Der weiße Dampfer - Tschingis Aitmatow - E-Book + Hörbuch

Der weiße Dampfer Hörbuch

Tschingis Aitmatow

3,0

Beschreibung

Der Junge wächst als einziges Kind in einer abgelegenen Försterei bei den Großeltern auf. Auf dem Issyk-Kul-See sieht er in der Ferne immer wieder einen weißen Dampfer, der ihn in seinen Tagträumen zum Vater bringt. »Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung.« Der weiße Dampfer, neben Dshamilja eines der wichtigsten und bekanntesten Werke von Tschingis Aitmatow, ist vollständig neu übersetzt worden. Ein Anhang zu Entstehungsgeschichte, Varianten und Wirkung des Textes ergänzen diese Ausgabe.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:5 Std. 5 min

Sprecher:Dieter Wien
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über dieses Buch

Der Junge wächst als einziges Kind in einer abgelegenen Försterei bei den Großeltern auf. Auf dem Issyk-Kul-See sieht er in der Ferne immer wieder einen weißen Dampfer, der ihn in seinen Tagträumen zum Vater bringt.

Der weiße Dampfer ist neben Dshamilja eines der wichtigsten und bekanntesten Werke von Tschingis Aitmatow.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Tschingis Aitmatow (1928–2008) erlangte mit der Erzählung Dshamilja Weltruhm. Er besuchte das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und war Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift. Sein Werk fußt auf den Erzähltraditionen Kirgisiens und verarbeitet die Grundfragen der Zeit.

Zur Webseite von Tschingis Aitmatow.

Charlotte Kossuth (1925–2014) war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin.

Zur Webseite von Charlotte Kossuth.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Tschingis Aitmatow

Der weiße Dampfer

Nach einem Märchen

Erzählung

Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1970 unter dem Titel Belyj parachod (Posle skazki).

Das Nachwort übersetzte Friedrich Hitzer aus dem Russischen.

Originaltitel: Belyi parochod (Posle skazki)

© by Tschingis Aitmatow 1970

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: William Turner, Steam Boat and Storm, 1841

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30750-6

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 25.06.2024, 16:47h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

https://www.unionsverlag.com

[email protected]

E-Book Service: [email protected]

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und Mac

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

DER WEISSE DAMPFER

1 – Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem …2 – Vom Gipfel des Wachtberges eröffnete sich der Blick …3 – Der weiße Dampfer entfernte sich. Schon waren seine …4 – All das liegt weit zurück. Vor langer …5 – Wieder war Herbst in den Bergen. Wieder stimmte …6 – Ihn fröstelte auch noch, als er ins Bett …7 – Frühmorgens erwachte der Junge von der Berührung einer …

Mehr über dieses Buch

Über Tschingis Aitmatow

Tschingis Aitmatow: Über mein Leben

Kasat Akmatow: Tschingis Aitmatow bei sich zu Hause

Über Charlotte Kossuth

Andere Bücher, die Sie interessieren könnten

Bücher von Tschingis Aitmatow

Zum Thema Mythen

Zum Thema Asien

Zum Thema Schamanismus

Zum Thema Tier

Nach einem Märchen

1

Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung.

Er war sieben, ging ins achte Jahr.

Zuerst wurde eine Schulmappe gekauft. Eine schwarze Kunstledermappe mit glänzendem Metallschnappschloss und einer aufgesetzten Tasche für Kleinigkeiten. Kurz, eine ungewöhnliche, ganz gewöhnliche Schulmappe. Damit hatte wohl alles begonnen.

Der Großvater hatte sie im Verkaufsauto erstanden. Das Verkaufsauto, das die Viehzüchter in den Bergen mit Waren versorgte, kam manchmal auch zu ihnen in die Försterei, in die San-Tasch-Schlucht.

Von hier, vom Forstrevier an, bis zu den Quellgebieten der Flüsse erstreckte sich über Felsschluchten und Hänge ein unter Naturschutz stehender Bergwald. In der Försterei wohnten nur drei Familien. Trotzdem kam das Verkaufsauto hin und wieder zu ihnen.

Er, der einzige Junge von allen drei Höfen, bemerkte das Auto immer zuerst.

»Es kommt!«, schrie er und lief zu Türen und Fenstern. »Das Ladenauto kommt!«

Die Zufahrtsstraße kam vom Issyk-Kul, zwängte sich durch eine Schlucht, immerzu den Fluss entlang, ständig über Steine und Schlaglöcher. Leicht fuhr es sich auf so einer Straße nicht. Hatte sie erst den Wachtberg erreicht, stieg sie vom Grund des Engpasses steil bergan und führte dann auf der anderen Seite lange einen abschüssigen Kahlhang hinab zu den Höfen der Waldarbeiter. Der Wachtberg war ganz nah – im Sommer lief der Junge fast jeden Tag hinauf und blickte durchs Fernglas zum See. Dort auf der Straße war immer alles zu sehen wie auf dem Handteller – ob ein Fußgänger, ein Reiter oder gar ein Auto.

Diesmal – es war gerade heißer Sommer – badete der Junge in seinem Flussbecken und erblickte von dort ein Auto, das Staub aufwirbelnd den Hang hinunterfuhr. Das Becken lag am Rand einer Felsbank im Fluss, auf Geröllboden. Der Großvater hatte es aus Steinen gebaut. Ohne dieses Becken wäre der Junge vielleicht nicht mehr am Leben – wer weiß? Dann hätte der Fluss, wie die Großmutter sagte, längst seine Gebeine ausgewaschen und sie geradewegs in den Issyk-Kul getragen, wo Fische und allerlei Wassergetier sie betrachten würden. Und niemand hätte ihn gesucht und sich seinetwegen die Haare gerauft, denn er hätte ja nicht ins Wasser steigen müssen, und wer würde ihn schon vermissen? Noch war das nicht geschehen. Sollte es aber geschehen, wer weiß, vielleicht würde die Großmutter wirklich nicht losstürzen, um ihn zu retten. Ja, wenn er mit ihr verwandt wäre! Aber sie sagt, er sei ein Fremder. Und ein Fremder ist und bleibt ein Fremder, auch wenn man ihn noch so viel füttert und umsorgt. Ein Fremder … Wenn er aber kein Fremder sein will? Und warum soll gerade er der Fremde sein? Vielleicht ist nicht er, sondern die Großmutter selber eine Fremde?

