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Zwei Rentner und ein Todesfall.
Wenn schon Seniorenheim, dann bitte was Schickes: Nach dem Tod ihres anstrengenden Ehemanns will Lizzi ihren Lebensabend in nobler Umgebung in Blankenese genießen. Ihr Plan zerschlägt sich, als ihr erst ein Kleinganove das dafür nötige Kapital stiehlt und dann auch noch der Rentner von nebenan erschossen wird. An der Seite der Pflegerin Mareike und des kauzigen Kommissars Pfeiffer macht sich Lizzi auf die Suche nach ihrem Geld und dem Mörder – und gerät schneller, als ihr lieb ist, in Gefahr ...
„Lizzi ist herrlich eigensinnig und die sympathischste Heldin, die mir seit langem begegnet ist.“ Gisa Pauly.
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Seitenzahl: 333
Zwei Rentner und ein Todesfall
Wenn schon Seniorenheim, dann bitte was Schickes: Nach dem Tod ihres anstrengenden Ehemanns will Lizzi ihren Lebensabend in nobler Umgebung in Blankenese genießen. Ihr Plan zerschlägt sich, als ihr erst ein Kleinganove das dafür nötige Kapital stiehlt und dann auch noch der Rentner von nebenan erschossen wird. An der Seite der Pflegerin Mareike und des kauzigen Kommissars Pfeiffer macht sich Lizzi auf die Suche nach ihrem Geld und dem Mörder – und gerät schneller, als ihr lieb ist, in Gefahr.
»Lizzi ist herrlich eigensinnig und die sympathischste Heldin, die mir seit langem begegnet ist.« Gisa Pauly
Anja Marschall
Lizzis letzter Tango
Kriminalroman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Über Anja Marschall
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Leseprobe aus: Jean G. Goodhind – Mord in Weiß
Lizzi sah von dem Kreuzworträtsel auf ihrem Schoß auf. Die Stirn in Falten gelegt, blickte sie über den Rand ihrer Lesebrille, um den Mann auf der Mattscheibe ihres alten Fernsehers besser beobachten zu können. Sie war sich sicher, dass auch er nicht alle Antworten wusste und stets nur so tat als ob. In aller Seelenruhe saß er auf seinem Stuhl, wissend, dass es die nervösen Leute vor ihm waren, die die Antworten kennen mussten. Nicht er.
Lizzi nickte. Nein, es war ganz klar, Günther Jauch hatte keinen blassen Schimmer, warum 1909 im Hamburger Rathaus plötzlich ein Sachse von der Bildfläche verschwunden war.
»Weil er den Kopf senkte, Herr Jauch. Weil er den Kopf senkte«, murmelte Lizzi und widmete sich wieder ihrem Rätsel.
Das mit dem verschwundenen Sachsen wusste jeder in der Stadt, auch die kleine Lizzi aus Hamburg-Altona. Es war an ihrem zehnten Geburtstag gewesen, als der Vater sie mit ins Rathaus genommen hatte. Im weißen Rüschenkleid und mit Schleife im Haar hatte sie staunend zu dem Wandbild hochgeschaut, auf dem ein Bischof samt klerikalem Gefolge zu sehen war. Vor ihm kniete ein spärlich bekleideter Sachse. Er und die Männer hinter ihm wollten im Sumpf der Elbe eine Stadt gründen – Hamburg. Lizzis Vater hatte dem Kind erklärt, dass der Senat den Maler seinerzeit jedoch gezwungen habe, den knienden Sachsen wieder zu entfernen. »Warum?« – »Weil ein Hamburger niemals vor der Obrigkeit kniet, mein Kind. Nicht vor Königen und nicht vor Kirchenmännern.« Darum also segne der Bischof nur die Luft vor sich. Das war der Moment, in dem sich die kleine Lizzi vornahm, auf keinen Fall einen dummen Maler zu heiraten. Und außerdem wollte sie von nun an immer stolz darauf sein, in einer Stadt zu leben, wo man vor denen da oben niemals das Knie beugte. Bis heute hatte sie sich an ihren Vorsatz gehalten.
Lizzi legte das Kreuzworträtsel auf den Beistelltisch, der neben ihrem Fernsehsessel stand. Dann stemmte sie sich mit einem tiefen Seufzer hoch. Gemächlich schlurfte sie zur eichenen Schrankwand hinüber.
Dort im Regal stand ihr ganzer Stolz: eine imposante Reihe von zwanzig Brockhausbänden, in feines grünes Leder gebunden, die sie sich vor vielen Jahren in Ratenzahlung geleistet hatte. Das war noch in den Siebzigern gewesen, als sie und Willi mit Töchterchen Andrea in Altona am Fischmarkt wohnten. Zwei Zimmer, vierter Stock.
Doch die Zeit in der kleinen Wohnung war längst vorbei. Jetzt lebte die ehemalige Schlachtereiverkäuferin Elisabeth Böttcher, genannt Lizzi, in der teuersten und vornehmsten Seniorenresidenz der Hansestadt. Mit Elbblick. Beste Lage. Piekfeine Von und Zu in den Appartements nebenan. Den Speisesaal nannten sie hier »Kasino«, und man musste nicht bei der Essenausgabe anstehen, sondern ging zum »Buffet« oder ließ sich am Tisch bedienen. Die Anmeldung war hier eine »Rezeption«, und im Foyer gab es keinen Blumenladen, sondern eine »Blumenboutique«. Dass Luigi, der hauseigene Friseur, ein echter Italiener war, zweifelte Lizzi jedoch an, seit sie herausgefunden hatte, dass er den Unterschied zwischen pomodoro und prosciutto nicht kannte.
Wenn jemand Lizzi fragte, wie sie sich einen Altersruhesitz dieser Preisklasse leisten konnte, behauptete sie immer, sie habe im Lotto gewonnen. Nachgeprüft hatte das glücklicherweise noch keiner. Und falls einer wissen wollte, welchen Beruf ihr verstorbener Gatte denn ausgeübt habe, sagte sie stets, er sei bei der Bank gewesen. Bis zu seinem Tod. Was ja auch irgendwie ein bisschen stimmte.
Lizzi griff nach Band fünf der Enzyklopädie. Sie schlug das Buch auf.
Doch statt eng bedruckter Seiten voll interessanter Fakten befand sich dort eine rechteckige Aushöhlung. Lizzi hatte das schöne Buch wie auch die Folgebände mit einem Teppichmesser ruinieren müssen, um möglichst viele Geldscheine darin unterbringen zu können. Über zweihunderttausend Euro lagen dort versteckt.
