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Denn Bücher duften nach Träumen ...
Seit sie denken kann, ist Sofia von Büchern fasziniert. Sie liebt das Rascheln der Seiten, den Geruch des Papiers und vor allem die darin beschriebenen Welten. Schon immer haben sie der schüchternen Frau geholfen, der Realität zu entkommen. Als sie eines Tages in einem Antiquariat ein altes Buch kauft, findet sie darin enthaltene Manuskripte und Briefe einer gewissen Clarice, die Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt haben soll. Sofia und Clarice scheinen viel gemeinsam zu haben, und Sofia spürt eine Verbindung zu ihr. Um mehr über sie zu erfahren, reist Sofia quer durch Europa. Dabei stößt sie nicht nur auf eine unglaubliche Liebesgeschichte, sondern findet endlich auch ihr eigenes Glück …
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Seitenzahl: 434
Buch
Seit sie denken kann, ist Sofia von Büchern fasziniert. Sie liebt das Rascheln der Seiten, den Geruch des Papiers und die fernen Welten, in die man so schön entfliehen kann. Als sie eines Tages in einem Antiquariat ein altes Buch kauft, entdeckt sie darin Manuskripte und Briefe einer gewissen Clarice, die Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt haben muss. Clarice scheint ein bisschen gewesen zu sein wie sie selbst, und Sofia fühlt sich ihr auf mysteriöse Weise verbunden. Um mehr über die geheimnisvolle Schreiberin zu erfahren, begibt sie sich auf eine Reise quer durch Europa und stößt dabei nicht nur auf eine unglaubliche Liebesgeschichte, sondern findet endlich auch ihr eigenes Glück …
Autorin
Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Ihr Debütroman Die Rosenfrauen verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman, Die Honigtöchter, der auf ihrer Heimatinsel spielt, und Die Oleanderschwestern waren ebenfalls große Erfolge. Der Zauber zwischen den Seiten ist Cristina Cabonis viertes Buch, das die faszinierende Welt der Bücher zum Thema hat.
Von Cristina Caboni bereits erschienen:
Die Rosenfrauen
Die Honigtöchter
Die Oleanderschwestern
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Cristina Caboni
Roman
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»La rilegatrice di storie perdute« bei Garzanti Libri, Mailand.
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Copyright der Originalausgabe © 2017 by Cristina Caboni
License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ulrike Nikel
Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de
KW · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-22113-3V003
www.blanvalet.de
Für all die Buchhändler, die Bücher verkaufen, und die Käufer, die sie lesen. Dieses Buch ist euch gewidmet.
Prolog
Der goldene Anhänger glänzte zwischen den Fingern des jungen Mädchens. Es war das Wappen ihrer Familie, ein Kreis mit zwei Flügeln in der Mitte.
Clarice wusste, wie wertvoll der Anhänger war, und drückte ihn an ihr Herz. Ein Vermächtnis ihrer Mutter, genau wie die Geige und ihre Geschichte, alles, was aus ihr eine echte von Harmel machte.
»Solange du dich an mich erinnerst, bin ich lebendig«, hatte sie ihr eines Abends vor vielen Jahren gesagt.
Danach hatte Clarice sie nie wiedergesehen.
Die Erinnerung verblasste langsam. Immer wenn sie an ihre Mutter dachte, spürte sie einen Stich im Herzen.
Der warme Schein der Kerze fiel auf die glänzende Oberfläche des Holztisches und auf den Papierbogen, den das Wappen zierte. Ihr Erkennungszeichen.
Sie legte ihn akkurat auf die anderen Bögen, spannte den Block in den Rahmen und nähte ihn mit einem Faden zusammen. Das Buch war fast fertig, jetzt musste sie es noch mit dem kostbaren Ledereinband umhüllen, dem Goldverzierungen, stilisierte Früchte und Blumengirlanden ein kunstvolles Gepräge gaben. Der beißende Geruch des noch glühenden Prägestempels erfüllte den Raum.
»Fertig, mein Vögelchen?«
Sie nickte. »Ja, Meister.«
Die Augen auf ihr Werk geheftet, spürte sie seinen Blick auf sich ruhen und hörte ihn sagen: »Ihr seid mein ganzer Stolz.«
Ein erhebendes Gefühl breitete sich in ihr aus.
»Bin ich jetzt eine Buchbinderin?«
»Die beste.«
Ein plötzliches Geräusch aus dem oberen Stockwerk zerstörte die Magie des Augenblicks. Ihre gemeinsamen Stunden waren zu Ende, der Alltag forderte sein Recht.
»Ihr müsst jetzt gehen. Und beeilt Euch, ich möchte nicht, dass sie Euch bei mir finden.«
Sie gehorchte, welche Wahl hätte sie schon gehabt? Diese Welt hier war ihr verboten.
Schließlich war sie nur eine Frau.
Eines Tages würde sich das ändern, da war sie sicher.
Mit bloßen Füßen ging sie vorsichtig die Steinstufen der Treppe hinauf. Als sie auf ihre verschrammten Hände sah, stahl sich ein leises Lächeln auf ihre Lippen. Bis morgen früh musste sie sich eine gute Erklärung dafür ausdenken.
Doch eines Tages würde sie frei sein, frei wie der Wind.
1
»Denn ein Herz das sucht, fühlt wohl, dass ihm etwas mangle, ein Herz das verloren hat, fühlt, dass es entbehre.«
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften
Das Buch war ein Meisterwerk der Buchbindekunst, der Einband aus rotem Leder mit kunstvollen Ornamenten aus Blattgold. Eine Erstausgabe von Goethes Wahlverwandtschaften mit Unterschrift und Widmung des großen Dichters. Geschützt in einer Glasvitrine stehend, strahlte der Band etwas Geheimnisvolles aus, das die Besucher in seinen Bann zog.
Die Gäste der Wohltätigkeitsgala der Galileo-Gesellschaft wirkten beeindruckt. Einige wussten um den literarischen Wert des Werkes, andere musterten neugierig sein aufwendig gestaltetes Äußeres. Wie konnte ein vor mehr als zweihundert Jahren verfasster Roman ein so großes Interesse auslösen?
Sofia Bauer wartete geduldig, und als sie endlich vor der Vitrine stand, klopfte ihr Herz bis zum Hals, tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Aufmerksam betrachtete sie Einband und Titelseite.
Dieses Buch hatte eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Der Dichter selbst hatte es einer geheimnisvollen Unbekannten geschenkt, darauf deutete jedenfalls die Widmung hin, doch war es dieser Dame irgendwann gestohlen worden. So weit die Gerüchte. Danach galt es lange als verschollen, und erst kürzlich hatte man es in einem kleinen Antiquariat in Bukarest wiedergefunden.
