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Der schicksalhafte Aufstieg einer einfachen Wäscherin im mondänen Hamburger Hotel Hamburg, 1914: die 14jährige Luise wächst im Armenviertel der Stadt auf. Als sie die Chance bekommt, im vornehmen Hotel Vier Jahreszeiten zu arbeiten, scheint ihr Traum auf ein besseres Leben in Erfüllung zu gehen. Doch der Alltag im Waschkeller des Hotels ist hart und Luise muss sich gegen viele Widrigkeiten behaupten. Zum Glück ist Page Hans an ihrer Seite. Dank ihm entdeckt sie die Wahrheit über ihre Herkunft, während draußen der Krieg tobt. Das Hotel wird zu ihrer Familie, die sie nie hatte. Und sie ist bereit, diese mit ihrem Leben zu verteidigen. Der Auftakt zur hinreißenden Dilogie über das legendäre Grandhotel an der Alster
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Nadine Buranaseda
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Cover & Impressum
Erlauben Sie mir vorab einige persönliche Worte …
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Lassen Sie mich noch ein letztes Wort verlieren …
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Diesen Roman zu schreiben, war für mich als Hamburger Deern eine ganz besondere Freude. Das berühmte Hotel am Neuen Jungfernstieg gehört in die Seele meiner Stadt wie die Elbe, der Hafen, die Speicherstadt und der Michel. Als kleines Mädchen träumte ich oft davon, einmal die acht Stufen in das vornehme Hotel hinaufgehen zu dürfen, nur um zu schauen, ob es dort wirklich so schön ist, wie alle sagen. Ich habe mir diesen Traum erfüllt und kann bestätigen, ja, das ist es.
Wie um alle Grandhotels dieser Welt ranken sich auch um das Vier Jahreszeiten Geschichten, Klatsch und manchmal sogar Mythen. Oft geht es um die teils skurrilen Eigenheiten berühmter Gäste oder den exquisiten Luxus, der für die meisten von uns unerreichbar bleiben wird. Ein Blick in die Welt der Schönen und Reichen ist das, was viele dazu bewegt, in den Hochglanzmagazinen zu blättern.
Mir lag mit diesem Buch etwas anderes am Herzen.
Ich wollte all jene zeigen, ohne die der Ruhm dieser Häuser nicht möglich wäre. Jene dienstbaren Geister, die dank ihrer Leidenschaft ein Grandhotel erst zu dem machen, was es ist. Grand! Unermüdlich streben sie danach, dem Gast das einmalige Gefühl zu geben, er wäre etwas ganz Besonderes. Sie haben nur ein Ziel: Perfektion in allem, was sie tun.
Dafür dienen sie, ohne zu dienern, wie mir Rudolf Nährig, der ehemalige Oberkellner des Hotels Vier Jahreszeiten, einmal sagte.
Wer im Vier Jahreszeiten gearbeitet hat, darf sich zur Weltklasse zählen. Ihnen allen, ob ehemals oder noch aktiv, widme ich diesen Roman.
Ich wünsche Ihnen viele schöne Lesestunden
Anja Marschall
Der Traum, eben noch rauschend und voller Musik, wurde leiser und leiser, bis er nur noch als Rinnsal durch ihr Gemüt sickerte, um langsam zu versiegen. Statt seiner polterte jetzt das Schnarchen ihrer Tante aus der Schlafstube nebenan durch ihren Kopf. Langsam öffnete Luise die Augen.
Draußen vor dem Fenster erhob sich ein neuer Maimorgen über die Stadt. Seine Strahlen würden ihren Weg nicht vor dem späten Nachmittag bis in den engen Hof nahe der Springeltwiete finden, hinein in Tantes kleine Wohnung, die am Ende einer schmalen Außenstiege lag.
Am fließenden Rotgold des Himmels erkannte Luise, dass es ein sonniger Tag werden würde. Sie meinte ihn bereits riechen zu können. Verschlafen wanderte ihr Blick durch den Raum. Schemenhaft traten der Herd bei der Tür, der schiefe Küchentisch und die beiden Stühle aus der Dunkelheit hervor, die Wäsche auf dem Gestell, das man an einer Schnur unter die Decke ziehen konnte, die Töpfe und Teller auf dem Regal.
Luise spürte, dass der Maigeruch in ihrer Nase langsam verflog, um jenem nasskalten Moder Platz zu machen, den alle Häuser im Gängeviertel seit jeher ausatmeten. Das sei der Odem der Armut, hatte der Lehrer in der Schule einmal gesagt. Luise hatte sich seine Worte gemerkt, denn er hatte dabei mit einem angewiderten Gesicht zu ihr geschaut.
Tatsächlich klebte die Fäulnis an allem, was von hier kam, an den zerschlissenen Kleidern seiner Bewohner, an ihren Zähnen, in ihren stumpfen Augen und ihren hoffnungslosen Gedanken. Wer hier lebte, würde auch hier sterben. Das sei sicher, so sagten die Alten. Diese klamme Feuchtigkeit war außerdem der Grund, warum Luise allabendlich ihre Strohmatratze ein Stück aus der schimmelfleckigen Ecke zog, hinein in die Mitte der Küche, denn die nasskalten Mauern ekelten sie.
Es war früh. Die Glocken von St. Jacobi hatten noch nicht geläutet. Ihr blieb ein letzter Moment der Ruhe, bis ein weiterer Tag voller Arbeit vor ihr lag. Luise drehte den Kopf zum Fenster. Auf dem Brett davor standen eine halb abgebrannte Kerze und eine mickrige blaue Primel, die sie jeden Tag goss. Sie liebte Blumen, derer es in den Höfen so wenige gab.
Im Raum befand sich ein zweiter Tisch. Er war Tantes ganzer Stolz, denn daran verdiente sie ihr Auskommen. Im Licht der Petroleumlampe, die von der Decke hing, arbeiteten sie und Luise oft schweigend bis spät in den Abend hinein, um die Weißwäsche der besseren Gesellschaft Hamburgs zu flicken. Tante hatte ihr dieses Handwerk früh beigebracht. Trotz ihrer jungen Jahre konnte Luise bereits die kompliziertesten Monogramme sticken und ausbessern, ohne dass jemand die Schadstelle je bemerkt hätte. Luise war sich sicher, dass ihre Tante früher einmal eine sehr geschätzte Stickerin gewesen sein musste, denn beste Adressen wie das Grandhotel Vier Jahreszeiten am Neuen Jungfernstieg gehörten noch heute zu ihren Kunden.
Gestern hatte Luise bis tief in die Nacht allein am Tisch gesessen, um für das Hotel zu nähen, weil Tante schon wieder in eine der vielen Hinterhofkneipen zwischen Hopfensack und Speersort gegangen war. Das tat sie in den letzten Monaten immer häufiger.
Fräulein Richter, die erste Hausdame des Hotels, hatte jedoch darauf bestanden, dass die Stücke heute früh geliefert werden sollten. Also hatte Luise bis Mitternacht im Schein der Lampe gesessen und gearbeitet. Sie hatte gar nicht gehört, wann Tante zurückgekehrt war, so tief hatte sie danach geschlafen.
Nun lag unter einem weißen Leinentuch auf dem Tisch ein Stapel seidener Kopfkissen mit dem eingestickten 4J-Emblem des vornehmen Hotels. Ein Anblick, der Luise mit Stolz erfüllte. In den Fingerspitzen spürte sie noch immer das Streicheln des Seidenfadens.
Sie hatte das elegante Haus an der Alster bisher nur einmal in ihrem Leben gesehen. Es war vor drei Jahren gewesen, als Tante sie ausnahmsweise mitgenommen hatte, weil sie die Pakete nicht allein hatte tragen können. Dieser Ausflug war für Luise aufregender gewesen als ein Spaziergang am Ufer der Elbe oder ein Zuckerapfel auf dem Rummel.