Morgen war Zahltag. Darum nahm Lizzi sechs Scheine heraus und schob sie in einen gefütterten Briefumschlag mit dem Wappen der Seniorenresidenz Hanseatica. Dann stellte sie das dicke Buch an seinen Platz zurück. Gleich nach dem Frühstück würde sie ihre Miete an der Rezeption bezahlen. Zufrieden nickte sie. Mit etwas Glück würde das Geld von Willis letztem Bankraub bis ans Ende ihrer Tage reichen.
Punkt sieben Uhr in der Früh sprang der Radiowecker an. »Hier ist Radio Hamburg mit den Nachrichten des Tages …«, dröhnte die Stimme eines schrecklich gutgelaunten Jünglings durch ihr Schlafzimmer.
Natürlich war Lizzi schon lange wach, aber sie wollte nicht mitten in der Nacht aufstehen, wie die anderen Senioren im Haus es taten. Alte Leute stehen früh auf, junge Leute schlafen länger. Sie fand, dass sie mit siebzig Jahren noch recht jung war. Also blieb sie jeden Morgen so lange im Bett liegen, bis ihr Radiowecker losplärrte. Dies war ein Luxus, den sie nach fast fünfzig Jahren hinter der Theke von Schlachter Schlüter mit jeder Faser ihres alt werdenden Körpers genoss. Wohlig seufzte Lizzi.
»Der Beginn des Prozesses gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden der Hansebank Hamburg, Jens Jessen, verschiebt sich erneut«, erklärte der Sprecher, während Lizzi sich mit einem leisen Stöhnen aufsetzte. Sie schlüpfte in ihre Hauspantoffeln. Dann stellte sie sich neben das Bett, um mit der Morgengymnastik zu beginnen. »Ein vom Gericht eingesetzter Gutachter bestätigte den schlechten Gesundheitszustand des Angeklagten.« Lizzi hob und senkte die Arme bis zur Schulter, ließ sie kreisen, neigte sich mit dem Oberkörper ein wenig zur rechten Seite, dann zur linken und lauschte dem Knacken ihrer Gelenke. »Wie heute Morgen bekannt wurde, erwägen Jessens Anwälte, einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens zu …« Zum Schluss deutete Lizzi noch ein paar Kniebeugen an. Gymnastik musste sein, außerdem ersparte ihr der Frühsport den Gang ins hauseigene Fitnesscenter oder gar in die Zipperleinstation von Doktor Hoffstätter im Erdgeschoss.
Lizzi nahm die Bürste und strich exakt einhundert Mal durch ihre langen weißen Haare, die sie zu einem dicken Zopf flocht.
Schön sollte es heute werden, versprach der Radiomoderator und kündigte sogar frühsommerliche Temperaturen an.
Das gefiel Lizzi, so konnte sie auf ihrem Balkon frühstücken und dabei den Blick auf die Elbe genießen. Diese Aussicht war der Grund, warum sie hier und nirgends anders wohnen wollte. Schon seit ihrer Geburt hatte sie immer in der Nähe des grauen Stroms gelebt; erst mit ihren Eltern in der Palmaille 10, dann mit Willi im vierten Stock am Fischmarkt. Als Kinder badeten sie am Strand von Övelgönne, die Schiffe, die Richtung Hafen zogen, zum Greifen nah. Später dann schlenderte sie mit Willi bei Mondschein Hand in Hand den Elbwanderweg entlang. Sie erinnerte sich an den Fisch, den sie unten an den Landungsbrücken von den Kuttern gekauft hatten. Heringe, eine Mark fuffzig das Kilo. Das war in jener Zeit, als Willi es kurzzeitig mit ehrlicher Arbeit versucht hatte, drüben bei Blohm & Voss, wo sie Schiffe bauten.
Nein, ein Leben ohne die Elbe wollte sich Lizzi nicht vorstellen. Und dass in letzter Zeit immer öfter diese eleganten weißen Kreuzfahrtschiffe vorbeikamen, letztens sogar die Queen Mary 2, tröstete Lizzi sogar über die unverschämt hohe Miete in der Seniorenresidenz Hanseatica hinweg.
In der klitzekleinen Küche, die man hier »Pantry« nannte, ließ Lizzi Wasser in einen Kessel laufen. Dann nahm sie den Porzellanfilter und die Filtertüten aus dem Schrank und griff zur Kaffeekanne. Sie begann sich einen guten, starken Kaffee zu machen. Schon bald zog der würzige Geruch in jeden Winkel ihres kleinen Appartements.
Lizzi schloss die Augen und sog den herben Duft ein. Dieser Filterkaffee war nicht so ein schlaffes Süßzeug aus der Dose oder gar aus einem Automaten. Dieser Kaffee war Tradition und Kunst in einem. Man trank ihn im Sitzen und nicht aus einem Pappbecher im Laufen. Für diesen Kaffee musste man sich Zeit nehmen und Muße haben. Andere Leute meditierten bei obskuren Gurus oder sprangen halbnackt an Gummibändern von Brücken. Lizzi kochte Kaffee.
Dazu schmierte sie sich jetzt eine Scheibe Brot, auf die sie ein ordentliches Stück Gouda legte, auf das eine dicke Schicht Erdbeermarmelade kam. Dann ging sie mit Kaffee und Stulle hinaus auf ihren Balkon.
Schwer ließ sich Lizzi auf den Gartenstuhl sinken, der unter ihrem Gewicht ächzte.
Während sie einen Schluck nahm, wanderte ihr Blick zufrieden ans andere Ufer der Elbe hinüber, wo die Hallen vom Airbuswerk noch unter einem Nebelschleier lagen. Hübsch war das Gelände da drüben nicht, aber sehenswert, wenn mal wieder einer dieser dicken Brummer abhob und langsam gen Himmel stieg. Schon faszinierend, dass diese Dinger fliegen konnten, während es Lizzi stets am Boden hielt. Dabei wog sie mit ihren hundert Kilo nur einen Bruchteil von so einem A380.
Der Fluss hatte über Nacht frische Nordseeluft mitgebracht. Lizzi füllte ihre Lungen mit der salzigen Brise. Der Kaffee war heiß und stark, das Käsebrot dick und lecker.
»Willi«, sagte sie und hob ihren Kaffeebecher gen Himmel. »Du warst vielleicht nicht der ehrlichste Ehemann, den sich eine Frau wünschen kann … und der hellste warst du auch nicht, aber: Du warst der beste!« Dann nahm sie einen großen Schluck Kaffee.
