Der Weihnachtsmannmord - Anja Marschall - E-Book

Der Weihnachtsmannmord E-Book

Anja Marschall

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein wendungsreicher Weihnachtskrimi mit viel Lametta und Gefühl. Eddi, der Weihnachtsmann im Traditionskaufhaus Härtling, ist eine kleine Berühmtheit in der Stadt – bis er während seiner Show aus dem vierten Stock in den Tod stürzt. War es ein Unfall oder Mord? Ladendetektiv Kurt hat da so seine eigenen Theorien, denn Eddis Vorleben war recht bewegt – und kriminell. So mancher hätte ein Motiv für Rache. Da der zuständige Kommissar andere Prioritäten hat, nimmt Kurt die Ermittlungen selbst in die Hand und kommt dem Täter zwischen Christbaumkugeln und Weihnachtszauber näher, als ihm lieb ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 328

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die gebürtige Hamburgerin Anja Marschall lebt mit ihrer Familie im Westen Schleswig-Holsteins, wo sie als Journalistin und Autorin arbeitet. Sie veröffentlicht seit vielen Jahren Romane und Krimis. Im Emons Verlag erscheint ihre erfolgreiche historische Krimireihe um ihren Kommissar Hauke Sötje. Marschall initiierte den ersten Krimipreis für Schleswig-Holstein und ist Herausgeberin mehrerer Anthologien.

Carolyn Srugies, Jahrgang 1962, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Die gebürtige Hamburgerin arbeitete viele Jahre im Exportmanagement einer großen norddeutschen Firma. Sie schreibt seit mehreren Jahren Kurzgeschichten, von denen »Das verschwundene Erbe des Hieronymus Wieck« Platz drei beim letzten Commerzbibliothek-Wettbewerb der Handelskammer Hamburg belegte. 2022 erschien mit dem Titel »Tod am Wockersee« ihr erster Kriminalroman. Seit vielen Jahren ist Carolyn Srugies Teilnehmerin der Schreibwerkstätten und Workshops von Regula Venske und Sandra Dünschede. Außerdem ist sie Mitglied und Jurysekretärin der »Mörderische Schwestern e. V.« und der Halstenbeker Textwerkstatt »Wir schreiben«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com/Daria Voskoboeva

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-229-1

Ein Weihnachtskrimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Berlin.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Ich liebe Weihnachten.Es ist die lukrativste Zeit des Jahres.

Eduard »Eddi« Hempel, Aushilfsweihnachtsmannim Traditionskaufhaus Härtling

1

Die Geschäftsführerin des Kaufhauses Härtling blickte aus dem Fenster im ersten Stock hinunter auf die Straße. Mit verschränkten Armen stand sie da, wartete. Schneeflocken tanzten vor der Scheibe. Noch wenige Tage, dann würde alles vorbei sein.

Neun Uhr neunundfünfzig. Verdammt, wo blieb der Kerl?

Im Juweliergeschäft Mehmel gegenüber wurde die Innenbeleuchtung eingeschaltet. Das Glitzern der Schmuckstücke in der Auslage war im künstlichen Licht bis hier oben zu sehen.

Endlich entdeckte sie den Mann, dessentwegen sie seit siebzehn Minuten am Fenster stand, im weihnachtlichen Gewirr der Passanten. Er hielt geradewegs auf die Ladentür des Juweliers zu. Im Eingang drehte er sich kurz um und schaute zu ihr hinauf.

Ihr Puls ging schneller, Schweiß trat zwischen ihre Schulterblätter. Von nun an blieben ihnen vier Minuten. Sie sah auf ihre Armbanduhr. In dem Moment klingelte das Telefon.

Sie zuckte zusammen. »Nicht jetzt«, zischte sie in Richtung des Apparats, ohne den Blick von dem Mann zu nehmen.

Er stieß die Tür auf und verschwand im Laden. Sie versuchte zu erkennen, was in den Geschäftsräumen vor sich ging, während das Bimmeln des Telefons nicht enden wollte. Da hielt ein Müllwagen direkt vor dem Schaufenster des Juweliers und versperrte ihr die Sicht.

»Mist.«

Das anhaltende Klingeln machte sie wütend. Sie fuhr herum, trat an ihren Schreibtisch und sah auf das Display.

»Verdammt. Was will der denn?«

Sie hob den Hörer ab und zauberte ein falsches Lächeln auf ihr Gesicht. »Guten Morgen, Herr Härtling«, säuselte sie.

»Liebe Frau Rudloff«, entgegnete die knarzige Stimme des Alleineigners jenes Kaufhauses, für das sie seit sieben Jahren wie ein Tier schuftete. Julius Härtling hatte sich vor knapp einem Jahr ins Privatleben zurückgezogen und sie zur Direktorin befördert. Davor war Corinna Rudloff seine rechte Hand gewesen, und sie hatte viel von ihm gelernt. Sicher mehr, als Härtling lieb war. »Wie geht’s, wie steht’s?«, fuhr er fort. »Ich störe doch nicht etwa meine talentierte Geschäftsführerin?«

Sie rollte mit den Augen. Seine alberne Fröhlichkeit prallte an ihrer Wut ab. »Aber nein, Herr Härtling. Wie könnten Sie?«

Ihr Blick ging zum Fenster. Von hier aus konnte sie den Juwelierladen nicht sehen. Obwohl ihr zum Fluchen zumute war, setzte sie ein noch breiteres Lächeln auf. Er durfte nichts merken.

»Das Weihnachtsgeschäft läuft bisher wirklich gut. Ich glaube, sagen zu können, dass wir den Vorjahresumsatz dank unserer Bemühungen übertreffen werden.«

»Ausgezeichnet. Das höre ich gern, meine teure Frau Rudloff.« Er räusperte sich. »Kommen wir zum Grund dieses Anrufs. Wir sprachen doch kürzlich über die Schweizer Investorengruppe, die mir ein Übernahmeangebot gemacht hat.«

Sie ließ sich in ihren Bürostuhl sinken. »Ja, ich erinnere mich. Sie wollten den Investoren eine Absage erteilen, weil das Kaufhaus seit zwei Generationen im Besitz Ihrer Familie ist, und Sie …«

Härtling lachte auf. »Manchmal entwickeln sich die Dinge anders als erwartet, stimmt’s? In unserer Branche müssen wir schnell und effizient agieren. Aber wem sage ich das, haha.«

Sie schwieg. Schnell? Effizient? Was wollte er ihr damit sagen? Bevor sie nachfragen konnte, fuhr er fort.