Als Sofia erfahren hatte, dass es in ihrer Heimatstadt Rom ausgestellt werde, hatte sie alles darangesetzt, eine Einladung zu dieser Gala zu bekommen. Was nicht allzu schwer gewesen war, da sie einige Jahre in der Bibliotheca Hertziana gearbeitet hatte.
»Einfach wunderschön.«
Das war es in der Tat. Sofia lächelte dem jungen Mann neben sich zu, der mit diesen Worten seiner Bewunderung Ausdruck verliehen hatte. Der Band war erstaunlich gut erhalten, am liebsten hätte sie ihn in die Hand genommen, durch die Seiten geblättert, den Geruch eingesogen. Sie hatte den Eindruck, als wünschte sich das Buch, angefasst zu werden, statt hinter Panzerglas jeder Berührung entzogen zu werden.
Um sie herum standen zahlreiche Gäste, die auf den Beginn des Vortrags warteten. Sie grüßte nach rechts und links, suchte indes weder ein Gespräch, noch wurde sie angesprochen. Seit ihrer Hochzeit gehörte sie nicht mehr dazu, sie war aus dieser Welt ausgeschieden. Zurückgezogen in einer Ecke stehend, lauschte sie den Ausführungen des Sekretärs der Galileo-Gesellschaft, der über die ungewöhnlichen Umstände sprach, unter denen man dieses Exemplar von Goethes Meisterwerk wiederentdeckt hatte.
Kaum hatte er das Rednerpult verlassen, verließ Sofia unauffällig den Raum.
Kurze Zeit später stand sie auf der Terrasse, eine kühle Brise fuhr ihr durchs Haar und bewegte den Saum ihres Kleides. Sie ging langsam die Stufen zum Park hinunter und schaute sich interessiert um. Früher hatte sie häufig an solchen Veranstaltungen teilgenommen, das letzte Mal allerdings lag bereits geraume Zeit zurück. Sie ging ohnehin höchst selten aus, erst recht nicht allein. Und auch jetzt fühlte sie sich unsicher, als wäre sie aus Glas und könnte beim kleinsten Stoß zerbrechen.
Während sie durch den Park schlenderte, kamen ihr die Wahlverwandtschaften wieder in den Sinn. Die Liebe riss alles mit. Rationales Denken und Vernunft waren keine Hindernisse auf ihrem Weg. Mit einer gewissen Bitterkeit fragte sie sich, ob es jemals eine Liebe geben würde, die sich allein aus sich selbst nährte.
Die Nacht war lau, der Herbst ließ sich Zeit. Die Blumen blühten noch in voller Pracht, der Sommer schien nicht weichen zu wollen. Eine Übergangszeit, eine Klammer zwischen dem Davor und dem Danach, die sich nicht einigen konnten, wie es weiterging.
Der Ort, an dem die Galileo-Gesellschaft die Gala organisiert hatte, war eine der ältesten Villen Roms. Ein faszinierendes Ambiente, das sorgfältig restauriert worden war. Wenngleich es inzwischen dunkel war, konnte Sofia die Überreste eines Turms erkennen. Ein Säulengang führte zu den Blumenbeeten, die Individualität und Formbewusstsein verrieten. Der Gartenarchitekt liebte offenbar klare Linien und hatte sie bei der Gestaltung des Parks konsequent umgesetzt. Und noch etwas strahlten die Beete aus: Frieden. Hier wollte man verweilen und ausruhen. Einfach nur das tun, wonach einem war, hier konnte man mit sich ins Reine kommen, ganz man selbst sein.
Am Haupteingang stand ein Wachmann. »Würden Sie mir bitte ein Taxi rufen?«
»Aber natürlich, Signora.«
Sofia wartete und schaute gedankenverloren in den Nachthimmel.
»Es dauert etwa zwanzig Minuten, wenn Sie möchten, können Sie gerne im Park warten, ich gebe Ihnen rechtzeitig Bescheid.«
»Danke.«
Sie ging die Allee entlang, an der von Lampen erleuchtete Bänke zum Verweilen einluden. Einige waren besetzt, kein Wunder an einem solch lauen Abend. Sofia schlenderte weiter auf der Suche nach einem ruhigen Platz, an dem sie ungestört sein konnte. Bleierne Müdigkeit überkam sie, selbst das Denken fiel ihr schwer.
Schließlich entdeckte sie eine freie Bank, ließ sich seufzend darauf nieder, legte den Kopf gegen das schmiedeeiserne Gitter und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie über sich die Silhouetten der Baumwipfel und die Sterne am Nachthimmel.
»Nichts zeigt einem so sehr, wie klein und unscheinbar man ist, wie die unendliche Weite des Himmels«, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sofia fuhr herum.
»Ich bin hier, rechts von Ihnen.«
Sie erblickte einen hochgewachsenen, elegant gekleideten Mann, der an einer Säule lehnte. Er musste schon länger dort stehen, ohne dass er ihr aufgefallen war. Sein Blick ruhte wohlgefällig auf ihr. Sie entspannte sich und schaute erneut zum Himmel.
»Das hängt davon ab.«
Er kam näher. »Von was?«
»Vom Betrachter.«
»Interessanter Gedanke.« Der Unbekannte hielt inne. »Darf ich Sie fragen, was Sie dort sehen?«
Zu ihrer Überraschung antwortete sie ganz spontan und ohne Zögern: »Frieden.« War es das, wonach sie sich sehnte, überlegte sie, bevor sie weitersprach. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich hier einfach aufgetaucht bin, ich war so in Gedanken vertieft, dass ich Sie gar nicht gesehen habe.«
Er wirkte überrascht. »Nicht doch. Wenn ich Sie nicht angesprochen hätte, wüssten wir beide nicht, was wir hier gesucht und gefunden haben. Ich die Einsamkeit, Sie den Frieden. Dann hätten wir uns nicht kennengelernt, was ich sehr bedauert hätte.«
Sofia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Jedenfalls hatten seine Worte ihr gefallen.
»Sie sind sehr freundlich.«
Eine Weile schwieg er. »Wirklich? Woher wissen Sie das? Wir haben lediglich fünf, sechs Sätze gewechselt, das dürfte kaum für ein Urteil ausreichen.«
Seine Antwort verwirrte sie. Sie erhob sich, schaute hinüber zu der hell erleuchteten hochherrschaftlichen Villa und zu den Gästen, die auf die Terrasse hinaustraten, um frische Luft zu schnappen. Etwas weiter entfernt entdeckte sie einen kleinen Teich, der ebenfalls angestrahlt wurde und dessen Wasseroberfläche sich in der leichten Brise kräuselte.
Es gab Momente, die etwas ganz Besonderes waren, weil sie nicht länger dauerten als einen Wimpernschlag.