Doch davon später, auch von Großvaters Flussbecken später …

Damals erblickte er also das Ladenauto, es kam den Berg herab und zog eine Staubwolke hinter sich her. Und er freute sich so, als wüsste er genau, für ihn würde eine Schultasche gekauft. Im Nu sprang er aus dem Wasser, zog sich rasch die Hosen über die schmächtigen Schenkel und rannte, noch ganz nass und blau angelaufen – das Flusswasser war kalt –, den Pfad lang zum Hof, um dort als Erster die Ankunft des Ladenautos zu verkünden.

Der Junge lief schnell, sprang über Gestrüpp, machte einen Bogen um Findlinge, wenn sie gar zu groß waren, um darüberzuspringen, und stockte nirgends auch nur für einen Augenblick – weder bei den hohen Gräsern noch bei den Steinen, obwohl er wusste, dass die keineswegs so harmlos waren. Sie konnten einschnappen und ihm sogar ein Bein stellen. »Das Ladenauto ist da. Ich komm dann wieder«, rief er im Vorbeilaufen dem »Liegenden Kamel« zu – so hatte er einen rotbraunen buckligen Granitstein getauft, der bis zur Brust in die Erde eingesunken war. Sonst ging der Junge nie vorbei, ohne seinem »Kamel« auf den Höcker zu klopfen. Er tätschelte es herrisch, so wie der Großvater seinen Wallach mit dem gestutzten Schweif tätschelte – achtlos, im Vorbeigehn. Wart nur, hieß das, ich muss erst was erledigen. Ein anderer Findling hieß »Sattel«, der war halb weiß und halb schwarz, ein scheckiger Feldstein mit einer Mulde, darin saß er wie auf einem Pferd. Dann war da noch der Stein »Wolf« – der sah aus wie ein Wolf, war braun, mit Grau gesprenkelt, hatte einen mächtigen Nacken und einen massigen Kopf. Den pirschte er kriechend an und zielte auf ihn. Doch sein Lieblingsstein war der »Panzer«, ein unzerstörbarer Felsbrocken unmittelbar am Fluss, am unterspülten Ufer. Dieser »Panzer« stand da, als würde er jeden Augenblick losfahren, dass der Fluss aufbrodelt und von weißen Sturzwellen schäumt. So fahren ja die Panzer im Kino: vom Ufer ins Wasser, und los gehts … Der Junge sah selten Filme, daher vergaß er so schnell nicht, was er einmal gesehen hatte. Der Großvater brachte seinen Enkel manchmal ins Kino der Sowchos-Zuchtfarm im Wald hinterm Berg. Deshalb war am Flussufer auch der »Panzer« aufgetaucht – immer bereit, über den Fluss zu stürmen. Es gab auch noch andere Steine – »garstige« und »gute«, ja sogar »pfiffige« und »dumme«.

Unter den Pflanzen gab es auch »liebe«, »tapfere«, »ängstliche«, »böse« und allerlei andere. Die Kratzdistel beispielsweise war sein Hauptfeind. Mit ihr focht der Junge tagtäglich Dutzende Male. Und ein Ende dieses Kampfes war nicht abzusehen, die Distel wuchs und wuchs und vermehrte sich. Die Ackerwinden jedoch, obwohl auch Unkraut, waren sehr kluge und fröhliche Blumen. Schön wie sonst keine hießen sie am Morgen die Sonne willkommen. Die anderen Pflanzen begriffen überhaupt nichts – ob Morgen war oder Abend, ihnen war alles gleich. Die Winden aber schlugen beim ersten warmen Strahl die Augen auf und lachten. Erst ein Auge, dann das zweite, und dann entfalteten sich bei ihnen nacheinander alle Blütentrichter. Weiße, hellblaue, fliederfarbene, verschiedene … Und wenn er ganz still bei ihnen saß, war ihm, als flüsterten sie nach dem Erwachen unhörbar miteinander. Auch die Ameisen wussten das. Morgens liefen sie über die Winden, blinzelten gegen die Sonne und lauschten, worüber die Blumen sprachen. Ob sie sich ihre Träume erzählten?

Am Tag, gewöhnlich gegen Mittag, schlüpfte der Junge gern in ein Gestrüpp von Estragonstängeln. Der Estragon ist hoch, Blüten hat er keine, doch er duftet, wächst haufenweise in ganzen Inseln und duldet keine anderen Pflanzen in seiner Nähe. Der Estragon ist ein treuer Freund. Vor allem wenn einen jemand verletzt hat und man unbemerkt weinen möchte, ist Estragongestrüpp das beste Versteck. Da duftet es wie am Rand eines Kiefernwaldes. Heiß und still ist es im Estragon. Vor allem aber verdeckt er den Himmel nicht. Man muss sich auf den Rücken legen und in den Himmel blicken. Zuerst sieht man durch die Tränen fast nichts. Dann aber kommen Wolken angeschwommen und gestalten oben alles, was einem in den Sinn kommt. Die Wolken wissen, dass einem gar nicht gut zumute ist, dass man am liebsten weggehen oder wegfliegen würde, damit niemand einen findet und alle dann Ach und Weh schreien, der Junge ist verschwunden, wo werden wir ihn bloß finden? Und damit das nicht geschieht, damit man nicht entschwindet, damit man still liegt und sich über die Wolken freut, werden sie sich in alles verwandeln, was man sich wünscht. Aus ein und denselben Wolken werden die verschiedensten Dinge. Man muss nur herausfinden, was die Wolken darstellen. Im Estragon aber ist es still, und er verdeckt den Himmel nicht. So ist er, der Estragon, der nach heißen Kiefern riecht …

