7,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €
Born to be wild.
Wo sind Opa Edel und seine Frau Gertrud? Eigentlich möchte Lizzi nichts weiter, als in aller Ruhe ihren Lebensabend genießen, doch dann verschwindet ein auf dem Hamburger Kiez bekanntes Ehepaar, und die resolute alte Dame muss sich auf die Suche nach den beiden machen. Unterstützt von ihrer Pflegerin, hat Lizzi es schon bald nicht nur mit einer ganzen Bande von Rockern, sondern auch mit einem wütenden Mafiaboss zu tun und steckt mitten in ihrem neuesten Fall ...
„Lizzi ist herrlich eigensinnig und die sympathischste Heldin, die mir seit langem begegnet ist.“ Gisa Pauly.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 315
Born to be wild
Wo sind Opa Edel und seine Frau Gertrud? Eigentlich möchte Lizzi nichts weiter, als in aller Ruhe ihren Lebensabend genießen, doch dann verschwindet ein auf dem Hamburger Kiez bekanntes Ehepaar, und die resolute alte Dame muss sich auf die Suche nach den beiden machen. Unterstützt von ihrer Pflegerin, hat Lizzi es schon bald nicht nur mit einer ganzen Bande von Rockern, sondern auch mit einem wütenden Mafiaboss zu tun und steckt mitten in ihrem neuesten Fall.
»Lizzi ist herrlich eigensinnig und die sympathischste Heldin, die mir seit langem begegnet ist.« Gisa Pauly
Anja Marschall
Lizzi und die schweren Jungs
Kriminalroman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Über Anja Marschall
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Rötlich warm legte sich der Abend über die Dächer der Stadt, und das Gewimmel der Autos auf dem sommerlich flirrenden Asphalt ließ allmählich nach. Die Lampen im Park bei den Wallanlagen würden bald angehen. Dann konnte die Zeit der kleinen und großen Vergnügungen zwischen Reeperbahn und Sternschanze beginnen. Schon schlenderten die ersten Pistengänger in Richtung Heiligengeistfeld, wo der Hamburger Dom mit Riesenrad und Zuckerwatte auf spaßhungrige Gäste wartete. Das Dröhnen rockiger Songs mischte sich mit dem Säuseln schmalziger Schlager. Damen für gewisse Stunden traten leicht bekleidet und frisch geschminkt im Sperrbezirk auf die Bürgersteige, um ihre Dienste anzubieten. In ihren Blicken lag der Wunsch nach zahlender Kundschaft.
Nicht weit entfernt erfüllte ein dumpfes Wummern die staubtrockene Luft. Es kam von der Reeperbahn herüber, der weltberühmten Amüsiermeile Hamburgs. Langsam näherte sich das Geräusch den Wallanlagen. Es brachte den dreckigen Atem der Stadt auf beunruhigende Art zum Vibrieren. Man spürte den feinen Lufthauch auf der Haut bis hoch zu den Haaren. Die Leute an der Straße blieben stehen, blickten sich ratlos um. Ein Mann mit schwäbischem Akzent, der sich für die nächsten Stunden eine Professionelle auf Firmenkosten gemietet hatte, blickte nach oben.
»Des isch a Hubschraubr«, erklärte er ihr fachmännisch. Seine glasigen Augen tasteten den abendrotleuchtenden Himmel ab.
Nachsichtig schüttelte die junge Frau, sie mochte die zwanzig kaum überschritten haben, an seiner Seite den Kopf. »Nee, Süßer. Das sind Harleys.« Mit ihren knallrot lackierten Krallen wies sie die Straße hinunter, wo am Ende die Reeperbahn begann.
Schon rollten sie heran: fünfzehn, vielleicht auch zwanzig bullige Männer auf Motorrädern. Dicht knatterten sie an dem Schwaben und seiner Nutte vorbei. Der Mann stolperte einen Schritt zurück.
»Scheiße«, murmelte die Frau. »Was machen die denn hier?«
Normalerweise gab es diesseits des Doms weder Huren noch Harleys. Hier fand man die Gerichtsgebäude der Stadt, feine Anwaltskanzleien und schicke Bars. Dahinter lag die Innenstadt mit ihren Edelboutiquen und Restaurants.
Langsam steuerten die Maschinen auf das alte neobarocke Konzerthaus am Johannes-Brahms-Platz zu. Auf den Kutten einiger Fahrer sah man hinten einen feuerspeienden Drachen mit Totenkopf, der auf einem Motorrad saß. In schnörkeliger Schrift stand darunter: »Dragon Balls MC Hamburg«. Mit knatternden Motoren begannen die Rocker vor dem ehrwürdigen Gebäude auf und ab zu fahren.
Auf Wellen reiten, im Sommerwind die langen Haare fliegen lassen, Willi, der sie am Rande des Sees unter den Weiden küsst. Mit geschlossenen Augen schwebte Lizzi auf ihren Erinnerungen zurück in eine andere Zeit. Es war ein heißer Sommer, als sie Anfang der Sechziger die Hochzeitsreise in den Harz antraten. Sie und Willi waren so glücklich gewesen. Bis eines Morgens drei Polizisten vor der Zimmertür in der Pension standen. Woher sollte Lizzi auch wissen, dass Willi sie auf einem gestohlenen Motorroller umherkutschierte? Die Uniformierten nahmen ihn mit.
In den folgenden Jahren klopften noch viele Gesetzeshüter an Lizzis Tür. Und mehr als einmal musste Lizzi ihren Mann im Gefängnis besuchen. Auch wenn der Willi nicht sehr helle gewesen war, tief drinnen, da hatte er einen guten Charakter gehabt, der Willi. Und küssen konnte er wie kein anderer. Das aber half nicht gegen die ständigen Besuche des Gerichtsvollziehers, den abgestellten Strom oder die Mahnschreiben von Anwälten. Doch all das war vorbei. Seit einigen Jahren war Lizzi nun schon Witwe. Und dieses Leben gefiel ihr recht gut. Zumindest besser als das Leben mit einem Kleinganoven, der nur in den Tag hineinlebte und nie Geld nach Hause brachte. Geld, das Lizzi tagein, tagaus bei Schlachter Schlüter verdienen musste, um die kleine Familie über Wasser halten zu können. Trotzdem, ab und an gönnte sie sich ein paar schöne Erinnerungen an ihren Verstorbenen. So wie heute, beim Konzert in der alten Musikhalle, die vornehme Kulturgänger auch Laeiszhalle nannten.