»Nun, die Schweizer übernehmen das Kaufhaus Härtling im Januar.«

Ihr Lächeln plumpste zu Boden. »Aber das ist in drei Wochen.« Ihr Mund wurde plötzlich trocken. Sie schluckte. »Das ist viel zu knapp für Inventur und Bilanz.«

»Liebe Frau Rudloff, Sie finden eine Lösung. Sie wissen ja, es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Die Schweizer werden Sie sicherlich unterstützen. Und so werden Sie wie immer auch diese Hürde nehmen. So wie Sie all die anderen Krisen unseres Hauses elegant und mit Bravour umschifft haben.«

Sein Lob interessierte sie nicht. Sie hatte einen detaillierten Plan für ihre Zukunft erstellt, in dem eine vorzeitige Übernahme des Kaufhauses nicht enthalten war.

»Wie viel Personal soll entlassen werden?« Erfahrungsgemäß wurde bei Übernahmen das Führungspersonal als Erstes ausgewechselt. Das aber wäre ihr kleinstes Problem, denn sie hatte eh andere Pläne für sich.

Härtling wurde ernst. »Verehrte Frau Rudloff. Natürlich berücksichtigt der künftige Besitzer die Kündigungsfristen. Machen Sie sich keine Sorgen. Eine so kluge und famose Person wie Sie wird von der Konkurrenz mit Kusshand genommen. Corinna Rudloff, das ist ein Name in unserer Branche.« Sie hörte ihn lachen. »Es wird ohnehin Zeit, dass Sie sich höheren Aufgaben zuwenden. In einem so kleinen Kaufhaus wie dem Härtling können Sie Ihre Fähigkeiten nicht einmal annähernd entfalten. Und mit Ihren Qualifikationen haben Sie doch sicher sowieso längst ein Ass im Ärmel, oder?«

Ein sarkastisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. Natürlich hatte sie das. Nur ganz anders, als er dachte. Es würde ihr eine neue Identität und ein Haus in Costa Rica verschaffen.

»Ach, eines noch, meine Liebe. Sagen Sie in der Buchhaltung Bescheid. Ein Mitarbeiter der Schweizer wird vorbeikommen und die Buchprüfung vorbereiten.«

Nur schwer konnte Corinna Rudloff einen Fluch unterdrücken. Der Alte hatte soeben ihren gesamten Zeitplan über den Haufen geworfen.

»Nun gut, meine Teuerste, ich will Sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Zeit ist Geld, nicht wahr? Es war schön, wieder einmal mit Ihnen geplaudert zu haben. Ich wünsche Ihnen ein wunderbares und gesegnetes Weihnachtsfest. Und natürlich ein gesundes neues Jahr.« Er legte auf.

Corinna Rudloff lehnte sich zurück. »Scheiße.«

Dann fiel ihr wieder ein, was in diesem Moment wichtiger war als alles andere. Sie sprang auf und eilte zum Fenster, in der Erwartung, dass etwas passierte, doch nichts geschah. Der Müllwagen rollte weiter. In Mehmels Laden herrschte Ruhe. War es etwa schon vorbei?

Sie sah die Straße entlang bis hin zum Weihnachtsmarkt, wo sich an den Glühweinständen und dem Karussell bereits die ersten Besucher des Tages drängten. Überall waren Leute, die Kragen hochgeschlagen, dicke Schals um den Hals, Tüten in den kalten Händen davontragend.

Der abstruse Gedanke, er könnte sich einfach davongemacht haben, kam ihr in den Sinn. Sie lachte.

2

Die verglaste Front des Kaufhauses Härtling verfügte über eine alte Drehtür mit drei Flügeln in einer Art vorgelagertem Pavillon. Der imposante Eingang stammte noch aus den Anfängen des Geschäfts, als der Großvater des heutigen Eigentümers den vornehmen Konsumtempel in bester Lage eröffnet hatte. Die Backsteinfassade war aufwendig renoviert worden. Auch die große Leuchtschrift »Traditionskaufhaus Härtling« wirkte antik, war aber brandneu. Und neben der altehrwürdigen Drehtür gab es selbstverständlich auch eine moderne Doppeltür, die rege genutzt wurde. Dessen ungeachtet betraten viele das Härtling ganz bewusst durch die Drehtür. Sie war in der Stadt die letzte ihrer Art, ein Kunstwerk, eine Hommage an die alten Zeiten und sehr beliebt bei den Kunden. Leider war sie ein Alptraum für Hausmeister Elyas, denn sie verfügte über ein Eigenleben, das einer Diva zur Ehre gereicht hätte. Mal stockte die Tür, mal nicht. Dem Hausmeister war das unerklärlich. Nicht zum ersten Mal in dieser Woche stand er draußen auf der Leiter, um die alte Dame mit guten Worten und einer Menge Öl aus seiner kleinen Messingkanne dazu zu bewegen, ihre Dienste bitte nicht schon wieder einzustellen. Ständig klemmte das Ding und nahm dabei wenig Rücksicht darauf, ob sich jemand gerade halb drinnen oder draußen befand.

Weit beugte sich Elyas über das Messingdach des Pavillons, um das Öl tröpfchenweise in die geöffnete Spitze laufen zu lassen, an der die senkrecht verlaufende Achse der Konstruktion ihren Anfangspunkt hatte. »So, meine Liebe, ein wenig Öl für die innere Schönheit«, murmelte er sanft, während er sich nach vorn reckte.

Unterdessen lehnte Aushilfsweihnachtsmann Eddi rauchend am Schaufenster. Dass das Rauchen vor dem Haus verboten war – ebenso wie das Anlehnen am Schaufenster –, scherte Eddi nicht. Er legte Wert darauf, seine eigenen Regeln zu haben.

Auf einmal waren Polizeisirenen zu hören, die schnell näher kamen. Sekunden später rasten zwei Wagen mit Blaulicht um die Ecke und hielten vor dem Juweliergeschäft auf der anderen Straßenseite.

»Was ist denn da los?« Elyas schaute zu Eddi hinunter. »Beim Juwelier ist wohl … Alles okay mit dir? Du bist ja weiß wie die Wand.«

Eddi warf seine Kippe in den Rinnstein und winkte ab. »Liegt an dem roten Mottenpelz. Die Farbe steht mir einfach nicht.«

Elyas grinste. »Findest du?« Er kletterte von der Leiter. »Also, den Kindern gefällst du darin. Und ihren Müttern auch, wenn ich es richtig gesehen habe.« Er knuffte Eddi freundschaftlich in die Seite.

