen. Diese qualitativen Veränderungen in Herrn Lämmles Arbeit entgingen den beiden jungen Kolleginnen natürlich nicht. Hinter Herrn Lämmles Rücken informierten sie ihren Chef, Herrn Rübsamen. Und so tauchte der eines Tages mit einem graugrünen Aktenordner in Herrn Lämmles Büro auf und hielt ihm eine Reihe von Inkorrektheiten vor. Er ermahnte Herrn Lämmle, umsichtiger und aufmerksamer zu sein. Dies erhöhte den ohnehin schon starken Druck, den Lämmle tagtäglich verspürte.

Herr Lämmle überprüfte nun jede Summe zwei- oder dreimal, addierte lange Zahlenreihen mit dem Taschenrechner und musste immer wieder feststellen, dass sich doch irgendwie ein Irrtum eingeschlichen hatte. So verbrachte er immer längere Zeit damit, seine Arbeit akkurat zu erledigen, was bald dazu führte, dass die Papierberge auf seinem Schreibtisch stetig anwuchsen. Dies wiederum gab seinen Kolleginnen zusätzlichen Anlass zum Tuscheln und führte auch zu Beschwerden von Bürgern, die sich in der Bearbeitung ihrer Anliegen vom Amt vernachlässigt fühlten. Herr Rübsamen war über diese Entwicklungen bestens im Bilde. So sehr er hoffte, Herrn Lämmle in seiner Rolle als stellvertretender Sachgebietsleiter halten zu können – musste er sich doch eingestehen, dass ein Festhalten an seinem langjährigen Mitarbeiter bald auch ein schlechtes Bild auf ihn selbst werfen würde.

Eines Morgens, nachdem Herr Rübsamen während der gemeinsamen Kaffeepause des Teams – sie hatten Zimtschnecken – noch mit Lämmle über die schlechte Leistung der Fußballnationalmannschaft am Vorabend gescherzt hatte, rief er diesen zu sich, um ihm zu eröffnen, dass er ab sofort einen neuen Aufgabenbereich zugewiesen bekäme. Nämlich Hundesteuer. Den schrecklichen Begriff „Degradierung“ vermied Herr Rübsamen sorgsam. Seit diesem Tag war Herr Lämmle Sachbearbeiter für Hundesteuer. Nur Hundesteuer. Die Dossiers für Fremdenverkehrsbeitrag und Gewerbesteuer behielt seine Kollegin, Frau Ginter, die nun zusätzlich die Stellvertretung des Sachgebietsleiters innehatte. Dabei war Frau Ginter doch erst vor zwei Jahren frisch von der Universität gekommen! Sie hatte sich dort ihren hervorragenden Abschluss in Steuerrecht mit drei Professoren sozusagen erschlafen. Ein junges Ding zudem noch, dem all die praktische Erfahrung abging, die Herr Lämmle während Jahrzehnten angesammelt hatte. Doch Lämmle musste einsehen, dass die Jugend ihm über den Kopf gewachsen war und ihn auf der Karriereleiter, die für ihn mit der Rückstufung nun zu Ende war, leichtfüßig überholte.

3

Statt ihn zu unterstützen und ihm beizustehen, begann seine Frau, Lämmle zu kritisieren. „Friedbert, wie kannst du dir so etwas nur gefallen lassen?“, schalt sie ihn, als er ihr am Abend die Nachricht über seine neue Position in der Amtshierarchie überbrachte. „Stell dich auf deine Hinterbeine und kämpfe um dein Ansehen! Hast du nicht erzählt, du hättest beim letzten Bürgerempfang im Kursaal mit dem Oberbürgermeister mit Sekt angestoßen? Dann kennst du ihn doch. Geh zu ihm, beschwere dich! Wenn er etwas von dir hält, dann bietet er dir doch bestimmt einen Amtsleiterposten in einem anderen Ressort an!“ Herr Lämmle wusste, dass alle seine Bemühungen in diese Richtung vergeblich wären. Nur um seine aufgebrachte Frau zu besänftigen, sagte er: „Ja, Edelgard, das werde ich tun. Gleich am Montag.“

Natürlich unternahm er nichts dergleichen. Er saß stumm in seinem Büro und wartete. Auf was, das wusste er nicht. Im Regal hinter ihm standen, chronologisch aufgereiht und penibel beschriftet, verstaubte Leitz-Ordner mit allen Vorgängen zur kommunalen Hundesteuer. Der Bestand reichte bis 1930 zurück.

