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In der City of London, dem Herzen der internationalen Finanzwelt, wird die Leiche des dubiosen Finanzberaters Bradshaw gefunden. Die flippige Künstlerin Luna hat den Mann seit einiger Zeit verfolgt, weil das Geld, das sie ihm anvertraut hat, verschwunden ist. Scotland Yard vermutet schnell, dass eine Stalkerin den Banker erschossen hat - und kommt auf die Spur von Luna. Doch diese schwört ihrer Freundin Kate, dass sie unschuldig ist. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem wahren Mörder und stechen unversehens in ein Wespennest aus Korruption und Geldwäsche, Eitelkeiten und Gier.
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Seitenzahl: 331
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London Calling
von Anja Marschall
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Wissenswertes
Danksagung
Impressum
Zum Weiterlesen
eins
Er hatte sich in den letzten Tagen oft gefragt, wie es sein würde abzudrücken. Jetzt stand er da, den Finger am Abzug. Mit der anderen Hand hielt er den Lauf der Flinte und zielte auf sein bettelndes, winselndes Gegenüber. Er zögerte, jedoch nicht, weil er Hemmungen hatte zu töten. Nein, er wollte dieses einmalige Gefühl in seinem ganzen Körper spüren. Nicht der geringste Anflug von Zweifel oder gar Panik sollte ihm diesen Moment ruinieren. Er war sich der Einmaligkeit dieser Sekunden bewusst.
Langsam krümmte er den Zeigefinger seiner rechten Hand. Die Muskeln in seinem Oberarm spannten sich. Seine Haut schien zu vibrieren; er nahm alles intensiver wahr, als er es jemals zuvor getan hatte. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er den Kerl im Armani-Anzug, der in den Lauf der Schrotflinte starrte. Den Rücken an die Wand gedrückt, stand der Mann zitternd da. Unverständliche Worte kamen aus seinem Mund. Die Hosenbeine waren nass.
Aus dem Augenwinkel beobachtete der Schütze sich selbst im dunklen Glas der hohen Fensterscheiben, hinter denen das glitzernde London im Halbschlaf lag: St Paul’s Cathedral, das London Eye, die Lichter der City of London. Der mit der Waffe war nicht er. Es war ein anderer, ein Film.
Als er sicher war, dass er alles gefühlt hatte, was man in einem solchen Moment nur fühlen konnte, drückte er ab. Im Spiegel des Fensters glaubte er, das Schrot aus dem Lauf herausschießen zu sehen. Er sah, wie der Mann vor der Wand zusammensackte. Der beißende Pulverdampf reizte seine Schleimhäute, während er dem Schuss nachhorchte.
Dann war er vorbei, der eine, große Moment.
Mit einem tiefen Seufzer betrachtete er die Szenerie. Halb liegend lehnte der Tote zu seinen Füßen. Neben ihm lag eine unförmige Skulptur, die einen Bullen und einen Bären im Kampf darstellte. Dem Bullen fehlte ein Auge.
Er ging ins Bad, nahm die bereitgelegte Kleidung vom Wannenrand und zog sich um. Seine mit Blut bespritzten Sachen würde er in einem Müllcontainer nahe dem Mansion House entsorgen, von dem er wusste, dass er in zwei Stunden geleert werden würde. Die Schrotflinte würde er in die Themse werfen.
Ein letztes Mal ließ er seinen Blick prüfend durch die Wohnung im neunundzwanzigsten Stock des Heron gleiten.
zwei
Kate Cole sah, wie der Bus der Linie 187 langsam durch den Regen die Wellington Road hochkroch. Es war in dieser Nacht der letzte von St John’s Wood in Richtung Chippenham Road, und sie musste ihn erwischen, wollte sie nicht zu Fuß nach Hause gehen. Also umklammerte sie den Riemen ihres Lederbeutels, den sie sich über die Schulter geworfen hatte, und rannte los.
Zeitgleich mit dem roten Doppeldecker kam sie an der Haltestelle an, als die Türen auch schon aufgingen. Mit einem Satz war sie drin. Sie ließ sich am Fenster auf eine Bank fallen. Mit einem Ruck fuhr der Bus los.
Kate hatte eine Doppelschicht im Krankenhaus hinter sich, was eigentlich nicht erlaubt war. Aber die Grippewelle in diesem nassen Frühling hatte auch vor dem Personal des St John and St Elizabeth Hospital nicht Halt gemacht. Kates Füße schmerzten und ihr Rücken tat weh. Sie griff zu ihrem Lederbeutel und fischte eine Tüte Pfefferminzbonbons heraus. Als Kind hatte sie diese Bonbons bekommen, wenn sie artig gewesen war. Und auch als erwachsene Frau blieb sie der Tradition treu, sich damit zu belohnen. Sie nahm zwei aus der Tüte und steckte sie sich in den Mund. Dann schloss sie für ein paar Minuten die Augen und versuchte, sich auf ihren soeben beginnenden Urlaub zu freuen.
Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass ihre Station kam. Sie sprang auf und drückte den Knopf. Der Bus hielt und sie trat auf die nächtliche Shirland Road, die um diese Zeit fast ausgestorben war. Die Lichter der Straßenlampen glänzten auf dem regennassen Asphalt. Langsam ging sie an Fenstern vorbei, hinter denen Fernseher flackerten. Es fiel ihr immer schwerer, die müden Beine zu bewegen, doch zum Glück war es nicht mehr weit bis zu ihrer Souterrainwohnung in der Lanhill Road.
Eigentlich müsste ich mich freuen, überlegte sie erschöpft, als sie an dem Haus vorüberging, an dessen Wand ein Schild eindringlich vor Kindern warnte und Disneyfiguren sowie goldene Buddhas einen Fenstersims schmückten. Zwei Wochen lang würde sie nun keine Spritzen mehr setzen, keine übellaunigen Ärzte, keine überforderten Schwestern, keine Listen, keine bunten Pillen und keine jammernden Patienten ertragen müssen. Da sie keine Familie hatte, die sie besuchen konnte, und das Geld für einen richtigen Urlaub nicht reichte, würde sie ihre freien Tage in der kleinen Kellerwohnung verbringen. Sie würde sich aufs Bett lümmeln und alle Folgen ihrer Lieblingsserie gucken. Sie würde nur essen, worauf sie Lust hatte. Und nur, wenn es wirklich sein musste, würde sie vor die Tür gehen – um den Kühlschrank zu füllen, ins Kino zu gehen oder einen kleinen Spaziergang im Park zu machen.
