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Hinter den Kulissen der Hamburger Opernwelt begibt sich ein Henker auf einen mörderischen Rachefeldzug. 1899: Die gefeierte Sopranistin Carlotta Francini reist für eine Konzertsaison nach Hamburg. Während Hauke Sötjes Frau deren Gesang in der Oper lauscht, wird der Kommissar in die Nähe der Speicherstadt beordert. Ein Erhängter wurde in einem Baum gefunden – bei ihm ein Zettel mit der Aufschrift »schuldig«. Weitere Opfer lassen nicht lange auf sich warten, und sie alle haben eines gemeinsam: Sie kreuzten in der Vergangenheit Carlotta Francinis Weg .... . .
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Die gebürtige Hamburgerin Anja Marschall lebt mit ihrer Familie im Westen Schleswig-Holsteins, wo sie als Journalistin und Autorin arbeitet. Sie veröffentlicht seit vielen Jahren Romane und Kurzgeschichten. Im Emons Verlag erscheint ihre erfolgreiche historische Krimireihe um ihren Kommissar Hauke Sötje, der vornehmlich in Hamburg und Schleswig-Holstein ermittelt. Marschall initiierte den ersten Krimipreis für Schleswig-Holstein und ist Herausgeberin mehrerer Anthologien.
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, einige sind es nicht.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: AlexanderAntony/stock.adobe.com, shutterstock.com/javarman
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Karte: Christian Terstegge/Staatsarchiv Hamburg
Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-949-5
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Unrast und Lärm versanken, als sich am 3. Mai 1827zum ersten Mal der Vorhang vor der Bühneunseres Stadttheaters hob und der Genius eines derGrößten im Reiche der Kund und des GeistesSchauende und Spielende hinlenkte zu der großen,ewigen Idee der Freiheit des Menschenund des Volkes.
Bürgermeister Dr. Carl Petersen,anlässlich des hundertfünfundzwanzigjährigen Bestehensdes Hamburger Stadttheaters
Wenn Sie sich fühlen wollen,als ob Sie zu etwas Größerem gehörten,sogar zu etwas außerhalb von diesem Universum,dann gehen Sie in die Oper!
Mehmet Murat İldan, türkischer Schriftsteller,Mitglied im PEN-Zentrum
Börse. Oele. Olivenoel knapp und theuer 74 M, Palmoel ruhig bei weichenden Preisen 55 M, Speiseoel 110 bis 150 M auf 100 kg, Käufer rechnen mit weiterem Preisrückgang.
Original: »Hamburgischer Correspondent«, September 1899
Es war spät. Sehr spät. Das Donnerwetter zu Hause würde biblische Ausmaße haben. Hauptkommissar Hauke Sötje eilte die Treppe zur Eingangshalle hinunter, wo die elektrischen Leuchten an den Wänden längst angeschaltet waren. Schichtwechsel beim Wachhabenden hinterm Tresen. Ein kurzer Gruß an die beiden Uniformierten. Schon hatte er den Knauf der ersten Tür in der Hand, um durch den Vorraum nach draußen auf den Neuen Wall zu gelangen, als er seinen Namen hinter sich hörte.
»Kommissar Sötje! Auf ein Wort!«
Hauke drehte sich um, hoffend und zugleich fürchtend, dass eine Dringlichkeit ihn zurück in sein Kommissariat 5 im dritten Stock beordern würde.
Polizeirat Gustav Roscher, seines Zeichens Leiter der Abteilung II der politischen Polizei und der Kriminalpolizei, kam durch das Foyer auf ihn zu. Die beiden Wachleute sprangen auf und salutierten, als sie den zweitwichtigsten Mann im Haus sahen.
Hauke nickte seinem Vorgesetzten zu und tippte sich an die Stirn. Es war nicht üblich, dass ein Mann in seiner Position einem Kommissar nachlief. Es musste also dringlich sein.
»Moin, Herr Polizeirat.« Hauke ahnte, warum Roscher ihn aufhielt.
»Sötje, der Herr Polizeidirektor persönlich ließ mich wissen … Also, Sie sollten es sich noch einmal überlegen.« Roscher blickte durch seinen Nasenkneifer zu ihm auf.
Hauke schwieg. Es gab zu der Sache nichts weiter zu sagen. Die Herren hatten ihren Standpunkt überaus klargemacht. Allerdings gedachte Hauke, darauf keine Rücksicht zu nehmen.
»Sötje, seien Sie nicht so dickköpfig.« Roscher stöhnte. »Sie leiten ein Kommissariat. Auch wenn Ihnen vorerst nur drei Mann unterstehen … Da können Sie nicht …« Sein Blick glitt an Haukes Kleidung hinunter, an der Mütze, der geölten Jacke, der derben Cordhose und den bequemen Lederstiefeln, die bei diesem nieseligen Oktoberwetter für Hauke weitaus mehr wert waren als ein Schirm und blank gewienerte Lackschuhe. »Sie repräsentieren die Polizei der Stadt, Sötje.«
Hauke vermutete, dass der Polizeirat Ungemach mit Polizeisenator Hachmann befürchtete, wenn er weiterhin ein Auge in dieser Angelegenheit zudrückte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum Sie wie Ihre eigenen Leute inkognito herumlaufen müssen, Sötje. Melone, Gehrock, anständige Schuhe. Am Gehalt kann es nicht liegen.«
Hauke überlegte, wie er seinem Vorgesetzten verständlich machen könnte, dass er sich in Anzügen unwohl fühlte, dass ihn das Klacken der Spazierstöcke und Lederabsätze auf Linoleumfußboden, den Fliesen im Foyer oder den Gehwegen der Stadt am Denken hinderte. Dass er die weite Jacke mit dem hochschlagbaren Kragen einem Gehrock mitsamt engem Binder um den Hals vorzog, konnte doch nicht so schwer zu verstehen sein, zumal Letzterer ihm die Luft raubte und Ersterer nicht wärmte.
Die vergangenen zwei Jahre hatte den Polizeirat Haukes Äußeres nicht interessiert, solange das Kommissariat 5 Ermittlungserfolge vorweisen konnte. Nun aber, da in der Stadt hinter vorgehaltener Hand zu hören war, Gustav Roscher solle der Chef der gesamten Hamburger Polizei werden, und nicht nur der Kriminalpolizei und der Politischen, da schien sich etwas geändert zu haben. Für Roscher. Nicht für Hauke.
»Sötje, versuchen Sie es wenigstens ab und zu einzurichten, in anständigem Aufzug hier zu erscheinen. Wenn man Sie gelegentlich wie einen respektablen Beamten gekleidet sieht, stört es vielleicht auch nicht, wenn Sie an anderen Tagen …« Wieder wanderte sein Blick an Hauke hinunter. »Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu?«
Das war etwas, das Hauke nicht mit seinem Vorgesetzten diskutieren wollte. Er tippte ein weiteres Mal an die Stirn, deutete eine Verbeugung an und verließ das Stadthaus. Draußen schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und schlenderte Richtung Admiralitätstraße. Seine Dienststelle lag zwischen dem Alster- und dem Bleichenfleet, keine fünf Minuten vom neuen Rathaus entfernt.