Jemand stieß Lizzi von der Seite an. Sie fuhr zusammen, riss die Augen auf. Verwirrt blickte sie die perlenkettentragende Frau von Eversberg an. »Psst!«, zischte diese mit zusammengekniffenem Mund. »Sie schnarchen schon wieder.«
Lizzi blinzelte. Dann setzte sie sich etwas gerader hin. Verlegen räusperte sie sich. Noch immer saßen die Musiker auf der Bühne, während sich der Dirigent vor ihnen redlich abmühte. Man gab heute etwas Russisches. Lizzi blickte zum Programm auf ihrem Schoß hinunter. Rodion Schtschedrin: Konzert für Orchester Nummer 1. Freche Orchesterscherze.
Schtschedrin? Himmel, den Namen kann doch kein Mensch aussprechen, schoss es Lizzi durch den Kopf.
Angestrengt schaute sie zur Bühne, wo die Musiker arbeiteten.
Irgendwie war es ja auch für Lizzi Arbeit, hier zu sitzen und ihnen zuzuhören. Ihre Augenlider wurden schon wieder schwer und schwerer. Es war ja nicht so, dass sie diese Musik nicht mochte, aber die Müdigkeit in ihren Knochen war kaum noch auszuhalten. In letzter Zeit wachte sie jede Nacht mehrmals auf. Vielleicht liegt es am Alter, überlegte sie. Der Grund könnte aber auch das fehlende Geld sein. Seit man sie kürzlich um ihr Erspartes gebracht hatte, musste sie jeden Cent ihrer mickerigen Rente dreimal umdrehen, um ihn dann doch nicht auszugeben. Nach fast fünfzig Jahren als Schlachtereiverkäuferin hatte sie eigentlich ein paar Euro mehr vom Staat erwartet. Darum war es ja auch ein Glücksfall für Lizzi gewesen, als sie die Beute aus Willis Bankraub fand, kurz nachdem er gestorben war. Elisabeth Böttcher hatte damals lange nachgedacht, bevor sie sich mit dem Geld in eine piekfeine Seniorenresidenz an der Elbchaussee einmietete, statt die Scheine bei der Polizei abzugeben. Schade nur, dass das schöne Geld bald darauf wieder futsch war. Hätte man sie nicht bestohlen, hätte das Geld bestimmt bis an ihr Lebensende gereicht. Diese plötzliche Pleite hatte Lizzi viel abverlangt. Sie musste sogar nett zu Frau Alberding-Wischenberg sein, der Leiterin der Residenz, damit die sie nicht aus ihrem kleinen Appartement im dritten Stock jagte.
Lizzi seufzte und warf einen verstohlenen Blick zu ihrer Sitznachbarin. Hoffentlich hatte nur Frau von Eversberg gemerkt, dass sie eingenickt war. Vorsichtig lugte Lizzi die Stuhlreihe entlang. Dort saß Frau Stöver, die mit weltverlorenem Lächeln in elysische Sphären blickte, woraus Lizzi schloss, dass das neue Hörgerät gut funktionierte. Frau Stöver wohnte, genau wie Lizzi und die anderen Senioren in der Reihe, ebenfalls in der vornehmen Residenz Hanseatica. Eigentlich konnte sich Lizzi die teure Herberge nicht mehr leisten, aber nachdem sie kürzlich medienwirksam einen Doppelmörder überführt hatte, war die Leitung des Hauses entgegenkommend gewesen. Jedoch nicht freiwillig. Lizzi dachte an das verkniffene Gesicht von Frau Alberding-Wischenberg, als diese sie weiterhin in der Residenz dulden musste, weil die zahlungskräftigen Herrschaften des Hauses darauf bestanden hatten. Man zeigte Lizzi seine Dankbarkeit, indem man sie zu diesem besonderen musikalischen Abend einlud. Für Lizzi, die heute viel lieber Günther Jauch im Fernsehen gesehen hätte, als hier mit ihrer Müdigkeit zu kämpfen, war es ein recht zweifelhaftes Vergnügen.
Aber sei es drum, hatte sie sich gesagt. Wat mutt, dat mutt.
Auch wenn Frau Stöver von Lizzis Schnarchen nichts bemerkt zu haben schien, Frau Alberding-Wischenberg schon. Hämisch grinste die Frau vom letzten Sitz in der Reihe zu Lizzi herüber. Klar, dass ihr Lizzis kleines Nickerchen nicht entgangen war. Lizzi kniff die Lippen zusammen. Mist.
Lizzi wusste, dass die Wischenberg hinter diesem Abend steckte. Man hatte Lizzi erzählt, sie habe auf die angespannte pekuniäre Situation der berühmtesten Bewohnerin der Residenz hingewiesen und an die Großzügigkeit aller Anwesenden appelliert. Lizzi konnte sich den falschen Ton dieser Person gut vorstellen. Sie sah die Frau vor sich, wie sie mit geübt betroffener Miene den Anwesenden das Geld aus den Portemonnaies lockte, um der lieben Frau Böttcher ihr hartes Dasein ein wenig zu erleichtern.
Was der Nichteingeweihte für eine freundliche Geste von Frau Alberding-Wischenberg halten mochte, war in Wahrheit Ausdruck einer zutiefst gemeinen Boshaftigkeit. Die Frau wusste genau, dass Lizzi Mitleid hasste. Nur weil sie pleite war und ihr Appartement in der Residenz vom Wohlwollen anderer abhing, musste man es ihr nicht andauernd aufs Brot schmieren, fand Lizzi. Das aber tat die Leiterin bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zudem wusste die Wischenberg, dass der Schlachtereiverkäuferin Elisabeth Böttcher all der Pomp und das Gerüsche, die Sektgläser mit den Lachshäppchen und vor allem das vornehme Geschnatter in der Pause zuwider waren. Doch der Wischenberg machte es einen Heidenspaß, Lizzi zu zeigen, wie wenig sie in die Seniorenresidenz an der Elbchaussee passte.