Kate stieg die schmalen Stufen zu ihrer Wohnung hinunter und schloss die Tür auf. Modrig-feuchte Luft schlug ihr entgegen. Sie knipste das Licht an, ging zum vergitterten Fenster und zog die Vorhänge zu. Dann hängte sie ihren Lederbeutel an die Garderobe, stellte ihre Schnürschuhe, die sie sich vor Jahren für einen Wanderurlaub in den Highlands gekauft hatte, davor und ging ins Bad, um heiß zu duschen. Sie hoffte, dass die Heizung nicht schon wieder ausgefallen war. Irgendwie fühlte es sich an diesem Abend besonders kalt in ihrer Wohnung an.
Die Abflussrohre, die in einer Ecke ihres Badezimmers von der niedrigen Decke bis zum Boden verliefen, begrüßten Kate mit einem Gurgeln und Blubbern, als sie sich einen Schwall Wasser ins Gesicht spritzte. An dieses Geräusch, das in ihrer ganzen Wohnung zu hören war, sobald jemand oben im Haus auf die Toilette ging, das Wasser aus der Badewanne ließ oder duschte, hatte Kate sich noch immer nicht gewöhnen können. Ihr Vermieter meinte, das sei bei so alten Häusern normal und kein Grund, die Miete zu mindern.
Kate wusste, dass sie nicht zu anspruchsvoll sein durfte. Diese klamme Behausung war die einzige bezahlbare Unterkunft in der Nähe des Krankenhauses, wollte sie sich nicht mit drei oder vier Kolleginnen eine kleine Wohnung im Schwesternheim teilen – eine Option, die für Kate absolut nicht in Frage kam.
Sie schlang sich ein Handtuch um ihre nassen Haare und ging in die kleine, fensterlose Küche, wo sie ihren Lieblingsbecher vom Regal nahm und einen Teebeutel hineinfallen ließ. Dann griff sie zum Kessel, hielt ihn unter den Wasserhahn und drehte das Wasser auf. Das übliche Gurgelkonzert in der Wand begann. Sie zählte bis fünf, dann schoss das Nass in einem heftigen Strahl aus dem Hahn.
Nachdem sie ihr Nachtshirt angezogen und das Bett aufgebaut hatte – tagsüber diente es als Couch –, ließ Kate sich mit dem Tee auf der Decke nieder. Andere tranken Bier oder Wein zum Entspannen, sie jedoch pflegte ihre Liebe zum Tee.
Über sich hörte sie Mrs Erwing in Richtung Toilette schlurfen. Es war also ein Uhr. Kate lauschte, bis sie kurz darauf die Spülung hörte. Dann kam Leben ins Fallrohr. Es gurgelte, es rauschte, schließlich herrschte Stille. Durch diese Leitung fielen die Abwässer aller Mietparteien im Haus der Londoner Kanalisation entgegen. Verärgert nahm Kate sich vor, noch einmal mit dem Vermieter zu reden. So ging es nicht weiter.
drei
Gerade noch tief in ihrem Traum gefangen, schreckte Kate plötzlich hoch. Sie hörte ein lautes Hupen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Der Lärm kam von draußen. Tatsächlich, jemand hupte da auf der Straße! Ein weiteres „Tut!“ ließ die Scheibe hinter den Vorhängen scheppern.
„Was soll denn das?“, rief Kate, knipste die Nachttischlampe an, warf schwungvoll die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Sie riss den Vorhang auf und sah aus dem Fenster. Am Zaun zur Straße hoch bemerkte sie zwei lange Beine mit Cowboystiefeln an einem Ende und einer Art Kilt am anderen.
„Noch mal!“, rief die Person und das Hupen begann von Neuem.
Kate riss das Fenster auf. „Sind Sie wahnsinnig?!“, schrie sie zu den Beinen hoch. „Sie wecken die ganze Nachbarschaft!“ Jetzt war sie wach! „Es gibt Leute, die müssen morgen arbeiten!“ Okay, sie selbst nicht, aber das musste die Person da oben ja nicht wissen.
In dem Moment ging diese in die Knie. „Hey! Was machst du denn da unten? Ich denke, Keller sind nur was für Mäuse und Dienstboten.“
Kate kannte diese rauchige Stimme. Sie versuchte, sich weiter aus dem offenen Fenster hinauszulehnen, um die dazugehörige Person besser sehen zu können.
Doch die war schon wieder aufgestanden und schrie zur Straße hinüber: „Das reicht! Sie wohnt im Keller.“
Jetzt war Kate sich sicher: Da oben stand die verrückte Luna. Sie sah, wie ihr nächtlicher Gast koboldgleich die schmalen Stufen heruntersprang.
Luna hatte ihre roten Haare zu unzähligen Zöpfen geflochten und diese mit Schleifen aller Art versehen. Sie strahlte Kate durch das Fenster an. „Hi!“ war alles, was sie sagte. In ihrem Gesicht leuchteten die Sommersprossen mit ihrem Lächeln um die Wette.
Kate hatte Luna seit über einem Jahr nicht gesehen. Ab und zu las sie etwas über die reiche Erbin in den Klatschblättern. Doch ihre Leben waren zu unterschiedlich geworden, um noch Gemeinsamkeiten zu haben. Als Luna noch im Pub The King’s Men gearbeitet und kein Geld gehabt hatte, da hatten sie sich täglich gesehen. Man könnte sogar sagen, dass die beiden so unterschiedlichen Frauen irgendwie Freundinnen gewesen waren. Inzwischen aber verkehrten sie in absolut verschiedenen Kreisen.