Roscher hatte ihn damals ins Stadthaus geholt. Das Gebäude war opulent, der Westflügel vor vielen Jahren das Palais eines reichen Mannes. Heute sah niemand mehr die aufwendigen Wandmalereien im Treppenhaus oder bestaunte den trutzigen Eckturm und den weiten Innenhof, denn mittlerweile war der Pomp hanseatischem Pragmatismus gewichen. Und so lehnten im Hof die neuen Dienstfahrräder an den Wänden, gleich neben den beiden Hachmannschaukeln, wie die Hamburger die grünen Gefängniswagen nannten, deren Existenz auf den amtierenden Polizeisenator zurückging. Polizeirat Roscher hatte sich in den Kopf gesetzt, die Hamburger Kriminalpolizei zur modernsten ihrer Art zu machen. Seit einiger Zeit verfügte das Stadthaus nicht nur über ein Gefängnis im Keller, sondern unterm Dach auch über die erste Foto- und Erkennungsabteilung im gesamten Reich. Dort beschäftigte man Fotografen, um die Tatorte und Leichen abzulichten. Man bildete die Männer der Kriminalpolizei in den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus, was eine intensive und lange Ausbildung der künftigen Kommissare erforderte. Allen hanseatischen Widrigkeiten zum Trotz hatte Roscher seine Ideen für eine moderne Kriminalpolizei vor den Hamburger Kaufleuten durchsetzen können. Eine Leistung, die für sich genommen schon Respekt verlangte, denn die Hanseaten waren für ihre Knickerigkeit bekannt. Hauke arbeitete gerne für den Mann, dessen technische Neugier seiner ganz ähnlich war.
Dennoch, verkleiden würde er sich nicht.
Tief die Hände in den Hosentaschen verborgen, lief Hauke zu seiner Dienstwohnung, die mit der Position eines leitenden Kommissars verbunden war. Sie lag im zweiten Stock, nahe dem Seemannshaus in der Admiralitätstraße, und hatte stolze fünf Zimmer. In dieser hellen Wohnung, die sogar über ein geräumiges Badezimmer mit Wasserklosett verfügte, würde seine kleine Tochter Henriette bald schon ihren zweiten Geburtstag feiern. Sein Salär war solide bemessen und die Wohnung günstig, sodass es zwar nicht für einen Butler, wohl aber für eine Köchin reichte, die einmal am Tag erschien, und für ein Kindermädchen, das in einem der Zimmer mit ihnen wohnte.
Haukes Gattin Sophie war in ihrer neuen Rolle als Frau des Hauses eine Zeit lang aufgeblüht. Sie hatte Vorhänge und Lampen im neuen »Waarenhaus Hermann Tietz« am Burstah gekauft, bis ihre Freundin Gräfin von Bülow sie dezent darauf hinwies, dass sich Sophie des neuen Standes ihres Gatten bewusst sein solle. Ihre Aufgabe sei es, die Karriere ihres Mannes zu fördern, schließlich sei er kein einfacher Beamter mehr, sondern der Leiter eines Kommissariats. Dazu gehöre auch eine repräsentative Einrichtung. Die Gräfin hatte ihren wohlmeinenden Worten gleich eine Liste mit entsprechenden Geschäften beigelegt. Er bezahlte die Rechnungen stets mit einem Seufzen und gedachte, seiner geliebten Sophie die Freude zu lassen, solange es ging.
Die alte Dame hegte ein besonderes Interesse für das Fortkommen von Sophies Familie. Und so hatte Gräfin von Bülow auch schon einen Geigenlehrer für die kleine Henriette im Auge, sobald das Kind alt genug wäre. Außerdem plante sie, die Familie in der nächsten Sommersaison mit in ihr Landhaus im Mecklenburgischen zu nehmen oder zu einem erholsamen Kuraufenthalt am Meer. Hauke graute davor.
Sicherlich waren die Bemühungen der beiden Frauen hinsichtlich seiner Karriere in jeder Hinsicht lobenswert, nur wollte Hauke nicht einleuchten, warum gerade er das Opfer sein sollte. Konnte die Gräfin ihre Energie nicht auf jemand anders lenken? Gab es nicht genügend Einrichtungen der Wohlfahrt, deren Bewohner weit mehr ihrer Aufmerksamkeit bedurft hätten als er? Hauke schätzte ein ruhiges Leben mehr. Dazu würde es jedoch auch heute nicht kommen, denn die Frauen hatten beschlossen, er müsse mehr unter Menschen, die weder tot waren noch polizeilich gesucht wurden. Und so hatte Sophie ihm kürzlich mitgeteilt, dass künftig seine Anwesenheit bei Kulturveranstaltungen der gehobenen Sorte erforderlich sei. So wie an diesem Abend.
Noch achtundneunzig Schritte bis zu seinem Haus.
Heute würden er und seine Frau ins Stadttheater in der Dammtorstraße gehen, um Wagners »Tristan und Isolde« zu sehen. Er hatte sich zu wehren versucht, gesagt, er befürchte, während der Vorstellung einzuschlafen, so wie es ihm vor einigen Monaten bei einer Dichterlesung im Salon der Gräfin passiert war. Doch nichts half. Sophie war erbarmungslos bei ihrem Vorhaben geblieben. Hauke stöhnte auf, als er die Haustür öffnete.
Sein Frack hing an der Tür im Schlafzimmer. Der Kummerbund war gebürstet, das Hemd gestärkt, die Schleife aus dem Seidenpapier gewickelt, die Schuhe geputzt, und der geliehene Zylinder thronte auf dem Ankleidetisch. Es war alles vorbereitet. Einzig der Träger fehlte. Wenn sich Hauke nicht beeilte, würden sie zu spät ins Theater kommen. Dabei hatte sie der Gräfin versprochen, mit Hauke noch auf ein Glas Sekt in ihrer Loge vorbeizuschauen.
Seit einer Viertelstunde lauschten Sophie und Henriette im Esszimmer den scharfen Worten, die aus der Küche drangen. Die Standuhr im Flur schlug halb acht. Die Kleine saß auf Sophies Schoß und knabberte an ihrer Rassel. Das Kind wirkte unruhig. Ob es wegen des Streits zwischen Köchin Telse und Emma, dem Kindermädchen, war oder weil es ahnte, dass seine Eltern gleich das Haus verlassen würden, wusste Sophie nicht. Sie hauchte ihrer Tochter einen Kuss auf die weichen blonden Locken. Auch sie mochte es nicht, wenn sich das Personal wegen jeder Kleinigkeit stritt. Nur, was sollte sie tun? Sophie seufzte.
Die zeternden Frauen in der Küche waren wie Hund und Katze. Nie waren sie einer Meinung, immer glaubte die eine, die andere wolle ihr hineinreden, wobei auch immer. Anfangs hatte Sophie erfolglos versucht, die streitenden Hennen zur Vernunft zu bringen, dann allerdings aufgegeben, zumal es in diesen Tagen nicht einfach war, geeignetes Personal zu finden, wie ihr die Gräfin erklärte. Von einem strengen Durchgreifen riet sie vorerst ab.
Und so harrten Sophie und Henriette der Dinge, die da kommen mochten, während die Standuhr im Flur die Zeit davontickte.