Die Leiterin hatte zähneknirschend versprochen, dass Lizzi bis an ihr Ende in der Residenz bleiben durfte, einem räudigen Straßenköter auf Gnadenbrot nicht ganz unähnlich. Gebunden an dieses Versprechen, hatte die Wischenberg also nur eine Chance, Lizzi loszuwerden: Lizzi musste freiwillig ihr Appartement mit Elbblick räumen. Doch Lizzi hatte nicht vor aufzugeben. Sie würde weder auf ihren morgendlichen Becher Kaffee auf dem kleinen Balkon im dritten Stock verzichten noch auf ihr Zuhause, das sie seit vier Jahren bewohnte.
»Die Person kriegt mich hier nur mit den Füßen zuerst raus!«, hatte Lizzi erst kürzlich erklärt.
Lizzi rutschte zwischen den Armlehnen ihres engen Stuhls hin und her. Müsste nicht langsam mal eine Pause kommen?
Endlich! Ein großer Akkord, fulminant und erhebend, wie Frau von Eversberg kommentierte, beendete den ersten Teil des Konzertes. Erleichtert stemmte sich Lizzi aus dem Sitz. Während sie sich brav hinter den anderen einreihte, um ins Foyer zu gelangen, lauschte sie den wohl temperierten Kommentaren der Konzertbesucher. Sie merkte sich ein paar davon, um sie beim unausweichlichen Small Talk im Foyer hier und da fallenzulassen. Man wollte ja nicht allzu unkultiviert oder gar undankbar wirken.
Laut und vernehmlich knurrte Lizzis Magen, als Frau Alberding-Wischenberg sie mitten im Gedränge abfing. »Nun, meine liebe Frau Böttcher, wie gefällt Ihnen das Konzert? Ist es nicht ein wenig zu schwierig für Sie?«
Lizzi lächelte. »Ein prächtiger Abend, meine Gute«, zwitscherte sie. »Ganz prächtig. Das Konzert ist so fulminant und erhebend. Besonders der letzte Satz. Das Allegro. Wirklich beeindruckend. Eine hochemotional geladene Interpretation. Allerdings nicht so gelungen wie die von Levine in der New Yorker Met vor einigen Jahren. Doch für unsere Stadt fürwahr ein Highlight.« Mit diesen Worten ließ sie die Leiterin stehen.
Grinsend schob sich Lizzi im Gedränge ein wenig nach vorn, wo sie den Häppchenstand vermutete. Vielleicht gab es ja auch etwas anderes als nur Lachsschnitten. Ein Mettwurstbrötchen wäre nett, überlegte sie, und dazu ein kühles Bier.
Die Musikhungrigen um sie herum schubsten mit einer sicherlich sehr vornehmen, auf alle Fälle aber zielführenden Nachdrücklichkeit. Lizzi sah sich gezwungen, einer drängelnden Frau am spitzenbesetzten Ärmel zu zupfen. Als diese sich indigniert zu ihr umdrehte, legte Lizzi ihren Vorsicht!-Jetzt-kein-falsches-Wort-Blick auf. Schnell trat die Dame einen Schritt zurück. Einem Herrn mit frisch gestärktem Smokinghemd und Fliege, der sie zur Seite schieben wollte, erklärte sie leise, dass ihr von dem Gedränge ein wenig übel sei. Schnell presste sie die Hand vor ihren Mund und schaute auf das Weiß seiner gestärkten Brust. Mit erschrockenem Blick ließ er ihr den Vortritt. Als das geklärt war, wartete Lizzi geduldig, bis das junge Mädchen mit den hochgesteckten Haaren und der Rüschenschürze sie fragte, was sie wünsche.
Gerade wollte Lizzi sich nach einem Brötchen mit Mett erkundigen, da verschwand das Lächeln aus dem Gesicht der Bedienung. Sie schien auf einen Punkt hinter Lizzi zu starren. Auch die Gespräche der Gäste um Lizzi herum erstarben. Kein Gemurmel erfüllte mehr das hohe Foyer mit der Stuckdecke und den bodentiefen Fenstern. Mit gerunzelter Stirn drehte sich Lizzi um. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, warum alle zur doppelflügeligen Tür starrten, hinter der das marmorne Treppenhaus lag.
Dann sah sie sie: Mehrere in schwarzes Leder gekleidete Rocker schritten in schweren Bikerstiefeln über das gewienerte Parkett. Sie teilten die Menge der Kulturbeflissenen wie Moses das Meer. Der Anführer der Gruppe war ein Riese mit Sonnenbrille.
Lizzi schätzte ihn auf knapp zwei Meter, vielleicht sogar mehr. Seine breiten Schultern und der Bizeps schienen die Lederjacke mit den Ketten fast zu sprengen. Das Tuch auf seinem kahlen Kopf hatte er in Piratenmanier gebunden. Mit großen Schritten hielt er auf die mannshohe Marmorstatue von Johannes Brahms zu, die mitten im Foyer stand. Alle Augen waren auf den Rocker und sein Gefolge gerichtet. Irgendwo in der Menge fiel eine Frau in Ohnmacht.
Neben Brahms blieb der Große stehen. Prüfend ließ er seinen Blick über die festlich gekleidete Menge gleiten. Die wiederum stand salzsäulenartig mit Sektgläsern und Häppchen in den schwitzigen Händen da.
Lizzi bemerkte eine Tätowierung auf dem Nacken des Chefs.
»Und?«, brüllte der Kerl in tiefem Bass. »Wo ist die Alte?«
Einer seiner Leute trat vor. Er trug ebenfalls eine Jeansweste mit Drachenaufnäher über der Lederjacke. Er war nicht ganz so groß wie sein Boss, aber dennoch über eins achtzig, schätzte Lizzi. Auch er hatte ein Kopftuch auf dem Schädel und schwere Motorradstiefel an den Füßen. Nur die Sonnenbrille fehlte. Eine Tätowierung zierte sein Handgelenk. Es war eine Schlange, die aus dem Ärmel seiner Jacke kroch.