Noch manches andere wusste der Junge von den Pflanzen. Zu dem silbrigen Federgras, das auf der Auenwiese wuchs, verhielt er sich herablassend. Federgräser sind komische Käuze. Windige Gesellen. Ihre weichen, seidigen Rispen können ohne Wind nicht leben. Sie warten nur darauf, wohin der Wind weht – und schon neigen sie sich selbst in diese Richtung. Dabei neigen sie sich mit einem Mal, die ganze Wiese, wie auf Kommando. Wenn es aber regnet oder ein Gewitter aufzieht, wissen die Federgräser nicht, wohin. Sie wogen hin und her, fallen um, pressen sich an die Erde. Ja, hätten sie Beine, dann würden sie wahrscheinlich weit weglaufen. Aber sie verstellen sich nur. Kaum ist das Gewitter abgezogen, wiegen sich die leichtsinnigen Federgrashalme wieder im Wind – wo er hinbläst, dort neigen auch sie sich hin.

Allein, ohne Freunde, lebte der Junge, umgeben von unscheinbaren Dingen, und höchstens das Ladenauto ließ ihn alles vergessen und brachte ihn dazu, dass er blitzschnell hinrannte. Natürlich – ein Verkaufsauto ist was anderes als Steine und Pflanzen. Was gibt es da nicht alles!

Als der Junge das Haus erreicht hatte, näherte sich das Verkaufsauto von der Rückseite der Häuser her bereits dem Hof. Die Häuser der Försterei standen dem Fluss zugewandt, der Vorplatz erstreckte sich über einen sanft abfallenden Hang bis unmittelbar ans Ufer; auf der anderen Seite des Flusses stieg der Wald von dem ausgewaschenen Steilhang bergan, sodass es nur einen Weg zur Försterei gab – von der Rückseite der Häuser. Wenn der Junge nicht rechtzeitig da gewesen wäre, hätte niemand gewusst, dass das Verkaufsauto bereits angekommen war.

Von den Männern war gerade keiner da, alle waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs. Die Frauen machten Hausarbeit. Doch der Junge lief zu den offen stehenden Türen und schrie aus vollem Hals: »Es ist da! Das Verkaufsauto ist gekommen!«

Die Frauen gerieten aus dem Häuschen. Flink suchten sie das zurückgelegte Geld und stürzten heraus, als liefen sie um die Wette. Die Großmutter lobte ihn sogar: »Hat der gute Augen!«

Der Junge fühlte sich geschmeichelt, als hätte er selbst das Auto hergefahren. Er war glücklich, weil er ihnen diese Neuigkeit überbracht hatte, weil er mit ihnen zusammen zur Hofseite stürmte, sich mit ihnen an der offenen Tür des Ladenautos drängte. Hier aber hatten ihn die Frauen im Handumdrehn vergessen. Sie hatten jetzt anderes im Sinn. Was gab es da nicht alles für Waren – die Augen gingen ihnen über. Sie waren nur drei Frauen: die Großmutter, Tante Bekej – die Schwester seiner Mutter und Frau des bedeutendsten Mannes im Forstrevier, des Forstwarts Oroskul – und die Frau des Hilfsarbeiters Sejdakmat, die junge Güldshamal, mit ihrer Tochter auf dem Arm. Nur drei Frauen. Aber sie drehten sich so aufgeregt hin und her, griffen so nach den Waren und wühlten so darin herum, dass der Verkäufer sie ermahnen musste, der Reihe nach heranzutreten und nicht alle durcheinanderzuschwatzen.

Doch seine Worte beeindruckten die Frauen nur wenig. Erst nahmen sie ausnahmslos alles in die Hand, dann wählten sie aus, dann gaben sie das Ausgesuchte wieder zurück. Sie legten weg, probierten an, stritten, zweifelten und fragten Dutzende Male nach ein und demselben. Eins gefiel ihnen nicht, ein anderes war zu teuer, bei einem dritten passte ihnen die Farbe nicht … Der Junge stand abseits. Er langweilte sich. Verschwunden war die Erwartung, etwas Ungewöhnliches würde geschehen, verschwunden die Freude, die er empfunden hatte, als er das Verkaufsauto auf dem Berg erblickte. Ein ganz gewöhnliches Auto war plötzlich daraus geworden, voll-gestopft mit einem Haufen Plunder.

Der Verkäufer machte eine finstere Miene; es sah nicht so aus, als würden die Weiber auch nur das Geringste kaufen. Warum war er so weit gefahren, über all diese Berge?

So kam es dann auch. Die Frauen traten zurück, ihre Begeisterung hatte sich gelegt, sie waren wohl sogar erschöpft. Aus unerfindlichem Grund begannen sie sich zu rechtfertigen – ob voreinander oder vor dem Verkäufer. Die Großmutter beklagte sich als Erste, sie habe kein Geld. Wer aber kein Geld in der Hand habe, könne keine Ware abnehmen. Tante Bekej konnte sich ohne ihren Mann nicht zu einem größeren Einkauf entschließen. Tante Bekej war die unglücklichste Frau auf Erden, denn sie hatte keine Kinder – Oroskul schlug sie deshalb, wenn er betrunken war, und auch der Großvater litt darunter, denn Tante Bekej war seine Tochter. Tante Bekej erstand ein paar Kinkerlitzchen und zwei Flaschen Wodka. Das hätte sie lieber nicht tun sollen – das machte es für sie nur noch schlimmer. Die Großmutter konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.