Ihre Blicke wanderten zu dem Unbekannten zurück. Sie betrachtete ihn genauer. Sein Äußeres passte zu seiner Stimme. Hohe Wangenknochen, volle Lippen. Ein Dreitagebart, der das markante Gesicht eher interessant als schön wirken ließ.
Warum hatte er so reagiert? Warum wollte er nicht als freundlich wahrgenommen werden? Oder missfiel es ihm einfach, wenn man über ihn urteilte? Sie konnte bloß mutmaßen. Immerhin hatte dieser Mann ihr ein Lächeln entlockt, und das war ihr in letzter Zeit selten passiert. Also verdiente er zumindest eine Antwort.
»Nicht allein das, was gesagt wird, ist wichtig. Häufig bedeutet das Wie viel mehr. Man muss nur genau hinhören. Ich danke Ihnen nochmals und wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab und entfernte sich in Richtung Haupteingang. Ihr Taxi wartete bereits.
»Zur Piazza di Spagna, bitte.«
Sofia wollte nicht gleich nach Hause, denn um diese Zeit war Rom einfach unwiderstehlich. Sie würde noch ein wenig spazieren gehen, zumal es von der Piazza nicht weit war bis zu ihrer Wohnung.
Auf der Fahrt kamen ihr das Buch und die Gefühle, die es in ihr ausgelöst hatte wieder in den Sinn. Und damit auch eine elementare Frage: Warum hatte sie das Leben, das sie so geliebt hatte, aufgegeben?
Bücher waren seit jeher ihre Leidenschaft gewesen, aus ihnen schöpfte sie Kraft und fand Antworten auf ihre Fragen. Bibliothekarin zu sein war mehr als ein Beruf für sie gewesen, sich um Bücher zu kümmern war eine Berufung. Und das hätte sie nicht opfern sollen.
Als sie die Wohnung betrat, war es still. Keine Spur von Alberto. Ihr Ehemann war nicht zu Hause. Sie duschte und ging auf die Terrasse hinaus. Die kühler gewordene Nachtluft ließ sie erzittern, dennoch wollte sie noch etwas draußen bleiben. Sie setzte sich, zog die Knie an die Brust und ließ ihren Gedanken freien Lauf. So konnte es nicht weitergehen, sie musste eine Entscheidung treffen. Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch. Als hinter ihr das Licht anging, drehte sie sich nicht um, sondern blieb reglos sitzen.
Er war wieder da, sie spürte seine Anwesenheit.
»Hattest du einen schönen Abend?«
Sie nickte. »Ja, danke. Und du?«
Wie banal das war, wie sinnlos. Das war ihr Mann, der Mann, mit dem sie Freud und Leid geteilt, gemeinsame Ziele verfolgt und viel gelacht hatte. Und jetzt waren sie wie zwei Fremde.
»Oh, es war nett. Marcello und die anderen lassen dich grüßen.«
Es kam ihr vor, als wollte er noch etwas hinzufügen. Doch nach einer Weile erklärte er lediglich, dass er zu Bett gehen werde. Sofia antwortete nicht, schaute weiter ins Dunkel der Nacht.
Als sie am nächsten Morgen vom Joggen zurückkam, sah sie den Trolley ihres Mannes im Flur stehen.
»Fährst du weg?«
In ihrer Stimme lagen Hoffnung und Erleichterung. Sie brauchte Zeit für sich, musste nachdenken. Seine Präsenz war zu einer Belastung geworden, zu einem Problem. Es war, als ob sie Feinde wären, die sich gegenseitig beobachteten, nicht um sich wiederzufinden, sondern um neue Angriffspunkte zu entdecken, um den anderen zu verletzen. Letztendlich blieb nichts als die Trennung. Aber um es laut auszusprechen, fehlte ihr der Mut. Wie sie sich für ihre Feigheit hasste. Sie würde es tun, bald sogar, das nahm sie sich vor. Seine Abwesenheit würde ihr Zeit für eine endgültige Entscheidung verschaffen.
»Ich habe dir vergangene Woche davon erzählt. Diese Sache in Neapel. Vor Abschluss des Kaufvertrags muss noch einiges geklärt werden.«
Nein, er hatte diese Reise nicht erwähnt. »Ich kann mich nicht erinnern, vielleicht hast du es vergessen?«
Er versteifte sich, sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Wer von uns beiden stopft denn ständig Pillen in sich hinein? Ich bin es mit Sicherheit nicht.«
Sie antwortete nicht. Wo war der Mann geblieben, der sie morgens mit einem Lied geweckt, der immer und überall das Schöne gesehen hatte? Sie war ja so dumm gewesen. Jetzt machte Alberto sie für alles verantwortlich, kritisierte sie ständig, war nie zufrieden und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu kränken und zu verletzen. Und ihr Selbstbewusstsein zu untergraben. Viel entscheidender indes als seine Beweggründe war eine andere Frage: Warum hatte sie das alles zugelassen?
»Ich gehe duschen«, sagte sie und verzog sich, ohne die Antwort ihres Mannes abzuwarten, ins Bad, um sich ausgiebig unter den heißen Wasserstrahl zu stellen.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, war er verschwunden.
Auf dem Tisch lag ein Zettel. Ich rufe dich an, wenn ich am Flughafen bin. Sie zerknüllte ihn und warf ihn in den Mülleimer. Wut stieg in ihr auf, gleichermaßen auf sich selbst wie auf Alberto, und ein inzwischen vertrautes quälendes Gefühl, das sie nicht genau zu benennen wusste. Irgendetwas lag ihr auf der Seele und blockierte sie. Sofia machte sich einen Kaffee und nahm ihn mit auf die Terrasse.
Sie liebte dieses kleine begrünte Areal. Hier war es hell, hier konnte sie den Himmel sehen und inmitten ihrer Blumen frei atmen. Gemächlich begann sie die Kübelpflanzen zu gießen, erst die großen, dann die kleinen.
»Ciao, Sofia, guten Morgen.«
Als sie den Kopf hob, winkte ihre Nachbarin ihr zu.
»Oh, entschuldige, ich habe dich gar nicht gesehen«, rief sie zurück.
Joyce, nicht wesentlich älter als sie, war eine freundliche Person mit einer ausgeprägten Vorliebe für Süßigkeiten. Von ihrem japanischen Vater hatte sie den Stolz und die fernöstliche Lebenseinstellung geerbt, von ihrer italienischen Mutter die Leidenschaft fürs Kochen und einen starken römischen Akzent. Die Terrassen der beiden Wohnungen waren lediglich durch eine niedrige Mauer voneinander getrennt.
»Möchtest du ein Stück Kuchen?«
Spontan wollte sie ablehnen, vermochte jedoch dem flehenden Blick der Nachbarin nicht zu widerstehen.