Er sah sich um. »Da!« Mit ausgestrecktem Finger wies er in Lizzis Richtung. Die Frau mit den gerüschten Spitzenärmeln neben ihr japste erschreckt auf. Sie dachte wohl, er meine sie. Doch Lizzi ahnte anderes.
Langsam kamen die Rocker auf sie zu. Lizzi schluckte, als sich eine hohe Wand aus schwarzem Leder vor ihr aufbaute. Die Leute um sie herum wichen zurück, als hätte sie Flöhe.
Der Anführer blickte wortlos auf Lizzi herab.
Jemand im hinteren Teil der Menge murrte auf. »Was fällt Ihnen eigentlich ein …« Doch weiter kam er nicht. Der Chef der Rocker hob nur kurz die Hand. Sofort verstummte der aufmüpfige Redner.
»Bist du die Alte mit dem Detektivbüro?«, fragte der baumlange Kerl Lizzi, die spontan ganz vergessen hatte, wie groß ihr Hunger eben noch gewesen war. Ihre Kehle war plötzlich entsetzlich trocken. Jedoch wusste sie dank all der Jahre mit Willi und seinen Ganovenfreunden, dass bei bösen Jungs das meiste in Wahrheit nur Show war. Sie entschloss sich, mitzuspielen.
Trotzig drehte sie sich um und bot dem Kerl ihren Rücken. Sie lächelte dem blassen Ding mit der Rüschenschürze zu. »Haben Sie Mettwurstbrötchen?«, fragte sie vernehmlich. »Und ein kaltes Bier? Das wäre schön.«
Eine schwere Hand legte sich auf Lizzis Schulter. »Spielst mit deinem Leben, Oma«, raunte der Anführer ihr ins Ohr.
Da drehte Lizzi sich um, wobei sie kurz die ängstlichen Blicke der umstehenden Konzertbesucher bemerkte. Keiner dieser piekfeinen Leute würde auch nur einen Finger krummmachen, sollte Lizzi jetzt Probleme bekommen.
»Als Erstes stellt man sich vor, Jungchen.« Lizzi machte sich zwei Zentimeter größer, als sie war, was aber nicht wirklich half. »Und dann erwarte ich mehr Respekt vor dem Alter. Wie du schon richtig bemerkt hast, Bengel, könnte ich deine Oma sein. Außerdem: Wer mich duzen darf, entscheide ich.« Mit zusammengepressten Lippen starrte sie dem Riesenkerl mitten ins unrasierte Gesicht. Wer Angst hat, muss beißen. Das galt in der Natur ebenso wie in der Ehe mit einem Kleinkriminellen. Sie schob die riesige Hand von ihrer Schulter. »Also, noch einmal. Wer bist du, Kleiner?«
Der Typ grinste schief. Langsam schob er seine Brille halb herunter. Zwei stahlblaue Augen stierten Lizzi an. Keiner der beiden sagte etwas, während sie sich maßen.
Da sagte der Kleinere: »Das ist Muckiprinz. Er ist der Präsident der Dragon Balls, klar? Und wir wollen dich für ’nen Job haben.«
Lizzi hob eine Augenbraue. »Seit wann sind wir per du?«
»Ähm, Sie. Ja, also … Frau Böttcher«, korrigierte er sich stotternd. Er erklärte, dass sie von Lizzi in der Zeitung gelesen hätten. »Die Schickse in dem Altenlager an der Elbchaussee meinte, dass du hier bist, ähm, Sie …«
Irgendwo in der Menge hörte Lizzi Frau Alberding-Wischenberg. »Altenlager?«, japste die. »Das ist eine Residenz …«
Langsam beugte sich der Anführer mit dem nicht sehr romantischen Namen Muckiprinz zu Lizzi herunter. »Wir haben einen Auftrag für dich, alte Frau«, raunte er in ihr Ohr. »Jetzt.«
Das klingt nicht gut, überlegte Lizzi. Andererseits war die Alternative, die zweite Hälfte des Konzertes dösend in einem scheußlich engen Sessel über sich ergehen lassen zu müssen, auch nicht wesentlich attraktiver. »Wohin?«
»Ritze.«
Lizzi lachte auf. »Nix da! In einen solchen Schuppen gehe ich nicht.«
Die Ritze war seit Ewigkeiten eine Kiezspelunke auf der Reeperbahn gleich neben dem Eroscenter. Dort kämpften früher die Luden um Bordsteinschwalben und Marktanteile. Wenn man damals in der zwielichtigen Welt des Kiezes etwas unter Männern auszumachen hatte, dann ging man in den Keller der Ritze, wo es einen Boxring gab. Ob man sich dort heute noch mit blutigen Nasen zufriedengab, wusste Lizzi nicht. Und sie wollte es auch nicht herausfinden.
»Nee, Kleiner, wir gehen in den Silbersack. Gepflegtes Resopalambiente mit Jukebox und ’nem anständigen Bier.« Der Große öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Lizzi unterbrach ihn barsch. »Silbersack, oder ich bleibe hier, Jungchen!«
Das Kopftuch eng um ihr Kinn geknotet, saß Lizzi kurz darauf in einem Taxi. Auf dem Schoß hielt sie ihre braune Handtasche an den Bügeln umklammert. Draußen ließen die Dragon Balls ihre Maschinen donnernd an. Langsam rollten einige der Biker dem Taxi voraus, während sich rechts und links des Wagens weitere Harleys positionierten. Der Rest der Dragon Balls knatterte hinterher. Ein Aufgebot wie bei einem Staatsbesuch, fand Lizzi.
Sie hatte sich erfolgreich mit den Worten »Ich kann doch nicht im Abendkleid auf ein Motorrad steigen!« geweigert, auf einer der Maschinen mitzufahren. Und so rollten sie nun im Korso die Glacischaussee hinunter, wo der Rummel des Hamburger Doms, mit seinen blinkenden Buden und der dröhnenden Musik, in vollem Gange war. Während der Konvoi am Gladiator, dem nostalgisch beleuchteten Riesenrad und der Wilden Maus vorbeiknatterte, bemerkte Lizzi vorn im Spiegel das aschfahle Gesicht ihres südländisch aussehenden Fahrers. Schweißperlen standen dem armen Kerl auf der Stirn. Die kaffeebraunen Hände zitterten, während er das Lenkrad umkrallte.