„Willst du mich nicht reinbitten, Kate Cole?“
Kate war verwirrt. Sicherlich waren alle Nachbarn von dem Gehupe wach geworden. Bestimmt standen sie nun hinter den Fenstern und sahen, dass eine unmögliche Person mit roten Zöpfen ausgerechnet die nette Krankenschwester im Keller besuchte. Und dann noch um diese Zeit! Sie würde sich bei den Nachbarn entschuldigen müssen. Wie lange ging das mit dem Hupen eigentlich schon? Wahrscheinlich war die Polizei bereits unterwegs.
„Entschuldige bitte“, stotterte Kate und eilte zur Tür. „Komm schnell rein! Was machst du überhaupt hier?“
Luna trat ein, warf ihren Umhang vor der Garderobe auf den Boden und sah sich neugierig in der kleinen Wohnung um. „Kannst du das Taxi bezahlen?“
„Taxi?“
Da erschien ein junger Pakistani im Türrahmen.
„Das ist Raju“, stellte Luna den Fahrer vor. „Ihm gehört das Taxi.“
Kate blickte zwischen ihrem nächtlichen Gast und dem Taxifahrer hin und her.
„Dreiundzwanzig fünfzig“, sagte Raju und hielt Kate die offene Hand hin.
„Warum zahlst du dein Taxi nicht selbst, Luna?“ Ein vertrautes Gefühl überkam Kate. Es war die Gewissheit, dass Luna es immer schaffte, sie Dinge tun zu lassen, die sie eigentlich nicht tun wollte.
Luna, die mittlerweile Kates CD-Sammlung zu bewundern schien, meinte nur beiläufig: „Ich gebe es dir morgen wieder. Habe mein Portemonnaie mit den Kreditkarten im Hotel vergessen.“
Kate seufzte und bezahlte.
vier
Es war vier Uhr fünfzehn, als sich die Tür des Fahrstuhls im neunundzwanzigsten Stockwerk öffnete. Anjali, eine Reinigungskraft der Firma Cleansy Enterprise, kam mit ihrem Putzwagen heraus, um den Marmorboden sowie die Messingintarsien mit dem Logo des neuen Heron-Appartementhauses zu putzen und Staub zu wischen.
Schweigend schob sie den Wagen vor sich her, für dessen Nutzung ihr der Chef fünfzehn Pfund im Monat vom Lohn abzog. Sie hatte für jedes Stockwerk genau zwanzig Minuten Zeit. Da in der neunundzwanzigsten Etage nur ein Appartement bewohnt war, schaffte sie diese in knapp der Hälfte.
Seufzend nahm sie den Besen aus seiner Halterung und ging den Gang entlang, um mit dem Fegen zu beginnen. Sie würde danach auch noch die Türknäufe polieren müssen. Das hatte sie am Vortag nicht getan, weil sie den zwölften bis siebzehnten Stock von ihrer Schwägerin Nileema hatte übernehmen müssen, deren jüngster Sohn mit hohem Fieber im Bett lag.
Als Anjali am Appartement 2909 vorbeigehen wollte, bemerkte sie die offene Tür. Kopfschüttelnd fragte sie sich, warum die Leute nur so nachlässig waren. London war eine sehr gefährliche Stadt. Sie wusste das – schließlich lebte sie in Islington.
Während sie den Besen in der einen Hand hielt, klopfte sie mit der anderen an die Tür. „Hallo?“, rief sie in die Wohnung hinein und wartete.
Kurz darauf ging ein Notruf bei der Polizeizentrale ein.
fünf
Kate saß auf ihrem Bett und schaute zu Luna hinüber, die im Kühlschrank nach etwas Trinkbarem suchte.
„Ich könnte jetzt einen Wodka vertragen“, murmelte die Rothaarige den Eiern, dem Joghurt und der Erdbeermarmelade entgegen. „Aber ein paar Baked Beans tun es auch.“ Sie drehte sich um. In der Hand hielt sie einen Topf mit weißen Bohnen in Tomatensoße, den sie aus dem oberen Fach gezogen hatte. Tief tauchte sie einen Finger in die Soße und steckte ihn in den Mund. „Hm, lecker.“
„Wodka habe ich nicht“, meinte Kate entschuldigend. „Möchtest du Rotwein?“ Ohne die Antwort abzuwarten, stand sie auf und ging zu einem Schrank, um zwei Gläser zu holen.
Als die beiden kurz darauf mit dem Rücken an der Wand auf dem Bett saßen, spürte Kate, wie ihr Gast zitterte. Es schien nicht von der Feuchtigkeit zu kommen, die in den Wänden ihrer Wohnung steckte. Nein, das Zittern musste eine andere Ursache haben. Schweigend schaute Kate ihrer Freundin dabei zu, wie diese die letzten Reste der kalten Bohnen verschlang. Immerhin hatte sie sich einen Löffel genommen.
Plötzlich war ein Rumoren aus der Wand zu hören.
„Ey!“, rief Luna erschrocken aus und riss den Kopf hoch. „Was ist das?“ Sie blickte sich um.
„Die Abwasserleitungen. Jemand war wohl gerade auf Toilette.“
„Klingt ja grauselig.“ Luna widmete sich wieder dem Topf auf ihrem Schoß. Als auch das letzte bisschen ausgelöffelt war, griff sie zum Weinglas neben dem Bett und nahm einen kräftigen Schluck.
Jetzt sah Kate, dass Lunas Hand zitterte. „Alles okay?“
Die Rothaarige strahlte sie an, wobei ihre Mundwinkel zu zucken schienen. „Klar, was sollte sein?“ Mit dem Glas in der Hand sprang sie aus dem Bett, griff sich die Rotweinflasche vom Couchtisch und goss noch einmal großzügig nach. „War nur ein stressiger Tag irgendwie.“ Sie leerte das Glas in einem Zug. „Sicher, dass du keinen Wodka hast?“
Skeptisch musterte Kate ihre Freundin, die sie noch nie so unruhig gesehen hatte. Okay, hektisch war Luna schon immer gewesen. Ständig hatte man den Eindruck, sie müsse gerade die Welt aus den Angeln heben, etwas ganz Irres tun oder die Menschheit mit einer ihrer verrückten Ideen beglücken. Luna, die Künstlerin, stand nie still, doch bei all dem war sie ein Mensch, dem die anderen nicht egal waren. Ihre Sicht auf die Welt war oft ungewöhnlich, aber immer konnte man darin eine gewisse faszinierende Logik erkennen, die einen Kreis zum Rechteck machte und aus Schwarz Pink. Sie war eine glühende Verehrerin des schlechtesten Footballclubs von ganz Großbritannien und hatte ihre eigene Meinung darüber, warum Verlierer die eigentlichen Gewinner auf der Welt waren. Doch heute stimmte etwas nicht mit ihr.