Wenn Tante Auslieferungen zu erledigen hatte, setzte sie ihren besten Hut auf, machte sich auf den Weg, ließ die Wäsche begutachten und bat um ihr Geld. Auch damals trug sie ihren Hut. Luises Hände hatte sie zuvor mit einer Wurzelbürste geschrubbt, aus Angst, der Dreck des Gängeviertels könnte von der Hausdame des Hotels bemerkt werden. Dabei waren Luises Fingernägel immer reinlich, denn Tante duldete keine schmutzigen Hände. Überhaupt waren Luises Finger die saubersten im Viertel, ja, vielleicht sogar der ganzen Stadt. Sie waren so tadellos, dass sie an den meisten Tagen schmerzhaft rot waren und Luise sie hinter dem Rücken versteckte, wenn jemand ihr begegnete.
Mit streng geflochtenen Zöpfen unter ihrer Wollmütze hatte Tante sie an jenem Tag mitgenommen, vorbei am Rathaus, hinüber zum Jungfernstieg mit seinen vornehmen Läden, die so früh noch nicht geöffnet waren. Luise erinnerte sich, dass die Alster zugefroren war und all die weißen Dampfer am Anleger ihr schienen, als wären sie in einen Dornröschenschlaf gefallen. Vor einem der Schaufenster blieb sie stehen, um die herrlichen Auslagen zu betrachten, doch Tante zerrte sie unwirsch mit sich.
»Unsereins lungert nicht herum. Und promenieren tut er auch nicht. Wir arbeiten und sind durchsichtig. Jeder an seinem Platz. Zu Gottes Wohlgefallen.«
Luise verstand nicht, was Tante damit gemeint haben könnte.
Endlich erreichten sie das Schloss! Es musste eines sein, da war sich die kleine Luise sicher gewesen, denn bei den Stufen, die ins Haus führten, hielt ein Soldat Wache. Seine goldenen Tressen auf den Schultern glänzten mit seinen Knöpfen um die Wette. Als Luise ihn entdeckt hatte, verbeugte er sich gerade vor einem feinen Herrn, der mit Zylinder und Gehstock durch die Tür heraustrat und gemessenen Schrittes die Stufen mit dem roten Teppich herunterkam. Ihm folgte ein Mädchen, das kaum älter war als Luise. In ihrem langen weißen Mantel, der bis zu den schwarzen Schnürstiefeln reichte, und der Pelzmütze auf ihrem Haar wirkte sie wie eine Prinzessin.
Luise erinnerte sich, dass sie sich gefragt hatte, ob das Mädchen wohl schmutzige Fingernägel haben könnte, weil sie ihre Hände in dem Pelzmuff verstecken musste. Luise war überzeugt gewesen, dass es sich bei dem Herrn um einen König handelte, so tief dienerte der Soldat vor dem Mann. Fasziniert stand sie da, bemerkte Tante erst, als diese sie in den Arm kniff, weil sie die Prinzessin mit offenem Mund anstarrte.
»Gaff nicht so dumm!«, hatte Tante gezischt und Luise mit sich gezogen.
Das war lange her. Dennoch schob sich das Bild des Hotels mit seinen hohen Fenstern und dem Soldaten vor der Tür noch immer durch Luises Träume. Die Erinnerung versüßte ihr die kalten Nächte und schweren Tage in der Springeltwiete. In ihrer Vorstellung schritt sie durch die Tür, über die acht mit Teppich belegten Stufen hinauf und trat durch die Drehtür ins Gebäude. An dieser Stelle endete der Traum immer, denn sich auszumalen, wie das Innere des Schlosses aussehen könnte, war ihr unmöglich.
Sie schlug die kratzige Decke zur Seite und setzte sich auf. Ihr Nacken war steif und schmerzte. Ein Blick zu dem Leinentuch und der Wölbung darunter gab ihr Linderung. Sie hatte jedes einzelne Wäschestück in allerbester Manier mit dem Monogramm des Hotels versehen. Alle Stiche waren ihr perfekt gelungen. Keiner der Gäste würde ahnen, dass es nur ein einfaches Mädchen aus dem Gängeviertel war, das seine Hände an den Stoff gelegt hatte.
Luise wusste, wem sie ihre Fertigkeit zu verdanken hatte. So hart Tante auch mit ihr ins Gericht ging, sie hatte in all den Jahren viel bei ihr gelernt. Eines Tages würde sie ebenfalls eine Wäscheflickerin sein oder gar eine Stickerin, deren Arbeit von den Reichen der Stadt wertgeschätzt würde. Wenn es so weit war, gedachte Luise nicht mehr im Gängeviertel zu wohnen, von dem es hieß, es würde eh bald abgerissen werden, um Platz für neue Kontorhäuser zu machen. Nein, Luise würde sich eine Bleibe suchen, die ganz in der Nähe jener Häuser lag, die sie beliefern wollte. An der Tür würde sie ein Schild aus Messing mit ihrem Namen darauf anbringen lassen.
Träume, alles nur Träume, schalt sie sich im selben Moment. Niemals würde sie aus dem Elend hier fliehen können. Das war für unwürdige Kreaturen wie sie nicht in Gottes Plan vorgesehen, sollten die Tante und der Herr Pastor recht haben.
Mit einem leisen Stöhnen erhob sich Luise von ihrem Lager, ließ den Kopf kreisen, dass es knackte, rieb sich die Augen und warf den Wollschal über die Schultern, um sich Wasser zum Waschen vom Hof zu holen. Plötzlich setzte das Schnarchen hinter dem Vorhang aus. Bang drehte sich Luise zum Schlafraum ihrer Tante um, aus dem der Gestank von billigem Schnaps kroch. Angespannt horchte sie, ob der Atem wieder einsetzte. Diese Aussetzer machten ihr Angst, denn sie wusste nicht, was sie tun sollte, würde Tante eines Tages vergessen weiterzuatmen. Sie wollte nicht ins Armenhaus gesteckt werden, wie ihre Tante nicht müde wurde zu drohen. Selbst wenn dort vielleicht irgendeine mitfühlende oder auch nur hintertriebene Seele Erbarmen mit ihr haben mochte.
Da hörte Luise ein lautes Röcheln, dem ein heftiger Husten folgte. Das Schnarchen hob erneut an. Erleichtert sandte Luise einen Dank gen Himmel. Sie wusste, dass Tante schon sehr alt war, mindestens fünfzig, und der Fusel aus den Kneipen tat ihr auch nicht gut. In ihrem jungen Leben hatte Luise bereits gelernt, dass nichts von Dauer war und selbst das wenige, was der Mensch besaß, ihm vom Herrgott jederzeit genommen werden konnte.
»Noch ein Jahr«, mahnte sie sich leise zu mehr Geduld. Mit fünfzehn Jahren würde sie alt genug sein, um sich eine Anstellung in einem guten Hamburger Haushalt zu suchen. Sie würde die Springeltwiete verlassen, um ihr Glück in die eigenen Hände zu nehmen. Sie musste nur fleißig arbeiten. Bis dahin hieß es, still sein. Tante würde sie niemals gehen lassen, denn Luise war es, der Bastard einer liederlichen Person, die als Einzige in diesem Haushalt Geld verdiente. Seit Monaten hatte die alte Frau keine Nadel mehr zur Hand genommen, weil ihre Finger ständig zitterten.
Luise griff nach der Emailleschüssel und verließ die Küche, den einzigen Raum in Tantes Wohnung, wenn man von deren Schlafecke hinterm Vorhang absah. Unten im Hof war es still, obwohl bei den Benningmeiers bereits die Tür offen stand. Mudder Benningmeier hatte viele Kinder und schien nie zu schlafen.
»Na, Mädchen, wieder mal früh auf?«, wollte die Nachbarin wissen, als Luise die Schüssel unter die Wasserpumpe stellte und nach dem Schwengel langte. Mit dem Kleinsten auf dem Arm stand sie in der Tür. Eine Haarsträhne hing ihr ins Gesicht.
»Guten Morgen, Mudder Benningmeier.« Luise blickte zum Himmel, der sich in ein helles Blau verwandelte. »Das wird ein herrlicher Tag.«
»Wem sagst du das, Mädchen? Ein Tag zum Götterzeugen, wie mein Willi immer sagt.« Sie lachte rau.