Ja, sie war glücklich. Und daran war Willi nicht ganz unschuldig, schließlich war das Geld in den Brockhausbänden so etwas wie sein heimliches Vermächtnis. Denn sie hatte seit vier Jahren ein Geheimnis, von dem niemand etwas wissen durfte, nicht ihre Tochter, nicht die Heimleitung oder die Nachbarn und schon gar nicht die Polizei. Das war auch der Grund, warum Lizzi an jedem Ersten eines Monats ihr kleines Täuschungsmanöver absolvierte. Und für ebendieses wurde es jetzt Zeit.
Lizzi trat aus dem Fahrstuhl in das Foyer der Seniorenresidenz Hanseatica. Zielstrebig schritt sie an der Sitzgruppe am Fenster vorbei, wo die dürre Frau von Eversberg im angeregten Gespräch mit ihrer Freundin Mechthild Stöver saß. Die beiden Damen hoben die Köpfe und blickten Lizzi abschätzig hinterher, wie sie im beigefarbenen Trenchcoat, mit geblümtem Kopftuch und der braunen Lederhandtasche über der Schulter zum Empfang ging. Lizzi grinste. Sie wusste, dass nichts an ihr hierherpasste. Aber insgeheim machte es ihr Spaß, die vornehmen Damen und Herren im Haus mit ihrem Auftreten ein wenig zu ärgern. Wobei sicherlich Frau Stöver den Anblick schnell wieder vergessen dürfte, überlegte Lizzi. Sie hatte in letzter Zeit immer mehr Anzeichen von Schussligkeit bei der kultivierten Gattin des verstorbenen Professors bemerkt. Ja, ja, dachte Lizzi, wenn das Alter kommt, sollte man nicht wegschauen, sondern ihm freundlich entgegentreten. Die grauen Zellen zu trainieren war da durchaus angebracht.
Lizzi tat eine Menge, damit ihr Kopf nicht faul wurde. Vor zwei Jahren hatte sie angefangen, Italienisch zu lernen, sie korrespondierte mit einem Hochschullehrer für englische Geschichte in Oxford und einer bisweilen etwas irritierenden, aber äußerst reizenden Malerin an der Nordsee. Gelegentlich übernahm Lizzi eine Rolle in einer Theatertruppe, die vornehmlich Shakespeare spielte und ihre Stücke in einem Fabrikgebäude am Rand der Stadt aufführte. Und kürzlich hatte sie sogar versucht, Bandoneon zu lernen, um ihrer heimlichen Leidenschaft zu frönen – dem Tango. Tango war für sie mehr als nur ein Tanz. Dem Tango hatten sie und Willi sich in den kleinen Kaschemmen von St. Pauli hingegeben, um zu vergessen, um zu trauern, um die Hoffnung nicht aufzugeben. Tango war trotzige Sinnlichkeit zwischen Bandoneonklängen und Männerschweiß. Und nun war Willi tot und die Zeit der getanzten Hoffnung zu Ende. Darum hatte Lizzi zum Bandoneon gegriffen. Aber ihr Nachbar, Regierungsrat a.D. Uhlendorf, dieser Kulturbanause, hatte sich über den Lärm beschwert. Es war Lizzi absolut unverständlich, wie man argentinischen Tango als belästigend empfinden konnte. Sie hatte sogar mit Rücksicht auf ihre Nachbarn die Schallplatte von Astor Piazzolla extra laut aufgedreht, damit keiner ihre falschen Töne hörte. Schließlich war sie Anfängerin. Nun denn, seither staubte das Bandoneon in ihrem Wohnzimmer in der Ecke vor sich hin. Kurz hatte Lizzi mit dem Gedanken gespielt, aus purer Rache mit dem Dudelsackspielen anzufangen, es dann jedoch lieber gelassen. Ihr Herz lag eher im rassig eleganten Süden Lateinamerikas als in den nasskalten schottischen Highlands.
Lizzi grüßte die beiden tuschelnden Frauen in der Sitzecke, als sie über den dunklen Marmorfußboden mit dem darin eingelegten Wappen der Hansestadt zum Empfang ging. Dort reichte sie Jessica den Appartementschlüssel über den Tresen. »Guten Morgen, Frau Böttcher«, sagte diese und hängte den Schlüssel an den Haken mit der Nummer 312. »Möchten Sie Ihre Miete bezahlen?«
Lizzi lächelte. »Aber natürlich, sobald ich von der Bank zurück bin.«
Sie wollte sich schon auf den Weg nach draußen machen, als sie Mareike Gödecke, die nette Pflegerin mit den wuscheligen roten Haaren, aus dem Flur eilen sah, der zu den Praxisräumen von Doktor Hoffstätter führte. Links und rechts des Ganges standen riesige Bodenvasen mit Lilien darin, die die junge Frau in ihrer Hektik fast umstieß. Lilien, die Blumen der Jungfräulichkeit und der Reinheit, der Verkündigung und des Todes. Lizzi fand, dass keine dieser Bedeutungen wirklich gut zu einer geriatrischen Praxis passte.
Mit zusammengekniffenem Mund und ohne einen Gruß rannte Mareike an Lizzi vorbei, wobei sie ihren hochgerutschten Rock richtete.
Neugierig sah Lizzi ihr nach. »Ist Doktor Hoffstätter heute da?«, fragte sie Jessica, die von dem kleinen Zwischenfall nichts mitbekommen hatte.
»Sind Sie denn krank, Frau Böttcher?« Überrascht blickte die junge Empfangsdame auf.
»O nein, mir geht es gut.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Himmel, schon so spät?«
Gerade wollte sie die Residenz verlassen, als ihr noch etwas einfiel. »Sollte Frau Stöver ihre Handtasche suchen«, Lizzi wies zu den beiden Damen in der Sitzecke hinüber, die soeben aufgestanden waren und sich suchend über die Lehne des Sofas beugten, »die steht im Kasino auf dem Tisch, an dem sie eben gefrühstückt hat.«
»Die Handtasche?« Jessica runzelte die Stirn.
»Eine Frage der Logik, Kindchen«, erklärte Lizzi. »Die Brötchenkrümel auf dem Pulli von Frau Stöver sagen mir, dass sie eben vom Frühstück gekommen sein muss. Da jeder weiß, dass sie in ihrer Tasche die Tabletten aufbewahrt, die sie immer vor den Mahlzeiten einnimmt, ist es nur logisch, dass sie sie im Kasino noch bei sich gehabt haben muss.« Zögerlich nickte Jessica. Geduldig erklärte Lizzi weiter: »Als ich eben an den beiden vorbeiging, hatte sie keine Tasche bei sich. Sie muss also noch im Kasino sein. Die Tasche, nicht Frau Stöver.«
Das Gesicht der jungen Frau erhellte sich. »Ah, verstehe.«
In diesem Moment eilten die Damen herüber. An Frau Stövers perlenkettengeschmücktem Hals waren hektische Flecken zu sehen.