»Man hat’s, oder man hat’s nicht«, kommentierte der das Kompliment. Auf der anderen Straßenseite sprangen uniformierte Beamte aus ihren Wagen.

»Ist wirklich alles okay?«, hakte Elyas nach. »Du guckst so komisch.«

»Dachte für einen Moment, die kommen meinetwegen.« Eddi lachte und holte seine Zigarettenpackung aus der roten Hose, um sich eine neue Fluppe anzuzünden, als ihm das Päckchen aus den zitternden Fingern rutschte und auf den Gehsteig fiel. »Scheiße.« Er bückte sich nach der Schachtel.

»Weihnachtsmänner fluchen nicht. Schon vergessen?«

Eddi bot Elyas einen Glimmstängel an. Der zog einen heraus. »Und überhaupt, warum sollten die deinetwegen kommen?«

Der Aushilfsweihnachtsmann grinste. »Ich war nicht immer ein braver Junge, Herr Hausmeister.« Vielsagend kniff er ein Auge zu. »Außerdem machen mich Polizeisirenen schon seit meiner Kindheit jedes Mal ganz wuschig. Entweder ein frühes Trauma oder Familientradition. Eines von beidem bestimmt.«

Elyas nahm einen tiefen Zug. »Denkst du, der Juwelier ist überfallen worden?«

»Weiß nicht. Hätten wir das nicht mitbekommen müssen? Ich meine, wir stehen seit über zehn Minuten hier draußen herum.«

Hinter Eddi öffnete sich eine Tür, Kaufhausdetektiv Kurt Ebert trat durch den Seiteneingang heraus und kam zu ihnen. »Was ist denn da los?«

»Guten Morgen, Herr Ebert«, grüßte Elyas, wobei er schnell die Zigarette hinter seinem Rücken versteckte.

»Tach auch, Kurti.« Eddi nahm noch einen Zug.

»Du sollst nicht immer Kurti zu mir sagen. Auf der Arbeit bin ich für dich Herr Ebert. Nach Feierabend kannst du mich gerne Kurt nennen.«

»Alles klar, Kurti.« Eddi feixte. »Seht ihr den da?« Er wies auf die andere Straßenseite. »Der mit der Glatze, der da so wild rumgestikuliert … Das ist der Mehmel, dem gehört der Laden. Ich schätze, einer seiner Kunden kam zum Weihnachtsshopping und vergaß in der Hektik zu bezahlen.« Er seufzte sehnsüchtig. »Mensch, stellt euch mal vor, Selbstbedienung im Schmuckgeschäft. Nie mehr den Weihnachtsmann geben müssen. Das wäre was für den einzigen Sohn meiner Mutter.«

Da hörten sie ein Klopfen und drehten sich um. In der Drehtür stand eine erbost wirkende ältere Dame mit einer prall gefüllten Härtling-Tragetasche in der Hand und schlug empört mit den Fingerknöcheln ans Glas. »Lassen Sie mich sofort hier raus!«

»Oje.« Hastig reichte Elyas dem überraschten Kaufhausdetektiv seine Kippe und kletterte zurück auf die Leiter. »Moment. Das haben wir gleich.«

Kurz darauf drehte sich das störrische Ding ein kleines Stück weiter, und die entrüstete Frau konnte sich schimpfend herauswinden.

»Freiheitsberaubung ist das! Das wird Konsequenzen haben!«, rief sie und wollte sich wütend davonmachen, als Eddi sich ihr in den Weg stellte.

»Das Kaufhaus Härtling dankt Ihnen herzlich, dass Sie Ihre Einkäufe bei uns getätigt haben, Gnädigste«, erklärte er galant.

»Das war das letzte Mal, junger Mann!«

Eddi hob den Kopf und schnupperte, als läge etwas in der Luft, das zuvor nicht zu bemerken war. »Haben Sie etwa in der Parfümerieabteilung eines unserer Duftwässerchen getestet, Gnädigste?«

Irritiert sah sie ihn an.

»Chanel No 5, nicht wahr? Sie duften betörend, meine Liebe. Diese Woche, übrigens nur im Härtling, im Angebot: neunzehn neunundneunzig. Unschlagbar günstig.«

Der übellaunige Gesichtsausdruck der Kundin wich einem interessierten Jägerblick. »Ach ja?«

»Solange der Vorrat reicht, meine Dame.«

Kurz überlegte sie, dann drehte sie sich um und eilte zurück zur Drehtür. Dort zögerte sie, schien zu überlegen, ob sie es noch einmal wagen wollte.

Eddi lächelte ihr aufmunternd zu. »Schlimmstenfalls werde ich Sie persönlich retten.«

Sie kicherte und trat in die Drehtür, die offenbar nichts dagegen einzuwenden hatte, dass die Kundin zurückkam, denn dieses Mal funktionierte das gute alte Stück einwandfrei.

Auf der anderen Straßenseite hielt indes ein schwarzer Audi neben den Streifenwagen. Ein breitschultriger Mann mit grauem Bürstenschnitt stieg aus, drückte das Kreuz durch und knöpfte den Mantel zu. Dann schlenderte er gelassenen Schrittes auf den Juwelier zu, der kreidebleich bei einem der Uniformierten stand.

»Kurti, schau mal. Den kennen wir. Das ist doch dein alter Freund Bronski.«

Der Blick des Kaufhausdetektivs war Eddis ausgestrecktem Finger gefolgt. Er grunzte ungehalten. »Möglich. Ich gehe besser rein.«

»Bist du sicher? Es wird gerade interessant.« Eddi griente ihn breit an.

»Ganz sicher. Und du solltest mitkommen. Die Rudloff wird ungehalten, wenn sie dich im Kostüm hier herumlungern sieht …«

»Hast recht.« Eddi schnippte seinen halb aufgerauchten Zigarettenstummel in den Rinnstein. Er klopfte Ebert auf die Schulter. »Also los, sonst lässt uns die Rudloff noch nachsitzen.«

Sie wollten gerade zurück ins Kaufhaus gehen, als auf der anderen Straßenseite jemand rief: »Mensch, das ist doch der Kurt Ebert!« Die kraftvolle Stimme hatte Ähnlichkeit mit dem dröhnenden Glockengeläut der alten Kirche neben dem Rathaus.

»Kurti, der Bronski hat dich erkannt.«

»Ich weiß«, knurrte der Kaufhausdetektiv.