»Warum beschwörst du selber Unheil über dein Haupt?«, zischte sie so, dass es der Verkäufer nicht hörte.

»Das ist meine Sache«, schnitt Tante Bekej ihr das Wort ab.

»Dumme Gans«, flüsterte die Großmutter noch leiser, aber schon hämisch. Wäre der Verkäufer nicht gewesen, dann hätte sie Tante Bekej tüchtig heruntergeputzt. Ach, wie konnten die beiden schimpfen!

Zum Glück griff die junge Güldshamal ein. Sie erklärte dem Verkäufer, ihr Sejdakmat werde bald in die Stadt fahren und brauche Geld, daher könne sie jetzt nichts springen lassen.

Ein Weilchen drückten sie sich noch beim Verkaufsauto herum und kauften »Groschenartikel«, wie der Verkäufer es nannte, dann gingen sie wieder in die Häuser. Das sollte ein Handel sein? Der Verkäufer spuckte den Weibern hinterher und begann die zerwühlten Waren einzupacken; er wollte sich ans Lenkrad setzen und weiterfahren. Da bemerkte er den Jungen.

»Na, Großohr?«, sagte er. Der Junge hatte abstehende Ohren, einen dünnen Hals und einen großen, runden Kopf. »Willst du was kaufen? Dann beeil dich, ich mach gleich zu. Hast du Geld?«

Der Verkäufer fragte nur, weil er nichts Besseres zu tun hatte, doch der Junge entgegnete respektvoll: »Nein, Onkel, Geld hab ich nicht« und schüttelte den Kopf.

»Und ich glaub, du hast welches.« Der Verkäufer stellte sich argwöhnisch. »Ihr seid doch hier alle reich, tut nur so, als wärt ihr arm. Was hast du denn da in der Tasche, ist das vielleicht kein Geld?«

»Nein, Onkel«, antwortete der Junge ehrlich und ernst und krempelte die zerrissene Tasche um. Die zweite Tasche war fest zugenäht.

»Dann ist dein Geld rausgefallen. Such mal da, wo du rumgelaufen bist. Du findest es schon.«

Sie schwiegen.

»Zu wem gehörst du?«, fragte der Verkäufer ihn weiter aus. »Etwa zum alten Momun?«

Der Junge nickte.

»Bist du sein Enkel?«

»Ja.« Wieder nickte der Junge.

»Und wo ist deine Mutter?«

Der Junge sagte nichts. Darüber wollte er nicht reden.

»Sie lässt wohl nichts von sich hören, deine Mutter? Du weißt wohl selber nichts von ihr?«

»Nein.«

»Und der Vater? Weißt du von dem auch nichts?«

Der Junge schwieg.

»Wieso weißt du eigentlich überhaupt nichts, mein Freund?«, warf ihm der Verkäufer zum Spaß vor. »Na schön, wenns eben so ist. Da, nimm.« Er nahm eine Handvoll Bonbons heraus. »Lass es dir schmecken.«

Der Junge genierte sich.

»Nimm nur, nimm. Zier dich nicht. Ich muss jetzt fahren.«

Der Junge steckte die Bonbons ein und schickte sich an, hinterm Auto herzulaufen, er wollte es bis zur Straße geleiten. Er rief Baltek, den entsetzlich trägen, zottigen Hund. Oroskul drohte immer, er werde ihn erschießen, weshalb sollten sie sich einen solchen Hund halten. Doch der Großvater flehte ihn an, damit noch zu warten; sie müssten sich einen Schäferhund anschaffen, sagte er, Baltek aber irgendwohin bringen und dalassen. Baltek kümmerte sich um nichts; war er satt, dann schlief er, war er hungrig, dann schwänzelte er um irgendwen herum, ganz gleich, ob es ein Hiesiger oder ein Fremder war, wenn er nur was hingeworfen bekam. So einer war er, der Baltek. Manchmal aber lief er aus Langeweile den Autos nach. Weit natürlich nicht. Er nahm nur einen Anlauf, machte dann jäh kehrt und trottete wieder nach Hause. Verlass war auf den Hund nicht. Und doch war es hundertmal besser, mit einem Hund zu laufen als ohne. Mochte er sein, wie er wollte – er war ein Hund.

Verstohlen, damit der Verkäufer es nicht sah, warf der Junge Baltek einen Bonbon hin. »Pass auf«, warnte er ihn. »Wir werden lange laufen.« Baltek winselte und wedelte mit dem Schwanz – er wollte mehr. Doch der Junge traute sich nicht, ihm noch einen Bonbon zuzuwerfen. Der Mann hätte es übel nehmen können, schließlich hatte der ihm nicht für den Hund eine ganze Handvoll gegeben.

Da tauchte der Großvater auf. Der alte Mann war beim Bienenstand, und von dort sah er nicht, was hinter den Häusern geschah. Zufällig kam er rechtzeitig zurück, bevor das Verkaufsauto wegfuhr. Zufällig. Sonst hätte der Enkel keine Schultasche bekommen. Der Junge hatte mal Glück gehabt.