Als Luna sich ein weiteres Glas Rotwein eingießen wollte, stand Kate auf und nahm ihr die Flasche aus der Hand. „Schluss jetzt! Was ist los?“
Wütend blickte Luna auf. „Ey, gib den Wein her!“
Kate schüttelte den Kopf und versteckte die Flasche hinter ihrem Rücken. „Ich höre.“ Sie klang, als wäre sie im Dienst.
„Ist sowieso kein guter Wein.“
In Luna kämpften Wut und Angst miteinander, das konnte Kate an ihren Augen sehen.
Während es in der Wand blubberte, suchte die Rothaarige nach Worten, fand aber keine. „Wegen der Rohrleitungen – da musst du aber etwas unternehmen. Klingt irgendwie eigenartig“, murmelte sie schließlich. Dann begann sie, in dem kleinen Raum hin und her zu laufen. Drei Schritte bis zum Fenster, drei bis zur Küche. Wieder blubberte es in der Wand. Luna hämmerte mit der Faust dagegen. „Kann man das nicht abstellen?“, rief sie und beäugte wütend die Tapete, die an einigen Stellen vergilbt war.
Kate schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Damit müsse ich leben, hat der Vermieter gesagt. – Also, was ist?“
Luna begann wieder, auf und ab zu gehen. „Das ist nicht so einfach“, murmelte sie.
„So schlimm wird es schon nicht sein.“ Aufmunternd lächelte Kate ihr zu. „Hast doch keinen umgebracht.“
Luna fuhr herum. Die Angst in ihren Augen erschreckte Kate.
„Vielleicht lebt er ja noch.“ Luna ließ sich aufs Bett fallen. „Sah aber irgendwie nicht so aus. Zu viel Blut überall.“
Nach dem ersten Schreck holte Kate tief Luft. Langsam stellte sie die Flasche auf den Boden und setzte sich neben Luna auf die Bettkante. Als Krankenschwester war sie Notfälle gewohnt. Das erste Gebot war immer, Ruhe zu bewahren.
Ausgerechnet in diesem Moment meinte die stets schlaflose Mrs Brent im zweiten Stock, duschen zu müssen. Wild strömte das Wasser durch die Leitung in der Wand, hinunter in die Tiefen der Londoner Kanalisation.
Kate begann, ihre Freundin vorsichtig auszufragen: Wer war tot? Woher wusste sie das? Was hatte es mit ihr zu tun?
Doch leider antwortete Luna nicht auf ihre vernünftigen Fragen, sondern plapperte einfach drauflos: „Ich bin so ein dämliches Huhn! Das ist vollkommen und absolut unglaublich!“ Sie schlug auf das Kissen neben sich ein. „Ich habe dem Kerl echt vertraut, und nun?“
Aha, dachte Kate, eine Liebesangelegenheit. Aber was war das für eine Sache mit der angeblichen Leiche, zu der sich Luna bisher nicht weiter geäußert hatte?
„Er hat gesagt, dass es das Weltproblem Nummer eins lösen würde. Energieversorgung, CO2 und so."
Kate runzelte die Stirn. Ein Ökoaktivist also.
„Am Anfang klappte es auch gut. Ich habe ihm alles, was ich hatte, gegeben ...“
Hm, nicht gut, überlegte Kate. Männer, die alles wollen, sind am Ende meistens nicht zufrieden, wenn sie es bekommen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie zum Thema Männer nicht wirklich umfangreiche Erfahrungen vorzuweisen hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht wusste, wie sie sich zurechtmachen sollte, oder an ihrer Unbeholfenheit, wenn ihr ein Mann gefiel. Sie wusste es nicht, aber sei es drum. Im Moment musste sie erst einmal ihrer Freundin weiter zuhören.
„Zwölf Prozent Zinsen! Das ist heutzutage doch nicht schlecht, oder?“ Mit großen, tränenfeuchten Augen sah Luna sie an. „Oder?“
Mrs Erwings Toilettenspülung war zu hören, dann das Gurgeln und Glucksen im Rohr. Kate wartete, bis der Lärm vorbei war.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Also doch keine Liebe zu einem Ökoaktivisten. Es schien um Geld zu gehen.
„Und dann die Sauerei an der Wand! Dabei war der Ausblick so schön.“
Kate gab auf. „Es tut mir leid, Luna, ich verstehe kein Wort.“
Ihre Freundin sprang auf. „Ich bin ein Huhn, ein ganz, ganz, ganz dummes und blödes Huhn!“ Sie zerrte an ihren Zöpfen. Eine Glitzerschleife löste sich und segelte wie ein Blatt zu Boden.
Beunruhigt stand Kate auf und packte Luna an den Oberarmen. „Was genau ist passiert? Von Anfang an, bitte.“
Dann erfuhr sie, dass Luna ihr gesamtes Erbe – und das waren über drei Millionen Pfund, Luna wusste es nicht so genau – einem Mann namens Norman Bradshaw anvertraut hatte, der das Geld in einem internationalen Öko-Unternehmen angelegt hatte.
„SolConPower – Solarstrom aus der Wüste – sei eine todsichere Anlage, hat er gesagt.“ Luna versteckte ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein. Dann blickte sie wieder hoch. „Ganz Europa könne ohne Öl auskommen. Man müsse nur Leitungen von der Wüste nach Spanien und Italien legen und von da zu uns. Die EU habe schon zugestimmt, hat er gesagt. Mist! Ich habe ihm alles geglaubt!“
„Alles weg?“, flüsterte Kate.