Luise schwang den Schwengel eifriger. Themen dieser Art waren ihr unangenehm. Mudder Benningmeier hatte sechs Kinder. Das jüngste war ein Jahr alt und das älteste, ein Mädchen, neun. Alle wurden sie zur Schule geschickt, wenn sie alt genug waren. Luise beneidete die Kleinen der Nachbarin.
»Hat die versoffene Schabracke dich wieder bis spät in die Nacht arbeiten lassen?«
Luise mochte es nicht, wenn die Leute so über Tante redeten, denn etwas von dem schlechten Ruf ihrer Verwandten blieb bestimmt auch an ihr kleben.
»Sie vertraut mir die Arbeit für ihre besten Kunden an«, erklärte sie darum, während sie die Schüssel mit dem Wasser vorsichtig zur Treppe balancierte. »Das ist für mich eine große Ehre. Sie hat mir viel beigebracht.«
Die Benningmeier lachte. »Himmel! Wat hett de Ole dir nur fürn Deutsch beigepuhlt. So redet kein einer von uns. Nich mal der Herr Pastor.«
Mudder Benningmeier hatte recht. Niemand im Viertel sprach wie sie oder Tante. Die anderen hielten Luise für hochnäsig, so vornehm, wie sie daherkam. Außerdem hatte sie immer saubere Hände und Fingernägel.
Die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, ohne einen Tropfen zu verschütten, schaffte es Luise bis in die Wohnung zurück. Dort saß Tante schwankend auf der Kante ihres Betts und kratzte sich unterm Arm.
»Wo warst du?«, krächzte sie. »Bring mir was zu trinken. Ich habe Durst.«
Eilig stellte Luise die Schüssel auf den Küchentisch. Wasser schwappte über den Rand. Sie lief zum Krug, um der Tante etwas in ein angestoßenes Glas zu gießen.
»Schneller! Oder soll ich vor Durst vergehen?«
»Nein, natürlich nicht.«
Die Tante riss ihr das Wasserglas aus der Hand und stürzte es herunter. Ihre Augen suchten das Fenster. »Wie spät ist es?«
»St. Jacobi hat eben sechs geschlagen.« Luise trat einen Schritt zurück, als Tante versuchte, sich vom Bett aufzurichten.
Stöhnend hielt sich die Frau am Pfosten fest. Ihre freie Hand griff nach dem Schädel, von dem die Haare abstanden, als wollten sie flüchten. »Gib mir meine Medizin.«
Luise zog die Schublade des Nachtschranks auf, in der sich ein Töpfchen mit einem weißen Pulver befand. Sie wusste, dass Tante immer zwei Löffel davon mit Wasser zu sich nahm, wenn es ihr ging wie heute. Luise füllte das Glas erneut, tat die Medizin hinein und reichte es Tante, die jetzt mitten in der Küche stand.
»Warum ist hier diese Unordnung?« Wütend schob Tante die Matratze mit dem Fuß beiseite. »Ich dulde solche Nachlässigkeiten nicht.«
Rasch nahm Luise die schäbige Matte samt Kissen und Wolldecke, um alles im Dunkel der Ecke zu verstauen. Tante stand unterdessen am Tisch und hob das Tuch an, um die Lieferung für das Hotel zu prüfen. Angespannt wartete Luise auf ein Urteil.
»Wird wohl gehen«, nuschelte Tante und ließ das Tuch fallen. Sie blickte sich um. »Wo sind meine Kleider?«, rief sie unnötig laut. »Wo hast du sie hingeworfen, du undankbare Göre?«
Im Schlafzimmer fand Luise das Gesuchte verstreut auf dem Boden. Als sie sich danach bückte, bemerkte sie eine lose Diele, die jemand hochgenommen und nachlässig zurückgelegt hatte. In dem Hohlraum steckte eine Geldkassette. Schnell griff sie nach den Kleidern und eilte zurück.
Stöhnend riss Tante ihr die Sachen aus der Hand. Umständlich zog sie sich an. Immer wieder entglitt ihr der Knopf für das Leibchen, das sie zudem schief zuknöpfte. Luise lehnte an der Wand und wartete.
»Was gaffst du so?«, fauchte die Alte sie an. »Kümmere dich um den Kaffee!«
Luise goss aus dem Krug Wasser in einen Kessel, den sie auf den Holzherd stellte. Gott sei Dank war noch ein Stück glühende Kohle von gestern übrig. Mit Holzspänen und ein wenig Pusten sowie einem mickrigen Holzscheit bekam sie das Feuer wieder zum Brennen. Gerade als sie die angestoßene Porzellankanne vom Regal nahm, die mit den Rosen darauf, hörte sie hinter sich ein Poltern. Tante war bei dem Versuch, ihre Strümpfe anzuziehen, zu Boden gestürzt. Hastig stellte Luise die Kanne beiseite und wollte ihr aufhelfen, da schlug die Frau ihre Hand fort.
»Hör auf, dich lieb Kind zu machen, du Balg«, zischte sie, während sie sich am Tisch hochzog. »Wo ist mein Kaffee?«
Luise tat wie ihr geheißen. Still löffelte sie das Pulver in die Kanne und wartete darauf, dass das Wasser im Kessel kochte.
»Ich muss zu Fräulein Richter, um die Wäsche auszuliefern. Wehe dir, du hast schlampig gearbeitet!«
»Habe ich nicht«, flüsterte sie.
»Was hast du gesagt?«, brüllte die Frau am Tisch und sprang auf. Dabei schwankte sie gefährlich. »Tuschelst du etwa hinter meinem Rücken über mich?«
Luise fuhr herum. Fast hätte sie die Kanne umgeworfen. Schnell fing sie das gute Stück auf. Im selben Moment schlug Tante ihr dermaßen hart auf den Arm, dass die Kaffeekanne ihr dennoch aus der Hand rutschte und auf den Holzdielen zerbrach.
»Du nichtsnutziges Gör einer Hure! Das wirst du mir bezahlen!« Tante holte noch einmal aus.
Schnell drängte Luise sich in die äußerste Ecke der Küche, um den Schlägen auszuweichen, die unweigerlich folgen würden. Die blieben dieses Mal allerdings aus, denn Tante war nach wie vor zu betrunken. Mehr schlecht als recht schaffte es die Frau zurück auf den Stuhl. Jammernd stützte sie den Kopf in die Hände, als befürchtete sie, er könnte ihr von den Schultern rollen.
Sie stöhnte. »Ich kann heute nicht zum Hotel gehen. Bin krank.«
Luise biss sich auf die Unterlippe. Wenn die Alte nicht zum Neuen Jungfernstieg laufen konnte, die Ware aber ausgeliefert werden musste, gab es nur eine Lösung … Gespannt wartete sie.
Die Frau war in Wahrheit gar nicht ihre richtige Tante, sondern nur eine entfernte Verwandte ihrer Mutter. Die hatte eines Nachts mit einem Neugeborenen vor der Tür gestanden, in Tränen aufgelöst ob ihrer Schande. In einem Anfall von Barmherzigkeit hatte Tante das Kind aufgenommen. Die schändliche Mutter indes verschwand auf Nimmerwiedersehen in dem Sumpf, aus dem sie gekommen war. Luise wusste nicht einmal ihren Namen. Somit war Tante ihre einzige Verwandte. Ohne sie war sie nichts und würde auf immer ein Nichts bleiben, davon war Luise überzeugt, denn Tante sagte es ihr mehrmals täglich, damit sie es auch ja nicht vergaß.
Die Frau am Tisch holte tief Luft, als hätte sie eine bedeutende Entscheidung getroffen.
»Du packst die Wäsche in das Seidenpapier dort drüben«, sie nickte zu einem dünnen Stapel hinüber, »dann bringst du alles zum Hotel.« Tante versuchte, sie mit ihrem Blick zu fixieren. »Du ziehst dich anständig an. Dein Kirchkleid. Mach das Haar. Du gehst zum Liefereingang und fragst den Portier im Controllbüro nach der Hausdame Fräulein Richter. Du wirst sie von mir grüßen und mitteilen, dass ich heute unpässlich bin. Nach siebzehn Jahren das erste Mal! Das wirst du ihr sagen, hast du gehört?«
Eifrig nickte Luise.