Den alten Momun, den kluge Köpfe den Unermüdlichen Momun nannten, kannten alle in der Umgebung, und auch er kannte alle. Den Beinamen hatte er sich durch seine Freundlichkeit allen gegenüber, die er auch nur ein bisschen kannte, verdient und durch seine Bereitschaft, einem jeden beizustehn, ihm gefällig zu sein. Und doch schätzte niemand seinen Eifer, so wie auch Gold nicht geschätzt würde, sollte es plötzlich kostenlos zu haben sein. Niemand bekundete Momun die Achtung, die man Menschen seines Alters sonst entgegenbringt. Mit ihm machte man nicht viel Umstände. Manchmal beauftragte man ihn bei großen Totenfeiern für einen angesehenen Greis aus dem Stamm der Bugu – Momun gehörte zum Geschlecht der Bugu, war sehr stolz darauf und versäumte nie eine Gedenkfeier für Stammesgenossen –, Vieh zu schlachten, die Ehrengäste zu empfangen und ihnen aus dem Sattel zu helfen, ihnen Tee zu reichen, aber auch Brennholz zu hacken und Wasser zu holen. Was gibt es nicht alles zu tun auf großen Gedenkfeiern, wenn so viele Gäste von überall her kommen! Alle derartigen Aufgaben erledigte Momun flink und geschickt, vor allem aber drückte er sich nie wie andere. Wenn die jungen Frauen aus dem Ail, die die Menschenmassen aufnehmen und verpflegen mussten, zusahen, wie Momun die Arbeit bewältigte, sagten sie: »Was täten wir nur ohne den Unermüdlichen Momun?«

Und so ergab es sich, dass der alte Mann, der mit seinem Enkel von weit her kam, in die Rolle eines dienstbereiten Dshigiten geriet, der den Tee bereitete. Jeder andere an seiner statt wäre gekränkt gewesen. Momun machte das nichts aus.

Und niemand wunderte sich, dass der alte Unermüdliche Momun die Gäste bediente – dafür war er ja sein Leben lang der Unermüdliche Momun. Er war selber schuld. Und wenn ein Fremder seine Verwunderung äußerte und fragte, warum er, der alte Mann, für die Frauen den Laufburschen mache, als ob in diesem Ail die jungen Kerle ausgestorben seien, erwiderte Momun: »Der Verstorbene war mein Bruder.« (In seinen Augen waren alle Bugu seine Brüder. Aber so gesehen waren sie doch ebenso »Brüder« der anderen Gäste.) »Wer, wenn nicht ich, sollte für seine Leichenfeier arbeiten? Dazu sind wir Bugu ja alle Nachkommen unserer Urahne, der Gehörnten Hirschmutter. Und das Vermächtnis der weisen Hirschmutter lautet, Freundschaft zu bewahren im Leben und in der Erinnerung.«

So einer war er, der Unermüdliche Momun!

Alt und Jung duzte ihn, über ihn konnte man sich lustig machen – der alte Mann nahm es hin, auf ihn brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, er war sanftmütig. Mit gutem Grund heißt es ja, die Leute verzeihen keinem, der sich keine Achtung verschaffen kann. Momun konnte das nicht.

Er konnte aber vieles andere. Er zimmerte, arbeitete als Sattler, stellte Schober auf – als er noch jünger war, hatte er im Kolchos solche Schober gesetzt, dass es einem leid tat, sie im Winter abzutragen: Der Regen rann vom Schober herunter wie von einer Gans, der Schnee aber legte sich darüber wie ein Satteldach. Im Krieg hatte er als zur Arbeitsarmee Verpflichteter in Magnitogorsk Fabrikmauern hochgezogen und war als Stachanowarbeiter ausgezeichnet worden. Sowie er zurückkam, baute er die Häuser für das Forstrevier und kümmerte sich um den Wald. Obwohl er als Hilfsarbeiter zählte, war er es, der nach dem Wald sah, Oroskul aber, sein Schwiegersohn, war meistens unterwegs zu Besuch. Nur wenn Obrigkeit auftauchte, zeigte Oroskul ihnen höchstpersönlich den Wald und veranstaltete eine Jagd; dann spielte er den Hausherrn. Das Vieh wurde von Momun versorgt, er hielt auch einen Bienenstand. Sein Leben lang hatte Momun von früh bis spät geschuftet, aber sich Achtung zu verschaffen, hatte er nicht gelernt.

Momun sah auch nicht aus wie ein würdiger Alter, ein Aksakal, wirkte weder gesetzt noch hoheitsvoll, noch streng. Ein gutmütiger Kerl war er, und diese seine undankbare menschliche Eigenschaft erkannte man auf den ersten Blick. Zu allen Zeiten versucht man solchen Leuten beizubringen: »Sei nicht gut, sei böse!« Er aber blieb zu seinem Pech unverbesserlich gut. Auf seinem von zahlreichen Runzeln durchzogenen Gesicht lag immer ein Lächeln, und seine Augen fragten ständig: Was brauchst du? Soll ich was für dich tun? Ich mach es sofort, sag mir nur, was du brauchst.

Er hatte eine weiche Entennase, scheinbar ohne Knorpel. Und war auch nicht groß, sondern ein flinkes Alterchen, einem Halbwüchsigen ähnlich.

Sogar mit dem Bart war nicht viel los. Einfach lächerlich sah der aus. Auf dem kahlen Kinn sprossen zwei, drei rötliche Härchen – das war der ganze Bart.

Ganz anders ist es doch, wenn ein stattlicher alter Mann geritten kommt – mit einem Vollbart wie eine Garbe, in einem weiten Pelzmantel mit Lammfellrevers und einer teuren Mütze, obendrein auf einem guten Pferd, und der Sattel ist mit Silber beschlagen. Wenn das kein Weiser, kein Prophet ist! Vor so einem sich zu verneigen ist keine Schande, so einer genießt überall hohes Ansehen. Momun aber war eben schon von Geburt der Unermüdliche Momun. Sein einziger Vorzug bestand darin, dass er sich nicht fürchtete, sich in jemandes Augen eine Blöße zu geben. (Hat er sich vielleicht falsch hingesetzt, was Falsches gesagt, falsch geantwortet, aus falschem Anlass gelächelt, falsch, falsch, falsch …) In dieser Hinsicht war Momun, ohne es zu ahnen, glücklich wie selten einer. Viele Menschen sterben weniger an Krankheiten als an dem unstillbaren, sie verzehrenden leidenschaftlichen Wunsch, mehr zu scheinen, als sie sind. (Wer möchte nicht für klug, würdig, schön und obendrein Angst einflößend, gerecht und entschieden gehalten werden?)