Lizzi wünschte allen einen schönen Morgen und machte sich auf den Weg zur Bank. Es wurde wirklich Zeit.
Als Lizzi die Schalterhalle der Bankfiliale in der Blankeneser Bahnhofstraße betrat, blickte sie sich kurz um. Dann ging sie zu einem der freien Schalter. Dort bat sie die nette Angestellte mit den gefärbten Haaren, wie jeden Monat, um einen Auszahlungsschein.
Nun stellte sich Lizzi an einen der Stehtische, griff zum Kugelschreiber, der an einem Band hing, und begann das Formular in aller Ruhe auszufüllen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ihren Nachbarn, Regierungsrat a.D. Uhlendorf, der am Geldautomaten stand und ihr den Rücken zuwandte.
»Guten Morgen, Herr Regierungsrat«, rief Lizzi dem hochgewachsenen weißhaarigen Herrn zu. »Welch Zufall!«
Kurz drehte er sich um. Als er Lizzi erkannte, nickte er ihr knapp zu, um sich dann wieder dem Auszahlungsvorgang zu widmen.
Natürlich war es kein Zufall, dass Lizzi ihn hier traf. Im Gegenteil, sie legte großen Wert darauf, von ihm gesehen zu werden. Er würde in der Residenz berichten, dass er die Böttcher in der Bank getroffen habe. Und dass sie mal wieder, ganz altmodisch, einen Vordruck ausgefüllt habe, um sich ihr Geld in bar auszahlen zu lassen. Er selber habe ja eine EC-Karte. Das sei moderner.
Es war Lizzi wichtig, dass alle glaubten, sie hätte ein Konto, so wie jeder andere Mensch auch. Dass dem nicht so war, sollte niemand wissen. Banken traute Lizzi nicht mehr, seit Willi es damals geschafft hatte, vier davon an einem Nachmittag auszurauben. Einzig Lizzis lächerlich geringe Rente wurde allmonatlich auf ein Konto bei der Postbank überwiesen. Das Geld in ihrem Appartement jedoch würde sie niemals einer Bank anvertrauen. Das war ihre Zukunft, und damit spielte man nicht.
Als Uhlendorf fertig war, wollte Lizzi ein belangloses Gespräch mit ihm beginnen, doch schon unterbrach er sie. »Ich habe keine Zeit, Frau Böttcher.« Er zog seine silberne Taschenuhr aus der Weste, die immer um zwölf Uhr »Preußens Gloria« spielte. Tag und Nacht, wie Lizzi wusste, denn nur eine dünne Wand trennte die Appartements der beiden. »Ich muss mich beeilen. Bei meiner letzten Erkundungstour habe ich ihn gesehen.« Er tippte an seinen Hut und ging ohne weitere Erklärung aus der Bank.
Lizzi grinste. Sie hatte schon gehört, dass Regierungsrat Uhlendorf ein Buch über den scheuen Goldregenpfeifer zu schreiben gedachte. Einen kleinen Piepmatz, den er glaubte im nahen Hirschpark kürzlich beobachtet zu haben. Der Mann war begeisterter Hobbyornithologe, was auch das schmale Bändchen erklärte, das aus seiner Jackentasche ragte: den Falke-Taschenkalender für Vogelbeobachter.
Zufrieden blickte Lizzi ihrem Nachbarn nach. Täuschungsmanöver abgeschlossen.
Sie warf den halbausgefüllten Auszahlungsschein in einen Papierkorb und machte sich auf den Weg zum Bäcker, wo sie noch eine leckere Plundertasche zu essen gedachte.
Lizzi bemerkte nicht den Mann, der unweit von ihr die Immobilienangebote studiert hatte.
Als er Lizzis Namen gehört hatte, war er herumgefahren. Nun starrte Kriminalhauptkommissar a.D. Ewald Pfeiffer mit offenem Mund der Frau mit dem Kopftuch nach, die soeben die Bank verließ.
Noch immer stand der ehemalige Kriminalbeamte wie angewurzelt da, unfähig, seinen Blick vom Ausgang zu lösen, durch den Elisabeth Böttcher verschwunden war. Sie war älter geworden, aber er hatte sie sofort erkannt.
Immerhin war sie eine wichtige Zeugin im Fall des vierfachen Bankraubs von Willhelm Böttcher gewesen, ihrem Ehemann und Pfeiffers ganz persönlicher Nemesis.
Kurz vor Pfeiffers Pensionierung hatte Willi die Hansebank-Filialen in Eimsbüttel, Eidelstedt, Schnelsen und Niendorf überfallen. Ein dreistündiger Raubzug im Nordwesten der Stadt, der an Dreistigkeit nicht zu übertreffen war. Die Beute betrug fast dreihunderttausend Euro.
Schon am nächsten Tag hatte Pfeiffer Willi verhaftet. Da der Verdächtige aber nicht geständig war, musste unbedingt die Beute gefunden werden. Pfeiffer – mit drei f – und seine Kollegen stellten Willis Wohnung auf den Kopf, durchwühlten alle möglichen und unmöglichen Verstecke, doch vergeblich. Das Geld blieb verschwunden. Um Willis Schuld zu beweisen, hätte Pfeiffer damals zumindest ein Geständnis des Täters gebraucht. Doch leider zog dieser renitente Kleinkriminelle es vor, in seiner Zelle zu sterben.
Natürlich schalteten Pfeiffers Vorgesetzte die Abteilung für interne Ermittlungen ein. Monatelang prüften die, ob Pfeiffer mit dem alten Mann vielleicht zu hart umgesprungen war, so wie es die Presse behauptete.
Mensch, der Kerl war nur fünf Jahre älter als Pfeiffer gewesen! Außerdem rauchte er wie ein Schlot und trank mehr Bier und Korn, als ein Mann vertragen konnte. Selbst als erwiesen war, dass der Gefangene an Herzversagen gestorben war, ließ die Presse nicht locker.
Irgendwann schauten alle Pfeiffer schräg an. Die Kollegen, die Nachbarn, sogar der Zeitungsjunge. Hatte er nicht doch ein wenig zu diensteifrig gehandelt, als keiner hinsah? Die Medien nannten ihn bald den »Mordsbullen«. Und einige der Kollegen ließen keine Gelegenheit aus, Pfeiffer mit dämlichen Witzen auf das fehlende Geld und den toten Ganoven hinzuweisen. »Pfeiffer kommt von pfiffig, und pfiffig kommt von Pfeife« wurde damals ein beliebter Spruch im Präsidium. Pfeiffer konnte nicht anders, als diese Angelegenheit persönlich zu nehmen.