Endlich hörte Sophie den Schlüssel in der Wohnungstür. Schnell erhob sie sich, lief in die Küche, drückte dem Kindermädchen kommentarlos die Kleine in den Arm und eilte auf den Flur hinaus, wo Hauke gerade seine Jacke an den Haken hängte. Gerne hätte sie ihm entgegengeworfen, dass er viel zu spät nach Hause gekommen sei, doch sie hielt sich zurück. Vor dem Personal solle man nicht streiten, wenn man nicht wolle, dass morgen die ganze Stadt davon erfahre, hatte ihr die Gräfin unlängst empfohlen.
»Oh, wie schön, dass du da bist«, sagte Sophie stattdessen, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Telse kann dir noch schnell etwas …« Erschrocken hielt sie inne, als sie den Blick ihres Mannes sah und er einen Schritt zurücktrat. »Was ist? Habe ich einen Fleck auf dem Kleid?« Ängstlich blickte sie an sich hinunter. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Tochter keine Flecke hinterlassen hatte, denn das nachtblaue Atlaskleid war geliehen, ebenso die Pelerine mit dem aufgestellten Kragen und die seidenen langen Abendhandschuhe. »Es ist zu vornehm, richtig?«
Ihre Schultern sackten tiefer. Sie hatte es gewusst. Dieses schrecklich feine Kleid, der kurze bestickte Umhang, die Seidenschuhe, all das passte nicht zu ihr. Als die Gräfin vorgeschlagen hatte, etwas Dezentes aus dem Bestand ihrer Nichte für den Abend zu verleihen, hatte Sophie nicht Nein sagen können. Die Kleider waren einfach zu schön. Außerdem hatte sie selbst nicht ein einziges Stück Garderobe, das einem Abend in der Oper angemessen gewesen wäre.
Hauke starrte sie mit offenem Mund an.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte er endlich.
Strahlend fuhr sie sich mit einer Hand über die Frisur, die die Zofe der Gräfin ihr in nicht einmal einer Stunde aufgesteckt hatte. »Ja?«
Er kam näher. »Darf ich die Königin meines Herzens küssen? Ich meine, richtig küssen?«
Sophie kicherte, wobei sie einen Blick Richtung Küche warf, wo es auffallend still geworden war. Rasch nickte sie. Sie wusste gar nicht mehr, warum sie mit Hauke hatte schimpfen wollen. Es würde ein wunderbarer Abend werden.
Als er sie wieder aus seinen Armen entließ, bemerkte Sophie Emmas Kopf, wie er sich blitzschnell in die Küche zurückzog. Ein leises Kichern war von dort zu hören und Henriettes Rassel.
»Wenn wir pünktlich sein wollen, musst du dich zurechtmachen, Liebster.«
»Muss ich?«
»Keine Widerrede.« Sie schob ihn ins Schlafzimmer. »Telse!«, rief sie. »Bevor Sie gehen, machen Sie bitte meinem Mann noch eine Kleinigkeit zu essen!«
Die tanzenden und heulenden Derwische – 25 Personen –, welche die größte Sensation der Pariser und Berliner Bevölkerung bilden, befinden sich im Panoptikum, St. Pauli, Spielbudenplatz, zur werten Besichtigung.
Original: »Hamburgischer Correspondent«, November 1899
Sie hätten keine Mietdroschke nehmen müssen, denn das Stadttheater lag kaum zwanzig Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt, aber Sophie fürchtete um die geliehene Kleidung, und Hauke schmerzten die Füße in den Schuhen bald schon nach dem Anziehen. Außerdem hatte es wieder zu nieseln begonnen.
Und so saßen sie in der rumpelnden Kutsche nebeneinander. Immer wieder prüfte Sophie den Sitz seines Binders, strich über die Seide ihres Kleids und zupfte an ihrer Pelerine, während die Kutschräder über das Kopfsteinpflaster zum Gänsemarkt rumpelten.
»Warum bist du so nervös, Liebste? Du wirst die schönste Frau sein, die je das Portal des Stadttheaters durchschritten hat.« Er nahm ihre Hand.
Dankbar lächelte Sophie ihn an. »Es ist das erste Mal, dass ich mich auf demselben Parkett bewege wie die Warburgs, die Michahelles, die von Melles und die Mönckebergs, die Versmanns, die Lassallys, Senator Hachmann nebst Familie …«
»… und die von Bülows«, ergänzte er. »Hast du Angst, die Alte könnte dich auffressen?«
Sophie nickte.
»Ist es meinetwegen?«, hakte er nach.
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum.
»Deinetwegen? Um Himmels willen, nein!« Sie schluckte. »Ich habe Angst, das Kleid zu ruinieren, die falsche Anrede für den brasilianischen Botschafter oder die Gattin von Regierungsrat … Oje, wie hieß sie nur gleich? Siehst du, ich habe schon jetzt ihren Namen vergessen. Die Rothaarige, die …«
»… immer so streng nach Veilchen riecht?«
»Ja, genau die. Du kennst sie?«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Nein, scheint mir, die Damen riechen bei solchen Anlässen immer stark nach Frühlingsblumen.«
Sie gab ihm einen Knuff.
Die Kutsche hielt vor dem Portal des hell erleuchteten Stadttheaters, jener Ort der gehobenen Unterhaltung, der für jeden die Krönung eines anstrengenden Tages war. Einzig für Hauke nicht.
Galant half er seiner Frau aus der Equipage, bezahlte den Kutscher, reichte ihr einen Arm und atmete einmal tief ein.
»Auf in den Kampf«, raunte er.
Sie schlossen sich dem Strom der Kulturbeflissenen an, die von überall herbeikamen, um zwischen den hohen Säulen einzutreten, während über ihnen in griechischen Eisenschalen Öl brannte, was dem Gebäude das Ambiente eines Tempels verlieh.
Eine Woge aus vornehmem Gemurmel empfing Hauke und Sophie noch vor der verglasten Doppeltür zum angrenzenden Foyer, als auch schon ein livrierter dienstbarer Geist herbeitrat, um den Herrschaften die Umhänge und Mäntel abzunehmen, um sie gegen eine kleine Metallmarke auszutauschen, die das Auffinden der feinen Garderobe nach der Vorstellung erleichtern würde.
Gewohnheitsmäßig prägte sich Hauke das Gesicht des jungen Mannes ein, der sich nun mit Umhang und Zylinder durch die Menge der Garderobe entgegenschob. Die allgemeine Annahme, man würde sich immer zweimal im Leben sehen, hatte sich für ihn mehr als einmal bestätigt.
Sie betraten das von Menschen überfüllte Foyer. Um Sophies willen würde er diesen Abend so gut es ging überstehen. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut.
»Soll ich uns ein Glas …?« Weiter kam Hauke nicht, denn Polizeirat Roscher hatte ihn in dem Gedränge entdeckt.
Überrascht sah Hauke seinen Vorgesetzten mit einer Dame in hanseatisch schlichtem Abendkleid am Arm durch die Menge zu ihnen schlendern. Hauke begrüßte Roscher nebst Gattin mit einer knappen Verbeugung. Galant nahm der Polizeirat Sophies Hand und deutete einen kultivierten Kuss darauf an. Sophie reagierte höchst erfreut. Hauke warf Frau Roscher einen Blick zu. Sollte er auch …? Nein, er würde ihre Hand nicht küssen. Nein.