Tante schloss die Augen und seufzte vor lauter Anstrengung.
»Du wirst ihr die Rechnung geben.« Sie wies zu einem handgeschriebenen Zettel auf dem Arbeitstisch. »Eine Mark. Komm mir nicht mit weniger nach Hause, hörst du?« Ihre Stimme überschlug sich. Sie wedelte mit dem Zeigefinger. »Wehe dir, du gibst auch nur einen einzigen Pfennig davon aus. Ich prügele dich tot, hast du das gehört!«
Luise nickte erneut, wobei sie sich größte Mühe gab, ihre Freude nicht zu zeigen. Sie würde in die Stadt gehen! Zum weißen Hotel! Zur Alster und dem Jungfernstieg. Wenn sie viel Glück hatte, käme vielleicht wieder eine Prinzessin durch die Tür. Oder ein Schwan zog vorbei.
»Los! Zieh dich endlich an!« Tante erhob sich wankend. »Ich werde mich hinlegen. Meine Migräne ist heute eine einzige Tortur.«
Als sich Luise mit der in Seidenpapier gewickelten Lieferung im Arm auf den Weg machte, erwachte die Stadt gerade zum Leben. Fuhrwerke rumpelten durch die Straßen, und Bauersfrauen bauten ihre Marktstände auf. In der Nacht hatte es geregnet. Vom Hafen her zog eine Brise salziger Meeresluft durch die Straßen und begleitete Luise zur Alster, einem kleinen aufgestauten Fluss mitten in der Stadt.
Tante hatte ihr befohlen, nicht den Weg am Hotel vorbei zu nehmen, um den vornehmen Gästen ihren Anblick auf der Straße zu ersparen, sollte dort jemand zu so früher Stunde zufällig ans Fenster treten. Überhaupt solle sich Luise vom Portal fernhalten und besser am Hauptbahnhof entlanggehen, um über die Lombardsbrücke in den Neuen Jungfernstieg zu gelangen. Zwar hätte Luise lieber den Weg über den Jungfernstieg genommen, mit all seinen schönen Schaufenstern, aber sie wusste, dass es besser war, sich an die Anweisungen der Tante zu halten. Zum Glück hatte Tante vergessen, ihr zu sagen, sie müsse denselben Weg auch wieder zurückgehen. Daher beschloss Luise, wenigstens auf dem Heimweg bei dem Soldaten am Eingang vorbeizuhuschen. Wenn keiner in der Nähe war, würde sie vielleicht sogar einen Moment stehen bleiben und warten, ob eine Prinzessin aus dem Hotel trat.
Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht passierte sie das Naturhistorische Museum beim Hauptbahnhof und die Kunsthalle dahinter, die gerade einen neuen Anbau mitsamt Kuppel erhielt. Um diese Uhrzeit war schon eine beachtliche Zahl an Kutschen auf der Lombardsbrücke unterwegs, welche die Außen- von der Binnenalster trennte. Die Steinbrücke mit ihren fünfarmigen Kandelabern wirkte auf Luise sehr vornehm. Da ließen sich diese schrecklichen Automobile, die ab und zu vorbeiknatterten, besser ertragen.
Auf den Parkwegen, die sich zu beiden Uferseiten der Brücke um die Alster schmiegten, flanierten um diese Zeit noch keine Damen mit blumenumkrönten Sonnenhüten. Auch schoben noch keine Gouvernanten mit weißen Hauben Kinderwagen vor sich her. Die Sandwege waren verwaist.
Drüben, am linken Ufer, hatte die stolze Hapag-Reederei ihren Sitz. Mit einem Schiff dieser Gesellschaft war Luises Nachbar Justus Encke im letzten Jahr nach Amerika ausgewandert. Er hatte in einer großen Stadt namens New York ein eigenes Unternehmen gegründet, wie er kürzlich seinen Eltern schrieb. Alle im Hinterhof wussten jetzt, dass er Schuhputzer an der 42sten Straße, Ecke Madison Avenue war und das Leben in der Stadt ein einziger Traum sei. So mancher in der Springeltwiete überlegte seither, ebenfalls einen Dampfer der Hapag zu besteigen, um sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans zu finden. Luise dagegen wollte Hamburg nicht verlassen. Ihre Heimatstadt gefiel ihr gut genug.
Sie hatte inzwischen die Mitte der Brücke erreicht. Ein weißer Alsterdampfer schob sich gemächlich von der Außenalster herbei, um bald unter einem der Brückenbögen zu verschwinden. Schnell überquerte Luise die Straße, um auf der anderen Seite zu warten, dass das Schiff unter ihr wiederauftauchte.
Da war es! Der Qualm aus dem Schornstein hüllte sie in eine weiße Wolke. Luise hielt die Luft an, während das Schiffchen in die Binnenalster tuckerte, um drüben an der Anlegestelle beim Jungfernstieg neue Fahrgäste aufzunehmen.
In diesem Moment überschritt die Sonne das grüne Kupferdach der Hapag-Reederei und warf tausend Diamanten in das Wasser der Alster. Die Häuser auf der anderen Seite erstrahlten im goldenen Morgenlicht. Und mitten unter ihnen das Hotel Vier Jahreszeiten mit seinem Türmchen. Luise seufzte. Wie schön ihre Stadt war!
Luise lief weiter, die steinerne Balustrade entlang. Vielleicht würde heute Nacht ein König oder eine echte Prinzessin ihren Kopf auf jenen Monogrammen betten, die sie gestickt hatte. Sie überquerte gerade die Kreuzung, um hinter der Brücke in den Neuen Jungfernstieg einzubiegen, als sie eine Hupe dicht neben sich quäken hörte. Erschrocken sprang sie zurück. Da aber war der Kantstein. Luise verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings auf den Gehsteig. Dabei glitt ihr die Wäsche aus den Händen.
Der Automobilist raste vorbei, ohne dass sich der Fahrer auch nur umdrehte. Ihr Herz blieb stehen. Das Paket! Es lag in einer Pfütze.
»Nein!«, schrie sie und griff danach.
Das Seidenpapier war aufgerissen. Eine Ecke vom Pfützenwasser ruiniert. Schnell zerrte sie das Papier auf, um zu sehen, ob die Wäsche Schaden genommen hatte. Sie hatte Glück gehabt. Alles schien noch sauber zu sein. Mit Tränen in den Augen trennte sie die schadhafte Papierstelle ab und stopfte sie in die Tasche ihres Kleids. So gut es ging, umwickelte sie die Wäschestücke mit dem restlichen Seidenpapier. Dabei versuchte sie sich zu trösten, dass es ja nur das Papier war, das schmutzig geworden war.
»Steh auf. Es gehört sich nicht, hier herumzulungern, oder willst du etwa betteln? Ich rufe die Polizei!«, schimpfte ein Herr mit Monokel und Gehstock.
Eine Entschuldigung murmelnd, rappelte sich Luise auf, während der Herr sich weiter echauffierte. Da trat ein Junge herbei. Er machte einen tiefen Diener vor dem Herrn.
»Lassen Sie mich das erledigen, Herr Geheimrat. Ich kümmere mich sofort um die Angelegenheit.«
»Das will ich hoffen«, grummelte der Mann nach kurzem Zögern. Mit großen Schritten, den Stock wie einen Knüppel vor sich herwerfend, ging er davon.
Der Junge nahm Luise das Paket ab und reichte ihr galant die Hand.
»Danke«, hauchte sie ihrem Helfer verlegen zu. »Da war dieses … Automobil. Es hätte mich fast umgefahren.« Ihre Finger fuhren über den Rock des blauen Sonntagskleids. »Warum hielt er nicht an? Hätte er nicht anhalten müssen?« Sie musterte ihren Retter, der ein wenig älter war als sie.
Der Junge sah dem Wagen nach.