Luna nickte und ließ sich wieder aufs Bett fallen. „Alles weg. Am Anfang habe ich diese Dingsda ...“, sie wedelte mit der Hand, weil ihr das Wort nicht sofort einfiel, „... diese Rendite bekommen. Das war mächtig viel Geld. Habe alles gespendet: dem Footballclub, dem örtlichen Tierheim, einem Ökobauern, der aus Bambus Fahrräder baut. Aber dann kam nichts mehr. Kein Penny. Bradshaw hat gesagt, es gebe Probleme und er müsse nach Dubai, um Einzelheiten mit den Ingenieuren zu klären. Dann war er ein paar Wochen weg. Nicht erreichbar. Und da habe ich es langsam geschnallt. Bin ja nur ...“
„... ein blödes Huhn, ich weiß“, fiel Kate ihr ins Wort. „Habt ihr denn keinen Vertrag gemacht?“
„Doch, aber die Zettel sind nichts wert, hat der Anwalt gesagt. Ich würde vor Gericht nicht gewinnen. Jetzt ist alles futsch. Ich bin pleite. Abgebrannt.“
Kate dachte nach. „Na ja, dann musst du eben wieder im Pub arbeiten, so wie damals in Cawsand.“ Sie legte ihren Arm um Lunas Schultern und spürte, wie sie ihrer Freundin wieder ein wenig näher kam. Jetzt stand nicht mehr das viele Geld zwischen ihnen – Geld, das Luna in eine andere Welt gebeamt und Kate zurückgelassen hatte.
Luna schüttelte den Kopf, dass ihre Zöpfe nur so flogen. „Mir geht es ja gar nicht um das Geld! Wen kümmert das blöde Geld? Der Typ ist tot!“
„Oh.“ Da war also die Leiche, von der sie vorhin gesprochen hatte.
Luna ging vor Kate auf die Knie. „Bitte, Kate, du musst mir helfen, die Leiche loszuwerden. Er liegt in seinem Appartement, im neuen Heron in der Moor Lane.“
„Was muss ich?“
Schon wieder kam ein Schwall Abflusswasser durch die Leitung in der Wand herunter.
„Himmel! Hört das denn überhaupt nicht mehr auf?“, schrie Luna, wandte sich dann wieder zu Kate und jammerte: „Bitte, bitte, Kate! Um der alten Zeiten willen.“
„Hast du ihn umgebracht?“
„Nein! Bestimmt nicht. Ich habe ihn nur gefunden.“
Verärgert sah Kate sie an. „Dann geh gefälligst zur Polizei und melde das!“
Luna blickte zu Boden. „Geht nicht“, flüsterte sie.
Kate rollte mit den Augen. „Warum?“
„Ich habe Bradshaw gedroht, dass ich ihm den Hals umdrehe, wenn er mir mein Geld nicht wiedergibt“, flüsterte Luna weiter.
„Ist das alles?“
„Na ja, ich war da wohl etwas drastisch – die Kratzer an seinem Auto und die Sache im Restaurant mit dem heißen Kaffee auf seiner weißen Hose, genau zwischen die Beine, vor all den Leuten ... Das lief alles nicht so gut.“
Kate verschränkte die Arme vor der Brust. „Was noch?“
Zögernd erzählte Luna von einer etwas größeren Anzeige in der Times.
„Ja, und?“
„Es war eine Todesanzeige, die ich für ihn aufgegeben habe“, flüsterte Luna.
Kate riss die Augen weit auf. „Was hast du?“
Luna sah sie erschrocken an. „Aber da hat er noch gelebt. Ich schwöre!“ Sie hob die linke Hand zum Eid.
sechs
Die Sache ist fraglos kompliziert, überlegte Kate, als sie sich eine Bluse überstreifte und in ihre Jeans stieg. Luna hatte sich offenbar in eine höchst unangenehme Lage gebracht, aus der sie allein nicht wieder herauskam. Also war sie zu ihr gekommen. Doch waren sie wirklich noch Freundinnen? Warum kam Luna nur dann zu ihr, wenn sie Hilfe brauchte? Sollte Freundschaft nicht etwas anderes sein?
Plötzlich hörte Kate ein heftiges Poltern aus dem Badezimmer – so als würde der Schrank über dem Waschbecken zu Boden gehen.
„Alles okay, Luna?“, rief sie durch die geschlossene Badezimmertür.
„Ähm, ja“, kam es gedämpft zurück. „Mir ist nur etwas heruntergefallen. Alles im Griff. Ich mache das schon.“
Davon war Kate weniger überzeugt. Aber sei es drum. Sie ging in die Küche, um sich noch eine Tasse Tee zu machen. Sie wollte endlich einen klaren Kopf bekommen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, versuchte sie sich an die genauen Worte von Luna zu erinnern: Norman Bradshaw, der Finanzmakler, lag tot in seiner Wohnung – oder auch nicht. Luna schien sich da nicht so sicher zu sein.
Nun hatte Kate ihre Freundin in der Vergangenheit als, gelinde gesagt, recht fantasievoll kennengelernt. Das war für eine Künstlerin auch ganz natürlich. Doch manchmal störte es die pragmatische Kate, wenn bei Luna die Fantasie Purzelbäume schlug. Schnell wurde so aus einer Mücke ein Elefant. War es da so abwegig, dass aus einer Beule am Kopf eine Leiche werden konnte? So war Luna nun mal.
Darum hatte Kate entschieden, dass sie erst einmal zum neuen Heron fahren sollten, um zu sehen, wie es dem Mann ging. Wahrscheinlich hatte Luna ihm eine deftige Ohrfeige verpasst, er war hingefallen und hatte sich den Kopf aufgeschlagen, der dann geblutet hatte. Luna war in Panik geraten und aus dem Haus gerannt. Und nun befürchtete sie das Schlimmste. Kate vermutete, dass der Mann Anzeige gegen Luna stellen würde – was verständlich wäre. Sie nahm sich vor, vernünftig mit ihm zu reden, sofern das möglich war.
Das Wasser im Kessel fing an zu kochen. Kate goss es auf den Teebeutel in ihrem Becher.
„Hast du zufällig Pfefferminzbonbons im Haus?“
Kate zuckte zusammen, als Luna plötzlich hinter ihr stand. Fast wäre ihr der heiße Kessel entglitten.