»Liebe Frau Sötje! Wie ungemein reizend Sie heute wieder aussehen«, flötete Roscher und stellte die Damen einander vor. »Wie haben Sie es nur geschafft, werte Frau Sötje, Ihren Mann in einen anständigen Frack mit Weste und Schleife zu stecken?« Er warf Hauke einen zufriedenen Blick zu. »Sie scheinen genau dort obsiegt zu haben, meine Gnädigste, wo gestandene Männer wie unser werter Herr Senator Hachmann und ich gescheitert sind.«
Fragend sah Sophie Hauke an.
»Gewöhnen Sie sich nicht zu sehr an den Anblick«, bemerkte er. »Kleidung dieser Art ist höchst unbequem.« Sein Finger fuhr zwischen Hals und Kragen.
Roscher lachte.
»Und dennoch ist es ein glücklicher Zufall, dass gerade heute jene Herren hier anwesend sind, die diese lächerliche Angelegenheit so nachhaltig forcieren.« Roscher grinste. »Mir ist es ja egal, was Sie bei der Arbeit tragen. Hauptsache, Sie schaffen mir das Mordsgesindel von der Straße.« Er erklärte den Damen, dass Kommissar Sötje Aufklärungszahlen von ungeahnter Höhe vorweisen könne, die ihm entweder Neid oder eine Beförderung einbringen würden.
Sophie hauchte ein interessiertes »Oh«.
»Verzeihen Sie, meine Damen, wir sollten an einem solch schönen Abend nicht von der Arbeit reden.« Roscher wandte sich an seine Gattin. »Nicht wahr, meine Gute?«
Sie deutete ein Lächeln als zustimmende Antwort an.
Da erklang der erste Gong, und die Gäste begaben sich die mit rotem Teppich bespannten Marmorstufen hinauf zu den Logen und Rängen. Hauke blickte auf die Eintrittskarten in seiner Hand, um herauszufinden, wohin sie gehen mussten.
»Sie haben kein Abonnement?«, wollte Roscher wissen, als sie sich mit den Damen dem Strom der anderen anschlossen. Als Hauke verneinte, raunte er nur: »Sie Glücklicher.«
Hauke seufzte schwer, als er bald darauf erfuhr, dass der letzte Vorhang erst nach Mitternacht fallen würde. Vier Stunden Wagner. Schon jetzt überfiel ihn Müdigkeit, was auch an der unerträglichen Wärme im Saal liegen mochte, an dem engen Binder oder an seinem Töchterchen, das ihm und seiner Frau seit einiger Zeit wenig Schlaf gönnte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Sophie, wie sie an seiner Seite durch die Menge schwebte. So gestrahlt hatte sie lange nicht mehr, und er fragte sich, warum.
Sie nahmen auf den samtbezogenen Sesseln Nummer 15 und 16 in Reihe 25 Platz. Sophie ließ den Blick umherschweifen und entdeckte Gräfin von Bülow in ihrer Loge. Die Frauen nickten einander zu, und Hauke meinte ein äußerst zufriedenes Lächeln im Gesicht der über Siebzigjährigen zu entdecken, deren angesehene Familie im ganzen Land hohe Regierungsbeamte, Anwälte und namhafte Architekten stellte. Das Wohlwollen der alten Dame zu besitzen, war sicherlich für so manchen Herrn ein geheimer Wunsch, brachte es einen doch in Kreise, die dem einfachen Bürger ansonsten auf Lebzeiten verwehrt blieben.
»Tristan und Isolde«, stand auf dem Programm in Haukes Hand. Er lehnte sich zu seiner Frau hinüber. »Ich vermute, das Stück ist nicht lustig, oder?«
Einer Lehrerin nicht ganz unähnlich, schaute Sophie ihn tadelnd an.
»Es ist eine Oper von Richard Wagner«, antwortete sie, was offenbar alles erklärte.
Hauke nickte betrübt. »Ich weiß. Hatte nur gehofft …«
In diesem Moment begannen Livrierte, die Lampen im Saal zu löschen, bis sich ein diffuses Halbdunkel auf das Publikum legte, genug, um noch die Bühne und schemenhaft den Orchestergraben sehen zu können, in den nun der hochgewachsene Dirigent unter dem Applaus des Publikums trat.
Ein Mann erschien im Orchestergraben und verbeugte sich vor dem Publikum. Vornehmes Klatschen war zu hören.
»Da ist Richard Barth, Leiter des philharmonischen Orchesters«, erklärte Sophie leise, die sich in diesen Dingen weit besser auskannte als Hauke.
Er bevorzugte weniger schwere musikalische Kost. Gleichzeitig aber liebte er seine Frau, die Mutter seiner kleinen Tochter. Für beide würde er über heiße Kohlen gehen und den Ozean durchschwimmen. Nur, musste es gleich Wagner sein? Hauke seufzte. In demütiger Selbstaufopferung und dem festen Willen, nicht einzuschlafen, drückte er das Kreuz durch. Immerhin hatte Sophie ihm den »Ring des Nibelungen« erspart, von dem es hieß, er daure tatsächlich zwanzig Stunden.
Da bemerkte Hauke aus dem Augenwinkel eine Gestalt, die in diese feine Gesellschaft aus Taft und Tüll, Fräcken und Seidenhandschuhen nicht recht hineinpassen wollte. Kriminalassistent Otto Schröder stand am Ende der Reihe 24 und winkte, um die Aufmerksamkeit seines Chefs zu erhaschen. Einige Herrschaften im Publikum kommentierten tuschelnd Schröders ungehörigen Auftritt.
Rasch erhob sich Hauke von seinem Sitz.
»Verzeih, Liebste, ich möchte schnell erfahren, was Schröder hier macht.« Unter gemurmelten Entschuldigungen drängte sich Hauke an den anderen Gästen vorbei. Im Rücken spürte er den feuerspeienden Blick des Dirigenten, der mit seiner Darbietung tatsächlich darauf wartete, dass der Tumult im Publikum sich wieder legte, damit er beginnen könne.
Schröder salutierte, dann raunte er Hauke etwas von einem Toten in der Kirche St. Gertruden zu. »Es ist besser, wenn Sie gleich mitkommen, Herr Kommissar.«
Hauke sah, dass Sophie stur nach vorne blickte, sei es, weil ihr die Aufmerksamkeit der anderen Hamburger peinlich war, oder sei es, weil sie ahnte, was nun folgen würde. Er warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Warum denn so dringend, Schröder? Der Tote läuft uns nicht weg«, erwiderte Hauke halbherzig, hin- und hergerissen zwischen Flucht und Angst vor seiner Frau.
Schröder kam noch näher.
»Es ist Pastor Krause.« Der Kriminalassistent brauchte nichts weiter zu sagen. Jeder wusste, dass besagter Pastor Krause Anfang nächsten Jahres zum neuen evangelischen Bischof bestellt werden sollte. Seine Predigten seien Feuer und Flamme, Himmel und Hölle in einem, hatte es kürzlich in den »Hamburger Nachrichten« geheißen. »Und weil Sie sagten, ich solle Sie unter allen Umständen aus dem Stadttheater holen, wenn ein geeigneter Fall …«
»Jaja, das haben Sie richtig gemacht. Warten Sie vor der Tür auf mich.«
Eilig verließ Schröder den Saal und ließ Hauke unter den mordlustigen Augen des Dirigenten zurück, der mit verschränkten Armen vor der Brust dastand und wartete.