»Na, Kurt, heute schon einen gefährlichen Ladendieb erwischt?«, brüllte der Mann im Mantel herüber. »Nein? Mach dir nichts draus. Nicht aufgeben. Du weißt, wie es ist, wenn man aufgibt. Hast ja reichlich Erfahrung darin.« Lautstark lachte er, während er sich wieder dem Juwelier zuwandte.

»Was meint der Typ, Herr Ebert?«, wollte Elyas oben auf der Leiter wissen. »Welche Erfahrung?«

»Ach, lasst mich doch in Ruhe.« Wütend ging der Kaufhausdetektiv hinein.

»Was ist mit dem denn los?«, fragte Elyas Eddi.

Der aber zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht PMS. Polizeiliches Minderwertigkeitssyndrom.«

3

Als Kurt den Verkaufsraum betrat, tauchte er eilig ins Gedränge ein. Er hatte keine Lust, mit Eddi über Bronski zu reden oder über damals.

Die Stadt war für ihn und Bronski irgendwie zu klein. Es reichte schon, dass er mit dem Kerl all die Jahre im Kommissariat hatte zusammenarbeiten müssen. Wenigstens jetzt, als Pensionär, wollte Kurt seine Ruhe haben.

Er sah Eddis rotes Weihnachtsmannkostüm im Fahrstuhl verschwinden. Gut so, nun konnte er sich auf seinen Job konzentrieren, den er angenommen hatte, weil ihm zu Hause in seinem Reihenhäuschen die Decke auf den Kopf gefallen war.

Er stellte sich unauffällig in die Nähe einer Säule und ließ seinen Blick über die Köpfe der Kunden gleiten, die sich im Erdgeschoss zwischen Parfümabteilung und Kurzwaren drängten. Mit seinen stolzen eins neunzig gelang das problemlos. Als er noch im aktiven Polizeidienst gewesen war, hatte er satte drei Zentimeter mehr auf dem Zollstock gehabt. Seit er Pensionär war, schrumpfte er von Jahr zu Jahr etwas mehr. Wahrscheinlich würde er irgendwann einfach verschwinden.

»Da sind Sie ja!«, sagte jemand hinter ihm.

Kurt drehte sich um. Vor ihm stand die Geschäftsführerin des Hauses, Corinna Rudloff. Eine aparte Frau Mitte dreißig. Alles an ihr war makellos: das Kostüm, das Make-up, die Frisur. Perfektion vom Scheitel bis zur Sohle, ein eleganter Alptraum.

»Herr Ebert, was machen Sie eigentlich den lieben langen Tag, wenn Sie bei uns sind?«, fragte sie zuckersüß.

»Ich verstehe Ihre Frage nicht, Frau Rudloff.«

»Ich sehe schon wieder diese Person in unseren Verkaufsräumen.«

»Wen?«

»Diese Kleptomanin.« Die Rudloff zeigte auf eine ältere Frau, die auffallend unauffällig zwischen den Verkaufstischen mit den Parfümflakons entlangging. Im Arm hielt sie eine große rote Handtasche.

»Frau Sievers?«

»Ja, genau die. Sie sollten dieser Person ein Hausverbot erteilen. Haben Sie das vergessen?«

Kurt wusste nicht mehr, wie oft er die Kundin schon beim Klauen erwischt hatte. Er hatte der Rudloff nicht jedes Vergehen gemeldet. Die kleineren Raubzüge hatte er gegen Ermahnungen und Herausgabe der entwendeten Objekte unter den Tisch fallen lassen. »Finden Sie ein Hausverbot nicht ein wenig zu streng?«, hakte er vorsichtig nach, denn er brachte es einfach nicht übers Herz, Lore Sievers vor die Tür zu setzen, schließlich gab sie ja alles anstandslos zurück. Sogar wenn ihr Diebstahl ausnahmsweise einmal erfolgreich gewesen war, kam sie am nächsten Tag zu ihm und lieferte ihre Beute reumütig wieder ab. Aus seiner Sicht war sie harmlos. Das hatte er der Rudloff schon oft gesagt.

»Kümmern Sie sich um das Problem, Herr Ebert. Sie sind hier als Kaufhausdetektiv engagiert und nicht als Sozialarbeiter.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, bevor sie zu dem fast fünf Meter hohen Tannenbaum ging, um dort die Dekoration zu kontrollieren.

Kurt seufzte. Die Rudloff war noch jung. Es mangelte ihr an der Gelassenheit des Alters, um die stressigen Tage vor Weihnachten glimpflich überstehen zu können. Er selbst war in dieser Zeit niemals im Stress. »Stress ist eine Einstellungssache«, pflegte er zu sagen.

Langsam spazierte er durch den Verkaufsraum, wobei er Lore Sievers stets im Blick behielt.

Andere Warenhäuser empfingen die Kunden zu Weihnachten mit überladenen Dekorationen in Pink, Orange und Lila, Lichterketten, die stroboskopartig blinkten und in den Augen schmerzten, und Konservenmusik. Im Traditionskaufhaus Härtling aber war die Atmosphäre höchst geschmackvoll und elegant. Selbst das Harrods hätte sich hier noch eine Scheibe abschneiden können. Die Geländer der Galerien waren mit echten Tannengirlanden geschmückt. Von der Glasdecke in der obersten Etage hing ein großer beleuchteter Stern, während im Erdgeschoss darunter der prächtig dekorierte Weihnachtsbaum funkelte. Er war mit altmodischem Baumschmuck aus Glas versehen, der seit Jahrzehnten im Besitz der Familie Härtling war.

Unter ebendiesem Baum lagen hübsche Geschenkattrappen in allen Größen und Farben. Jedes der glänzenden Pakete zierte eine üppige Schleife. Ein Schaukelpferd und ein hölzerner Schlitten komplettierten das weihnachtliche Bild. Kurt sah die Rudloff, wie sie einige Päckchen neu drapierte.

Neben dem Baum war eine kleine Bühne errichtet worden, auf der ein goldener Thron auf seinen Einsatz wartete. Dort würde Weihnachtsmann Eddi gleich die Wunschzettel der Kinder entgegennehmen und sich Gedichte vortragen lassen, während die Eltern eifrig Fotos mit dem Handy machten. Eddis Show gab es zweimal am Tag. Ein Highlight für Groß und Klein und für die Registrierkassen im Härtling.

Dezent rieselten Weihnachtslieder aus den Lautsprechern auf die Menschen hernieder. Es roch nach Zimt, Äpfeln und echtem Tannengrün.