Auch Lizzi war mulmig zumute. Sie fragte sich, ob der Stuhl Nummer 13 in Reihe 2, Balkon rechts, der Musikhalle nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.
Da kam ihr der Gedanke, dass es klug sein könnte, Mareike über den unerwarteten Verlauf des Abends zu unterrichten. Lizzi begann, in ihrer riesigen Handtasche nach diesem neumodischen Telefon zu wühlen, welches sie nur in Notfällen benutzte.
Die ehemalige Altenpflegerin der Seniorenresidenz, Mareike Gödecke, hatte sich vor einiger Zeit in den Kopf gesetzt, Lizzi müsse eine Detektei eröffnen, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch Lizzi wollte in ihrem Alter nicht mehr Unternehmerin werden. Sie fand, das Leben müsse irgendwie auch mit einer mageren Rente zu meistern sein.
Doch Mareike beharrte darauf, dass Lizzi eine perfekte Detektivin sei, was sie im Mordfall Jessen ja auch schon bewiesen habe. »Außerdem kann man nicht von nichts leben«, nervte sie ständig, denn Lizzis Rente sei ja wohl eher eine Lachnummer. Recht hatte sie, aber Lizzi hatte nun einmal den bekannten Hamburger Dickkopf. Und darum gab es noch immer keine Detektei. Das aber hielt Mareike nicht davon ab, sich selbst schon mal als Lizzis Assistentin zu betrachten, Visitenkarten drucken zu lassen und einschlägige Fachliteratur zu wälzen. Immer wieder fand Lizzi Bücher und Magazine in ihrem Wohnzimmer, die Mareike besorgt hatte, in der Hoffnung, Lizzi würde darin lesen oder wenigstens ein wenig blättern.
Endlich hatte Lizzi das Handy gefunden. Bereits nach dem zweiten Klingeln meldete sich Mareikes Stimme. »Mirko? Wo bist du?«
»Mirko? Nein, ich bin’s.«
»Oh, Lizzi. Entschuldigen Sie. Ich dachte …«
»Ist der Junge etwa noch nicht zu Hause?« Lizzi sah auf ihre Armbanduhr. Es war halb elf. »Er muss doch morgen zur Schule?«
Mareike zögerte. »Er übernachtet bei einem Freund, nehme ich an. Sicherlich hat er nur vergessen, mir Bescheid zu sagen.«
Langsam nickte Lizzi. Sie konnte die Angst der alleinerziehenden Mutter hören. Irgendwie musste sie damals auch Töchterchen Andrea allein großziehen, wenn die Polizei den Willi mal wieder abgeholt hatte.
»Was ist denn, Lizzi?«, wollte Mareike wissen. »Und was ist das für ein Höllenlärm im Hintergrund? Ich dachte, Sie sind in der Musikhalle.«
»War ich ja auch«, rief Lizzi in ihr seniorengerechtes Handy mit den großen Tasten, das sie noch immer nicht richtig bedienen konnte. »Ich möchte, dass du in den Silbersack kommst, Kindchen.«
Kurz schien die Leitung tot zu sein, dann fragte Mareike: »Wohin soll ich kommen?«
»In den Silbersack. Das ist eine Kneipe auf dem Kiez. Silbersackstraße 9, St. Pauli, geht von der Reeperbahn ab, Ecke Querstraße.«
»Warum?«
»Ich habe eine, … ähm, geschäftliche Besprechung mit einigen … Herren, und ich möchte, dass du dabei bist.«
»Auf dem Kiez?«
Das Taxi fuhr gerade an den Tanzenden Türmen vorbei, die den Beginn der Reeperbahn markierten. Dabei handelte es sich um zwei eng beieinanderstehende Bürohäuser, die aussahen, als hätte der Architekt einen Schluckauf bei der Planung gehabt.
»Ja, Kindchen, bitte. Es ist besser, wenn ich da nicht alleine bin«, flehte Lizzi.
»Ein Auftrag?« Mareike klang erfreut. »Wunderbar! Ich bin gleich da.«
Erleichtert drückte Lizzi die Taste mit dem roten Telefon darauf. Dann stopfte sie das Handy wieder in ihre Handtasche. Mareike würde bestimmt eine halbe Stunde brauchen, um zum Kiez zu kommen.
Überall auf der Reeperbahn blinkten bunte Lichter auf, winkten Reklametafeln mit dem Wort Sex aufdringlich aufmunternd den Touristen zu. Der Kiez hatte sich seit Lizzis letztem Besuch sehr verändert. Er war lauter und eindeutig voller geworden. Die Tankstelle war weg und die Häuser dahinter auch. Stattdessen stand dort ein sechsstöckiger Neubau, der sich Klubhaus nannte. Auf dem Spielbudenplatz davor waren jetzt zwei große Musikbühnen und mehrere Fressbuden.
Soeben passierten sie das Schmidt-Theater und die berühmte Davidwache zu ihrer Linken. Als das Taxi in die Silbersackstraße bog, folgten ihnen nur noch fünf Maschinen. Die anderen fuhren geradeaus weiter.
Vor dem schäbigen Flachbau an der Ecke, an dessen gelb gekachelten Außenwänden wild durcheinander Plakate klebten, hielt das Taxi an. Die rote Eingangstür der Kneipe stand weit offen.
Die Wirtin des Silbersacks, Tante Erna, war vor einiger Zeit gestorben, aber ihre Kultkneipe lebte noch immer. Und wie sie lebte!
Im zigarettenträgen Dunst tanzten die ersten Nachtgestalten zu den staubigen Klängen der Jukebox, aus der gerade Aretha Franklins Think schnarrte. Obwohl es für den Kiez noch recht früh war, bebte der Raum von dem Gewirr vieler Stimmen. Hier kamen scheue Touristen ebenso her wie gepiercte Punks oder lallende Besoffene. Wohlmeinende Väter, die ihren pubertierenden Söhnen einen ersten Einblick in die sündige Meile geben wollten, hockten in der Ecke und gaben den Sprösslingen ein Bier aus. Junge Mädchen hingen hier herum, auf der Suche nach … ja, wonach eigentlich?