»Das war ein Stoddard Dayton Roadster. Zweisitzer. Kein neues Modell, nur Baujahr ’11. Dürfte um die zweitausend Dollar gekostet haben.« Er schien sie nicht gehört zu haben.
Sie folgte seinem Blick. Vor dem Hotel stieg soeben der Fahrer aus. Der Soldat eilte herbei, sprang an seiner statt in den Wagen und fuhr davon.
»Er stiehlt dem Herrn das Automobil?«, fragte sie und wunderte sich, dass der Besitzer ungerührt die Stufen ins Haus hinaufging.
»Wer?«
»Der Mann in Uniform.«
Der Junge lachte. »Nein, bestimmt nicht. Das ist Herr Niefers, unser Wagenmeister. Er fährt den Stoddard nur um die Ecke. Dort unterhalten wir eine Garage.«
»Oh.«
»Übrigens darfst du dich geehrt fühlen.«
»Warum das?«
»Du wurdest soeben von Brian Eddison-Ligthon, dem Teeerben und beliebtesten Junggesellen des Kontinents, fast überfahren. Er wird zur Hochzeit seiner Cousine Edith gekommen sein, die einen Hamburger Kaffeehändler heiraten soll. Man feiert heute Abend bei uns im Hotel.«
Luise erkannte auf der Uniform des Jungen das gleiche Wappen, das sie letzte Nacht in die Kissenbezüge gestickt hatte. »Du bist vom Hotel Vier Jahreszeiten?«
Er stellte sich ein wenig aufrechter hin. Das runde Käppi auf dem Kopf hatte er eine Spur schräg aufgesetzt. Auf der bis zum Hals geschlossenen dunklen Uniform schimmerten sieben silberne Knöpfe und das Zeichen 4J. Seine Schuhe waren blank gewienert.
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte er spöttisch. Als sie eine Antwort suchte, lachte er und reichte ihr das Paket. »Ich muss Sie leider verlassen, Fräulein. Die Pflicht ruft.«
Er verbeugte sich, als wäre sie eine vornehme Dame. Dann lief er Richtung Hotel.
Luise schaute ihm nach. Wie nett er zu ihr gewesen war! Viel freundlicher als dieser ungehobelte Teekerl mit seinem Knatterding. Hoffentlich war es nicht der Kopf dieses Automobilisten, der heute Nacht auf ihrem Monogramm liegen würde.
Sie klemmte das Paket unter den Arm und setzte ihren Weg fort, bis sie zu einer Treppe gelangte, die fünf Stufen hinunter zum Lieferanteneingang des Hotels führte. Ein Pferdefuhrwerk stand davor, von dem zwei Männer gerade kleine Fässer abluden und auf ihren Schultern hineinschafften. Ein Dienstmann in derber Lederschürze trat aus dem Haus in den Sonnenschein heraus. Auch er hatte offensichtlich etwas geliefert, denn er stopfte einen Geldschein in seine Hosentasche.
Luise wartete, ob das Haus noch mehr Leute ausspucken würde. Als dem nicht so war, ging sie vorsichtig die Steinstufen hinunter, um ihren Auftrag zu erledigen. Dabei pochte ihr Herz vor Aufregung.
Hinter der offenen Tür lag ein dunkler Gang. Stimmen waren zu hören. Unsicher machte sie einen Schritt in das Dunkel. Es handelte sich um einen Vorraum, von dem drei Türen abgingen. Eine davon führte in ein Kabuff, in dem ein Mann in grauem Arbeitskittel an einem Schreibtisch saß.
»Der Nächste!« Er hob den Kopf von einer Liste vor sich.
»Guten Tag. Ich soll hier etwas abgeben.« Sie hielt ihm das Paket hin.
»Warenlieferung für?«
»Fräulein Richter.«
»Hausdame Fräulein Richter, wenn ich bitten darf.« Streng musterte er sie über den Rand seiner Brille.
»Verzeihung«, flüsterte sie.
»Habe dich noch nie hier gesehen.« Er kräuselte die Stirn, als vermutete er, sie würde etwas stehlen wollen.
»Meine Tante, sie ist unpässlich. Darum soll ich die reparierte Bettwäsche bringen. Eine Mark.«
Schnaufend drängte ein Mann mit einer Holzkiste vor dem Bauch sie beiseite.
»Kellerei von Have«, keuchte er. »Zwölf Flaschen Rosé.« Er kramte aus seiner Jackentasche einen Zettel, den er dem Kontrolleur reichte.
Der erhob sich, warf einen Blick auf das Papier, danach in die Kiste, glich die Lieferung mit einer Liste ab, machte ein Häkchen und nickte. »Sie wissen ja, wohin.«
Der Mann dankte, hob die Ware wieder hoch und verschwand im Inneren des Hotels. Es kamen weitere Lieferanten die Stufen herunter. Einer hatte stapelweise Kaviardosen dabei. Ein anderer rollte eine Papptonne vor sich her, die offenbar Waschpulver enthielt.
Erst jetzt schien sich der Kontrolleur daran zu erinnern, dass Luise noch immer wartete. Er griff zu einem schwarzen Kasten, auf dem ein Ding lag, das er sich an sein Ohr hielt. Mit der anderen Hand drehte er an einer Kurbel an der Seite des Dings. Er horchte.
»Lieferung für den Hausservice«, sprach er in den Knochen. »Fräulein Richter wird gebeten, ins Controllbüro zu kommen.« Er legte das Gerät zurück auf das Gestell, von dem er es zuvor entnommen hatte. »Hast du noch nie einen Sprechapparat gesehen?«, kommentierte er amüsiert Luises bass erstauntes Gesicht.
Sie schüttelte den Kopf.
Er runzelte die Stirn, als könne er das nicht verstehen. »Alle unsere Fremdenzimmer haben einen solchen Telefonapparat. Damit können die Gäste sogar ins Reichsnetz telefonieren, egal wohin. Auch bis Stettin oder Berlin, Paris und Stuttgart.«
Luise hatte von Berlin gehört, die anderen Städte kannte sie nicht.
Es dauerte lange, bis endlich eine Frau durch die Tür in den Vorraum trat. Ihr schwarzes Kleid mit dem feinen Spitzenkragen lag eng an ihrem klapperdürren Körper an. Am Gürtel hing ein Schlüsselbund. Um ihren Hals baumelte eine Kette mit einem Kneifer daran, den sie nun aufsetzte. Streng musterte sie Luise von oben bis unten. »Wer bist du?«
Luise knickste. »Ich komme von meiner Tante, Frau Krüger.« Sie hielt der Dame die Bettwäsche hin. »Ein … ein Automobilist hat mich umgefahren«, stotterte sie, um den Zustand der Verpackung zu erklären.
Fräulein Richter hob eine Braue. »Öffne das Paket.«
Luise entdeckte ein Stück weiter ins Haus hinein einen kleinen Tisch. Mit zwei Schritten war sie da, legte die Ware ab und zog vorsichtig das Papier ab. »Ich habe nachgesehen. Es ist nichts passiert. Bestimmt nicht.«
Kritisch ließ die Hausdame die Fingerspitzen über das gestickte Wappen gleiten. »Das restliche Garn?«
»Unter den Kissenbezügen«, antwortete Luise und wollte gerade das Seidengarn hervorziehen, als die Frau ihr eins auf die Finger gab.
»Weg da! Du machst ja alles schmutzig.«
Schnell versteckte Luise ihre Hände hinter dem Rücken und biss sich auf die Unterlippe.
Fräulein Richter prüfte den Zettel, der dem Paket beilag. Sie lachte. »Eine Mark? Ich gebe dir fünfzig Pfennig. Immerhin müssen wir die Sachen noch einmal waschen.«
Ein Schreck fuhr durch Luises Körper. »Nein! Wenn ich keine Mark nach Hause bringe, schlägt Tante mich tot.«
»Entweder das oder gar nichts«, erwiderte die Hausdame ungerührt. »Wir planen schon länger, uns von Frau Krüger zu trennen. Ihre Arbeit hat in den letzten Jahren arg gelitten. Außerdem erledigt seit einiger Zeit die Weißwäscherei Kuhnke für uns auch Flick- und Stickarbeiten. Körbeweise. Und alles binnen zwei Tagen.«
In Luises Ohren begann es zu rauschen. »Warum denn so wenig? Die Wäsche ist doch gar nicht schmutzig. Und ich habe mir solche Mühe gegeben.«
»Du wagst es, mir zu widersprechen?« Die Frau hob die Hand.