„Himmel, hast du mich erschreckt!“
„Sorry, aber hast du?“
Kate wies zu ihrem Lederbeutel an der Garderobe und Luna ging hinüber. Während sie in der Tasche stöberte, fragte sie: „Eine Cola hast du nicht zufällig, oder?“
Doch, Kate hatte, weil die Kinder von Mrs Kenhill in der vorherigen Woche bei ihr zum Fernsehen gewesen waren und außer Cola und salzigem Knabberzeug nichts hatten zu sich nehmen wollen.
„Sie ist aber lauwarm“, sagte sie, als sie die Plastikflasche aus dem Schrank holte.
„Macht nichts.“ Luna nahm sie ihr aus der Hand und ging zurück ins Bad.
Verwirrt blickte Kate ihr nach. „Was willst du damit, Luna?“, rief sie ihr hinterher.
„Du hilfst mir, ich helfe dir. So macht man das unter Freunden, weißt du“, kam es gedämpft durch die geschlossene Tür.
„Was meinst du damit? Luna?“
Hinter der Tür des Badezimmers blieb es still.
„Luna?“
„Vertrau mir, Kate Cole! Vertrau mir!“
Zweifelnd goss Kate etwas Milch in ihren Tee. Da kam wieder ein Poltern aus dem Bad, und diesmal war es länger und lauter.
„Luna! Was tust du da?“
„Uups!“
„Luna?“
„Nichts passiert. Mir geht es gut.“
„Du bist es auch nicht, um die ich mir Sorgen mache.“
Plötzlich hörte Kate ein eigenartiges Blubbern aus der Wand. Es war tiefer als sonst und kam vom Badezimmer her. Langsam rollte es in Richtung Spüle. Erschrocken trat Kate einen Schritt zurück. Sie starrte auf das Spülbecken, wo sie jeden Moment ein haariges Monster erwartete, das aus dem Ausguss krabbeln würde. Doch nichts dergleichen passierte. Das Blubbern ging in ein Gurgeln über und klang nun, als leide ein Dinosaurier an schwerer Flatulenz. Es fehlte nur noch der erlösende Furz. Dann ließ das Geräusch langsam nach und schien in den Tiefen des Rohrsystems zu verschwinden. Kate starrte ihr Abwaschbecken an.
Auf einmal stand Luna neben ihr. „Okay, wir können los. Das mit dem Abfluss ist jetzt erledigt.“
Erstaunt sah Kate sie an. „Danke“, murmelte sie. „Woher kannst du das?“
„Oh, in Tanston Hall waren ständig die Rohre verstopft. Cola und Pfefferminzbonbons waren das Einzige, was da half. Sozusagen eine Darmreinigung für alte Häuser.“ Sie grinste.
sieben
Kate kurbelte das Fenster des Taxis herunter. Sofort strich die kühle Morgenluft über ihr Gesicht. Für einen Moment wurde sie etwas wacher. Die Straßen Londons waren um diese Zeit ungewohnt leer. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen. Ihre Scheinwerfer reflektierten in den Schaufenstern, die die Straße säumten, was zusammen mit dem Licht der Straßenlampen und dem zuckenden Leuchten einiger Reklamewände ein seltsames Bild ergab.
Das Taxi nahm die Strecke an der Baker Street vorbei Richtung Regent’s Park, dessen Gelände Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert zu einem seiner Jagdgründe erklärt hatte. Von dort ging es zügig am teuren Portland Crescent entlang, dessen halbrunde schneeweiße Häuserfront samt Doppelsäulen und schwarz lackierten Türen der Architekt John Nash um 1800 als Verbindung zwischen London und dem Park konzipiert hatte. Dann kreuzten sie die Oxford Street, die um diese Zeit vollkommen menschenleer war. Zum ersten Mal bemerkte Kate, wie hässlich einige der Gebäude waren – architektonische Nachkriegssünden.
Als sie den Piccadilly Circus erreichten, lehnte sich Luna zum Fahrer vor: „Hey, sehen wir aus wie Touristen? Warum fahren Sie nicht den direkten Weg in die City? Das geht schneller und kostet uns nicht so viel Geld.“
Der dunkelhäutige Mann nickte und lächelte breit in den Rückspiegel. „Yes, Ma’m.“
Luna grummelte, dann ließ sie sich auf den Sitz zurückfallen. „Ich bin mir sicher, wenn es ans Bezahlen geht, ist ihm wieder eingefallen, wie unsere Sprache funktioniert.“
Der Fahrer grinste und nickte. „Yes, Ma’m.“
Sie kamen am Theatre Royal Haymarket vorbei, wo wieder einmal eine dieser Schenkelklopfer-Comedy-Shows lief, die Luna so gern mochte, die jedoch die bei Kate gar nicht ankamen. Kurz darauf erreichten sie die berühmte Nationalgalerie mit ihren Löwen, den beiden Brunnen und dem Trafalgar-Denkmal davor.
„Sag ich doch, der fährt mit uns die Touritour“, murmelte Luna, während Kate aus dem Fenster blickte. Sie hatte London noch nie als Touristin entdeckt. Vielleicht wussten die Besucher aus Japan und Australien, Frankreich und der Schweiz mehr über ihre Stadt als sie selbst. Kate seufzte.
Als sie den Strand entlangfuhren, hatten sie die unsichtbare Grenze zur City of London überquert. Aus Sicherheitsgründen gab es dort keine Müllbehälter an den Straßen. Außerdem trug jedes Straßenschild das Wappen der City of London: ein rotes Kreuz auf weißem Grund mit einem kleinen Schwert in der oberen linken Ecke. Die City war eine Stadt in der Stadt, mit eigenem Bezirksparlament, eigener Polizei und eigener Verwaltung, ein historisches Unikum mit über tausendjähriger Geschichte.