Ein weiteres Mal drängte sich Hauke durch die Reihe, zurück zu Platz 15, wo er sich mit einem fahrigen Blick auf das steinerne Gesicht seiner Frau in den Sessel fallen ließ. Mit all der Verachtung, zu der ein Mann seiner Genialität fähig war, drehte sich Dirigent Richard Barth nun dem Orchester zu, hob den Taktstock, und die ersten Töne glitten wie ein drohendes Unheil durch den Saal.
Fragend sah Sophie Hauke von der Seite an, während er nach vorne schaute, um die richtigen Worte zu suchen. Er beugte sich zu ihr.
»Ein Toter«, raunte er und versuchte, dabei so untröstlich zu gucken wie nur irgend möglich. »Es tut mir sehr leid, wir müssen gehen.«
Sophie kniff den Mund zusammen und starrte über die Köpfe der anderen Gäste hinweg, direkt auf die Bühne, wo sich langsam der Vorhang hob. »Nein.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte Nein. Ich bleibe.« Sie reckte das Kinn eine Nuance höher. »Ich habe mich auf diesen Abend gefreut. Ich bleibe.«
»Pst«, kam es von irgendwoher.
Hauke setzte sich wieder. »Du kannst unmöglich allein hierbleiben. Ohne Begleitung. Was sollen die Leute denken?«
»Dass mein Mann auf den Genuss dieses Abends verzichtet, um die Straßen der Stadt von Gesindel zu befreien. Ich werde nach dem ersten Akt nach Hause fahren.«
»Ruhe da vorne!«, zischte jemand hinter ihnen.
»Du hast kein Geld dabei«, flüsterte Hauke. Er kramte in seiner Weste nach einem Geldstück, als ihm einfiel, dass seine Börse im Mantel in der Garderobe war.
»Den Kutscher kann ich zu Hause bezahlen.« Sophie machte nicht im Geringsten Anstalten, ihn nach draußen zu begleiten.
»Wie du meinst.«
Auf dem Weg ins Foyer bemerkte Hauke Roschers verzweifelten Blick aus einer der Logen. Er wusste, dass auch sein Vorgesetzter einer echten Leiche den Vorzug vor dem Morden auf der Bühne geben würde. Gerade noch rechtzeitig konnte Hauke ein zufriedenes Lächeln unterdrücken. Er war dem heutigen Kunstgenuss glücklich entkommen. Einzig seine verärgerte Gattin betrübte ihn.
Hamburger-Stadttheater. Aus Anlaß des 60jährigen Komponisten-Jubiläums Giuseppe Verdis. Bei festlich beleuchtetem Hause. Aida, Oper mit Ballett.
Anfang 7 ½ Uhr. Große Preise.
Original: »Hamburger Nachrichten«, Oktober 1899
Endlich fiel der Vorhang! Während das Publikum aus dem Zuschauerraum ins Foyer schwärmte, nestelte Sophie an ihrem Pompadour. So unauffällig wie möglich würde sie sich durch die Menge begeben, um das Stadttheater zu verlassen, denn es schickte sich tatsächlich nicht, ohne Begleitung in der Öffentlichkeit aufzutreten. Derartige Privilegien konnten sich vielleicht die Damen der neuen englischen Frauenvereine erlauben, von denen Sophie in der »Gartenlaube« gelesen hatte und die scheinbar recht energisch auftraten, sie hingegen musste um ihren Ruf fürchten.
Hoffentlich warteten vor dem Portal noch einige Mietkutschen, von denen eine sie nach Hause bringen könnte. In ihrer dunklen Stube würde sie ganz allein sein, gekleidet wie eine Prinzessin. Sie würde hinaus auf die Straße schauen, ohne recht zu wissen, warum sie nicht einfach losschrie.
Dieses Gefühl hatte Sophie seit einigen Monaten, und sie verstand es nicht. Warum fühlte sie sich so einsam, so wütend, so durchsichtig? Sie hatte alles, was sich eine Frau nur wünschen konnte: ein schönes Zuhause, einen Mann, der sie liebte, ein gesundes Kind, genug zu essen auf dem Tisch oder ab und zu eine kleine Ablenkung vom Alltag, wenn sie die Gräfin besuchte.
Unter dem Vorwand, es sei für ihren Mann, besorgte sie sich täglich die »Hamburger Nachrichten« und den »Hamburgischen Correspondent«, die ihr schmerzlich zeigten, wie sehr der Fluss des Lebens an ihr vorbeirauschte.
Deutsch-Neuguinea war seit April Teil des Kaiserreichs, im fernen Südafrika war der Krieg erneut ausgebrochen, und es sah für die Briten nicht gut aus. Ein Engländer hatte erst letzten Monat behauptet, den neunten Mond des Saturns entdeckt zu haben. In einem Gefängnis mit dem lustigen Namen Sing Sing wurde die erste Frau auf einem elektrischen Stuhl hingerichtet. In Frankreich hatte man erstmals eine Wettfahrt mit Automobilen von Paris bis Nantes und zurück durchgeführt. Diese Tour de France sei derart erfolgreich gewesen, dass man sie von nun an jedes Jahr veranstalten wolle, hieß es in der Zeitung. Und Sophie Sötje? Sie saß Tag für Tag in ihrer Wohnung und wartete. Worauf, hätte sie nicht sagen können. Anfangs dachte sie, es wäre ihr Mann, den sie am Abend herbeisehnte, bis sie begriff, dass es seine Erlebnisse waren, von denen sie zu hören hoffte. Er war ihr Fernrohr in eine Welt hinaus, die sie vermisste.
Sie fühlte sich leer. Oft dachte sie an die Zeit, als sie noch nicht die schützenswerte junge Mutter und Gemahlin gewesen war, sondern ein Mensch, der zu kämpfen verstand. War sie es nicht gewesen, die vor zwei Jahren das verschwundene Kind aufgespürt hatte? War sie es nicht, die den vermissten Schreiber halb tot am Nord-Ostsee-Kanal gefunden hatte? War sie es nicht, die dank ihrer Intuition so manchem Fall des Herrn Kommissars eine neue Wendung hatte geben können?
Sophie seufzte.
»Frau Sötje?«
Die Stimme der Dame, die plötzlich neben ihr stand, ließ Sophie zusammenzucken. Sie schaute auf. Die Sitzreihen vor und hinter ihr waren mittlerweile allesamt leer.
Sophie erkannte die Gesellschafterin der Gräfin. »Ja?«
»Gräfin von Bülow lässt Sie freundlichst in ihre Loge bitten, sofern Sie keine anderen Verpflichtungen haben.«
Kurz darauf betrat Sophie den Vorraum der Loge, wo auf die Gäste der Gräfin Horsd’œuvres und Sektgläser im Vorraum warteten. Man plauderte angeregt, so wie die anderen Zuschauer es im Foyer sicherlich auch taten. Nur hätte mancher dort unten viel darum gegeben, zu den wenigen Auserwählten der Gräfin in ihrer Loge zu zählen.