Fast sechs Monate dauerte die Untersuchung des Vorfalls, und der abschließende Bericht trudelte an Pfeiffers letztem Arbeitstag bei seinem Vorgesetzten Lindemann ein. Es war der Tag vor Pfeiffers Pensionierung. Obwohl man ihm im Fall Böttcher keine Nachlässigkeiten oder gar Fehlverhalten nachweisen konnte, fiel die Abschiedsparty im dritten Stock des Präsidiums äußerst kühl aus, ja man konnte sogar sagen, dass es die kürzeste Feier war, die das LKA je erlebt hatte.
Mehr als die Hälfte seines Lebens war Pfeiffer Polizist gewesen. Er hatte so manchen Verbrecher erwischt, Auszeichnungen zuhauf kassiert, und war überzeugt, seinen Job gut gemacht zu haben. Und dann das! Pfeiffer hatte sich seinen Abgang aus dem Dienst anders vorgestellt.
Doch jetzt ging ein Kribbeln durch den Körper des Exkommissars. Das Gefühl kannte er von damals, wenn sie zu einem Einsatz mussten. Elektrisierte Haut, Anspannung bis in die letzte Faser, der prüfende Griff zum Holster.
Pfeiffer trat auf den smarten Angestellten der Bank zu. Ein Gedanke war ihm gekommen, den er sofort überprüfen musste.
»Was kann ich für Sie tun?« Der junge Mann lächelte ihn mit zwei perfekten Zahnreihen an.
Ohne Umschweife kam Pfeiffer zum Thema. »Die Frau, die vorhin in der Halle war«, begann er, »siebzig, einen Meter fünfundsechzig groß, weißes Haar, Kopftuch, beigefarbener Trenchcoat …«
Der Banker lächelte und verstand nichts. »Ich denke, ich hole unseren Filialleiter, Herrn Siebert. Der wird Ihnen sicherlich weiterhelfen können.« Sprach’s und verschwand in den hinteren Teil der Halle, wobei die Absätze seiner schwarzpolierten Schuhe auf dem weißen Marmorimitat klackten.
Kurz darauf kam er mit einem anderen Mann mittleren Alters zurück, ebenfalls im dunklen Anzug, jedoch mit blondem Haar. Doppelte Klackzahl pro Schritt.
Herr Siebert begrüßte Pfeiffer mit dem gleichen Lächeln, wie es der junge Mann eben getan hatte. »Was kann ich für Sie tun, Herr …?«
»Pfeiffer, Kripo Hamburg«, log Pfeiffer nur ein klitzekleines bisschen. Aber diese drei Worte »Pfeiffer, Kripo Hamburg«, die taten ihm irgendwie gut. Na ja, und darum waren sie ihm wohl einfach so, ganz versehentlich, herausgerutscht. »In Ihrer Bank fiel mir eine Person auf. Weiblich, siebzig Jahre alt …«
»Ich würde Ihnen gern helfen, Herr Kommissar. Aber der Datenschutz. Sie verstehen?« Siebert lächelte. »Wenn es um unsere Kunden geht, sind wir damit äußerst genau. Da brauchte ich schon etwas Schriftliches. Vielleicht könnten Sie mir Ihren Ausweis …«
Pfeiffer ignorierte den Wunsch des Filialleiters. »Ich denke nicht, dass es sich um eine Kundin handelt. Im Gegenteil. Die Frau ist mit einem aktenkundigen Bankräuber verheiratet.« Das Wort »gewesen« ließ er erst einmal weg, schließlich wollte er die ungeteilte Aufmerksamkeit des Mannes. Und die hatte er jetzt auch, wobei Siebert eine ganze Spur blasser wurde.
»Ich nehme an«, fuhr Pfeiffer fort, »die Tatsache, dass die Frau in Ihrer Bank war, sich auffällig umsah und bald darauf ging, hatte einen Grund.«
Der Gedanke, Lizzi könnte die Filiale auskundschaften, war ihm sofort gekommen, als er sie erkannt hatte. Ja, ihm war noch etwas ganz anderes eingefallen: Vielleicht war sie damals überhaupt nicht die unwissende Hausfrau gewesen, die sie ihm vorgespielt hatte. Vielleicht war sie nicht das Opfer der Taten, sondern der Kopf hinter den Überfällen ihres Mannes! Und jetzt musste die Katze wieder mausen gehen, weil sie nicht anders konnte. Oder weil das Geld von damals ausgegeben worden war.
»Sie meinen, wir haben ein … Sicherheitsproblem?«, flüsterte der Filialleiter, wobei er sich ein wenig über den Tresen beugte.
Pfeiffer nickte.
Da trat eine ältere Angestellte zu ihnen heran. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie lächelte vorsichtig ihren sehr viel jüngeren Chef an.
Pfeiffer bemerkte die gefärbten Haare, die keine Spur von Grau trugen, obwohl die Frau die fünfzig schon länger überschritten haben dürfte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass das einfache Kundenpersonal einer Bank nie älter als vierzig Jahre zu sein schien. Diese Frau machte eine angenehme Ausnahme.
»Ich kenne die Dame«, erklärte sie. Sie lächelte entschuldigend, als sei es ihr peinlich, das Gespräch belauscht zu haben. »Einige unserer Kunden scheinen sie zu kennen. Die Herrschaften nennen sie Lizzi. Die Dame kommt jeden Ersten hierher und füllt ein Auszahlungsformular aus, aber sie löst den Schein nie ein. Nun, das ginge auch gar nicht. Sie ist nämlich keine unserer Kundinnen.«
Das würde seine Theorie untermauern, überlegte Pfeiffer. »Was tut die Frau noch, wenn sie hier ist?«
»Sie unterhält sich mit uns oder einem Kunden in der Halle.«
»Worüber?«
»Über das Wetter oder sonst etwas. Nichts Wichtiges.« Sie überlegte. »Die Kunden, die mit ihr reden, scheinen allesamt Bewohner der Residenz Hanseatica hier gleich um die Ecke zu sein.«
»Seit wann kommt sie hierher?«
»Seit fast vier Jahren.«
Das würde ebenfalls passen, schoss es Pfeiffer durch den Kopf.