»Wenn ich nicht mehr in meine Klamotten passe, dann ist das deine Schuld«, scherzte sie, drehte den Wasserhahn zu und wischte sich die Hände ab.
Joyce lachte. »Für deine Figur würde ich töten!«
Alberto war in diesem Punkt anderer Meinung. Ein paar Kilo weniger würden ihr nicht schaden, lautete einer seiner stereotypen Sätze.
Obwohl Sofia wusste, dass ihre Figur total in Ordnung war, taten ihr diese Spitzen weh. Wobei sie sich mehr noch darüber ärgerte, dass sie um des lieben Friedens willen immer wieder darauf einging und sich eine Diät verordnete. Zumindest bis vor Kurzem war das so. Bis sie endlich gemerkt hatte, dass sie ihm ohnehin nie gut genug sein würde, dass sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, damit er zufrieden war. Das war die Initialzündung gewesen, sich von ihrer emotionalen Abhängigkeit zu befreien. Trotzdem gab es noch so vieles, von dem sie sich lösen musste: von eingeschliffenen Gewohnheiten, von der Angst vor dem Unbekannten und der Furcht davor, einen Fehler eingestehen zu müssen.
Sie ging das Mäuerchen entlang, das von einer Glyzinie inzwischen fast völlig überwuchert war, und setzte sich auf eine einigermaßen freie Stelle.
»Noch einen Kaffee? Du siehst aus, als könntest du Stärkung vertragen.«
Sofia schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich könnte etwas Mut und Selbstvertrauen gebrauchen. Hast du da was im Angebot?«
Joyce dachte einen Moment nach. »Du denkst zu viel, das ist dein Problem. Wenn etwas nicht mehr funktioniert, dann hat es keinen Sinn, krampfhaft daran festzuhalten.«
»Es ist nicht leicht zuzugeben, einen Fehler gemacht zu haben. Ich bin zweiunddreißig, ich sollte endlich erwachsen werden, oder?«
»Was heißt erwachsen? Perfektion gibt es nicht. Jeder macht Fehler, egal wo und wann. Man fällt und steht wieder auf. Und darüber hinaus gibt es noch etwas, das ihr Europäer nicht bedenkt«, fuhr sie fort und lud Sofia dabei ein Stück Kuchen auf den Teller. »Manche Dinge geschehen, weil sie geschehen müssen. Daraus ergeben sich neue Perspektiven. Du kannst kein Dach auf ein Haus setzen, bevor du nicht die tragenden Mauern gebaut hast. Immer eins nach dem anderen, und zwar in der richtigen Reihenfolge.«
Eine merkwürdige Art, das Leben zu betrachten. Das Schicksal akzeptieren und sich dennoch zum Weitermachen zwingen. Konnte man in dieser Welt so leben?
»Ich bin müde.«
Die Nachbarin strich ihr mitfühlend über die Hand. »Du musst dich mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigen, mit Dingen, die dir Spaß machen. Was erwartest du vom Leben, Sofia? Das ist die Frage, die du dir stellen solltest.«
Sie hatte recht. Das war die entscheidende Frage. Nachdenklich blieb Sofia noch eine Weile auf der Mauer sitzen, verabschiedete sich dann von ihrer Freundin und ging wieder hinein.
Als sie sich umzog, klingelte das Telefon.
»Ciao, Liebling, wie geht es dir?«
»Großvater? Wie schön von dir zu hören!« Das meinte sie ehrlich, denn sie liebte Maximilian Bauer sehr. »Wollen wir uns irgendwo zum Essen treffen?«, schlug sie vor. »Ich lade euch ein.«
»Sehr witzig. Wir sind in München. Oder schaffst du das bis zwölf?«
Sofia lachte und war zugleich perplex. Ihre Großeltern waren beide über achtzig und reisten inzwischen eher selten. Obwohl Max aus München stammte, war er seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
»Warum das auf einmal? Und warum hat niemand mir davon erzählt? Weder ihr noch Mama und Papa.«
Na ja, von Letzteren wäre es sowieso nicht zu erwarten gewesen. Sofia hatte kein sonderlich enges Verhältnis zu ihren Eltern. Für sie hatte die Arbeit an der Universität, einschließlich ihrer zahllosen Forschungsprojekte im In- und Ausland, immer an erster Stelle gestanden. Die Tochter wurde deshalb häufig bei den Großeltern abgeliefert, die zum Glück immer für sie da gewesen waren. Besonders nachdem der Großvater, Professor für deutsche Literatur, emeritiert worden war.
»Warum sollten wir es lang herumerzählen«, hörte sie Max jetzt antworten. »Damit ihr uns allerlei unnütze Ratschläge mit auf den Weg gebt? Außerdem halten sich deine Eltern, wenn ich richtig informiert bin, nach wie vor in Frankreich auf, was soll’s also. Und so Gott will, sind wir zurück, ehe sie es überhaupt bemerken. Gott sei Dank gehören sie nicht zu den Menschen, die sich ständig Sorgen um die alten Eltern machen.« Er seufzte. »Ich bin froh, dass sie uns das ersparen. Kinder können nämlich ganz schön anstrengend sein, auf der anderen Seite kommt dir dein Leben ohne sie sinnlos vor. Du wirst es eines Tages selbst erleben. Wie auch immer. Großmutter und ich überlegen, ob wir unserem Sohn und unserer Schwiegertochter nicht im Anschluss an München einen Überraschungsbesuch abstatten. Wir waren lange nicht mehr in Frankreich.«
Sofia stellte sich das Gesicht ihrer Eltern vor, wenn Max und Therese vor ihrer Tür auftauchen würden, und hätte fast losgelacht.
»Ich verrate nichts, versprochen. Wann kommt ihr schätzungsweise zurück?«
»Das hängt ganz von unseren weiteren Plänen ab. Kannst du dich bitte, falls wir noch länger wegbleiben, um meine kleinen Lieblinge kümmern? Die Wohnungsschlüssel hast du ja, oder?«
»Natürlich.«
»Ähm … Therese will wissen, ob du etwas brauchst, ob du regelmäßig isst und ob es dir gut geht.«
Sie lächelte. Typisch Großmutter, alle Fragen auf einmal zu stellen.
»Sag ihr, sie muss sich keine Sorgen machen.«
»Danke, und grüß Alberto von uns.«
»O ja, gerne. Das werde ich.«
Stille.
»Zwischen euch ist hoffentlich alles in Ordnung?«
Sie hatte einen Moment lang nicht bedacht, wie gut das Gespür ihres Großvaters für Stimmungen war.
»Ja, ist es«, antwortete sie rasch und bemühte sich, ihre Unsicherheit zu verbergen.