Als das Taxi am Waldorf Hilton vorbeifuhr, bemerkte Kate, wie Luna ein wenig tiefer ins Polster rutschte. „Was ist?“
Luna beugte sich zu ihr und flüsterte. „Die da“, sie zeigte zum Hilton hinüber, „bekommen noch Geld von mir. Du weißt doch, dass ich pleite bin. Besser, der Portier sieht mich nicht. Das würde bestimmt Ärger geben.“
Kate drehte sich um. „Aber da ist kein Portier vor der Tür.“
Luna kam hoch und schaute zurück. „Nein? Oh, gut.“
Als sie die Farringdon Road kreuzten, konnten Kate und Luna bereits St Paul’s Cathedral sehen. Weiß und schön war sie, beleuchtet von Hunderten versteckter Scheinwerfer. Zwischen all den gigantischen Bürobauten wirkte die Kathedrale wie eine alte Frau inmitten eines Rugbyteams. Kate hatte ein wenig Mitleid mit ihr und mit Queen Victoria, die hinter einem schwarzen Zaun mit Reichsapfel und Zepter in der Hand dastand und den Platz vor der Kathedrale zu bewachen schien. Zwei einsame alte Damen.
Dann bogen sie links in die Queen Victoria Street ein und sahen das höchste Bürogebäude der City, das die Londoner „Essiggurke“ nannten. Luna meinte, sie hätte es lieber „Zäpfchen“ getauft, fand aber das obere Ende dafür zu spitz.
Seit fast einer halben Stunde waren sie nun unterwegs, und Kate merkte, wie sie immer unruhiger wurde, je näher sie dem neuen Heron in der Moor Lane kamen. Sie hatten die Square Mile, wie die City auch genannt wurde, von Westen her bis zum Zentrum durchfahren. Nun lag das Mansion House vor ihnen. Es wirkte mit seinen korinthischen Säulen ebenso fehl am Platz wie die Bank of England gegenüber oder die Royal Exchange, die inzwischen eine Einkaufspassage war. So schön die Vergangenheit der Stadt auch gewesen sein mochte, es waren die gigantischen Finanztürme, die in der City heute den Ton angaben – in Gelddingen ebenso wie in der Architektur.
Endlich kreuzten sie die London Wall und bogen dann links in die Ropemaker Street ein. Am Ende der von Hochhäusern gesäumten schmalen Straße sahen sie schon die blinkenden Lichter der Polizeiwagen vor dem Heron.
„Halten Sie an!“, rief Kate dem Fahrer zu.
Der Mann stoppte. Schweigend sahen die Frauen zu den drei Einsatzwagen hinüber, die vor dem Eingang des Heron standen.
„Glaubst du mir jetzt?“, krächzte Luna und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.
Kate nickte. „Okay, wir gehen dorthin.“ Sie öffnete die Wagentür.
„Warum?“ Luna schaute sie ängstlich an. „Ich meine, es ist doch klar, was los ist: Der Typ ist tot. Und ich habe keine Lust, deswegen ins Gefängnis zu gehen.“
Kate bemerkte, wie der Taxifahrer in den Rückspiegel schaute und seine beiden Fahrgäste aufmerksam musterte.
„Unsinn, Luna. Du wirst dort deine Aussage machen. Wenn du ihn nur gefunden hast, wird man es dir glauben.“
„Nein, mache ich nicht!“ Luna, die schon immer ein gestörtes Verhältnis zur Obrigkeit gehabt hatte, schüttelte den Kopf.
„Aber Luna, die Sache ist damit aus der Welt. Glaub mir!“
Die Rothaarige verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will nach Hause.“
„Weglaufen kommt nicht in Frage. Die Angelegenheit ist ernst. Wenn du ihn nur gefunden hast, wirst du das der Polizei sagen.“
Luna schüttelte den Kopf. „Nein, mache ich nicht.“
Kate versuchte ihren strengen Stationsblick, doch der hatte auf Luna keinerlei Wirkung. Mit einem tiefen Seufzer stieg Kate aus.
„Okay, dann gehe ich ohne dich.“ Dem Fahrer gab sie die Anweisung zu warten, bis sie zurückkam.
„Was hast du vor, Kate?“, fragte Luna. „Du willst mich doch nicht etwa ausliefern?“
„Nein, du dummes Huhn, ich will nur herausfinden, was passiert ist. Außerdem will ich wissen, wer die Untersuchung leitet und ob wir ihm trauen können.“ Sie blickte Luna prüfend an. „Oder willst du selbst ...?“
Ihre Freundin ließ sich ins Polster des Taxis zurückfallen und starrte nach vorn. „Nee. Tu, was du nicht lassen kannst.“
Kate schloss die Tür hinter sich und ging auf das Heron zu. Eine endlos scheinende Front aus Glas und Stahl ragte über ihr in den Himmel. Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um bis nach oben schauen zu können, wo die Wolken langsam eine rosa Färbung annahmen. Sie ging zum Eingang, eine Art Glasvorbau, und suchte sich unter den Polizisten, die dort hin- und herliefen, eine Frau aus. Vielleicht würde sie von ihr Näheres erfahren.
„Guten Morgen, Officer.“
Die Frau drehte sich zu Kate um. Sie trug ein Schild mit ihrem Rang und Namen auf der Uniform.
„Was ist denn hier passiert, Constable Kelly?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wohnen Sie hier?“
„Ähm, nein.“
„Dann muss ich Sie bitten, hinter die Absperrung zu gehen.“ Sie wies zu einigen Polizisten hinüber, die gerade ein blau-weißes Absperrband auf der Straße spannten. Kate zögerte und schaute an der Front des Heron hoch.
Constable Kelly beobachtete sie. „Alles in Ordnung, Ma’m?“
„Ich weiß nicht recht“, murmelte Kate zögerlich.
„Sie kennen jemanden im Heron?“, fragte die Polizistin.
Kates Kopf fuhr herum. „Nein, nicht wirklich. Ich wollte eigentlich nur jemanden besuchen.“
„Wen wollten Sie besuchen?“
Kate wurde es mulmig. Sie wusste nur von einem Menschen, der dort wohnte: Norman Bradshaw. Unter dem scharfen Blick der jungen Frau stotterte sie seinen Namen.
„Verstehe. Einen Moment, bitte, Mrs ...?"