4

Herr Lämmle war von eher trauriger Natur. Sein Gang war schleppend und sein Rücken von der Last des Lebens gebeugt. Einmal, auf dem Heimweg, begegnete ihm eine Gruppe Grundschüler. Offensichtlich hatten sie an diesem Tag im Unterricht Wilhelm Busch behandelt, denn als sie Herrn Lämmle bemerkten, zeigten sie auf ihn, brachen in Gelächter aus und riefen ihm „Meister Böck“ und „Meck, meck, meck!“ hinterher. Zuhause passte ihn schon seine Frau ab. Kein Wort der Begrüßung. Sie war gerade dabei, im kleinen Vorgarten Unkraut zu jäten. Als Herr Lämmle behutsam die schwere eiserne Gartentür hinter sich ins Schloss zog, wies sie mit einem Wink des Kopfes auf einen Haufen Blätter und Wurzeln und sagte: „Friedbert, du kommst gerade recht. Das gehört auf den Kompost.“ Herr Lämmle seufzte – einmal mehr – legte ab, zog sich im Keller eine grüne Latzhose an, schlüpfte in Gummistiefel und holte die quietschende Schubkarre und einen Laubrechen aus der Garage. Nach getaner Arbeit steckte er seine müden Füße in die beigen Filzpantoffeln, die er vor einigen Jahren als Geschenk von seiner Frau zu Weihnachten bekommen hatte. Dann ließ er sich im Wohnzimmer in seinen senfgelben Armlehnstuhl plumpsen, ächzte tief und widmete sich der Tageszeitung.

Um Punkt 18:30 Uhr – wie jeden Tag – brachte seine Frau einen Topf Suppe herein und stellte ihn neben die sorgsam drapierten tiefen Teller auf die mit Kirschmustern verzierte Tischdecke. Sie aßen schweigend. Als Herr Lämmle seinen Löffel beiseitelegte, fuhr sie ihn an: „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst den Löffel nicht ablecken! Das ist ja ekelhaft.“ „Aber ich habe ihn doch die ganze Zeit über im Mund gehabt“, versuchte Herr Lämmle sich zu rechtfertigen und die aufkommende Diskussion frühzeitig zu beenden. „Das ist nicht dasselbe“, fuhr sie ihn an. „Wenn du isst, dann isst du. Nach dem Essen brauchst du den Löffel nicht mehr abzulecken. Das gehört sich nicht!“ „Aha“, entgegnete Herr Lämmle, „das gehört sich nicht.“ Und dachte bei sich: „Was gehört sich dann?“ Sie hatten das nie ausdiskutiert. Frau Lämmle trug verschnupft den halbleeren Suppentopf hinaus, blieb geschäftig in der Küche, und Herr Lämmle genoss seine Ruhe. Nun konnte er sich den Sportteil der Zeitung zu Gemüte führen. Nicht, dass er sich besonders für eine bestimmte Sportart interessiert hätte – im Gegenteil, Sport war ihm gleichgültig, genauso wie Musik, Filme und alles Kulturelle. Er hatte auch keine politischen Standpunkte. Überhaupt keine eigene Meinung zu irgendetwas oder irgendjemandem. Er blätterte weiter in der Zeitung. Die angebliche Lektüre diente ihm als Vorwand, um nicht mit seiner Frau sprechen zu müssen. Was hätten er und sie sich nach 35 Ehejahren auch noch zu sagen gehabt? Da gab es nichts mehr. Was es gab, waren ihre Nörgeleien und Vorwürfe. Jeder „Hafekäs“, wie man unwichtige Kleinigkeiten in Überlingen nennt, wurde von ihr zu einem großen Drama aufgebauscht. Sie suchte beharrlich nach seinen Fehlern und ritt, wenn sie einen fand, stundenlang darauf herum. Selbst wenn Herr Lämmle einen seiner angeblichen Fehler längst vergessen hatte, zog sie ihn auch noch nach Jahren zu passender Gelegenheit unerbittlich aus den Tiefen ihres rachsüchtigen Gedächtnisses hervor, um ihn ihrem Mann erneut genüsslich vorzuhalten.