»Liebling, im Lügen warst du noch nie gut«, tadelte Max sie prompt.
Sofia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und eine Welle der Rührung übermannte sie.
»Lass gut sein, ich werde eine Lösung finden.«
»Erinnerst du dich daran, was ich dir am Morgen deines Hochzeitstags gesagt habe?«
»Dass ich mich noch anders entscheiden könne und du mich persönlich in einen Flieger nach Bali setzen würdest.«
Max schien damals als Einziger ein ungutes Gefühl gehabt und ihre heimliche Angst hinter der glücklichen Fassade gespürt zu haben.
Er lachte leise. »Nein, nein, das andere. Das über die Liebe. Weißt du noch?«
Ja, natürlich. Die Worte, die so lange tief in ihrem Inneren verschüttet gewesen waren, tauchten aus ihrem Gedächtnis auf und erfüllten sie mit intensiven Gefühlen. Sie presste sich die Hand auf den Mund.
Er räusperte sich und fuhr fort: »Wo kamen wir her?«
Es war eines der ersten Gedichte, das Sofia auswendig hersagen konnte, Max hatte es ihr beigebracht. Obwohl bereits vor mehr als zweihundert Jahren von Dichterfürst Goethe geschrieben, hatte sich nichts an seiner inneren Wahrheit geändert. Denn Gefühle waren ewig.
Max wartete einen Moment, dann begann er zu zitieren.
Wo kamen wir her?
Aus Liebe.
Wie wären wir verloren?
Ohne Liebe.
Was hilft uns, uns selbst zu überwinden?
Liebe.
Kann Liebe auch gefunden werden?
Mit Liebe.
Was verkürzt das Weinen?
Liebe.
Was muss sich immer vereinen?
Liebe.
Er hielt inne. »Ohne Liebe sind wir nichts. Vergiss das nicht, und alles wird gut.«
Sie zwang sich, etwas zu sagen. »Ich liebe dich über alles, Großvater.«
»Ich dich auch, mein Kind, ich dich auch.«
2
»Sie glaubte, dass die Liebe einen unvermutet packen werde. Auf einen herabkomme wie Blitz und Donner oder wie ein Sturm, der plötzlich an einem heiterem Himmel aufzieht und die Menschen zu Spielbällen der Natur macht, sie ihres freien Willens beraubt und ihr Herz in einen Abgrund fegt wie das Laub von den Bäumen.«
Gustave Flaubert, Madame Bovary
Die Löwen mit ihren weit aufgerissenen Mäulern starrten sie drohend an. Sofia nahm sich Zeit, sie näher zu betrachten. Kindheitserinnerungen wurden wach. Diese Wasserspeier, die der Architekt Gino Coppedè an den Außenmauern der Palazzi in dem nach ihm benannten Stadtviertel hatte anbringen lassen, übten seit jeher eine große Faszination auf sie aus.
Die Hände in den Taschen vergraben, dachte sie darüber nach, wie erfüllend es für den Baumeister gewesen sein musste, diese fantasievollen, atemberaubenden steinernen Elemente zu erschaffen, denen zugleich eine magische Wirkung innewohnte, die kaum in Worte zu fassen war.
Als der Himmel sich verdunkelte, beschleunigte sie ihren Schritt. Während sie die Straße in Richtung des Palazzo überquerte, in dem die Wohnung ihrer Großeltern lag, dachte sie an das Telefongespräch mit ihrem Mann zurück. Alberto hatte angekündigt, er werde sich nach seiner Rückkehr einige Tage Urlaub nehmen, damit sie gemeinsam verreisen könnten, und sie solle sich aussuchen, wohin.
»Ich brauche keinen Urlaub, wir müssen reden«, war ihre Antwort gewesen.
Daraufhin hatte er zunächst das Thema gewechselt und von seiner erfolgreichen Dienstreise erzählt, um dann beschwichtigend hinzuzufügen: »Es gibt nichts, was sich nicht wieder einrenken lässt.«
Von wegen.
»So einfach ist das nicht, Alberto. Es ist offensichtlich, dass wir nicht mehr glücklich sind.«
»Dann müssen wir uns eben mehr Mühe geben.«
Mühe? Natürlich musste man selbst etwas dazutun, dass eine Ehe funktionierte, doch das reichte nicht, wenn die Liebe erloschen war. Sie fühlte sich seit Langem einsam. Von der anfänglichen Zuneigung, Harmonie und Herzlichkeit war nichts als Gewohnheiten und Routine geblieben. Sie waren wie zwei parallele Linien, die nebeneinander herliefen, ohne sich je zu berühren.
»Hör auf damit, ich habe es satt, mir deine Sprüche anzuhören.«
Und dann hatte sie aufgelegt, ohne ihm Zeit für eine Reaktion zu lassen.
Am Hauseingang kam ihr der Pförtner entgegen. »Sie waren lange nicht mehr hier, Signorina.«
»Wie geht es Ihnen, Felipe?«
»Sehr gut, danke. Sie werden immer schöner und erinnern mich sehr an Ihre Großmutter.«
Sofia lächelte leicht verlegen, irritiert von seinem bewundernden Blick. Während sie die Marmorstufen zum Parterre hinaufstieg, strich sie fast zärtlich über den geschwungenen Handlauf der Treppe. Dieses Haus fehlte ihr so sehr. Hier kannte sie jeden Winkel, wusste genau, wie die Sonnenstrahlen morgens über den Wohnzimmerboden wanderten und wo sie sich hinlegen musste, damit sie die Deckenmalereien in allen Details bewundern konnte. Sie dachte an die Schachpartien mit ihrer Großmutter, an den süßlich-würzigen Duft, der durch die Räume zog, wenn Max seine berühmte Kürbissuppe kochte. An die langen Gespräche in der Bibliothek vor dem prasselnden Kaminfeuer, wo sie gelernt hatte, sich gewählt auszudrücken. Anfangs war es ihr schwergefallen, aber nach und nach fand sie immer mehr Gefallen daran.
Sie musste schlucken. War sie wirklich so sehr in ihrem neuen Leben gefangen gewesen, dass sie keine Zeit mehr für Max und Therese gehabt hatte?
Es dauerte ein wenig, den Schlüssel in ihrer Tasche zu finden, dann sperrte sie die Tür auf. Innerlich aufgewühlt, ging sie durch den Flur, strich mit den Fingerspitzen über die Porzellanvasen, die nur Therese abstauben durfte, betrachtete die abstrakten Bilder, die sie immer noch nicht verstand, betrachtete ihr Abbild in den zahlreichen Spiegeln. Großmutters Spiegelkabinett, pflegte sie es zu nennen, denn Therese Bauer besaß eine ausgeprägte Leidenschaft für Spiegel, der größte reichte vom Boden bis zur Decke.