Momun war anders. Er war ein Sonderling, und man begegnete ihm wie einem Sonderling. Nur eines konnte ihn tief beleidigen: wenn man vergaß, ihn zum Familienrat einzuladen, auf dem eine Totenfeier vorbereitet wurde. Das nahm er sehr übel, dann war er ernstlich gekränkt, aber nicht, weil er übergangen worden war – im Familienrat hatte er ohnehin nichts zu sagen, er war nur zugegen –, sondern weil er daran gehindert wurde, einer uralten Pflicht nachzukommen.

Momun hatte seine eigenen Sorgen und Kümmernisse, unter denen er litt und die ihn nachts weinen ließen. Fremde wussten davon fast nichts. Doch wer ihm nahestand, wusste es.

Als Momun seinen Enkel beim Verkaufsauto sah, war ihm sofort klar, dass den Jungen etwas bedrückte. Da aber der Verkäufer ein Auswärtiger war, wandte er sich zuerst an ihn. Rasch sprang er aus dem Sattel und reichte ihm beide Hände.

»Assalam alejkum, großer Kaufmann!«, sagte er halb aus Spaß und halb im Ernst. »Ist deine Karawane glücklich angekommen, geht dein Handel gut?« Übers ganze Gesicht strahlend, schüttelte er dem Verkäufer die Hand. »Wie viel Wasser ist den Fluss hinabgeflossen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben! Sei herzlich willkommen!«

Der Verkäufer lächelte herablassend über diese Worte und das unscheinbare Aussehen des alten Mannes – er trug noch immer die alten Segeltuchstiefel, die von seiner Frau genähten Leinenhosen, das schäbige Jackett und den von Regen und Sonne braun gewordenen Filzhut –, und er antwortete Momun: »Die Karawane ist unversehrt. Nur – was soll ich davon halten – ein Kaufmann kommt zu euch, ihr aber lauft vor ihm davon, versteckt euch in Wäldern und Tälern. Und den Frauen tragt ihr auf, jede Kopeke festzuhalten wie eine Seele angesichts des Todes. Hier kann ich Waren noch und noch anbieten, keiner lässt was springen.«

»Nimms nicht krumm, mein Lieber«, entschuldigte sich Momun verlegen. »Hätten wir gewusst, dass du kommst, dann wären wir nicht weggeritten. Und dass wir kein Geld haben – wo nichts ist, hat selbst der Kaiser sein Recht verloren. Ja, wenn wir im Herbst die Kartoffeln verkaufen …«

»Erzähl keine Märchen!«, unterbrach ihn der Verkäufer. »Ich kenn euch schon, ihr stinkenden Beis. Ihr sitzt in den Bergen und habt Land und Heu im Überfluss. Die Wälder hier kann man in drei Tagen nicht abreiten. Vieh hältst du doch? Und einen Bienenstand auch? Aber eine Kopeke rausrücken – dazu seid ihr zu knickrig. Kauf doch die Seidendecke hier, und eine Nähmaschine hab ich auch noch …«

»Bei Gott, dazu reicht mein Geld nicht«, rechtfertigte sich Momun.

»Das soll ich glauben? Knausrig bist du, Alter, sitzt auf deinem Geld. Aber was willst du damit?«

»Ehrlich, nein, ich schwörs bei der Gehörnten Hirschmutter!«

»Dann nimm ein Stück Velvet, lass dir neue Hosen nähen.«

»Würd ich zu gern, ich schwörs bei der Gehörnten Hirschmutter!«

»Zwecklos, mit dir zu reden!« Der Verkäufer winkte ab. »Ich bin umsonst gekommen. Wo ist eigentlich Oroskul?«

»Der ist schon frühmorgens weggeritten, wohl nach Aksai. Hat da bei den Hirten zu tun.«

»Beehrt sie mit seinem Besuch«, übersetzte der Verkäufer verständnisvoll. Eine peinliche Pause trat ein.

»Nimms uns nicht übel, mein Lieber«, setzte Momun wieder an, »im Herbst verkaufen wir, so Gott will, die Kartoffeln …«

»Bis zum Herbst ist es noch weit.«

»Na, dann verübel es uns nicht. Sei doch so lieb, komm ins Haus, und trink mit uns Tee.«

»Nicht dazu bin ich hergekommen«, lehnte der Verkäufer ab. Er wollte schon die Tür seines Lieferwagens schließen, da sagte er mit einem Blick auf den Enkel, der neben dem alten Mann stand, den Hund am Ohr festhielt und darauf wartete, hinter dem Auto herzulaufen: »Kauf mir doch wenigstens eine Tasche ab. Für den Jungen ist es doch wohl an der Zeit, in die Schule zu gehn. Wie alt ist er denn?«

Momun griff den Gedanken sofort auf. Dann würde er dem aufdringlichen fliegenden Händler wenigstens etwas abnehmen, und der Enkel brauchte wirklich eine Tasche, im Herbst kam er in die Schule.

»Richtig«, sagte Momun eilig, »daran hab ich nicht gedacht. Er ist doch schon sieben, wird bald acht. Komm mal her«, rief er den Enkel.

Der Großvater wühlte in seinen Taschen und zog einen Fünfrubelschein hervor.

Den trug er offenbar schon lange mit sich herum, er war ganz zerknittert.

»Da, nimm, du Großohr.« Der Verkäufer blinzelte dem Jungen verschmitzt zu und reichte ihm eine Schulmappe. »Jetzt lern schön. Wenn du nicht lesen und schreiben lernst, musst du für immer beim Großvater in den Bergen bleiben.«

»Er schafft das schon. Ist ein aufgewecktes Bürschchen«, entgegnete Momun und zählte das Wechselgeld.

Dann warf er einen Blick auf den Enkel, der die neue Tasche unbeholfen an sich presste, und zog ihn zu sich.