Die alte Dame mit dem Stock war eine Tante des Staatssekretärs des Äußeren Bernhard von Bülow, der kürzlich vom Kaiser mit einem Adelstitel versehen worden war und von dem es hieß, er könne auf der Klaviatur der Eitelkeiten wahre Sinfonien spielen, was ihm sicherlich eine noch höhere Position im deutschen Kaiserreich eröffnen würde. Auch dass die Familie von Bülow familiäre Beziehungen zum Bankhaus »Godeffroy« unterhielt und so mancher Bülow-Vorfahr Senator in Hamburg gewesen war, erleichtere es der Gräfin, die Gästeschar für ihre Loge nach Gutdünken auszuwählen.
»Meine Liebe!« Die Gräfin ließ den brasilianischen Botschafter kommentarlos stehen, eilte auf Sophie zu und umarmte sie. Anerkennend glitt ihr Blick an Sophie hinunter. »Wie wunderschön Sie wieder aussehen. Wo lassen Sie nur schneidern?«
Sophie unterdrückte ein Lächeln. Immerhin stammte ihre gesamte Garderobe für diesen Abend aus den Schränken der Gräfin persönlich.
»Ich hoffe«, fuhr die Gräfin fort, wobei sie sich bei Sophie einhakte, »Ihr Mann sieht es mir nach, dass ich Sie gerade heute nicht vorzeitig habe gehen lassen können.«
Sophie bemerkte die neugierigen Blicke der anderen, als die Gräfin auch schon laut genug fortfuhr, sie wäre sehr, sehr traurig gewesen, wenn Sophie ihre Einladung nicht angenommen hätte. »Dass Ihr Mann noch vor dem ersten Akkord gehen musste, ist äußerst betrüblich. Wenigstens hat er Sie zu meiner Gesellschaft hiergelassen.« Dass sich uneingeweihte Geister aus dem Fortgang des Herrn Hauptkommissars zu falschen Gedanken verleitet sehen mochten, möge Sophie ihr verzeihen, der Grund der Einladung würde diese Unannehmlichkeit sicherlich wettmachen, versprach sie.
Sophie bemerkte, wie die ein oder andere Dame verschämt zur Seite blickte. Natürlich hatten alle Haukes plötzlichen Aufbruch gesehen, und die Weigerung seiner Ehefrau, mit ihm zu kommen, hatte das Potenzial für einen kleinen Skandal. Wenn jedoch die Gräfin persönlich der Gattin dieses einfachen Kommissars eine Audienz gewährte, zeigte sich die Szene natürlich in einem ganz anderen Licht.
»Frau Kommissarin Sötje …« Eine elegante Person in gesetzterem Alter begrüßte Sophie. »Wie schön, Sie endlich kennenzulernen. Wir haben schon so oft von Ihnen gesprochen, nicht wahr, Anton?«
Ihr Gatte nickte brav, während sein Blick durch dicke Brillengläser über die Anwesenden huschte. Er erinnerte Sophie an einen aufgeschreckten Hasen. Die Gräfin stellte die beiden als Staatssekretär Anton Hagedorn nebst Gattin Helene Marie Friederike, geborene Krahnstöver, vor.
Man reichte Sophie ein Glas, und sie hätte singen mögen ob der Tatsache, dass sie nun nicht in einer Mietdroschke nach Hause fahren musste, sondern einen rauschenden Opernabend mit den begnadetsten Sängern und Sängerinnen des gesamten Reichs vor sich hatte. So knauserig die Hamburger hinsichtlich Kultur auch sein mochten, der Ruf, den ihr Theater weit über die Stadtgrenzen hinaus genoss, war ihnen so manche Mark wert.
Leider war der berühmte Herr des Stadttheaters, Bernhard Pollini, vor zwei Jahren nach einer fulminanten Aufführung der »Meistersinger« unerwartet verstorben. So mancher musikalisch ungebildete Geist vermutete, dass die viereinhalb Stunden Wagnermusik für den Neunundfünfzigjährigen einfach zu viel gewesen sein mussten. Andere meinten, der Dauerkrieg mit Gustav Mahler könnte schuld gewesen sein oder vielleicht die Tatsache, dass Pollini kurz zuvor eine zwanzig Jahre jüngere Koloratursopranistin geehelicht hatte. Wie dem auch sei, das Gerede beschäftigte auffallend lange so manche Salongesellschaft. Mittlerweile war alles getratscht, was man darüber tratschen konnte, und die Gesellschaft suchte dringend ein neues Sujet. Sophie spürte diesbezüglich ein gewisses Interesse an ihrer Person. Dennoch gedachte sie nicht, Anlass für dummes Gerede zu geben.
»Und? Glauben Sie, sie kommt?«
Sophie lächelte unbestimmt, denn sie wusste beim besten Willen nicht, von wem die Rede war. Jetzt erfuhr sie, bei welch besonderem Anlass sie Zeugin werden sollte. Offenbar hatte man sich hier versammelt, um eine begnadete Sängerin zu begrüßen, die in der Stadt weilte.
»Die Francini ist in Hamburg, heißt es. Ist das nicht wunderbar!« Die Gattin des Staatssekretärs glühte vor Erregung.
Ob das der Wahrheit entsprach, musste sich allerdings erst herausstellen. Die Tatsache, dass die neuen Direktoren des Stadttheaters, Bachur und Bittong, ebenfalls anwesend waren und ungeduldig in der gräflichen Loge warteten, ob vor dem zweiten Aufzug noch etwas geschähe, ließ immerhin darauf schließen, dass an dem Gerücht etwas dran sein musste.
Die Zeit bis zum nächsten Aufzug drängte. Und so schaute Bachur erneut auf seine silberne Kettenuhr, die er aus der Westentasche zog, während Bittong unruhig von einem Fuß auf den anderen tippelte.
»Die beiden Herren sind nur hier«, flüsterte die Gräfin Sophie zu, »weil sie die Francini für eine ganze Spielzeit verpflichten wollen.« Als die Gräfin Sophies fragenden Blick bemerkte, lachte sie auf. »Sie kennen sie nicht? Carlotta Francini? Die Sopranistin. Göttlich. Die Italiener liegen ihr zu Füßen. Jung, bildschön, von ungeahntem Talent. Mozart, Schumann, Puccini, ach, sie brilliert in allem. Außerdem soll sie die gleichen schauspielerischen Qualitäten haben wie die große Sarah Bernhardt.« Die Gräfin lächelte in die Runde. »Die Bernhardt sei exzentrisch, überspannt und launisch, heißt es. Ich denke ja, dass ihre Tage vorbei sind. Carlotta Francini hingegen ist der aufgehende Stern am Himmel der Oper. Sie stellt die Bernhardt mit ihren zu Tränen rührenden Arien in den Schatten. Und Francinis Stimmumfang! Einfach himmlisch. Wenn sie erst die nötige Reife hat, wird sie jede Wagneroper mit einer Leichtigkeit singen, die selbst den Meister sprachlos machen würde.« Die Gräfin hielt inne. »Nein, ich bezweifle, dass es ihn sprachlos gemacht hätte. Ich habe ihn vor Jahren kennengelernt und kann versichern, Sprachlosigkeit oder gar Bescheidenheit sind nicht die rechten Begriffe, um Richard Wagner zu beschreiben.«
Während sich die Älteren unterhielten, manövrierte die Gräfin Sophie zu einigen Damen, die auf dem Balkon zum Zuschauerraum aufmerksam den Worten eines jungen Mannes mit vollem Haar und sonorer Stimme lauschten. Er lehnte wie zufällig an der Logenbrüstung, sodass die Bühne genau hinter ihm zu sehen war, als wäre er ein Teil davon. Erst glaubte Sophie, er müsste ein Opernsänger sein, wie er so mit großer Geste seinen Monolog führte.