Dessen mit stilisierten Pelargonien aus massivem Silber umrahmte Oberfläche war allerdings so blind geworden, dass sie ihr Gesicht lediglich verschwommen sah. Ein bleiches Oval mit sanften Zügen, die Augen mehr grün als blau, die langen blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Felipe hatte recht, sie war ihrer Großmutter viel ähnlicher als etwa ihrer Mutter. Und das nicht allein äußerlich. Therese war vom Wesen her weicher, während Adèle sich niemals und durch niemanden von ihren Zielen abbringen lassen würde. Ihre Eltern verstanden sich gut, sie waren beide Naturwissenschaftler und hatten die gleiche Vorstellung vom Leben. Der Rest waren Kompromisse, die man eingehen musste. Als sie Alberto kennenlernte, hatte sie gedacht, dass sie mit ihm ein ähnliches Leben führen könnte.
Sie ging auf die Terrasse, ihrem zweiten Lieblingsplatz im Haus neben der Bibliothek.
Es war dunkel geworden, die Straßenlaternen warfen goldgelbes Licht auf die Fassaden der umliegenden Palazzi. Nicht einmal der steinerne Löwe gegenüber sah bedrohlich aus. Sie ließ den Blick schweifen. Bei Gino Coppedè war jedes Bauwerk anders, ein Stilmix verschiedener Epochen. Ein visionäres Gesamtkunstwerk zwischen Genie und Wahnsinn. In diesem Viertel hatte sie die schönsten Tage ihres Lebens verbracht, hier war sie zu Hause, hier war sie glücklich. Sie liebte das Licht, die Weite, sogar die Finsternis. Einen Moment lang fühlte sie sich in die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit zurückversetzt. Inzwischen war der Himmel düster wie der Grund des Tiber.
Als Nächstes ging sie in das gläserne Gewächshaus, das Max am einen Ende der riesigen Terrasse, die die ganze Hausfront entlanglief, hatte bauen lassen. Feuchte Wärme und ein betäubender Blütenduft hüllten sie ein. Sie sprach mit jeder Pflanze, strich ihr über die Blätter, riss hier und da ein kleines Unkraut aus. Ein grünes Paradies mitten in der Stadt. Die einzelnen Blütenblätter wiesen so viele Farbschattierungen auf, dass sie jedes Mal aufs Neue beeindruckt war. Sie kontrollierte den Heizungsthermostat, den Wasserstand des Luftbefeuchters und begab sich wieder ins Haus.
Sie betrat die Bibliothek, wo sie der Geruch nach altem Papier und Leder empfing. Sie liebte diesen besonderen Duft und hatte hier vor vielen Jahren über ihre Berufswahl entschieden. Sie nahm eine ledergebundene Ausgabe von Flauberts Madame Bovary zur Hand und schlug die erste Seite auf, strich mit den Fingerspitzen über das abgegriffene, leicht vergilbte Papier. Manche Seiten waren beschädigt, die Leser hatten ihre Spuren hinterlassen. Winzige Risse, Knitterfalten, dazu Zettel und eine getrocknete Blume.
Lesezeichen oder geheime Botschaften?
Die Zeit schien still zu stehen. Ihr Zeigefinger fuhr über die Gravuren auf dem Einband, in ihrem Kopf bildeten sich Fragen. Etwas in ihr wurde in Gang gesetzt durch dieses Buch, etwas, das allein mit ihr zu tun hatte. Wer hatte das Buch gebunden, wer über das Papier, den Umschlag und die Illustrationen entschieden? Warum hatte der- oder diejenige genau diese Farben ausgewählt? Diese Prägung, diese Verzierungen?
Vor ihrem inneren Auge formten sich Bilder und nahmen sie mit.
Plötzlich schüttelte sie sich, als ob etwas von ihr Besitz ergriffen hätte. Eine Art Automatismus, ein Mechanismus, der im Laufe der Zeit entstanden war, genauer in den Jahren, als Bücher ihre Leidenschaft waren, eine Passion, die sie zum Beruf gemacht hatte. Um ihn dann wieder aufzugeben. Für Alberto. Diese Hingabe, die jetzt mit unglaublicher Intensität aufs Neue in ihr aufwallte, erschien ihr wie ein Wunder.
Wie lange hatte sie darauf verzichten müssen, auf dieses Gefühl, wirklich für etwas zu brennen?
Die neue Rolle an der Seite ihres Mannes hatte sie immer weiter davon entfernt. Nicht sofort natürlich. Wenn Alberto sie offen gezwungen hätte, ihren Beruf aufzugeben, würde sie mit Sicherheit abgelehnt haben. Nein, schleichend, Stück für Stück, Tag für Tag, war die innere Distanz größer geworden. Da waren die Essen im Kreise der Familie, Geburtstage, Repräsentationspflichten. Und so hatte sie zunehmend seltener an Fachtagungen und Bibliothekskongressen teilnehmen können, ständig war etwas dazwischengekommen. Außerdem hatte ihr Mann sie mehr und mehr mit Beschlag belegt, als wäre sie sein Eigentum, wurde immer anspruchsvoller, immer fordernder. Und immer mehr störte ihn, dass sie einen Beruf hatte, auf den er Rücksicht nehmen musste.
»Ich verdiene genug für uns beide, es ist schließlich viel wichtiger, mehr Zeit miteinander zu verbringen.«
Sie hatte Widerstand geleistet, wenigstens anfangs. Aber dann, als sie Albertos beleidigtes Schweigen leid war, als sie seine ätzende Kritik an Menschen, die ihr am Herzen lagen, nicht mehr ertrug, hatte sie resigniert und sich angepasst. Sie tat es nach wie vor. Bücher, Kunst, Musik, alles, was ihr am Herzen lag, war sukzessive in den Hintergrund getreten, bis sie am Ende sogar ihren Beruf aufgegeben hatte. Alberto war ihr Lebensmittelpunkt geworden. Sie hatten jung geheiratet und in den fünf Jahren ihrer Ehe viel erlebt. Auf Dauer allerdings füllte sie das nicht aus.
Sie stellte das Buch an seinen Platz zurück und ging in die Küche. Nachdem sie die Arbeitsplatte aus Granit abgewischt hatte, machte sie sich einen Tee und setzte sich damit auf eines der Samtsofas im Wohnzimmer.
Sie brauchte Zeit, um nachzudenken. Allein. Der Unbekannte vom Vorabend fiel ihr wieder ein. Und sie entdeckte überdies, dass die Einsamkeit durchaus ihren Reiz hatte. Gerade jetzt, wie ihr klar wurde. Sie bot die Chance, zu ihren Wurzeln zurückzukehren, zu der freien und unabhängigen Sofia Bauer, die weit mehr war als bloß die Ehefrau von Alberto De Santis.