Lizzi trat in den Mief aus Rauch und Schweiß und sah sich um. Vor zwanzig Jahren war sie das letzte Mal hier gewesen. Damals spielte noch ein Russe neben dem Tresen Akkordeon. Vadim, hieß er. Tante Erna, die Wirtin, hatte damals leise seine Lieder mitgesummt. Als sie dann irgendwann starb, übernahm einer ihrer Kellner den Laden. Das ging ganz groß durch die Presse, erinnerte sich Lizzi. Sie fragte sich, ob der junge Mann mit der FC-St.-Pauli-Kappe auf dem Kopf der neue Chef sein konnte. Er stand hinter dem Tresen unter einem Himmel tiefhängender vergilbter Fußballwimpel und öffnete mit geübter Hand einige Bierflaschen, die er den Gästen reichte.
Einer der Gäste krallte sich gerade mit einer Hand an der Reling des Tresens fest, die man für abgefüllte Typen wie ihn dort montiert hatte. Schwankend griff er mit der anderen nach einem verteufelt kleinen Glas, zögerlich, doch leider daneben. Er fluchte. Beim zweiten Mal klappte es schon besser. Routiniert warf der Mann den Kopf in den Nacken und kippte den Köm runter. »Noch einen!«, lallte er.
Nichts schien sich verändert zu haben, dachte Lizzi. Sie lächelte, denn hier gefiel ihr der Kiez am besten. Die Gespräche an den Tischen erstarben, als Lizzi und ihre martialisch dreinblickenden Begleiter eintraten. Der kleine Raum mit der niedrigen Decke in von Nikotin vergilbtem Gelbbraun war übervoll. Kein einziger freier Tisch in Sicht. Oje, nun musste sie mit den Rockern doch woandershin gehen. Aber bestimmt nicht in die Ritze, entschied Lizzi für sich.
Da schob einer der Dragon Balls sie zur Seite. Langsam ging er auf einen Tisch zu, an dem eine Gruppe junger Männer über ihren Bierflaschen hockte. Erschrocken blickten sie zu dem Rocker hoch, der plötzlich neben ihnen stand. Keine zehn Sekunden vergingen, dann war der Tisch frei. Mit wütendem Blick trollten sich die jungen Männer zum Tresen hinüber, wo sie den Besoffenen zur Seite schoben, der das volle Schnapsglas vor sich mit starrem Blick zu hypnotisieren versuchte, bevor er erneut beherzt zugriff.
Ganz bewusst setzte Lizzi sich an den Kopf des nun freien Tisches. Muckiprinz ließ sich am anderen Ende auf den Stuhl fallen. Natürlich behielt er die Sonnenbrille auf.
Einer der Rocker bestellte eine Runde Bier. Da sah Lizzi aus den Augenwinkeln, dass Mareike hereinkam. Ihr suchender Blick glitt über die Gestalten im Raum.
Lizzi winkte ihr zu. Mit durchgedrücktem Rücken kam Mareike zum Tisch herüber.
»Das ging aber schnell, Kindchen.« Lizzi runzelte die Stirn.
Mareike warf den Männern am Tisch einen kurzen Blick zu. »Wer sind denn die?«, wollte sie wissen. Sie schob eine freche rote Locke aus ihrem Gesicht, die jedoch sofort wieder zurückfiel.
»Die Herren nennen sich Dragon Balls.«
»Und?«, murmelte Mareike. Sie setzte sich auf den freien Stuhl neben Lizzi. »Was wollen die von uns?«
Lizzi zuckte mit den Achseln. Das hätte sie auch gern gewusst. Drogen? Beschattung? Waffenhandel? Hoffentlich nichts mit Prostitution.
Der Kellner stellte vor jeden am Tisch eine offene Flasche Astra. Kein Glas. »Haben Sie auch ein kleines Schnäpschen für mich?«, fragte Lizzi den jungen Mann, der sich gerade abwenden wollte.
»Köm oder Linie?«
»Linie, bitte. Ein Aquavit wäre jetzt genau das Richtige.« Ihre Beine unter dem Tisch wurden von Minute zu Minute weicher. Muckiprinz starrte unterdessen wortlos zu ihr herüber. Sie räusperte sich. »Also gut, fangen wir an. Wer sind Sie überhaupt, meine Herren?« Sie blickte in die Runde der düsteren Gestalten.
Kurz schaute der Sprecher von vorhin Muckiprinz an, der unmerklich nickte.
Der Rocker erklärte, dass sie nur ein harmloser Motorradclub seien und wer anderes behaupte, bekomme Ärger. »Klar?«
Die beiden Frauen nickten.
Dann stellte er die Mitglieder der Dragon Balls vor. Er selbst sei Knochen-Kalli, der Secretary der Gruppe. Lizzi fragte sich, was so ein Sekretär bei einer Rockergang wohl zu tun haben könnte.
Dann wies Kalli zu dem dicken Kerl hinüber. »Schokoschorsch, unser Road Captain. Und das da ist Richie, unser Sergeant at Arms.« Der schmale Typ blickte Lizzi schweigend an. Er war drahtig, kaum größer als Mareike und hätte ohne seine Lederkluft sogar als nett aussehend durchgehen können, wären da nicht die eng beieinanderstehenden Augen gewesen, die ihm etwas Durchtriebenes gaben.
Obwohl Lizzi nicht so genau verstand, wie die Zuständigkeiten in der Gruppe verteilt waren, klang die Gang beunruhigend gut organisiert.
Mareike aber schien zu verstehen. Sie japste. »O Gott! Sergeant at Arms, Road Captain? So heißt das auch bei den Hells Angels«, flüsterte sie Lizzi ins Ohr.
Lizzie ließ sich ihren Schreck nicht anmerken. »Kommen wir zum Geschäft, Herr Prinz.«
Von dem Secretary der Gruppe mit dem klangvollen Namen Knochen-Kalli erfuhren die beiden Frauen nun, dass die Dragon Balls nichts weiter wollten, als dass Lizzi ein altes Ehepaar für sie finde. »Opa Edel und seine Frau sind seit zwei Wochen verschwunden«, erklärte er.