Luise duckte sich fort, weil sie eine Ohrfeige befürchtete.
»Und das da?«, rief die Frau und wies auf einen kleinen Fleck an der Knopfleiste eines Kissenbezugs. »In der Wäscherei werden sie die Sachen einweichen, waschen, mangeln und plätten müssen.«
Luises Schultern sanken tief und tiefer. Sie hätte beim Queren der Straße vorsichtiger sein müssen. Das alles war ihre Schuld, allein ihre. Und nun verlor Tante auch noch ihren wichtigsten Kunden. Die Hausdame griff in eine Tasche ihres Kleids und zog ein Geldstück heraus.
Mit Tränen kämpfend, nahm Luise das Geld, während die Frau mit einem Bleistift die Summe auf der beigelegten Rechnung mit einem energischen Strich korrigierte. Luise schniefte. So wunderbar der Tag begonnen hatte, jetzt schien er ihr der düsterste ihres Lebens.
Die Frau schob sie zur Tür. »Frau Krüger kann ja für die Firma Kuhnke arbeiten. Vielleicht nehmen die sie.«
»Auf Wiedersehen«, murmelte Luise, obwohl die Tür hinter ihr bereits ins Schloss gefallen war.
Langsam ging sie die Stufen hinauf. Auf dem Gehweg wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Kleids die Tränen aus den Augen. Da hörte sie eine verärgerte Frauenstimme in ihrer Nähe. Im nächsten Moment stürzte eine junge Frau aus dem Kelleraufgang des Nebenhauses auf den Bürgersteig. Wütend setzte sie ihren Hut auf und rannte mit offenem Mantel an Luise vorbei.
»Für die paar Kröten buckle ich nicht! Das habe ich nicht nötig!«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Alles Schinder und Ausbeuter in diesem scheißvornehmen Laden!«
Luise erschrak über die Wut in der Stimme der Frau. Auch die derbe Ausdrucksweise passte nicht recht an diesen Ort. Im Gängeviertel redeten die Leute so, aber hier?
Auf der Kellertreppe erschien der Kopf einer weiteren Frau. Sie war älter und trug eine weiße Schürze sowie eine Haube, die ihr lockiges graues Haar nur schwer bändigen konnte. Sie schaute der noch immer Keifenden hinterher. Mit einem lauten Seufzer verschwand sie wieder im Haus.
Luise aber stand nur da. Was sollte sie nur tun? Sie blickte zu den Wolken hinauf und überlegte zu beten, dass die Tracht Prügel zu Hause nicht so schlimm werden würde. Sie umklammerte das Geldstück in ihrer Hand. Ob sie fortlaufen sollte? Wie lange reichten wohl fünfzig Pfennige?
»Hallo, du da!«
Die Stimme kam von oben. An einem Fenster über ihrem Kopf entdeckte Luise den netten Pagen von vorhin. Weit beugte er sich hinaus.
»Du musst klopfen.«
»Klopfen?«
»Ja! Das Nachbarhaus gehört dem Patron. Er hat die Nummer 14 vor Kurzem gekauft. Im Keller ist die Wäscherei. Los, klopfe. Frage nach Arbeit.«
»Warum?«
Er rollte mit den Augen. »Weil du Geld brauchst.«
»Woher weißt du das?«
»Das macht die Richter oft. Es senkt die Kosten. Darum bietest du unserer Wäscherin auch an, die Bettbezüge persönlich zu waschen, ohne extra Geld zu verlangen. Wenn alles picobello ist, muss die Hausdame dir deine Mark geben.«
Bei dem Gedanken, im Hotel Vier Jahreszeiten zu arbeiten, und sei es nur für ein paar Stunden in der Wäscherei, wurde Luise ganz übel. Es war eine Sache, von dem vornehmen Haus zu träumen, aber eine gänzlich andere, dort Dienst zu tun.
»Mach schon. Du brauchst Geld, und unsere Frau Köhler sucht mal wieder eine neue Waschhilfe. Die letzte ist ihr nämlich gerade abhandengekommen.«
Luise überlegte. Alles war besser, als von Tante Prügel zu beziehen. Andererseits war das Vier Jahreszeiten das nobelste Hotel der Stadt. Ein Kind aus der Gosse würde man hier sicher nicht haben wollen.
»Himmel, sei nicht so ein Angsthase. Du hast nichts zu verlieren, also ran an den Speck.«
»Hasen essen keinen Speck«, murmelte sie. Zögerlich ging sie zum Kellereingang des Nebenhauses, aus dem eben die junge Frau gekommen war. Unschlüssig blickte sie zu der geschlossenen Tür hinunter. »Und wenn sie mich fortjagt?«, wollte sie von dem lachenden Gesicht über ihrem Kopf wissen.
»Fräulein Richter hat in der letzten Woche vier Wäscherinnen hinausgeekelt. Glaube mir, Frau Köhler braucht dringend Hände, die helfen. Vielleicht ist dieser Tag der einzige in deinem Leben, an dem ein Traum in Erfüllung geht.«
Konnte er Gedanken lesen? Luise gab sich einen Ruck. Mit klopfendem Herzen stieg sie hinunter. Kaum hatte sie zaghaft mit dem Knöchel die Tür berührt, wurde diese aufgerissen. Vor Luise stand die Frau mit der Haube.
»Ich arbeite umsonst für Sie, wenn Fräulein Richter mir die restlichen fünfzig Pfennige gibt«, presste Luise hastig hervor.
Die Wäscherin runzelte die Stirn.
Luise stockte. Sie hatte wirr geredet, daher setzte sie von Neuem an. »Sie will mir mein Geld nicht geben, weil die Knopfleiste … Ich konnte gar nichts dafür, da war der Teemann, der hat mich einfach umgeworfen.«
»Du möchtest für Gottes Lohn in meiner Wäscherei arbeiten?«
Eifrig nickte Luise. »Wenn Fräulein Richter mir die fünfzig Pfennig gibt, ja.«
»Ich bin mir nicht sicher, worum es geht, jedoch bräuchte ich tatsächlich jemanden bei den Einweichbottichen.« Sie betrachtete Luise. »Also gut, komm herein, Kleine.«
Bevor Luise eintrat, warf sie einen Blick zum Fenster hinauf, wo der Junge sie breit anlächelte, als wollte er sagen: Ich wusste, dass es klappt.
Es war bereits Abend, als Luise die Wäscherei verließ. Ihr Rücken schmerzte, die Hände waren rot von der Lauge. Sie brannten wie Feuer. Dennoch war sie glücklich wie selten in ihrem Leben. In der Tasche ihres Kleids lag das versprochene Geld. Die erste Wäscherin hatte es ihr gegeben, nicht die schreckliche Hausdame.
Luise schnupperte an ihren Fingern, die nicht nach Kernseife rochen, sondern sehr viel vornehmer. Die Seifenflocken hatten ordentlich geschäumt. In jedem Kellerraum von Nummer 14 duftete es wie im Himmel. Auch in dem kleinen Hof, wo sie beim Aufhängen der Bettbezüge hatte helfen dürfen. Dass sie dabei sang, schien die erste Wäscherin nicht zu stören.
»Wo man singt, da lass dich nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder«, sagte die nette Frau und reichte Luise einen Stoffsack mit hölzernen Wäscheklammern. »Du hast eine schöne Stimme, allerdings solltest du das Singen besser drinnen fortsetzen. Dat Paddelboot der Gebrüder Wolf könnte von unseren Gästen vielleicht irgendwie ein klein wenig als anstößig verstanden werden.«
»Verzeihen Sie bitte, Frau Köhler.« Luise knickste brav und hängte weiter Wäsche auf, nachdem die freundliche Dame gegangen war. Im Stillen fragte Luise sich, was an einem Paddelboot nur so schlimm sein mochte.