Bedächtig trank sie ihren Tee, spülte anschließend die Tasse ab und stellte sie in den Schrank zurück, bevor sie sich auf den Heimweg machte.
In der lauen Luft schwebte der Duft der letzten Sommerblumen. Sie sog ihn tief ein, verlangsamte ihren Schritt und lächelte die Vorübergehenden an, etwas, das sie sonst nie tat.
Hinter einer Gruppe Touristen, die den Palazzo del Ragno bestaunten, überquerte sie die Straße. Blieb auf der anderen Seite abrupt stehen, den Blick auf ein diffuses Licht am Ende einer nach rechts abzweigenden Gasse gerichtet. An irgendetwas erinnerte sie das. Sie kannte dieses Haus mit dem Buchladen. Mehr noch, sie war früher gelegentlich dort gewesen.
Seit wann war das Antiquariat wieder geöffnet?
Wie ferngesteuert ging sie in diese Richtung, voller Ungeduld, fast zwanghaft. Zunächst war sie verblüfft, dann begriff sie. Es war die Erinnerung an eine glückliche Zeit, die sie antrieb.
Sie hielt vor der Tür des Ladens inne. Das alte Schild hing noch: Bücher, Atlanten, Landkarten, Antiquariat Vinci und Sohn. Neben dem Eingang rechts und links zwei Schaufenster. Vor dem kleineren stand ein Tisch mit Blumen und Wildkräutern. Früher gab es sogar an den Außenwänden Bücherregale, heute nicht mehr. Desgleichen waren die Holzkästen mit gebrauchten Büchern, die zu Sonderpreisen angeboten wurden, verschwunden.
Als sie die Tür öffnete, läutete ein Glöckchen.
Sie sah sich um, hinter der Theke stand ein alter Mann. Unbeweglich, als hätte er das Klingeln nicht gehört. Er trug einen Anzug und beugte sich über ein Buch, die Ellbogen hatte er auf den Tresen aufgestützt, das Kinn ruhte auf einer Hand. Seine Finger schienen das Papier zu streicheln, als er eine Seite umblätterte.
Er war nicht taub, war lediglich ganz woanders. Was er wohl gerade las? Sofia lächelte, sie kannte dieses Gefühl und wartete geduldig.
Der Alte brauchte eine Weile, um in die Gegenwart zurückzufinden, erschrocken schaute er sie schließlich durch seine dicken Brillengläser an.
»Oh, entschuldigen Sie, Signorina, ich habe Sie gar nicht kommen hören.«
Sofia sah in das von der Zeit gezeichnete Gesicht. Mit seinen Runzeln und Falten ähnelte es einer der Landkarten, die das Firmenschild anpries.
»Keine Ursache.«
Er klappte das Buch zu und legte seine Brille darauf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich würde mich gerne ein wenig umsehen.«
Der alte Buchhändler schien begeistert:»Manchmal rede ich mit ihnen, rufe nach ihnen, frage sie etwas. Sie geben mir bereitwillig Antwort und singen sogar für mich, befreien mich von meinen Sorgen und machen mich wieder lächeln, helfen mir, mich selbst zu finden.« Er lächelte. »Verzeihung, ich habe mich mitreißen lassen. Selbstverständlich dürfen Sie sich umsehen, und wenn Sie etwas kaufen möchten, wäre das natürlich umso besser.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich hatte dieses Zitat von Francesco Petrarca über das Lesen und die antiken Autoren fast vergessen, danke, dass Sie es mir in die Erinnerung zurückgerufen haben. Wunderschöne Worte.«
Sofia war überrascht, dass sich längst vergessen geglaubtes Wissen aus ihrem Studium plötzlich wieder abrufen ließ.
»Ja, und so tröstlich. Finden Sie nicht?«
»Ja, tröstlich, was für ein ermutigendes Wort. Ich bin als Kind oft hier gewesen, ich dachte, der Laden sei inzwischen geschlossen.«
»Da haben Sie nicht unrecht. Er gehörte meinem Vater, Sie sind noch zu jung, um ihn kennengelernt zu haben. Meine Cousins übernahmen das Geschäft nach seinem Tod vorübergehend, dann haben sie aufgegeben. Ich selbst bin erst seit Kurzem wieder in Italien.«
Ah, daher sein Akzent. »Spanien?«
Der Buchhändler lächelte. »Ein wenig weiter weg. Chile.« Er machte eine ausholende Handbewegung. »Ich müsste ein bisschen renovieren.«
Er wirkte resigniert, und Sofia spürte, dass sie etwas Nettes sagen sollte.
»Nein, warum denn? Es ist schön hier.«
Sie betrachtete die von der Decke herabhängenden schmiedeeisernen Leuchter, bevor ihr Blick zu den Regalen an den Wänden wanderte, wo sich dicht an dicht Bücher aneinanderreihten. Alte, neue, dicke, dünne, teilweise mit Ledereinband und verziertem Rücken. Und zusammengerollte Landkarten. An einer Wand waren die Regale sehr alt, sie erkannte es am Holz, das über die Jahre nachgedunkelt war. Vor einem Kamin standen ein Tisch und mehrere Sessel. In der Ecke erspähte sie ein Lesepult, das eindeutig aus einem längst vergangenen Jahrhundert stammte.
Fast zärtlich strich Sofia über die Tasten einer alten Schreibmaschine, neben der ein Stapel Papier lag. An der Wand waren handgeschriebene Zettel mit bunten Reißzwecken befestigt. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass es weder Computer noch Drucker gab, nichts was heute selbstverständlich war, um eine Buchhandlung zu führen.
»Haben Sie kein Warenwirtschaftssystem oder IT-Unterstützung?«, erkundigte sie sich erstaunt.