»Sie ist sehr nett«, erklärte die Frau schnell. »Kürzlich half sie mir, meinen Füller wiederzufinden. Ich hatte ihn verzweifelt gesucht. Er war neu, mit einer Platinfeder. Ein Weihnachtsgeschenk, wissen Sie.« Die Männer sagten nichts. »Sie zeigte auf meinen Pulli. Ich hatte ihn mir wohl dorthin geklippt und dann die Kostümjacke darübergezogen. Ich hatte wie eine Verrückte danach gesucht. Dummerle, ich.« Sie lächelte Pfeiffer an. »Wir werden ja alle nicht jünger.«
Siebert atmete erleichtert auf. »Also doch kein Sicherheitsproblem.« Er blickte zu Pfeiffer, der nach Kameras in der Halle Ausschau hielt. »Oder möchten Sie die Aufzeichnungen sehen?«
Pfeiffer schüttelte den Kopf. »Und diese Frau steht nur herum und füllt Formulare aus?«
Die Angestellte nickte. »Im Alter werden wir doch alle ein wenig eigenartig, oder? Vielleicht ist sie einsam oder hat früher einmal in einer Bank gearbeitet.« Wieder lächelte sie ihr verlegenes Lächeln. »Heimweh sozusagen?«
Pfeiffer schüttelte den Kopf. Elisabeth Böttcher war Verkäuferin in einer Schlachterei gewesen, verheiratet mit einem Kleinkriminellen, der ein einziges Mal in seinem nutzlosen Leben einen Coup gelandet hatte. Warum sollte sie mit den Bewohnern irgendeines Heimes reden wollen?, fragte er sich. Wohnte die Böttcher etwa dort? Nun, falls das zutraf, war es ein Luxus, den sich selbst ein pensionierter Kriminalhauptkommissar nicht leisten konnte. Pfeiffer ahnte, wo er Willis Beute suchen musste. Die Beute, die bewies, dass er damals recht gehabt hatte.
Als Pfeiffer kurz darauf in seinen grünen Ford Granada stieg, lächelte er zufrieden vor sich hin. Genüsslich stellte er sich die Gesichter der Kollegen vor, wenn er mit dem Geld aus Willis letztem Raub im Kommissariat auftauchen und die Plastiktüte auf den Tisch seines damaligen Chefs knallen würde.
Natürlich musste Elisabeth Böttcher noch ein Geständnis ablegen. Aber dafür würde er schon sorgen.
Pfeiffer startete den Wagen und drehte den Lautstärkeregler seines Radios auf. Als er sich in den Verkehr Richtung Westen einfädelte, lärmte Radio Hamburg aus den Lautsprechern. »We are the Champions.« Pfeiffer sang kräftig mit.
Die Zeitung in ihrer Hand zitterte. Lange starrte sie auf das Foto unter der Schlagzeile.
Hatte sie sich so sehr in ihm irren können? Es hieß, er würde für Jahre ins Gefängnis müssen, wenn man ihn schuldig sprach. Die Anwälte gaben ihm wenig Hoffnung. Nur die Krankheit könnte ihn noch vor der Zelle bewahren, hatte man ihr erklärt. Sie sagten, es liege nur an ihr, wie die Sache ausgehen würde. Ihre Entscheidung, ihre Verantwortung.
Sie blickte zu ihrem Ehemann hinüber, der friedlich in seinem Sessel eingeschlafen war.
Was kostet der Tod?, fragte sie sich.
Man hatte versucht, sie zu beruhigen. Es gehe nicht um Geld, hatten sie gesagt. Nur um Würde. Die Würde der Unschuldigen. Und dann hatten sie das Angebot großzügig erhöht.
Sie wusste, dass es Unrecht war, aber das Schicksal ließ ihr keine Wahl.
Lizzi wartete vor dem Fahrstuhl, um in ihr Appartement zu fahren. Sie hatte die Miete an der Rezeption bezahlt und die Quittung sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt. Jetzt freute sie sich auf eine heiße Tasse Kaffee. Da sah sie aus den Augenwinkeln Frau Alberding-Wischenberg aus ihrem Büro neben dem Empfang treten. Die attraktive Mittvierzigerin war der neue Besen der Residenz. Seit einem Jahr leitete sie das Haus äußerst kompetent, ergebnisorientiert und effizient. Noch interessanter als ihre Leitungsfähigkeiten aber schien es Lizzi, dass Frau Alberding-Wischenberg die heimliche Freundin von Doktor Hoffstätter war. Was allerdings längst jedem im Haus zu Ohren gekommen war. Und so klatschten die Herrschaften in der Residenz leidenschaftlich über diese delikate Affäre, während die Leiterin überzeugt war, dass niemand davon wisse. Schließlich hatte sie selbst dem Personal jegliche Form der Liaison untereinander verboten. Das würde das Arbeitsklima im Haus nur unnötig kompliziert gestalten, hatte sie bei ihrer Antrittsrede vor einem Jahr gesagt.
Frau Alberding-Wischenberg, heute im marineblauen Kostüm mit weiß-rotem Halstuch und Perlenohrringen, ging zur Sitzecke hinüber, wo Frau von Eversberg und Frau Stöver nach dem kleinen Zwischenfall mit der Tasche wieder Platz genommen hatten.
Mit ausgesuchter Höflichkeit erkundigte sich die Geschäftsführerin bei den Damen nach deren Befinden. Sie wies auf das Bridgeturnier am Abend hin und insistierte, man möge doch vorbeischauen.
Lizzi, die jedes Wort mitbekommen hatte, schüttelte den Kopf. Warum gab es nur immer diese langweiligen Abendbeschäftigungen? Letztens hatte die Geschäftsleitung einen Tanztee organisiert. Lizzi hatte nur einen Blick in die Bibliothek geworfen, wo die Frauen miteinander tanzen mussten, weil es zu wenige Herren gab, die wollten oder konnten. Der traurige Anblick schmerzte Lizzi.
Für sie ging es beim Tanz um alles, was zwischen Männern und Frauen sein konnte. Und der Mann hatte die Frau fest in den Arm zu nehmen, sie zu führen, bis ihre beiden Körper eins wurden. Tanz war mehr als nur Bewegung zu quäkiger Musik. Tanz musste etwas aussagen, spannend sein, manchmal sogar erotisch. Auch im Alter. Lizzi seufzte. Willi und sie – und der Tango. Ja, das war was. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei.