Jeder Mörder bekommt, wenn er seine lebenslängliche Strafe nach 25 Jahren durch Begnadigung abgesessen hat, eine zweite Chance. Nicht so Herr Lämmle. Seine Frau verurteilte ihn täglich zu einem Gefängnis der Höllenqualen. Auch wenn er unterwürfig und in vorauseilendem Gehorsam versuchte, jeglichen verbalen Fehltritt zu vermeiden und auch nichts zu tun, was durch die ihm angetraute Anklägerin und Richterin in einer Person als falsch oder ungebührlich ausgelegt werden könnte: Sie fand immer etwas – mit der Verlässlichkeit einer Schweizer Uhr. Dazu kamen Missverständnisse, unglückliche Interpretationen von Gesagtem und ihr ständiger Anspruch, immer Recht haben zu müssen. Herr Lämmle war von den täglichen Grabenkämpfen zuhause ausgezehrt und zermürbt. Er hatte es längst aufgegeben, gegen die manchmal ebenso überraschenden wie sinnfreien Vorwürfe seiner Frau anzukämpfen. Er griff seit langem schon zu Baldrianpillen und versuchte, seinen Blutdruck so gut wie möglich im Zaum zu halten. Oft verschwand er für eine halbe Stunde oder länger auf dem Klo, hauptsächlich, um Zeit zu gewinnen. Besonders am Wochenende, wenn er nicht ins Büro flüchten konnte. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er pensioniert wäre. Das Schlimmste für ihn wäre dann der plötzliche Wegfall seines Rückzugsortes im Amt. Die härteste Zeit seit seiner Hochzeit erlebte Herr Lämmle während der Corona-Pandemie. Die städtischen Mitarbeiter waren für lange Wochen ins Home-Office verbannt worden. Dort saß er dann, unbequem am kleinen Wohnzimmersekretär und jederzeit erreichbar für die Tiraden und Klagen seiner Frau. Manchmal gab er vor, er müsse einen Außentermin bei einem säumigen Hundehalter wahrnehmen, nur um dann bei einem Spaziergang in der Sonne seine Freiheit zu genießen und eine Ahnung vom Glück zu haben.

5

Edelgard Lämmle, geborene Schimpfle, war eine – man muss es bei aller Höflichkeit doch so ausdrücken – unattraktive Frau. Warum sie einst Friedbert Lämmle geheiratet hatte, vermochte sie sich selbst nicht mehr zu erklären. Er hätte darauf auch keine Antwort mehr gehabt. Es hatte sich damals wohl nur einfach so ergeben, und nun waren sie bereits ein ganzes Menschenleben lang zusammen. Aus ihrer Ehe waren keine Kinder entsprungen. Vielleicht, weil er nie den Bedarf daran und sie nie den notwendigen Mutterinstinkt entwickelt hatte. Auch hatte sie sich schon früh ihrer ehelichen Pflicht zum Beischlaf entzogen. Ihr Äußeres tat das seine dazu, dass Herr Lämmle auch keinen Bedarf mehr an Intimität mit ihr hatte. Seine Frau trug unter den knapp bodenlangen Röcken stets dicke Wollstrümpfe, bevorzugt in beige oder betongrau, und am Hals hochgeschlossene Blusen. Kein Mann wäre auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, sie aus triebhaftem Interesse anzusprechen. In ihrer selbstverursachten Unscheinbarkeit wurde sie in der Öffentlichkeit genauso übersehen wie ihr Gatte. Sie arbeitete als angelernte Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin in Teilzeit bei einer kirchlichen Einrichtung. Ihre Ambitionen reichten aber weiter als ihre Qualifikation. So bewarb sie sich fleißig um besser dotierte Stellen, auch um solche mit Personalverantwortung. Trotz 17 Jahren intensiver Suche hatte sie jedoch noch nie eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten. Bis sie einmal eine Einladung zu einem Interviewtermin bei der Stadtverwaltung bekam.