»Ist ja gut. Im Herbst kommst du in die Schule«, sagte er leise. Seine harte, schwere Hand lag weich auf dem Kopf des Jungen.

Der merkte, wie es ihm jäh die Kehle zuschnürte, er spürte deutlich, wie dürr der Großvater war und wie vertraut seine Kleidung roch. Nach trockenem Heu und dem Schweiß eines arbeitenden Mannes. Er war treu, zuverlässig und vertraut, vielleicht der einzige Mensch auf Erden, der den Jungen ins Herz geschlossen hatte, der schlichte, wunderliche alte Mann, den kluge Köpfe den Unermüdlichen Momun getauft hatten …

Na und? Wie immer er war, es war doch schön, einen eigenen Großvater zu haben! Der Junge hatte in diesem Augenblick noch keine Ahnung, wie groß seine Freude sein würde. Bisher hatte er an die Schule nicht gedacht. Bisher hatte er nur Kinder gesehen, die in die Schule gingen – dort, hinter den Bergen, in den Dörfern am Issyk-Kul, wohin er mit dem Großvater zu Totenfeiern für angesehene Greise aus dem Stamm der Bugu geritten war. Von nun an trennte sich der Junge nicht mehr von der Tasche. Frohlockend und prahlend rannte er zu allen Bewohnern der Försterei. Zuerst zeigte er die Tasche der Großmutter – da, sieh, was mir der Großvater gekauft hat! –, dann Tante Bekej; auch sie freute sich über die Tasche und lobte den Jungen.

Tante Bekej hat nur selten gute Laune. Meistens ist sie finster und gereizt und übersieht den Neffen einfach. Sie hat anderes im Kopf. Hat eigene Sorgen. Die Großmutter sagt immer: »Hätte sie Kinder, dann wäre sie ganz anders. Dann wäre auch Oroskul, ihr Mann, ganz anders – nicht so wie jetzt. Dann wäre auch Großvater Momun ein ganz anderer Mensch.« Dabei hat er doch zwei Töchter – Tante Bekej und die Mutter des Jungen, die jüngere Tochter. Schlimm ist es trotzdem, sehr schlimm, wenn einer keine eigenen Kinder hat, und noch schlimmer, wenn die Kinder keine Kinder haben. So sagt die Großmutter. Das soll einer verstehn!

Danach lief der Junge los, um der jungen Güldshamal und ihrer kleinen Tochter den Einkauf zu zeigen. Von ihnen begab er sich zu Sejdakmat auf den Heuschlag. Wieder lief er an dem rotbraunen »Kamel« vorüber, und wieder hatte er keine Zeit, ihm auf den Höcker zu klopfen; vorbei gings am »Sattel«, am »Wolf« und am »Panzer«, dann weiter, immer am Ufer den Pfad durchs Sanddorngestrüpp lang und schließlich über einen langen, abgemähten Wiesenstreifen zu Sejdakmat.

Sejdakmat war heute allein. Der Großvater hatte längst seinen und auch Oroskuls Anteil gemäht. Und sie hatten das Heu bereits eingefahren – die Großmutter und Tante Bekej hatten es zusammengeharkt, Momun hatte es aufgeladen, der Junge aber hatte dem Großvater geholfen, hatte das Heu zum Wagen geschleppt. Neben dem Kuhstall hatten sie zwei Schober gesetzt. Der Großvater hatte das so sorgsam gemacht, dass kein Regen eindringen konnte. Glatt waren die Schober, wie gekämmt. Jedes Jahr ist es dasselbe. Oroskul mäht nicht, wälzt alle Arbeit auf den Schwiegervater ab, er ist eben der Natschalnik. »Wenn ich will«, sagt er, »schmeiß ich euch im Handumdrehn raus.« Das sagt er zum Großvater und zu Sejdakmat. Und auch nur, wenn er betrunken ist. Den Großvater kann er nicht rausschmeißen. Wer würde dann die Arbeit machen? Er sollte es nur ohne den Großvater versuchen! Im Wald gibt es viel Arbeit, besonders im Herbst. Der Großvater sagt immer: »Der Wald ist keine Herde Schafe, der läuft nicht auseinander. Aber Aufsicht braucht er genauso viel. Wenn ein Brand ausbricht oder Tauwasser von den Bergen herabschießt, springt der Baum nicht beiseite, räumt er seinen Platz nicht, sondern geht zugrunde, wo er steht. Dafür gibt es ja den Forstwart, dass der Baum nicht umkommt.« Den Sejdakmat wird Oroskul auch nicht rausschmeißen, denn der ist friedlich. Mischt sich nirgends ein und streitet nicht. Er ist zwar friedfertig und kerngesund, aber faul, und er schläft gern. Deshalb hat er sich auch für die Forstarbeit entschieden. Der Großvater sagt, solche Burschen fahren im Sowchos die Kraftwagen und pflügen mit Traktoren. Sejdakmat aber hat auf seinem Gemüsefeld die Kartoffeln von Melde überwuchern lassen. Güldshamal musste mit dem Kind auf dem Arm allein den Acker bestellen.

Auch mit dem Beginn der Heumahd hat Sejdakmat gebummelt. Vorgestern hat ihn der Großvater tüchtig heruntergeputzt. »Vergangenen Winter hast nicht du mir leidgetan«, hat er gesagt, »sondern das Vieh. Deshalb hab ich dir Heu abgegeben. Wenn du wieder mit dem Heu von mir altem Mann rechnest, sag es gleich, dann mähe ich für dich.« Das hatte gesessen. Seit dem frühen Morgen schwang Sejdakmat die Sense.

Als Sejdakmat hinterm Rücken schnelle Schritte vernahm, drehte er sich um und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Gesicht.