»Das spezifisch deutsche Tempo ist das Andante, müssen Sie wissen, meine Damen.«
Seine Zuhörerinnen nickten artig.
»Und die einzige Form der Musik ist die Melodie. Wagner hat dies zu einer vollendeten Kunst erhoben, der sich keine Seele entziehen kann.« Er war offenbar ein begeisterter Verehrer des Komponisten.
Die Gräfin schob Sophie auf die kleine Gruppe zu.
»Darf ich vorstellen«, begann sie, ohne Rücksicht auf seinen Monolog zu nehmen, was den jungen Mann mit der lockigen Haarpracht zu verwirren schien, ja gar ein wenig zu verärgern. Er fasste sich schnell wieder, deutete eine Verbeugung an.
»Frau Gräfin …«
»… Frau Sötje, die Gattin unseres Hauptkommissars Hauke Sötje. Sicherlich haben Sie schon von ihm gehört, mein lieber Max.«
Der junge Mann nickte Sophie knapp zu.
»Maximilian von Siems, Kenner des Wagner’schen Universums und ältester Sohn des Werftbesitzers Freiherr von Siems.«
Sophie hatte den Namen der Familie erst vor einiger Zeit in den »Hamburger Nachrichten« gelesen. Dort hieß es, dass der erst kürzlich geadelte von Siems wohl schon bald mit einem kaiserlichen Auftrag für ein oder zwei Schiffe rechnen könne. Sicherlich war die Werft drüben in Finkenwerder nicht so bedeutend wie jene von den Herren Blohm und Voss, aber das spielte hier und heute keine Rolle, denn der junge Mann fuhr sogleich mit seinem Diskurs fort, sobald die Gräfin Sophie in seine Obhut übergeben hatte.
»Der Wert einer Opernbühne beruht nicht auf befriedigender Wiedergabe einiger Wagnerwerke, einiger Straußeinakter oder ›Carmen‹-Vorstellungen«, dozierte er. »Es bedarf nicht der Einzelleistung, sondern der Zusammenkunft aller als Grundfeste der künstlerischen Arbeit. Ein stetes Treiben himmelwärts bewahrt uns vor dem Herabsinken auf Provinzniveau. Unser wunderbarer, leider von uns gegangener Freund Pollini, seines Zeichens selbst Opernsänger, hatte das verstanden. Er war ein Genie.« Maximilian von Siems hielt inne, um sein wallendes Haar, das er ein wenig zu lang trug, mit den Fingern zu durchstreifen. »Dass man allein in diesem Jahr schon zweimal das Trauerspiel der ›Nibelungen‹ von Hebbel in dieser Halle brachte, ist empörend. Ein Sprechstück!« Energisch schüttelte er sein Haupt. »So famos die Darsteller auch sein mögen, sie haben nichts in einem Opernhaus zu suchen. Der gehörnte Siegfried? In unserem Stadttheater? Einem Haus von diesem Ruf? Infam, wenn Sie mich fragen. Pollini hätte Derartiges niemals geduldet. Es gibt genügend Tingeltangeltheater in der Stadt. In einem Tempel wie diesem hat ein Hebbel nichts zu suchen!«
Die Damen nickten folgsam, während die Herren Bachur und Bittong dem Von-Siems-Sprössling einen scharfen Blick zuwarfen. Immerhin waren sie für das Programm verantwortlich. Und für die möglichst gefüllten Kassen am Ende eines Abends.
All diese kleinen Eitelkeiten, die in wohlmeinende Worte gewickelten Sticheleien, die Intrigen und Ränke erinnerten Sophie sehr an die Vorstellung, zu der man sich heute eingefunden hatte. Es amüsierte sie zu sehen, wie sich nicht nur auf der Bühne in Szene gesetzt wurde, sondern auch hier. Und sie war in beiden Fällen die unbeteiligte Zuschauerin, die sich genüsslich unterhalten ließ.
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Original: »Hamburgischer Correspondent«, November 1899
Er fühlte sich wie ein verkleideter Pfau auf einer Trauerfeier. Den Zylinder hatte er in der Kutsche gelassen und trotz Kälte und Nässe die Frackjacke geöffnet. Mit wehenden Schößen marschierte Hauke zum Pastorat der St.-Gertruden-Kirche. Kriminalassistent Schröder folgte ihm mit großen Schritten. Hauke hatte den ehemaligen Schutzpolizisten in sein Kommissariat geholt, weil er wusste, dass der Mann nicht nur akkurat arbeitete, sondern auch einen wachen Blick für Kleinigkeiten hatte. Otto Schröder war ihm vor zwei Jahren aufgefallen, als ein recht verwirrender Fall in der Speicherstadt ihn von Kiel nach Hamburg geführt hatte.
»Die Haushälterin alarmierte den Streifenpolizisten durch ihre Hilfeschreie«, erklärte Schröder im Gehen. Das Pastorat befand sich neben der Kirche, die nach dem großen Brand vor fast sechzig Jahren gebaut worden war. Ein spitzer Turm bohrte sich gen Himmel. Kein Licht fiel aus den Bleiglasfenstern in den Garten, der zwischen Kirche und Pastorat lag. »Klattmeyer, Käthe, wohnhaft vor Ort, ledig, gefesselt im Esszimmer. Schutzmann Mehlert war auf seiner Runde, als er die Schreie hörte. Er befreite die Frau und entdeckte dann erst den Toten am Baum.«
Hauke blieb stehen, als sie den Rand des Gartens erreicht hatten. So gut wie möglich versuchte er, sich einen Überblick zu verschaffen. Eine Eiche dominierte den Garten, den die Gemeinde wohl auch zum Flanieren nutzte, denn es befand sich eine Bank an der Außenmauer des Kirchengebäudes.
»Das zuständige Kriminalrevier wurde informiert«, fuhr Schröder fort. »Der erste Angriff konnte noch nicht erfolgen, da die Beamten im Gängeviertel benötigt werden. Selbsttötung einer Frau, wie es scheint.«
»Warum?«
Schröder sah ihn überrascht an. »Warum sie sich umbrachte?«
»Nein, warum wir hier sind. Eigentlich ist das Kommissariat 4 zuständig. Hauptkommissar Schindler wird toben.«
Schröder zögerte. »Na ja, das Pastorat gehört zu meinem alten Revier. Wohne nur zwei Straßen weiter. Dachte mir, ich nutze die Gelegenheit. Und da Sie mich baten, Sie aus dem Stadttheater zu retten, sobald ich von einem neuen Fall hörte …«
»Stimmt. Und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, Schröder. Sagen Sie es nur nicht meiner Frau.«
»Natürlich nicht, Herr Kommissar.«
Sie traten auf zwei Uniformierte zu, die nahe einem mit Reisig abgedeckten Rosenbeet herumlungerten. Zwischen ihnen und Hauke lag der Leichnam mitten auf dem Rasen.