Jetzt machte sich Luise auf den Weg zurück in die Springeltwiete. Dabei sang sie leise das Paddelbootlied. »Hannes, zuckersüßer Hannes, du, du kannst das wirklich ganz famos. Du schiebst dein Paddel mit ’nem Schwung so rein, darin bist du wirklich groß …«
Sie war glücklich. Auch wenn sich der Tag langsam dem Ende entgegenneigte und sie geschuftet hatte wie all die anderen Frauen in der Wäscherei, pulsierte heute das Leben durch ihre Adern.
Wie herrlich dort unten alles gewesen war. Die Waschzuber für die Kochwäsche waren so groß, dass Luise in jedem hätte ein Bad nehmen können. Sie wurden mit Wasser aus einem Schlauch gefüllt, das in einem Nebenraum von einem Boiler bereits erhitzt worden war. Luise war begeistert, denn so musste sie sich nicht mit dem Anfachen des Feuers abmühen, und dreckig wurde sie auch nicht. Die Wäscherin hatte Soda ins Wasser geschüttet und Luise gebeten, die Wäsche darin mit einem langen Holzstiel so lange umzurühren, bis es wie im Hexenkessel brodle. Schon nach einer halben Stunde lief Luise der Schweiß über Gesicht und Rücken. Handtücher und Bezüge mussten anschließend mehrmals gespült und mithilfe einer Mangel ausgewrungen werden, bevor man alles im Hof aufhängte.
Weniger anstrengend war es gewesen, die kleine Wäsche mit dem Wäschestampfer zu bearbeiten. Das Gerät war in einer Glocke angebracht, die durch ein Sieb Luft und Lauge beim Stampfen ansaugte, um sie schmatzend durch die Wäsche zurückzudrücken. Wie modern es im Vier Jahreszeiten zuging, begriff Luise erst, als sie die frisch gekochten Handtücher und Servietten in einen Nebenraum brachte. Dort standen vier eigenartige Bottiche, die Frau Köhler Waschmaschinen nannte.
Die waschheiße Wäsche wurde eingefüllt, frisches Wasser aufgegossen und noch ein wenig wohlriechende Seife hinzugefügt. Als Nächstes verschloss Frau Köhler die Deckel und befahl Luise, das Rührflügelkreuz drinnen über einen Hebel von Hand zu drehen. Eine ganze Stunde musste sie die Maschine betätigen. Danach wurde die saubere Wäsche noch einmal gespült und über einen am Waschkessel angebrachten Walzenwringer ausgedrückt. Frau Köhler legte größten Wert darauf, dass die wertvolle Lauge zurück in die Maschine gelangte, um die nächste Füllung zu waschen. Solch moderne Geräte hatte Luise bisher noch nie gesehen.
Und jetzt stand sie im Neuen Jungfernstieg und roch selber wie der Himmel. Luise schnupperte an sich. Ja, wie der Himmel. Sie hüpfte am Geländer entlang, das die Straße von der Alster trennte, bis sie das Portal des Hotels auf der anderen Straßenseite erreicht hatte.
In den Fenstern entdeckte sie vornehme Gäste im Gespräch. Hier und da huschte ein Page vorbei. Luise meinte, Musik zu hören. Elektrische Lampen an den Wänden warfen ihren Schein bis auf den Fußweg, wo der Soldat wartete. Kerzengerade stand er da, die Hände auf den Rücken gelegt. Gerne hätte sie ihm zugerufen, dass auch sie seit heute im Hotel arbeitete, denn Frau Köhler hatte gesagt, sie dürfe morgen wiederkommen.
Den frischen Geruch der Seife in der Nase und ein wenig Übermut im Blut, winkte sie dem Mann zu und glaubte, ihn lächeln zu sehen. Sie hüpfte weiter, vorbei am Kaufhaus Tietz, das um diese Zeit längst geschlossen hatte, hinüber zu den Alsterarkaden. Eine Gruppe weißer Schwäne dümpelte im Wasser nahe der Schleuse. Eines der eleganten Tiere hob den langen Hals und schaute zu ihr herauf.
»Guten Abend, Herr Prinz!«, rief sie ihm zu und knickste.
Er hob den Kopf noch ein wenig höher, neigte ihn huldvoll und zog von dannen.
»Es war mir eine außerordentliche Freude, Sie kennengelernt zu haben, Eure Prinzlichkeit.« Nun hatte sie nicht nur im Hotel gearbeitet, nein, sie hatte obendrein mit einem verzauberten Königssohn gesprochen. In allerbester Stimmung hüpfte sie Richtung Rathausmarkt.
Ihre Hopser jedoch erstarben jäh, als ihr klar wurde, dass sie den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen war. Sicherlich machte sich Tante Sorgen. Wenn schon nicht um sie, so doch um das Geld. Mit einem Mal war die Leichtigkeit in ihrer Seele verschwunden, und Angst schoss durch ihren Leib. Etwas in ihr schrie, sie sollte lieber fortlaufen. Vielleicht nach Amerika, wo Wilhelm ein richtiges Unternehmen an der Madison Straße besaß.
Luise blieb stehen. Sie überlegte, ob sie Tante milder stimmen könnte, wenn sie ihr sagte, dass sie ab jetzt in der Wäscherei des Vier Jahreszeiten arbeiten durfte. Zwar nur von Tag zu Tag, aber immerhin hatte Frau Köhler ihr zwanzig Pfennige versprochen. Täglich! Ja, das könnte helfen.
Nachdenklich nahm Luise ihren Weg wieder auf. Dass das Hotel Tante nicht mehr als Weißflickerin haben wollte, würde sie ihr nicht sagen. Nein, bestimmt nicht. Das sollte dieses schreckliche Fräulein selber erledigen.
Als Luise das Rathaus hinter sich ließ, dachte sie an den Pagen am Fenster, der gemeint hatte, heute könnte ein Traum für sie in Erfüllung gehen. Wie recht er gehabt hatte! Am Nachmittag war er heimlich zu ihr in die Waschküche gekommen, um ihr etwas zu essen zu bringen. Eine Schmalzbrotstulle und einen Apfel. Sein Name war Hans.
»Hannes, zuckersüßer Hannes, du …«
Mit federnden Schritten machte sie sich auf, ihre unweigerliche Strafe entgegenzunehmen, die ihr plötzlich gar nicht mehr so schlimm erschien. Etwas in ihr hatte sich verändert. Sie wusste nur noch nicht, was es war.
In der Nacht entdeckte Mudder Benningmeier Luise weinend im Hof und holte sie zu sich, wo sie ihr eine Schüssel Suppe vorsetzte. »Iss, Kleines.«
Tante hatte Luise mit einem Kochlöffel grün und blau geschlagen, ohne dass sie ihr hätte erklären können, warum sie so spät heimgekommen war. Die Mark steckte Tante kommentarlos in die Schürzentasche und prügelte los. Dabei schimpfte sie so schrecklich, dass Luise nicht wusste, ob sie sich mit ihren Händen vor den Schlägen schützen oder die Ohren zuhalten sollte.
Irgendwann ließ die Frau von ihr ab und warf sie hinaus. Sie sei eine Diebin, brüllte sie, dass man es bestimmt überall hören konnte. Verdorben wie ihre Mutter sei sie. Dann hatte sie nach einer halb leeren Schnapsflasche gegriffen.
Jetzt lag Luise neben Mudder Benningmeiers Sohn Rolf, einem Dreijährigen, der sie aus halb geöffneten Augen anschaute. Ihre Arme schmerzten, die linke Wange ebenso wie der Rücken. Was sollte nur aus ihr werden, wenn Tante sie nicht zurücknahm? Tränen liefen über ihr Gesicht.
Eine Holztür quietschte in den Angeln. Mudder Benningmeier trat mit einem Talglicht an das Bett.
»Kleine«, flüsterte sie und schüttelte sanft Luises Schulter.
Ein stechender Schmerz ging durch Luises Körper. Leise jaulte sie auf.
»Wach auf, Mädchen.«
Luise öffnete die Augen.