Die Kunden liebten all das, und Kurt ebenso. Bei ihm zu Hause welkte nur ein Grabschmuck auf dem Wohnzimmertisch, den er vor einigen Wochen günstig im Supermarkt geschossen und mit einer halb abgebrannten roten Stumpenkerze garniert hatte. Mehr Weihnachten brauchte er in seinem kleinen Wohnzimmer nicht. Dennoch gefiel ihm all das Geglitzer und Hosianna im Härtling gut. Es war wunderbar weihnachtlich, ohne überkandidelt zu wirken.

Mit auf dem Rücken verschränkten Händen schlenderte Kurt durch die Gänge, grüßte hier eine Verkäuferin und stellte dort eine umgekippte Krippenfigur wieder an ihren Platz, während er Lore Sievers im Auge behielt. Er dachte an Eddi, der sicherlich schon auf dem Weg in den vierten Stock war, wo seine Show beginnen würde.

Als die Rudloff ihm gesagt hatte, dass sie gedachte, den Kleinkriminellen Eduard Hempel zum diesjährigen Weihnachtsmann zu machen, war Kurt nicht sonderlich begeistert gewesen. Sein ehemaliges Polizistenherz schlug immer wieder nervös, wenn er an Eddis abwechslungsreiche Vergangenheit dachte. Trotzdem mochte er den alten Gauner. Privat waren sie schon lange beim Du. Eddi Hempel war mit allen Wassern gewaschen, aber auch ein kluger Gesprächspartner, mit dem man sich auf ein Bier bei Eddi oder zu einem Grillabend auf Kurts Terrasse treffen konnte. Ein Typ zum Pferdestehlen, im übertragenen und wörtlichen Sinn.

Trotz seiner Bedenken hatte die Chefin darauf bestanden, Eddi einzustellen. Irgendetwas von »Chance« und »Resozialisierung« hatte sie gesagt. Und nun war Eduard Hempel seit zwei Wochen täglich im Kaufhaus und zog seine Shows ab.

Auch wenn Kurt den diesjährigen Santa Claus für eine strafrechtliche Fehlbesetzung hielt, musste er zugeben, dass Eddi den Job prima machte. Er war klein und dick, also schon optisch eine gute Wahl, und besaß ein Naturtalent im Umgang mit Kindern und ihren Müttern. Eddi umgarnte mit Witz und Charme selbst die schwierigsten Fälle von Mutterliebe. Kein Wunder, dass er in der Vergangenheit als Heiratsschwindler und Gauner recht erfolgreich gewesen war, bis Hauptkommissar Kurt Ebert ihn damals ins Visier genommen und in den Knast gebracht hatte. Der Job im Kaufhaus dürfte seit Jahrzehnten die erste anständige Arbeit für Eddi gewesen sein. Natürlich behielt Kurt ihn im Auge, falls er rückfällig werden würde.

Das aber schien bislang nicht Eddis Absicht zu sein. Im Gegenteil, er fühlte sich in der Rolle des Weihnachtsmannes sichtlich wohl. Auf Instagram und Facebook habe er sogar schon vierhundert Follower, hatte er kürzlich in der Personalküche geprahlt. Kurt wusste nicht, was das bedeutete, aber dem Eddi schien es wichtig zu sein.

Da bemerkte Kurt, dass sich beim Weihnachtsbaum etwas tat. Die Äste bewegten sich. Neugierig ging er hinüber. Die Rudloff war es nicht, denn die stieg weiter hinten gerade in den Fahrstuhl.

Vorsichtig näherte er sich dem Baum, wobei er aufpassen musste, nicht auf die Paketattrappen zu treten, die um den Fuß der Tanne lagen. Er beugte sich ein wenig vor.

Sein Blick fiel auf ein kleines Mädchen, das zwischen den Geschenkebergen saß und leise singend die Päckchen und Pakete nach Farben sortierte.

»Lasst uns froho uhund munter sein …«

»Tami? Was machst du denn hier? Müsstest du nicht in der Schule sein?«

Das Kind zuckte zusammen und schaute hoch. »Hallo, Onkel Kurt. Die letzten beiden Stunden sind ausgefallen. Unsere Lehrerin ist krank.«

»Schon wieder? Weiß deine Mama, dass du hier bist?«

»Ja, natürlich.« Sie sah ihn aus puppenblauen Augen an. Die Tochter von Silja Wedemeyer aus der Buchhaltung brachte sein Herz regelmäßig zum Schmelzen. Ihr Nicken erschien ihm ein wenig zu eifrig.

»Flunkert da etwa jemand?«

Tami krabbelte unter dem Baum hervor und stand auf, wobei sie ihn auf diese gewisse Art anschaute, als würde sie gleich weinen. »Bitte nicht petzen, Onkel Kurt.«

»Das würde ich doch nie tun, meine Kleine.«

»Danke.« Ihre Miene hellte sich auf, und sie hüpfte singend hinter die Tanne, um ihre Arbeit dort fortzusetzen.

Kurt legte den Kopf schief. Fiel in der zweiten Klasse der Unterricht tatsächlich so oft aus? Unverantwortlich.

Lore Sievers tauchte in seinem Blickfeld auf, wie sie so durch die Parfümerieabteilung spazierte und mal den einen, mal den anderen Flakon zur Hand nahm. Verdammt. Er sollte sich doch um sie kümmern, hatte die Rudloff gesagt. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging er zu ihr hinüber.

»Frau Sievers, hatten wir nicht erst vorgestern ein ernstes Gespräch?« Sein Blick streifte die verdächtig ausgebeulte Tasche aus rotem Samt, die sie fest unter den Arm geklemmt hatte.

»Guten Morgen, Herr Ebert!« Sie strahlte ihn an. »Wie geht es Ihnen? Sie sehen müde aus. Arbeiten Sie zu viel?«

Kurt rollte mit den Augen. Es war immer dasselbe. Er erwischte sie, drohte mit einer Anzeige, sie umgarnte ihn, und er ließ sie mit einer Ermahnung wieder laufen. »Ach, Frau Sievers, Sie sind unverbesserlich.«

»Ich weiß.« Sie schaute ihn betroffen an.

Im Augenwinkel sah Kurt Corinna Rudloff am Geländer der Galerie im zweiten Stock stehen und grimmig zu ihnen hinunterblicken.