Hauke ging zu dem Toten hinüber und betrachtete ihn eingehend. Jemand hatte dem Mann seinen Talar übergezogen und die Halskrause mit den hundertfach gefältelten Schleifen umgelegt. Die Hände des Mannes ruhten wie zum Gebet gefaltet auf dem Bauch. Eine mitfühlende Seele hatte ihm die Augen geschlossen, was der herausquellenden Zunge eine eigentümliche Note gab. Die Füße des Toten waren nackt. Von einem starken Ast über Haukes Kopf hing noch das Ende eines abgeschnittenen Seils.
»Wer hat den Mann abgenommen?«, bellte er durch den Garten.
Sogleich eilten die beiden Schutzleute herbei. Nebeneinander aufgestellt, salutierten sie, wobei sie weder Hauke noch den Leichnam zu ihren Füßen ansahen.
»Schutzmann Mehlert, Alfons, Revier Paulusstraße!«, rief der Älteste von ihnen. Er trug einen mächtigen Zwirbelbart. »Melde gehorsamst, habe Hilferufe einer Weibsperson gehört. Bin hin. Habe Person im Esszimmer vorgefunden, verschnürt wie ein Paket am Stuhl.«
»Du bist doch an dem Herrn Pastor vorbeigerannt, Mehlert«, bemerkte Schröder, dessen früheres Revier einmal die Straßen um St. Gertruden waren. Man kannte sich. »Haben Sie ihn da nicht gesehen?« Er fiel der Befehlskette gehorchend sicherheitshalber ins Sie zurück.
Mehlert warf ihm einen wütenden Blick zu. »Hätte ja gar nichts machen können. Dod is dod.«
»Wer hat Ihnen erlaubt, den Toten abzunehmen?«, wollte Hauke wissen.
Überrascht sahen sich die Männer an.
»Melde gehorsamst«, Schutzmann Mehlert salutierte erneut, »der Herr Pastor war nur leicht bekleidet.«
»Jo«, mischte sich sein Kollege ein. »Schutzmann Eichner, Friedhelm!«, sagte er zackig, wobei auch er die Hand an den Helm schlug. »Kam dazu. Half Schutzmann Mehlert, unter Zuhilfenahme eines Küchenhockers den Verblichenen aus seiner peinlichen Lage zu befreien.« Die Stimme des jungen Beamten zitterte ein wenig, und sein Gesicht wirkte selbst im Halbdunkel auffallend blass. »Der Herr Pastor trug ja nur ein Nachthemd. Und darunter nix.«
»Darum habe ich die Weibsperson angewiesen, ordentliche Kleidung zu bringen. Sah ja nicht schön aus, der Herr Pastor«, unterbrach Mehlert ihn, wohl in der Annahme, für sein rücksichtsvolles Benehmen dem Verstorbenen gegenüber ein Lob des Herrn Kommissars zu erhalten.
Hauke musste sich zusammenreißen, um den Männern keine Standpauke zu halten, dass sie, verdammt noch einmal, nichts anzufassen hatten, solange die Kollegen vom Kriminalrevier nicht eingetroffen waren. Die hatten den sogenannten ersten Angriff zu tätigen, zu dem das Sichern von Spuren gehörte und fotografische Aufnahmen des Tatorts. Danach wurde das zuständige Kommissariat im Stadthaus informiert, wenn der Tod auf Fremdverschulden schließen ließ. Bei derartigen Tötungsdelikten war das Kommissariat 4 unter der Leitung von Hauptkommissar Schindler, einem alten Haudegen aus dem Deutschen Krieg von 1866, zuständig.
Hauke ahnte, dass es Ärger mit Schindler geben könnte, denn er hatte ihm den Fall aus sehr privaten, ja fast schon niederen Beweggründen vor der Nase weggeschnappt. Dass zwischen ihnen seit einiger Zeit ein kleiner Krieg ausgebrochen war, den Schindler weitaus ernster nahm als Hauke, machte die Sache nicht leichter. Und so hielt sich Haukes Schuldbewusstsein heute Abend in Grenzen, da ihm dank dieser Volte ein endlos langer Abend mit Tristan und Isolde erspart geblieben war. Er würde den Rüffel des Polizeirats über sich ergehen lassen und den toten Pastor an Schindler abgeben, wenn der es unbedingt wünschte. Sicherlich würde Schindler die Sache als Selbsttötung abtun. Hauke allerdings glaubte nicht recht daran, dass der Herr Pastor seinem Leben selbst ein Ende gesetzt haben könnte.
»Die Kollegen vom Revier sind noch im Gängeviertel beschäftigt. Darum machen wir heute den ersten Angriff, Schutzmann Mehlert.«
»Jawoll, Herr Kommissar.«
Wieder fiel Haukes Blick auf den Toten zu ihren Füßen. Er seufzte. Offenbar hatten Roschers Vorschriften zur Vorgehensweise beim Auffinden von Leichnamen noch nicht ihren Weg in die Köpfe der Schutzleute gefunden oder wurden dort geflissentlich ignoriert. Nun, Gustav Roscher war ja auch nicht ihr Vorgesetzter, sondern jener der Krimsches und der Politischen.
»Wo ist der Rest vom Strick?« Hauke sah vom Leichnam zum Ast hinauf, wo das Ende des durchgeschnittenen Hanfseils im Wind hin und her schaukelte.
»Na, den haben wir gehorsamst entfernt, weil ja sonst die Halskrause nicht gepasst hätte.« Mehlert wies zum Rest des Taus, das wie eine Schlange ein Stück weiter im nassen Gras lag. Sie hatten den Knoten gelöst.
»Haben Sie sonst noch etwas angefasst?«, bellte Schröder.
Sie schüttelten die Köpfe. Der eine mit betroffenem Gesicht, der andere trotzig.
»Haben Sie wenigstens den Garten auf Hinweise durchsucht?«, wollte Hauke wissen.
Wieder Kopfschütteln.
»Nee, dachten ja, die vom Kriminalrevier würden kommen. Konnten ja nicht wissen, dass die woanders beschäftigt sind.«
»Haben uns schon gewundert, dass es so lange dauert«, stimmte Schutzmann Eichner ihm zu.
Kurz schloss Hauke die Augen. Als er sie wieder öffnete, wies er die Männer an, den Garten Zentimeter für Zentimeter auf Hinweise zu durchforsten. »Fangen Sie am Zaun an.«
»Hinweise?« Mehlert schaute Eichner fragend an.
»Fußabdrücke in der Erde. Verlorene Knöpfe. Zigarrenreste. Dinge, die um diese Zeit nicht an diesen Ort gehören.«
Zackiges Salutieren war die Antwort. Eilig zogen sich die beiden Beamten zurück und begannen mit gebeugten Rücken im mickrigen Schein der Gaslaterne an der Straße mit der Suche.
Hauke und Schröder beobachteten sie.