Lizzi drückte noch einmal den Knopf für den Fahrstuhl, als Frau Alberding-Wischenberg mit festen Schritten auf sie zukam. »Frau Böttcher, darf ich wissen, wo Sie sich am kommenden Freitag aufhalten werden?« Ihr Ton hatte das gewisse geschäftsmäßig Unterkühlte. »Planen Sie etwas, einen Ausflug vielleicht oder einen Verwandtenbesuch?«
Überrascht blickte Lizzi die Frau an. »Warum denn?«
Frau Alberding-Wischenberg rollte mit den Augen. »Es wäre mir recht und sicherlich im Sinne des Hauses, wenn Sie im Falle Ihrer Anwesenheit an dem Tag Ihr Appartement nicht verlassen würden.«
Lizzi wusste, dass sie der Neuen ein Dorn im Auge war, weil sie so gar nicht in das vornehme Haus mit seinen distinguierten Bewohnern passte. Ihre Kleider waren zu abgetragen, Erbschmuck hatte sie nicht, auch einen hanseatischen Stammbaum konnte sie nicht vorweisen, und ihr Auftreten war zu … nun, sagen wir … zu wenig diplomatisch. Aber Stubenarrest für Elisabeth Böttcher? Das war nun wirklich zu viel. Sie fixierte die Frau in den hochhackigen Designerschuhen. Frau Alberding-Wischenberg räusperte sich. »Wir erwarten am Freitag eine Schweizer Investorengruppe. Es geht um die Finanzierung des neuen Ostflügels.«
Lizzi hatte von dem Lieblingsprojekt der Frau bereits gehört. Sie wollte die schöne weiße Gründerzeitvilla an der Elbchaussee um einen zweckmäßigen und äußerst hässlichen Anbau erweitern. Dort sollte ein Pflegeheim für bettlägerige Reiche eingerichtet werden. Seit einiger Zeit suchte die Wischenberg dafür Geldgeber. »Sie verstehen sicher, Frau Böttcher, wie wichtig es ist, dass die Herren von Kruger International einen hervorragenden Eindruck von unserem Haus bekommen.«
»Und Sie finden, eine Schlachtereiverkäuferin könnte diesen Eindruck ruinieren?«
Statt einer Antwort lächelte die Frau nur schmal. Ohne ein weiteres Wort ließ sie Lizzi stehen, die ihr hinter dem Rücken die Zunge rausstreckte.
Lizzi musste an eine Redensart denken: Wir müssen die Menschen nehmen, wie sie sind. Andere gibt es nicht. Wer hatte das doch gleich gesagt, Adenauer? Bei Frau Alberding-Wischenberg fiel es Lizzi allerdings schwer, gleichmütig zu bleiben. Seit diese Person ihre Stellung angetreten hatte, versuchte sie immer wieder, Lizzi loszuwerden, denn die passte nicht in dieses Haus mitsamt Sternerestaurant und Coiffeur, Billardzimmer und Bridgeturnier. Sie war eine einfache Hausfrau aus Altona. Und wenn es sein musste, fluchte sie wie ein Fischweib, trocknete ihre Wäsche auf dem Balkon oder verhandelte im hauseigenen Blumenladen über den Preis der Tulpen, als wäre sie auf einem türkischen Basar. Doch Lizzi fühlte sich hier wohl. Und sie hatte bestimmt nicht vor, klein beizugeben. Sie würde ihr Zuhause nicht verlassen. Niemals. Schließlich war sie vor der Wischenberg hier gewesen.
Wütend knallte sie ihre Hand auf den Fahrstuhlknopf. »Nun komm schon, du blödes Ding«, murmelte sie vor sich hin.
Seit sie hier wohnte, wachte Lizzi jeden Morgen mit einem Gefühl von Sicherheit auf. Niemand stand vor der Tür, um den Strom abzustellen. Sie musste nicht mehr zusammenzucken, wenn es klingelte, weil sie befürchtete, die Polizei stünde wieder da, um Willi zu verhaften. Niemals mehr würde ein Gerichtsvollzieher sie besuchen kommen. Nein, all das lag hinter ihr. Und vor dem Haus floss ihre Elbe.
Wenn die Alberding-Wischenberg glaubte, Lizzi würde gehen, hatte sie sich getäuscht. Elisabeth Böttcher bekam man hier nur mit den Füßen voran raus!
Endlich öffnete sich die Fahrstuhltür. Gerade wollte Lizzi eintreten, als Mareike ihr entgegenkam.
Lizzi fuhr aus ihren Gedanken. »Oh, Kindchen! Geht es dir besser?«
»Was meinen Sie damit, Frau Böttcher?«, fragte Mareike ein wenig zu hastig.
»Och, ich dachte ja man nur …«, wich Lizzi aus. »Ich sah dich beim Doktor aus dem Zimmer flitzen …«
Die Wangen der Pflegerin liefen rot an. »Ich habe mir eine Kopfschmerztablette geben lassen.« Sie fasste sich an die wuscheligen roten Locken, die sie mit Spangen zu bändigen versuchte. »Das Wetter, wissen Sie.« Lizzi lächelte, ohne ein Wort zu sagen. »Wussten Sie überhaupt, Frau Böttcher, dass wir einen Neuen bekommen?«, wechselte Mareike eilig das Thema.
Lizzi horchte auf. Neue Mieter im Haus waren immer eine willkommene Abwechslung im so vornehmen wie langweiligen Residenzalltag. »Weiß man denn schon, wer es ist?«
»Das ist es ja. Wir wissen es nicht«, flüsterte Mareike.
»Oh«, hauchte Lizzi nun ihrerseits. »Und was könnte das zu bedeuten haben?«
Mareike grinste und blickte zum Büro der Geschäftsleitung hinüber. Dann beugte sie sich dichter an Lizzi heran. »Hörte, dass die Chefin mit einer Frau Jessen telefoniert haben soll.«
Lizzis Augen wurden groß. Sie erinnerte sich an den Radiobeitrag von heute früh. »Nein! Der Jessen von der Hansebank kommt zu uns?« Sie überlegte. »Andererseits ist Jessen in Hamburg ein recht verbreiteter Name. Aber wer sonst sollte einen Grund haben, ein Geheimnis um seinen Einzug zu machen? Also, höchstwahrscheinlich ist es doch der Jessen.«
Mareike nickte. »Frau Alberding-Wischenberg versucht es geheim zu halten. Bestimmt wegen der Journalisten und so. Wenn die erst einmal spitzkriegen, dass der Exvorsitzende von der Hansebank hier ist, stehen diese Papa…« Sie stockte.
»…razzi«, half Lizzi aus.
»Genau die. Also, dann stehen die hier Tag und Nacht vor der Tür.«
Lizzi lachte. »Wetten, dass unser Luigi die nächsten Tage keinen freien Dauerwellentermin mehr haben wird? Schließlich könnte es doch sein, dass die Herrschaften von der Presse Interviews mit den Damen des Hauses führen wollen. Wegen delikater Hintergrundinformationen und so.« Verschwörerisch kniff Lizzi ein Auge zu.
Da hob Mareike den Kopf und blickte über Lizzis Schulter. »Oh! Da kommt er«, flüsterte sie.
Lizzi drehte sich um.