Er räusperte sich und griff nach Lore Sievers’ Arm, als würde er sie abführen. »So geht das nicht, Frau Sievers. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie eine Weile nicht mehr herkommen dürfen.« Er sprach betont ernst. Dann beugte er sich ein wenig näher zu ihr. »Ich habe Ihretwegen bereits Ärger mit der Geschäftsleitung.«

»Ach du meine Güte. Das ist mir aber äußerst peinlich. Meinetwegen? Sind Sie da ganz sicher?«

»Ja.«

Kurt blickte unauffällig nach oben. Die Rudloff beobachtete sie aufmerksam. »Kommen Sie bitte mit in mein Büro«, sagte er streng, in der Hoffnung, seine Chefin möge es hören.

Ohne zu widersprechen, ließ Lore Sievers sich aus dem Verkaufsraum führen, hinunter in den Keller. Dort stand Kurts Schreibtisch in einem Abstellraum. Immerhin hatte die Rudloff ihm einen altersschwachen Computer aus der Zeit der Vorrenaissance besorgt sowie ein Telefon leidlich neueren Datums. Ebenfalls in dem Gang lag die Personalküche.

Er ging mit Lore Sievers an seiner Bürotür vorbei. »Tee, wie immer?«

Sie nickte.

In der Küche nahm die Stammdiebin des Kaufhauses wie gewohnt den Platz an der Heizung ein, während Kurt den Wasserkocher befüllte.

»Sie sind so nett zu mir, Herr Ebert.«

Kurt schaltete den Kocher ein und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Frau Sievers, wollen Sie mir bitte den Inhalt Ihrer Tasche zeigen?« Er legte einen offiziellen Ton in seine Stimme.

Erschrocken presste sie den Samtbeutel auf ihrem Schoß an sich. »Warum sind Sie denn plötzlich so unfreundlich zu mir?«

»Sie wissen, dass ich die Tasche nicht öffnen darf, wenn kein Polizist zugegen ist.«

»Müssen wir wirklich die Polizei holen? Ich will bestimmt keine Umstände machen.«

»Frau Sievers, so geht das nicht weiter. Ständig mopsen Sie Ware.«

»Aber ich behalte doch nichts davon. Sie bekommen alles zurück. Brauche die Sachen ja gar nicht.«

»Bitte öffnen Sie die Tasche. Ansonsten muss ich die Polizei holen.«

Traurig sah sie ihn an. Dann zog sie den Beutel auf.

Ungläubig starrte Kurt auf die Dinge, die sie zutage förderte: einen Parfümflakon von Dior, einen Seidenschal, etwas Modeschmuck, das Jesuskind aus der Krippe – er hatte gar nicht bemerkt, dass der kleine Bursche fehlte –, einen gebrauchten Radiergummi sowie einige Gummibänder.

Kurt unterdrückte ein Lächeln. »Sie wissen aber schon, dass ich Ihnen jetzt mal wieder ein Hausverbot erteilen muss, oder?«

Sie rang die Hände. »Wie entsetzlich peinlich mir das alles ist. Ich bin doch nicht kriminell.« Sie schluckte. »Also, nicht wirklich.«

»Eigentlich müsste ich auch ein Verwarngeld in Höhe von zweihundert Euro erheben.«

»So viel? Das haben Sie noch nie gemacht, Herr Ebert.«

»Einmal ist immer das erste Mal.«

»Das Geld habe ich aber nicht. Es ist doch Weihnachten. Könnten Sie vielleicht ein Auge zudrücken, lieber Herr Ebert? Ich habe auch etwas für Sie.« Eifrig kramte sie erneut in der geräumigen Tasche herum und zog ein knisterndes Päckchen hervor. »Plätzchen.«

»Das ist doch nicht nötig, Frau Sievers.«

»Aber natürlich.« Sie öffnete die Tüte und schüttete die Kekse vorsichtig auf einen leeren Teller, den jemand auf dem Tisch stehen lassen hatte. »Die nehmen wir zum Tee ein.«

»Das ist sehr nett, Frau Sievers, aber …«

»Sagen Sie doch bitte Lore zu mir, Herr Kurt. Frau Sievers klingt so streng. Und ich mag Sie gar nicht, wenn Sie so sind.« Sie nahm einen Keks und knabberte daran. »Kosten Sie mal.«

»Das geht nicht, Frau Sievers.«

»Lore.«

»Also gut. Was wollte ich sagen?« Kurt hatte den Faden verloren. Da begann das Wasser hinter ihm zu brodeln. Er stand auf, als die Tür geöffnet wurde. Tamis Mutter, Silja Wedemeyer, kam herein. Sie nickte ihnen freundlich zu, stellte den Kocher aus und machte sich mit dem heißen Teewasser eine Fünf-Minuten-Terrine. »Störe ich?«

»Aber nein, nehmen Sie Platz, junge Frau«, sagte Lore Sievers mit strahlendem Lächeln.

Silja setzte sich neben sie, während Kurt Teebeutel aus dem Schrank nahm und in zwei angestoßene Becher fallen ließ.

»Essen Sie immer so etwas?«, wollte die Sievers von der Buchhalterin des Kaufhauses wissen.

»Eine richtige Pause kann ich heute nicht machen. Meine Tochter hat gleich Schulschluss. Ich werde sie abholen, um mit ihr auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Eine kleine Überraschung, sozusagen.«

Kurt schaute auf. »Tami ist längst hier. Die letzten beiden Stunden sind doch ausgefallen. Ich habe sie vor ein paar Minuten beim Tannenbaum gesehen.«

Silja Wedemeyer hielt inne. Dann knallte sie den Becher auf den Tisch, woraufhin ein wenig vom Inhalt überschwappte. »Tami hat Ihnen einen Bären aufgebunden. Wenn Unterricht ausfällt, gehen die Kinder in die Betreuung. Da wird kein Schüler einfach nach Hause geschickt.« Sie sprang auf. »Na warte.«

Sie stürmte aus dem Raum.

»Oje. Da haben Sie ja was angerichtet, Herr Ebert.«

Überrascht schauten beide der Buchhalterin hinterher.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, überlegte Kurt, als die Tür wieder geschlossen war.

Lore Sievers antwortete nicht, sondern erhob sich von ihrem Stuhl. »Vielen Dank für die nette Einladung. Ich muss mich ebenfalls beeilen. Ein Termin. Hatte ich ganz vergessen.« Sie stand bereits an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte und ihn ansah. »Wir holen unseren Plausch bei Gelegenheit nach. Versprochen.« Sie schlüpfte hinaus in den Flur, wo sie fast mit Hausmeister Elyas zusammenstieß. »’tschuldigung«, murmelte sie und lief eilig weiter.