»Komm in den Hof.«
Vor der Tür erwartete sie sie. »Ich habe mit der Alten geredet. Du kannst zu ihr zurück.«
Luise schüttelte den Kopf.
»Ach, Kindchen, wo willst du denn sonst hin? Du bist erst vierzehn. Mehr als die Frau da oben hast du nicht.«
Wieder schüttelte Luise den Kopf. »Nächstes Mal schlägt sie mich tot, bestimmt.« Tränen rannen über ihr Gesicht. »Ich habe nicht gestohlen! Sie lügt. Ich habe ihr jeden Pfennig gegeben.«
»Das weiß ich. Habe es ihr gesagt. Und noch mehr.«
Sie nahm Luise in den Arm. Ihr warmer, weicher Körper fühlte sich gut an. Gerne wäre Luise länger so stehen geblieben.
»Wie hart das Leben mit dir ist, Kleine. Es ist nicht gerecht, was das Schicksal dir abverlangt.« Die Nachbarin seufzte. »Bei deiner Mutter hättest du es besser gehabt, glaube mir.«
Luise löste sich aus der Umarmung. »Sie kannten meine Mutter?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich zog erst in die Springeltwiete, als du schon da warst. Glaube mir, das, was die Alte da oben mit dir macht, würde eine Mutter niemals tun. Nicht einmal eine schlechte.«
»Kann ich nicht bei Ihnen bleiben? Ich habe Arbeit im Hotel Vier Jahreszeiten. Jeden Tag erhalte ich zwanzig Pfennige.« Ängstlich blickte Luise die Nachbarin an.
»Zwanzig? Das ist nicht viel.«
»Nein?«
»Fünfundzwanzig erhält eine Kaffeeleserin in der Speicherstadt pro Stunde. Und das ist schon ein Hungerlohn.«
Luise wusste, dass Mudder Benningmeier ab und an für die Kaffeehändler im Freihafen arbeitete.
Sie sah Luise zärtlich an. »Ach, Mädchen, so gut wir das Geld brauchen könnten, ich habe schon jetzt keinen Platz für all die Mäuler, die zu stopfen sind. Wenn mein Mann zur Arbeit ist, geht es gerade so.« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Trotzdem, es tut mir so leid.« Sie schob Luise zur Treppe. »Sie schläft ihren Rausch aus. Du kannst wieder gehen. Morgen sieht bestimmt alles ganz anders aus.«
Langsam, sehr langsam nahm Luise die ausgetretenen Stufen nach oben. Mehrmals blieb sie stehen, um zur Nachbarin hinunterzuschauen, die mit der Funzel in der Hand am Fuß der Treppe wartete.
»Geh ruhig. Ich passe auf, dass dir nichts geschieht.«
So leise wie möglich öffnete Luise die Tür. In der Wohnung roch es nach Fusel, schlimmer noch als vorhin. Ein eindringliches Schnarchen war hinter dem Vorhang zu hören. Luise schlich zu ihrer Matratze. Dieses Mal schob sie sie nicht wie sonst in die Mitte des Raums, sondern dicht an die Wand. Ohne sich auszuziehen, kauerte sie sich darauf zusammen. Dieser wunderbare Tag war der schrecklichste ihres Lebens geworden.
»Den kaputten Kochlöffel wirst du mir ersetzen!«
Tantes Stimme riss Luise aus einem unruhigen Schlaf. Draußen wurde es bereits hell. Schnell setzte sie sich auf, wobei sie sich noch dichter in die Ecke drängte, in der Hoffnung, mit dem moderfleckigen Ziegelwerk zu verschmelzen. Ihr Herz raste. Tante hockte am Küchentisch.
»Du kannst bleiben. Die Nachbarin sagt, es sei unchristlich, dich vor die Tür zu setzen.« Tantes Worte klangen wie ein Donnern, ein endgültiges Urteil, kein Entrinnen, ewige Düsternis. »Du wirst mir jeden Pfennig geben, den du im Hotel verdienst. Immerhin füttere ich dich seit Jahren durch.« Als Luise nicht gleich reagierte, pöbelte Tante: »Hast du das begriffen, du dummes Gör einer liederlichen Person? Sie hätte dich wegmachen lassen müssen, stattdessen bürdete sie mir dich auf. Und ich arme Frau habe … Ach was! Undank ist der Welten Lohn!« Tante wischte ihre unausgesprochenen Worte mit einer Handbewegung fort. »Es lohnt sich nicht, dass ich mich darüber aufrege.« Sie erhob sich, um den Kessel auf den Herd zu stellen. »Gutmütigkeit wird immer ausgenutzt.« Tante machte sich einen Kaffee. »Wasch dich. Richte dein Kleid. Du gehst heute ins Hotel und wirst dich von deiner besten Seite zeigen. Danach bringst du mir sofort das Geld.«
Vorsichtig erhob sich Luise. »Ja, Tante.«
In sicherem Abstand huschte Luise zur Tür. Kurz warf sie der kleinen Primel auf der Fensterbank einen Blick zu, die heute ohne Wasser auskommen musste. Sie eilte in den Hof, um wenigstens Gesicht und Hände zu waschen, und spürte, dass ihre Augen verquollen waren. Wie von tausend Teufeln gejagt, flüchtete sie aus der Springeltwiete Richtung Alster.
Die Zeit verging wie im Flug. Jeden Tag wusch und mangelte Luise, wrang Betttücher aus, plättete oder hängte Hunderte von Wäschestücken auf. Leine für Leine für Leine. Als Frau Köhler sagte, Luise müsse eine eigene Schürze haben, erschrak sie, denn sie sollte das Kleidungsstück von ihrem Verdienst kaufen. Das würde Tante niemals zulassen. Und so musste Luise die oberste Wäscherin jeden Tags aufs Neue vertrösten, bis das Glück ihr zu Hilfe eilte.
Es war Hans, der sie rettete, als er mal wieder heimlich in die Waschküche schlich, um Luise eine Kleinigkeit zum Essen zu bringen. Sie schüttete ihm das Herz aus.
»Deine Lösung heißt Trinkgeld«, behauptete er. »Wir Pagen bekommen immer ein Tipp, so sagen sie in England. Man muss es nur richtig anstellen.«
Luise nahm etwas Wäsche aus dem Korb und ließ die Stücke in den Einweichbottich fallen. Mit dem großen Holzlöffel tunkte sie alles unter. »Trinkgeld? Ich trinke nicht.«
Hans verschränkte die Arme vor der Brust. »Dummerle, du. Trinkgeld hat nichts mit Trinken zu tun. Das ist ein besonderer Dank in Form eines Geldstücks.«
»Und das kriegt ihr statt eures Lohns?«
»Nein, obendrauf. Und wenn man seine Arbeit gut erledigt, freut sich das Portemonnaie.« Lässig lehnte er an der Wand.
Mit einer Hand schob Luise eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie weiter die Wäsche eintunkte. »Aber ich kenne keine Gäste. Außerdem wüsste ich nicht, wofür sich die Herrschaften bei mir bedanken sollten.«
»Du machst ihre dreckigen Kleider sauber.«
»Ja und?«
Er trat zu ihr. »Erinnere sie daran.«
Fast hätte sie laut losgelacht.
»Ich soll den vornehmen Vons und Zus sagen, dass ich in ihrer schmutzigen Wäsche wühle?« Sie gab ihm einen Knuff. »Du bist verrückt.«
»Nein, bin ich nicht.« Verschwörerisch beugte er sich zu ihr. »Du wirst ein paar Stücke dem Gast mit einem Knicks überreichen. Sage so etwas wie: Ihre frisch gebügelten Kragen, Sir. Oder wenn es eine Dame ist: Ihre gestärkten Rüschen, Madame. Egal, jedenfalls das, was dein Gegenüber gerade benötigt. Danach hältst du die Hand auf, ungefähr so.« Er schob die Finger dicht am Körper vor. »Nicht zu weit nach vorne, das sieht gierig aus. Nur so weit, dass sie es sehen können. Unsere Gäste wissen, was das zu bedeuten hat.«