»Was willst du? Ruft mich jemand?«

»Nein, ich habe eine Tasche. Schau mal, Großvater hat sie gekauft. Ich geh bald in die Schule.«

»Deshalb kommst du her?« Sejdakmat lachte auf. »Großvater Momun ist wohl …«, er tippte mit dem Finger an die Schläfe, »und du genauso! Na, was ist es denn für eine Tasche?« Er ließ das Schloss schnappen, drehte die Tasche in den Händen hin und her, gab sie zurück und wiegte spöttisch den Kopf. »Wart mal!«, rief er. »In welche Schule kommst du denn? Wo ist sie, deine Schule?«

»In welche schon? In die Farmschule.«

»Nach Dshelessai willst du gehn?«, fragte Sejdakmat verwundert. »Bis dahin sind es doch übern Berg mindestens fünf Kilometer.«

»Großvater sagt, er bringt mich auf dem Pferd hin.«

»Jeden Tag hin und zurück? Der Alte ist wohl nicht recht bei Trost … Er müsste selber in die Schule gehn. Könnte mit dir auf einer Bank sitzen und nach dem Unterricht mit dir zurückreiten!« Sejdakmat wollte sich schieflachen. Die Vorstellung, wie Großvater Momun mit dem Enkel auf einer Bank sitzt, erheiterte ihn.

Der Junge schwieg betroffen.

»Ich hab doch nur Spaß gemacht!«, erklärte Sejdakmat.

Er gab dem Jungen einen Nasenstüber und zog ihm Großvaters Mütze mit dem Schirm über die Augen. Momun trug die Dienstmütze der Forstleute nicht, das wäre ihm peinlich gewesen. (Bin ich etwa ein Natschalnik? Ich tausche meine kirgisische Mütze gegen keine andere ein!) Im Sommer hatte Momun einen vorsintflutlichen Filzhut auf, einen weißen Stumpen, eingefasst mit abgewetztem schwarzem Satin, und im Winter eine ebenfalls vorsintflutliche Schaffellmütze. Die grüne Dienstmütze des Forstarbeiters überließ er dem Enkel.

Dem Jungen war nicht recht, dass Sejdakmat die Neuigkeit so spöttisch aufgenommen hatte. Finster schob er den Mützenschirm auf die Stirn, und als Sejdakmat ihm noch einen Nasenstüber versetzen wollte, drehte er den Kopf weg und knurrte: »Rühr mich nicht an!«

»Oje, was für ein Wüterich!« Sejdakmat griente. »Lass gut sein. Die Tasche ist genau richtig!« Er tätschelte ihm die Schulter. »Jetzt aber schieb ab. Ich muss noch viel mähen.«

Er spuckte in die Hände und griff wieder zur Sense.

Der Junge aber lief auf demselben Weg nach Hause, wieder an den Steinen vorbei. Er hatte noch immer keine Zeit, sich mit ihnen zu befassen. Eine Tasche ist keine Kleinigkeit.

Der Junge redete gern mit sich selbst. Doch diesmal sagte er nicht zu sich, sondern zur Tasche: »Glaub ihm nicht, der Großvater ist gar nicht so. Er ist nur nicht gerissen, deshalb machen sie sich über ihn lustig. Weil er überhaupt nicht gerissen ist. Er bringt uns beide in die Schule. Du weißt noch nicht, wo die Schule ist? Gar nicht so weit weg. Ich zeig dirs. Wir sehen sie uns vom Wachtberg durchs Fernglas an. Und dann zeig ich dir noch meinen weißen Dampfer. Aber erst gehen wir in den Schuppen. Da hab ich mein Fernglas versteckt. Eigentlich müsste ich ja aufs Kalb aufpassen, aber ich laufe immer wieder weg, um mir den weißen Dampfer anzusehn. Das Kalb ist schon groß; wenn es an der Leine zerrt, kann ich es nicht zurückhalten – es hat sich nämlich angewöhnt, bei der Kuh zu saugen. Die Kuh ist seine Mutter, der ist es um die Milch nicht leid. Ist dir das klar? Einer Mutter ist es nie um etwas leid. Das sagt Güldshamal, sie hat eine kleine Tochter … Bald wird die Kuh gemolken, dann treiben wir das Kalb auf die Weide. Und dann steigen wir auf den Wachtberg und sehen von dort auf den weißen Dampfer. Ich unterhalte mich doch mit dem Fernglas auch so. Jetzt werden wir zu dritt sein – ich, du und das Fernglas …«

So ging er nach Hause. Ihm machte es große Freude, sich mit der Tasche zu unterhalten. Gern hätte er das Gespräch fortgesetzt und von sich erzählt, was die Tasche noch nicht wusste. Doch er wurde daran gehindert. Seitlich erklang Pferdegetrappel. Hinter den Bäumen erschien ein Reiter auf einem Grauschimmel. Es war Oroskul. Auch er kehrte nach Hause zurück. Das graue Pferd Alabasch, auf dem er keinen andern reiten ließ, trug den Reitsattel mit den kupfernen Steigbügeln, mit dem Halsriemen und klirrenden silbernen Anhängseln.

Oroskuls Hut war in den Nacken gerutscht und gab die rote Stirn mit dem tiefen Haaransatz frei. Die Hitze hatte ihn schläfrig gemacht. Er döste im Reiten. Die Velvetjoppe, nicht sehr gekonnt nach dem Muster deren genäht, die die Kreisobrigkeit trug, war von oben bis unten aufgeknöpft. Das weiße Hemd war unterm Gürtel hochgerutscht. Er war satt und betrunken. Gerade noch hatte er an einem gastlichen Tisch gesessen, Kumys getrunken und sich mit Fleisch vollgestopft.

Wenn die Schaf- und Pferdehirten zur Sommerweide in die Berge kamen, luden sie Oroskul oft ein. Er hatte unter ihnen alte Freunde und Kumpel.