Elyas betrat die Küche und blickte sich um. »Ist Silja noch nicht hier?« Er sah auf seine Uhr. »Sie macht doch sonst immer um diese Zeit Pause.« Er registrierte den dampfenden Becher auf dem Tisch.

Kurt erhob sich und sammelte Lores Beute ein. Dann schob er sich einen Keks in den Mund. »Sie hat es schon wieder getan.«

»Silja?«

»Nein, Frau Sievers. Ich habe sie in flagranti erwischt.«

»Und? Hausverbot?«

»Nein, ich habe es einfach nicht geschafft. Jetzt muss ich sogar Lore zu ihr sagen.«

Elyas grinste. Dann steckte er sich ebenfalls einen Keks in den Mund. Kauend meinte er: »Wenn Sie mich fragen, ist die Kleptomanie nur Show. Die Gute ist in Sie verliebt.«

»Quatsch.« Kurt ging kopfschüttelnd in Richtung Küchentür, um die Beute in die jeweiligen Abteilungen zurückzubringen.

»Verlie-hiebt. Bis über beide Ohren«, trällerte Elyas ihm hinterher. »Ihre Lore ist in Sie verschossen. Deshalb die Klauerei. Sonst beachten Sie sie ja nicht.«

»Blödsinn.«

»Aber logo. Neulich hat sie Zimtkekse mitgebracht. Und heute Lebkuchen. Wissen Sie eigentlich, wie aufwendig so ein Teig zu machen ist? Und dann noch diese verdächtige Form. Das sagt doch alles.«

Kurt tat, als hätte er Elyas’ Worte nicht gehört. Im Treppenhaus aber holte er sehr tief Luft. Oje. Die Plätzchen von Lore Sievers waren immer herzförmig. Jedes einzelne.

Irritiert setzte Kurt seine Runde durch das Kaufhaus fort. In der Abteilung für Herrenbekleidung war um diese Zeit wenig los. Ein paar Frauen gruppierten sich um einen Auslagentisch, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Individuelle Weihnachtsgeschenke für die Liebsten« hing. Der Tisch bog sich fast unter der »SOS-Ware«, wie die Verkäuferinnen Schlipse, Oberhemden und Socken hinter vorgehaltener Hand abfällig nannten.

Kurt schlenderte vorbei. Er hätte sich über ein SOS-Geschenk mächtig gefreut. Doch wer sollte ihm etwas schenken? Er hatte weder eine Familie noch einen Freund, außer Eddi. Nicht einmal ein Wellensittich wartete zu Hause auf ihn.

Auch er selbst hatte schon seit Ewigkeiten niemandem mehr ein Geschenk gemacht. Das letzte Mal war vor vielen Jahren gewesen. Da hatte er mit weichen Knien seiner großen Liebe einen Ring überreichen wollen. Er dachte wehmütig daran zurück. Die Schachtel lag noch heute ungeöffnet in seinem Nachtschrank.

Jemand schlug ihm auf die Schulter, und Kurt fuhr herum. Vor ihm stand die Rudloff. »Kommen Sie in mein Büro. Sofort.«

4

Kurt betrat das Büro der Geschäftsführerin. Während draußen glänzend und leuchtend gemütliche Weihnachtsstimmung in Rot und Grün herrschte, regierten hier Schwarz und Weiß, Chrom und Hochglanz.

Ihn fröstelte unwillkürlich.

Ein Laptop und zwei Monitore dominierten den Schreibtisch der Chefin. Daneben stand ein Bilderrahmen. Neugierig reckte Kurt den Hals, um zu sehen, wessen Foto dort eingerahmt war. Dem Hörensagen nach hatte die Rudloff keine Familie, keine Hobbys, aber ein Verhältnis mit Chefeinkäufer Pingel. Jedoch waren Gerüchte nur Gerüchte. Andererseits wusste Kurt durch seine langjährige Polizeiarbeit: Wo Rauch war, war auch Feuer.

Die Rudloff schaute aus dem Fenster.

Dass er fast keine Informationen über sie hatte, nicht einmal wusste, ob sie geschieden war, gefiel ihm nicht. Das Bild im Rahmen könnte ihm einen Hinweis geben. Dummerweise stand es so ungünstig, dass er nichts erkennen konnte.

Ein wenig verloren stand er vor dem Schreibtisch und wartete darauf, dass die Chefin ihm sagte, warum er hier war. Obwohl er es ahnte. Lore Sievers.

Endlich wandte Frau Rudloff sich zu ihm um, setzte sich auf den weißledernen Sessel, legte ihre makellosen Hände auf die glänzende Oberfläche des Tisches und schaute ihn lange an. »Was soll ich nur mit Ihnen machen, Herr Ebert?«

Er fühlte sich, als hätte man ihn zum Schuldirektor zitiert.

Sie zog eine Schublade auf und holte einen schwarzen Papp-Ordner heraus. Mit ernster Miene blätterte sie darin herum, wobei sie immer wieder missbilligend den Kopf schüttelte. »Mein Vorgänger hat Sie in den höchsten Tönen gelobt, als ich seine Position übernahm. Sind Sie vielleicht mit ihm verwandt? Oder befreundet?«

»Nein. Sie wissen doch, dass ich nicht mit Herrn Härtling verwandt bin. Er ist ein Mann mit großer Menschenkenntnis und Kompetenz, der Leistung und Einsatz anerkennt. Wir alle fanden es bedauerlich, dass gegangen ist.« Kurt warf ihr einen scharfen Blick zu.

Corinna Rudloff atmete tief durch. »Leistung und Einsatz? Nun, als er uns verließ, war die Bilanz des Kaufhauses Härtling in desolatem Zustand.« Sie musterte Kurt eine Weile. »Seither tue ich mein Bestes, um uns wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Dazu sind allerhöchste Standards in jedem Bereich unabdingbar. Inkompetenz ist inakzeptabel.«

Inkompetenz? Gern hätte Kurt gefragt, wo denn ihre Kompetenz liege, da doch seit Monaten das vierte Stockwerk eine einzige Baustelle war. Die Rudloff hatte mit großen Plänen angegeben. Von Pop-up-Läden war die Rede gewesen sowie von einer Sushi-Bar, um das Publikum zu verjüngen. Die Sportabteilung sollte wiedereröffnet werden. Nichts davon hatte sie verwirklicht. Die Drehtür klemmte, und das Restaurant unter dem Dach war noch immer geschlossen. Von wegen alter Glanz. Pah.