Erleichtert kippte Lizzi ihren Schnaps hinunter. Gott sei Dank, keine Drogensache. »Dem Opa Edel hat früher mal der Kiosk an den Landungsbrücken gehört«, erklärte man ihr. Damals seien er und die anderen noch Kinder gewesen, sagte Kalli mit einem leichten Lispeln. »Und nach der Schule hat der Opa Edel uns Kindern manchmal ’ne Tafel Edelvollmilch geschenkt. Darum heißt er ja auch Opa Edel. Hier im Viertel sagt keiner Herr Dehlbrück.«
Lizzi konnte sich diese tätowierten Typen am Tisch nicht als Kinder vorstellen. Sie fragte sich, wann aus dem kleinen lispelnden Jungen, der so gern Vollmilchschokolade aß, ein Knochen-Kalli geworden war, und vor allem, warum.
Neben Kalli saß der äußerst gewichtige Schokoschorsch, der Leckereien noch heute zu lieben schien. Gerade warf er sich eine Handvoll Nüsse in den Rachen. Dann griff er zur Flasche, setzte an und trank sie in einem Zug aus. Vernehmlich rülpste er und grölte dann zum Tresen hinüber: »Ey, Schoppenschlepper! Schieb noch ’n paar Buddeln rüber. Aber dalli!«
Der blasse Typ, den sie Richie nannten, schien an der ganzen Sache wenig interessiert zu sein. Gelangweilt manikürte er feinsäuberlich seine Fingernägel mit der Klinge seines Messers.
Mareikes Gesichtsfarbe changierte mittlerweile zwischen Weiß und käsigem Gelb. Sie beugte sich zu Lizzi. »Und warum gehen die nicht zur Polizei, wenn sie sich Sorgen um die alten Leute machen?«
Mucki blickte auf. »Was will die Kleine?«, blaffte er über den Tisch. Lizzi visierte den ungehobelten Kerl mit schmalen Augen. Dann wiederholte sie Mareikes Frage.
Kurz erstarrten die Rocker bei dem Unwort »Polizei«. Muckiprinz lachte schallend auf. »Die Schmiermichel fragen? Wenn wir Opa Edel nicht finden, dann finden die Bullen ihn erst recht nicht.« Er schien den Gedanken, zur Polizei zu gehen, für absolut abwegig zu halten.
»Und warum ich?«, hakte Lizzi nach. »Es gibt viele Detekteien in der Stadt. Was wollt ihr schon von einer alten Oma wie mir?«
Da beugte sich der Anführer vor, schob seine Sonnenbrille ein wenig herunter und blickte Lizzi scharf an. »Eben weil du eine alte Oma bist.«
Knochen-Kalli erklärte, dass Opa Edel ständig von Lizzi gefaselt habe. Er hätte alle Zeitungsberichte aufbewahrt, in denen es hieß, die Rentnerin Elisabeth Böttcher habe einen Doppelmörder gestellt, während die Polizei mal wieder gepennt habe.
Lizzi schüttelte den Kopf. »Wenn die Beamten so verschlafen wären, wie die Zeitungen sagten, dann würde ich heute hier nicht sitzen. Das könnt ihr mir glauben, Jungs.« Kurz flammten Erinnerungen an den Moment auf, als der große Mann im Fahrstuhl seine Hände um ihren Hals gelegt und zugedrückt hatte. Ihr wurde schwindelig.
»Egal«, meinte Knochen-Kalli und ließ seine Fingergelenke knacken. »Opa Edel findet, dass du gut in deinem Job bist. Und weil du …« Lizzi hob eine Augenbraue. »Ähm, Sie ja fast so alt sind wie er und seine Gertrud, na ja, da wissen Sie doch bestimmt, wo man die beiden suchen muss.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort ein klein wenig leiser. Knochen-Kalli schien eine besondere Beziehung zu dem Ehepaar zu haben.
Schokoschorsch legte Kalli die Hand auf die Schulter. »Wird schon, Kumpel. Der verjubelt mit seiner Alten die Rente auf Malle. Wart’s ab, morgen kommt ’ne Karte, und da steht es dann drauf.« Er holte die letzten Erdnüsse aus der Tüte und warf sie in seinen großen Mund.
Muckiprinz, der Lizzi aufmerksam beobachtet hatte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schwieg. Dieses Schweigen beunruhigte Lizzi. Ging es hier wirklich um das verschwundene Ehepaar?
»Kalli ist so was wie ein Adoptivkind von den beiden Alten«, erklärte Schokoschorsch kauend. »Er hatte in der Wohnung sogar mal ein eigenes Zimmer.« Sie hätten sich alle ab und zu mal in der Wohnung versteckt, wenn sie für eine Zeit von der Bildfläche verschwinden mussten. »Opa Edel hat nie gefragt, warum«, nuschelte er, wobei einige Nussstücke aus seinem Mundwinkel fielen.
Da griff Muckiprinz in die Innentasche seiner Lederjacke. Lizzi merkte, wie Mareike heftig zusammenzuckte. Doch der Bandenchef beförderte nur ein Bündel Geldscheine heraus. Lässig warf er es in die Mitte des Tisches. »Anzahlung. Noch mal so viel gibt es, wenn du die beiden gefunden hast, Oma.« Er nickte Knochen-Kalli zu. Der zog einen knittrigen Zettel hervor und warf ihn neben das Geld.
»Das ist die Adresse von den beiden. Und darunter eine Handynummer, unter der du uns erreichen kannst«, fügte Muckiprinz hinzu.
Lizzi rührte sich nicht. Etwas hielt sie davon ab, das Geld anzufassen. Es ging hier ja nicht nur um die Frage, woher das Geld stammte. Ein Überfall? Erpressung? Mafia? Oder noch Schlimmeres? Da war auch die Frage, ob sie diese Typen jemals wieder loswerden würde. Wenn sie das Ehepaar Dehlbrück nicht fand, würden die Rocker ziemlich sauer auf sie sein. Und wenn sie die beiden Rentner doch fand, musste sie damit rechnen, dass die heutige Begegnung mit den Dragon Balls nicht die letzte sein würde. All das gefiel Lizzi nicht.
Ängstlich schaute Mareike zu ihr herüber. Sie dachte offenbar das Gleiche. Nur, fragte sich Lizzi, hatten sie überhaupt eine Wahl? Die Typen machten nicht den Eindruck, als würden sie sich mit einem Nein zufriedengeben.