Gerade wurde ein Mann in einem Rollstuhl ins Foyer geschoben. Er trug einen grauen Mantel und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut. Sein voller grauer Bart und eine dunkle Sonnenbrille ließen eher an einen in die Jahre gekommenen Hippie denken als an einen erfolgreichen Banker. Die Beine waren in eine karierte Decke gewickelt, auf denen zitternd zwei bleiche Hände lagen. Eine kleine Frau eilte mit gesenktem Blick nebenher, wobei sie ihre Hand auf die Schulter des Mannes im Rollstuhl gelegt hatte. Mareike flüsterte: »Das ist er. Da bin ich mir sicher. Der bringt seine eigene Pflegerin mit, hab ich gehört. Drei Räume wurden für ihn freigemacht. Essen auf dem Zimmer, das Schwimmbad für ihn allein, wenn er es wünscht. Ja, ja, so ist das, wenn man reich ist«, stichelte sie. Lizzi schwieg und schaute zu der kleinen Prozession hinüber.
Eine elegant gekleidete Frau, kaum älter als Anfang dreißig, trat jetzt in das Foyer der Residenz. Sie musste einer kleinen älteren Dame im rosafarbenen Chanelkostüm ausweichen, die in ihrer Hand eine leere Supermarkttüte hielt und eiligen Schrittes aus der Residenz marschieren wollte. Das kleine Hütchen auf ihrem Kopf hing etwas schief, so dass der Schleier nicht ihr Gesicht, sondern das linke Ohr verdeckte. Die tüdelige Gerda ging mal wieder auf Tour. Gerda Wenningstedt sammelte alles, was sie glaubte gebrauchen zu können: alte Schuhe, vergessene Regenschirme oder weggeworfene Zigarettenschachteln. Am liebsten aber mopste sie Zuckerwürfel in den Cafés der Gegend. Wäre ihr Sohn nicht Oberstaatsanwalt Wenningstedt gewesen, hätte die Geschäftsleitung der Residenz die alte Frau schon längst rausgeworfen. Da die Familie Wenningstedt jedoch zu den angesehensten der Stadt gehörte und Gerdas Sohn eine nicht unwesentliche Spende für den neuen Anbau gemacht hatte, durfte die harmlose alte Dame vorerst bleiben.
Energisch drängelte sich Gerda nun an der eleganten jungen Frau vorbei, die daraufhin der davontippelnden Alten erbost hinterherblickte.
Da kam auch schon Frau Alberding-Wischenberg mit geschäftstüchtiger Miene auf Frau Jessen zu. »Willkommen in der Residenz Hanseatica.« Sie schüttelte ihr die Hand. »Wir können gleich die Formalitäten erledigen.«
Während die Frauen im Büro verschwanden, sah Lizzi dem Mann im Rollstuhl nach. Das also war Jens Jessen, der Aktienkurse im großen Stil manipuliert, Steuern hinterzogen, Kundengelder veruntreut und zweifelhafte Geschäfte mit den miesesten Typen dieser Welt gemacht haben sollte.
»Die Gerüchteküche sagt, er habe Alzheimer«, flüsterte Mareike.
Lizzi überlegte, auf welche Art sie selbst einmal von dieser Welt gehen würde. Würde sie einfach tot umfallen? Oder würde sie als Häufchen Elend im Rollstuhl auf Gevatter Tod warten müssen, bis der sich endlich bequemte, einen Termin für sie frei zu haben?
Mareike riss sie aus den Gedanken.
»Kommt heute nicht Ihre Tochter zu Besuch?«
»Andrea? – Ja, leider.« Lizzi trat in den Fahrstuhl.
Der Nachmittag nahte, und der Zeiger auf der Uhr ging langsamer und langsamer. Lizzi hätte Andreas Besuch gern schnell hinter sich gebracht. Wie immer hatte sie dieses Augen-zu-und-durch-Gefühl, wenn ihre Tochter sich zum Kaffee ankündigte. Und sie ahnte, dass es Andrea ebenso ging. Lizzi wusste nicht, was an diesen Familienbesuchen so schön sein sollte, dass die anderen Senioren im Haus den stets fernbleibenden Verwandten nachtrauerten. Andrea kam eigentlich nur, um sich Geld zu leihen oder ihren aktuellen Freund vorzustellen. Beides empfand Lizzi als überflüssig.
Das Verhältnis der beiden Frauen war schon lange alles andere als gut. Lizzi konnte nicht sagen, wann es angefangen hatte. Andrea war ein Papakind gewesen. Der immer liebe Papa, der dem Kind den Himmel auf Erden, den Prinzen auf dem Pferd und ein großes Königreich versprach. Ganz anders Lizzi. Sie mahnte zur Sparsamkeit, schimpfte über die Luftschlösser ihres Mannes, und sie arbeitete Tag und Nacht. Als Willi dann in der Haft gestorben war, hatte Andrea sich in den Kopf gesetzt, dass es ihre Mutter gewesen war, die ihn bei der Polizei denunziert haben musste. Schrecklich.
Das war der Moment, wo Lizzi aufgegeben hatte, um ihre Tochter zu kämpfen. Und so hatten die beiden Frauen inzwischen gelernt, wenn schon nicht herzlich, so doch zumindest zivilisiert miteinander umzugehen. Das ging mal besser, mal schlechter.
Der Zeiger der Wanduhr bewegte sich wie in Zeitlupe weiter, Strich für Strich.
Immer wieder stand Lizzi von der gedeckten Kaffeetafel auf, schaute aus dem Fenster, setzte sich zurück an den Tisch, nahm die Fernsehzeitung zur Hand, legte sie fort oder versuchte, ein paar Spalten im Kreuzworträtsel zu lösen.
Normalerweise war Andrea pünktlich. Sie war in jeder Hinsicht vorbildlich, was ihre Chefs offenbar anerkannten. So hatte sie es mit vierzig Jahren zu einem guten Job in einer Bank und vielen Schuhen in ihrem Kleiderschrank gebracht. Sie färbte ihre Haare blond und ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Vielleicht wäre sie weniger verbissen, wenn sie einen Mann hätte, überlegte Lizzi manchmal. Doch Männer lernte Andrea nur im Internet kennen, wie es schien. Sie kamen und gingen. Und bisher war nicht der richtige dabei gewesen. Aber Andrea war stur. Sie gab nicht auf. Jedes Mal war sie sicher, nun doch noch den Traumprinzen gefunden zu haben. Und es schien Lizzi, dass mit Andreas steigendem Alter die Ansprüche an die Männer sanken.
Endlich klingelte es an der Tür.
»Mutter!«, rief Andrea ein wenig zu laut. Sie trat ein und deutete eine kurze Umarmung an. »Wie geht es dir?«