„Cole, Kate Cole. Und Miss, bitte.“
Die Polizistin drückte einen Knopf an dem Funksprechgerät, das an ihrer Schulter hing, und sprach hinein. Klar und deutlich konnte Kate hören, wie jemand sagte, sie solle die Besucherin ins Haus bringen. Während die Beamtin sie in das Gebäude führte, fragte sich Kate, warum sie nicht gleich auf Luna gehört hatte. Vielleicht wäre Weglaufen doch das Richtige gewesen. Andererseits hatte sie es hier mit der Polizei zu tun, die ihr die Informationen geben konnte, die sie brauchte, um die Situation besser einschätzen zu können. Außerdem – warum sollte sie Angst vor der Polizei haben? Sie hatte ja schließlich nichts angestellt. Überhaupt fragte sie sich, warum sie sich plötzlich so schuldig fühlte.
„Bitte warten Sie hier, Miss Cole. Man wird Sie gleich abholen.“
Kate setzte sich in einen schwarzen Ledersessel, der vor der Fensterfront stand. Auf einem kleinen Glastisch lagen Hochglanzprospekte mit dem Bild des Heron darauf sowie die aktuelle Ausgabe der Financial Times. Kate sah sich um: Der Empfangsbereich wirkte recht kühl. Es gab eine Rezeption und mehrere Fahrstühle. Mit einem Magengrummeln beobachtete Kate das Kommen und Gehen der Polizisten, als ein Mann in Zivil aus einem der Fahrstühle trat und auf sie zukam.
„Mrs Cole?“
Kate erhob sich aus dem tiefen Ledersessel. „Miss.“
Er lächelte. „Detective Sergeant Grant. Man sagte mir, Sie wollten Mr Bradshaw besuchen?“
Kate holte tief Luft. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit oder eine Lüge?
„Sie kennen Mr Bradshaw?“, fragte DS Grant.
Kate schüttelte den Kopf. „Nein, ich hörte nur, dass er sich mit Finanzen auskennt. Ich habe etwas gespart ... und da wollte ich ihn fragen ... Ist etwas passiert?“ Selbst für sie klang das Gestotter dämlich.
Der Polizist legte seinen Kopf schief und lächelte. „Um diese Zeit wollten Sie ihn fragen?“
Erschrocken blickte sie ihn an. Richtig – so früh am Morgen tat man das normalerweise nicht.
Der Mann vor ihr war fast einen Kopf größer als sie, hatte graue Augen und sein Kinn benötigte dringend eine Rasur. Als könne er ihre Gedanken lesen, strich er sich mit der Hand über die Stoppeln. Das Klingeln seines Smartphones ersparte Kate die Antwort. Er griff in seine Jackentasche. Ein kurzer Blick auf das Display, dann hielt er das Telefon an sein Ohr.
„Sir!“
Kate hörte eine Art Bellen aus dem Gerät.
„Nach oben?“, fragte DS Grant. Er warf Kate einen kurzen Blick zu. Das Bellen im Telefon wurde lauter. Grant nickte. „Ja, Sir. Sofort.“ Dann beendete er das Gespräch und sah zu Kate. „DCI Haddock möchte Sie sprechen. Er leitet die Morduntersuchung.“
Kate wurde blass. „Mord?“
Grant führte sie zum Fahrstuhl. Während sie warteten, fragte er: „Also, warum wollten Sie Mr Bradshaw um diese Zeit sprechen, Miss Cole?“
Kate starrte auf die Anzeigetafel über der Tür. Der Fahrstuhl war auf dem Weg nach unten: 18 ... 16 ... 14 ... 12 ...
„Miss Cole, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Haben Sie eine glaubwürdige Antwort parat, sobald wir oben sind.“
Das könnte man als Drohung auffassen, schoss es Kate durch den Kopf, als sie in den Fahrstuhl traten. Mist! In was hatte sie sich da nur hineinmanövriert?
Sie schwiegen, während der Fahrstuhl kaum merkbar nach oben sauste. Die Wände und sogar die Decke der Kabine waren aus metallisch glänzenden Spiegelplatten gemacht – ein Hort für exklusive Eitelkeiten. In einem der Spiegel sah Kate den Polizisten unzählige Male vervielfacht neben sich stehen. Sie bemerkte, wie er sie aus den Augenwinkeln betrachtete. Und sie sah den Ehering an seinem Finger.
acht
Geräuschlos öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und sie stiegen aus. Menschen in Papieroveralls kamen aus einem der Appartements am Ende des Flures. Einige von ihnen trugen schwere Metallkoffer, andere Plastiktüten mit Gegenständen aus Bradshaws Wohnung darin. Keiner von ihnen sagte ein Wort, weshalb man die donnernde Stimme eines Mannes aus dem Inneren der Wohnung besonders gut hören konnte.
„Warten Sie bitte, Miss Cole! Ich sage DCI Haddock, dass Sie hier sind.“
In dem Moment kam ein untersetzter Mann in einem verschlissenen braunen Anzug auf den Flur. Er mochte die sechzig bereits hinter sich haben. Mit kleinen Schritten kam er auf Kate zu, wobei er seine Hände hinter dem Rücken hielt. Tatsächlich war er kaum größer als sie. Seine Nase war leicht geschwollen und man sah deutlich die geplatzten Äderchen darin. Ein Zeichen für zu viele Besuche im Pub, mutmaßte Kate.
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er sie, wobei auf seiner Stirn eine tiefe Doppelfalte entstand. Diesen Blick kannte sie. Hier ging es um Macht. Wer zuerst wegsah, hatte verloren. Kate verlor.
„Mrs Cole.“
„Miss.“
„Was machen Sie hier, Mrs Cole?“, fragte DCI Haddock, ohne sich selbst vorzustellen.
Im Fahrstuhl hatte Kate sich entschieden, bei ihrer Story zu bleiben. Sie war sicherlich nicht intelligent und man würde bald herausfinden, dass es eine Lüge war, aber vielleicht kam sie so aus diesem verdammten Gebäude schnell wieder heraus.
„Ich habe Geld gespart und will es anlegen. Mr Bradshaw ist Anlageberater.“
„War, Mrs Cole, war“, sagte Haddock und beobachtete sie genau. „Erklären Sie mir, warum Sie Mr Bradshaw um diese Zeit sprechen wollten, Mrs Cole!“