Lizzi holte tief Luft. Dann erhob sie sich. »Ich werde mit meiner Assistentin reden.« Sie zog Mareike hoch. »Wenn wir eine Chance sehen, Ihnen zu helfen, tun wir es. Sonst müssen wir leider ablehnen.«
Am Tresen schoben Lizzi und Mareike sich zwischen die jungen Männer, die sie vorhin vom Tisch vertrieben hatten.
»Und jetzt?«, flüsterte Mareike. »Die machen uns doch kalt, wenn wir diesen Opa Edel und seine Frau nicht finden.«
Lizzi schüttelte den Kopf. »Alles Show, Kindchen. Was mich mehr interessieren würde, ist, wer diese Dragon Balls eigentlich sind. Wie gefährlich sind diese Herren überhaupt? Warum interessieren die sich für die Dehlbrücks? Nur, weil das Ehepaar nett ist, suchen die sie?« Lizzi wiegte den Kopf hin und her. »Na, ich weiß nicht.«
Verstohlen blickten die beiden Frauen zum Tisch hinüber, an dem die Rocker saßen und sie ihrerseits nicht aus den Augen ließen. Mareike schluckte.
Jetzt richtete Lizzi sich auf. »In Ordnung!« Sie schob ihre Schulterblätter nach hinten. »Wir gehen vorerst auf die Sache ein. Sobald wir hier raus sind, rufst du Pfeiffer an. Ohne unseren Hauskrimsche machen wir gar nichts.« Mareike maulte. Sie mochte Ewald Pfeiffer, den Kriminalhauptkommissar a.D. nicht, das wusste Lizzi, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Gerade wollte sie zum Tisch zurückgehen, als Mareike sie am Arm festhielt.
»Alles nur Show?«, wollte diese vorsichtig wissen.
Aufmunternd nickte Lizzi ihr zu. »Ja, alles Show. Ich kenne solche Burschen. Damals, als mein Mann hier noch herumstromerte, gab es sie auch schon. Machos und nicht sehr helle. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, denn wir wissen nicht, für wen sie arbeiten. Also, Kindchen: Souverän und arrogant auftreten, aber besonnen.«
Mareike nickte. »Okay«, murmelte sie und schob Lizzi zur Seite. »Das nehme ich in die Hand.«
»Was hast du vor, Kindchen?« Überrascht blickte Lizzi Mareike nach, die jetzt zum Tisch zurückmarschierte. Sie sah, wie sich ihre selbsternannte Assistentin über den Tisch beugte und nach dem Geld griff. »Wir sehen, was wir für euch tun können, Jungs«, erklärte sie fest. »Aber, dass das klar ist: Dies hier ist ein nicht rückzahlbares Garantiehonorar.«
Knochen-Kalli blickte zu ihr hoch. »Ein was?«
Erschreckt holte Lizzi Luft.
»Egal, ob wir die Dehlbrücks finden oder nicht. Das Geld ist weg.«
Kalli sprang auf, so dass sein Stuhl lärmend nach hinten kippte. Lizzi zuckte zusammen.
»Bist du bescheuert, du dämliche Ische? Die Knete kriegen wir dann wieder!« Er griff nach dem Geld, doch Mareike war schneller. Auch wenn sie einen Ton blasser geworden war, hielt sie doch seinem Blick stand, während sie das Geldbündel an ihre Brust drückte. »Entweder so, oder wir nehmen den Auftrag gar nicht erst an«, zischte sie.
»Oje!«, hauchte Lizzi. So hatte sie das mit der Souveränität aber nicht gemeint.
Muckiprinz erhob sich. »Wenn ihr diesen Auftrag vergeigt, Mädchen, dann braucht ihr niemals wieder einen Auftrag.« Er hob seinen linken Mundwinkel zu einem feisten Grinsen. Dann öffnete er seine Lederjacke. Eine Waffe kam zum Vorschein. »Versprochen.« Ohne ein weiteres Wort verließ er mit seinen Männern den Silbersack.
»Und wer bezahlt das Bier?«, rief Mareike ihnen noch nach.
Als die Kerle draußen waren, sackte Mareike kraftlos auf einen der Stühle. »Scheiße. In was haben Sie uns da nur reingeritten?«
»Ich?«, entfuhr es Lizzi. »Wer hat denn den Journalisten damals erzählt, ich sei eine Detektivin?« Böse blickte sie Mareike an. »Wer hat denn Visitenkarten drucken und verteilen lassen? Ich bestimmt nicht!« Auch sie ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. Erschöpft stützte sie ihren Kopf auf die Hände. »Das endet in einer Katastrophe, Kindchen. Das überleben wir nicht.«
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile. Dann meinte Mareike mit einem aufmunternden Lächeln, das jedoch ein wenig schief geriet: »Lizzi, ich weiß, dass Sie das können. Sie sind wirklich gut. Wir finden die Dehlbrücks. Und dann sind wir diese Rocker wieder los. Ganz bestimmt.«
»Ach, Kindchen, ich bin doch gar keine Detektivin. So etwas kann ich nicht.«
»Das schaffen wir schon, irgendwie«, flüsterte Mareike, jedoch mehr zu sich als zu Lizzi.
Und aus der Jukebox trällerte Udo Jürgens gerade seine Weisheit, dass mit 66 Jahren das Leben erst anfange.
Es war weit nach Mitternacht, als Mareike die Tür zum Treppenhaus aufschloss. Sie mied den Fahrstuhl, um dem Unausweichlichen nicht früher als nötig zu begegnen. Zwar hoffte sie, sie möge sich irren, aber tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass Mirko noch immer nicht zu Hause war. Seit drei Tagen hatte er nicht mehr in seinem Zimmer geschlafen. Die letzte SMS kam vorgestern. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr erreichen können. Auch seine Freunde wussten nicht, wo Mirko war.
Mit jeder Stufe hinauf in den sechsten Stock fühlte sich Mareike elender. Dieses eigenartige Treffen in der Kiezkneipe war für sie eine willkommene Ablenkung von ihren Sorgen gewesen. Dass sie so schnell im Silbersack