Ungefragt ließ Kurt sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Im Sitzen konnte man eine Kündigung besser ertragen.

»Herr Ebert, ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich über den Ernst der Lage im Klaren sind.« Sie faltete die Hände auf seiner Akte. »Es ist so: Anhand der letzten Warenbestandsaufnahmen konnten wir feststellen, dass die Einkäufe und die physischen Bestände mehrerer Artikel voneinander abweichen. Und damit meine ich teure Ware wie elektronische Geräte. iPads, Blu-ray-Player, Radios und so weiter. Diese Differenz lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder unsere Buchhaltung arbeitet schlampig, oder, was am wahrscheinlichsten ist: Diebstahl.«

»Wie bitte?« Kurt drückte seinen Rücken durch. Daher wehte also der Wind. »Wollen Sie mir unterstellen, ich würde Delikte in der Elektronikabteilung ignorieren?«

»Nun, Sie pflegen regelmäßigen Kontakt zu einer stadtbekannten Diebin. Damit leisten Sie einer Straftat Vorschub.«

»Sie hat niemals wirklich wertvolle Sachen geklaut. Außerdem gibt sie immer alles zurück.«

»Das sagt sie. Stimmt es denn auch?«

Kurt kratzte seinen Bart. »Nun, ich nehme an …«

Der Finger der Rudloff schoss vor. »Aha. Da haben wir es. Sie klaut also doch.« Zufrieden lehnte sie sich zurück. »Es ist Ihre Aufgabe, Diebe zu stellen, im Namen des Kaufhauses Hausverbote auszusprechen und die Polizei zu rufen, insbesondere im Falle von Wiederholungstaten. Ich gewinne vermehrt den Eindruck, dass Sie zu oft ein Auge zudrücken. Oder beide.« Die Rudloff beugte sich vor. »Wann haben Sie das letzte Mal ein echtes Hausverbot erteilt?«

»Gestern«, antwortete Kurt prompt. »In der Damenabteilung. Eine Kundin hatte sich mehrere hochwertige Blusen übereinander angezogen. Ich habe sie am Ausgang gestellt. Meine Kollegen … Also, ich meine, die Polizei ist von mir eingeschaltet worden. Ich habe den Vorfall zur Anzeige gebracht und einen Bericht geschrieben.« Sein Blick flog suchend über die Schreibtischoberfläche. »Da liegt er.«

»Das war gestern. Was ist mit heute?«

Kurt atmete tief durch. »Ich habe Frau Sievers ins Gewissen geredet. Sie hat mir hoch und heilig versprochen, nicht mehr zu stehlen.«

»So, wir verlassen uns also bereits auf die Versprechen einer zwanghaften Diebin.« Sie sah ihn kalt an. »Herr Ebert, hiermit erteile ich Ihnen eine Abmahnung. Ihr Verhalten wird von mir ab jetzt genauestens beobachtet.«

Sie wartete offensichtlich auf eine Reaktion von ihm. Doch den Gefallen, sich zu der Abmahnung zu äußern, wollte er ihr nicht tun.

»Da wir im kommenden Jahr die Personaldecke verkleinern müssen, rate ich Ihnen dringend, Herr Ebert, sich zu bewähren. Es wäre doch bedauerlich, wenn das Traditionskaufhaus Härtling künftig auf Sie verzichten müsste.«

Kurt horchte auf. »Entlassungen?« Er dachte an die nette Buchhalterin Silja, die als alleinerziehende Mutter keinen leichten Stand im Leben hatte. Und an die Verkäuferinnen und Verkäufer, von denen nicht wenige ihre Ausbildung im Kaufhaus gemacht hatten und die dem Härtling über viele Jahre treu geblieben waren. Magda, die Putzfrau, würde wohl noch am einfachsten einen neuen Job finden. Kurt fielen viele Mitarbeiter ein, die es schwerer hätten, woanders unterzukommen.

Ihm selbst konnte ein Rausschmiss egal sein. Er hatte seine Pension. Die anderen aber waren auf ihre Jobs angewiesen.

»Hatten Sie nicht eben behauptet, das Kaufhaus Härtling sei durch Sie neu erblüht, Frau Rudloff? Und jetzt steht es angeblich so schlecht um die Finanzen, dass Personal abgebaut werden muss?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht meine Schuld, wenn große Mengen an elektronischen Geräten auf unerklärliche Weise verschwinden.«

Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, dass diese Produkte gestohlen wurden. Die Sicherheitsschleusen an den Türen hätten Alarm ausgelöst. Abgesehen davon habe ich Ihnen schon mehrfach nahegelegt, endlich eine Videoanlage im Haus zu installieren.«

»Fakt ist, dass vor Ihren Augen Ware verschwindet.«

»Rufen Sie die Polizei.«

»Wollen Sie das wirklich?«

»Wie meinen Sie das?«

Sie lehnte sich zurück und lächelte schmal. »Nun, entweder sind Sie in ihrem Job nicht halb so gut, wie Sie uns glauben machen, oder …«

Kurt verschlug es fast die Sprache. »Sie denken allen Ernstes, ich stecke mit irgendwelchen Leuten unter einer Decke?«

»Nun, Sie haben erwiesenermaßen ein Faible für Diebe.«

Mit offenem Mund starrte er sie an.

Corinna Rudloff erhob sich. »Herr Ebert, es bleibt bei der Abmahnung. Noch so ein Vorfall, und wir müssen uns von Ihnen trennen.«

Kurt stand auf und beugte sich über den Schreibtisch. »Das kann unmöglich Ihr letztes Wort sein.«

»Ist es aber.«

Sie hielt seinem Blick problemlos stand. Ein Blick, der in seiner aktiven Zeit so manchen Verbrecher in die Knie gezwungen hätte, perlte an ihr ab.

Wütend verließ er das Büro.

Immerhin wusste er jetzt, was auf dem gerahmten Foto war: die Rudloff mit einem Dalmatiner an ihrer Seite.

5

Als Eddi in den vierten Stock fuhr, um in Ruhe eine zu rauchen, fiel ihm auf, dass heute noch mehr Fans im Erdgeschoss auf ihn warteten als sonst. Zufrieden überschlug er, dass rund fünfzig Bälger bei der Bühne standen, obwohl es noch eine Weile hin war bis zu seiner großen Show. Er mochte keine Kinder, aber sie ihn. Warum dem so war, konnte Eddi nicht sagen. Wie auch immer. Hauptsache, sein rustikaler Charme wirkte bei Jung und Alt.