»Und was sollte ich damit anfangen?«
Die Antwort verwirrte sie: »Um zu wissen, wie viele und welche Bücher Sie im Bestand haben.«
»Ich habe Kataloge.« Er deutete auf eine Reihe von identisch aussehenden Bänden mit dunklen Buchrücken, zog einen aus dem Regal und schlug ihn auf. »Hier stehen die Autoren, die Titel, die Gattung und der Standort. Alles handgeschrieben. Am wichtigsten ist jedoch ein gutes Gedächtnis, hier ist alles drin«, sagte er und tippte sich gegen die Stirn. »Sehen Sie das da oben?«, fuhr er fort und zeigte auf einen verschlossenen gläsernen Wandschrank. »Das sind alles Erstausgaben. Die wissenschaftlichen Werke befinden sich in den Regalen rechts, Reiseliteratur und Abenteuerromane in den Regalen hinter Ihnen. Daneben Kochbücher und Kunst. Die Belletristik ist im Nebenraum, da ist mehr Platz, und dort stehen ebenfalls einige Sessel zum Schmökern.«
»Das sind ja Tausende von Büchern, wie können Sie sich das alles merken?«
»Wissen Sie, nicht immer ist das, was später kommt, ein Fortschritt. Das hat schon Manzoni geschrieben. Ich frage mich, was er heute sagen würde.« Er lächelte verlegen. »Entschuldigen Sie diesen Ausflug in die Vergangenheit. Wir Alten suchen ständig dort Zuflucht, wo wir uns gut auskennen. Bei der Literatur zum Beispiel. Der Wunsch, unsere über die Jahre erworbene Gelehrsamkeit zu beweisen, ist fast zwanghaft.« Erneut lächelte er, dieses Mal ein wenig spöttisch. »Wir müssen alles versuchen, um gegen die Jugend im Rennen zu bleiben.«
Er hielt ein in rotes Leder gebundenes Buch in der Hand, als wäre es der Beweis für das, was er gerade gesagt hatte. Es war dasselbe, in dem er bei ihrem Hereinkommen geblättert hatte. Es musste sehr alt sein, das hatte sie gleich bemerkt.
»Ich würde gerne von mir sagen können, dass ich ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis habe, leider ist dem nicht so«, fuhr der Buchhändler fort, »die Systematik indes ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Sie untergliedert den Bestand und füllt die einzelnen Regale nach einer bestimmten Ordnung. Zunächst nach Sachgebieten und dann nach Autoren. Meine Cousins sind alphabetisch vorgegangen, von links nach rechts.«
»Ein sinnvolles System. Aber reicht das allein?«
Das Lächeln des Mannes wurde breiter, die Falten um die Augen vertieften sich. Er hatte die Brille abgenommen und putzte die Gläser. Seine Bewegungen waren bedächtig, seine Augen hingegen sprühten vor Tatendrang.
»Wissen Sie, an was es in einer Buchhandlung nie mangelt?«
Sofia war klar, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte, deshalb wartete sie, bis er sie selbst beantwortete.
»An Zeit. Und selbst wenn sie irgendwann knapp sein sollte, wird jeder Buchhändler dieser Welt irgendwann Zeit finden zu lesen. Deswegen, Signorina … Wie war gleich Ihr Name?«
»Sofia«, sagte sie schlicht, ohne zu erwähnen, dass sie ihren Namen nie zuvor genannt hatte.
»Ein schöner Name. Ich wollte gerade zum Ausdruck bringen, dass man zeit seines Lebens lesen muss. Bücher haben keine Geheimnisse, egal was sich in ihnen verbirgt.«
Sie nickte, da stimmte sie ihm voll und ganz zu.
»Meine Liebe, suchen Sie eigentlich nach etwas Bestimmtem? Etwas Besonderem?«
Eine Weile zögerte sie. Doch warum nicht? Warum sollte sie nicht einfach diese Frage stellen, wenngleich sie sich nicht vorstellen konnte, dass es für ihre Probleme eine Art Gebrauchsanweisung gab.
»Haben Sie Bücher, die einen anleiten, wie man sich wieder selbst findet?«
Ihr Tonfall klang betont locker, fast scherzhaft. Und sogleich schämte sie sich für ihre Oberflächlichkeit. Welcher Teufel hatte sie bloß geritten? Sie wollte sich gerade entschuldigen, als er hinter sich zeigte.
»Natürlich. Es gibt für alles im Leben das richtige Buch, wissen Sie.«
Sie antwortete nicht, zum einen aus Ratlosigkeit, zum anderen aus Verlegenheit.
»Nicht die Zukunft ist es, die das Gehirn des Menschen beschäftigt. Das Grab der Vergangenheit ist es. Mit seinem Hunger nach mehr lässt es keinen Raum, Pläne für das Morgen zu machen«, zitierte er Toni Morrison.
Wie konnte dieser Mann wissen, was ihn ihr vorging? Verwirrt schaute sie ihn an. Aber er achtete gar nicht auf sie und suchte etwas auf dem obersten Regalbrett.
»Nein, Menschenkind ist nicht das Buch, das ich suche, obwohl Toni Morrison sicher Wichtiges zu sagen hatte. Sie brauchen etwas anderes. Hier. Heimkehr dürfte das Richtige sein. Es ist die Geschichte einer Reise zu sich selbst, einer Reise zurück. Oft ist das Nachverfolgen der eigenen Schritte in der Vergangenheit genau der Mutmacher, um wieder vorwärtszugehen. Denn Stillstand endet in einer Katastrophe.« Er schaute sie eindringlich an. »Verstehen Sie mich nicht falsch, das Buch wird Ihnen nicht sagen, was zu tun ist, die Lösung des Problems liegt in Ihnen selbst. Obwohl Bücher etwas Großartiges und in vielen Fällen Hilfreiches sind, können sie letztlich nur der Funken sein. Um ein Feuer zu entzünden, braucht es ebenfalls Holz. Verstehen Sie?«
Sofia begriff sofort, was er meinte. »Sie kommen direkt auf den Punkt, oder?«
»Ich bin zu alt, um lange um etwas herumzureden. Früher war das anders.«
Wie er wohl als junger Mann gewesen war? Sicher gut aussehend, das war er heute noch. Und stark, wie sein Blick verriet.
»Sie erinnern mich an jemanden.«
»Ich hoffe, an einen der Guten.«
Sofia lächelte. »An den Besten. An meinen Großvater.«
Der Buchhändler nickte. »Sie sagten, Sie seien als Kind oft hier gewesen, haben Sie im Quartiere Coppedè gewohnt?«
Sofia schüttelte den Kopf. »Nein, ich selbst nicht. Meine Großeltern wohnen hier, Maximilian und Therese Bauer. Ich habe immer in anderen Stadtvierteln gelebt – trotzdem beziehen sich meine schönsten Erinnerungen auf diesen Ort.«
Ihren Worten folgte eine lange Stille, die sie weder erwartet hatte noch verstand. Dennoch beschloss sie, ihn nicht darauf anzusprechen, und überlegte schon, ob es nicht besser wäre aufzubrechen.
»Entschuldigen Sie, ich verschwende Ihre Zeit«, sagte sie.
»Ganz und gar nicht.« Er schaute auf das Buch in seinen Händen. »Sie meinten, Sie hätten sich verloren … Dabei kennen Sie die Kraft der Bücher. Und Sie sind freundlich, sensibel und fürsorglich. Wie konnte es so weit kommen?«
Sofia lächelte. »So wie es immer passiert, nehme ich an. Ich habe meine Bedürfnisse ignoriert, die falschen Entscheidungen getroffen, Dinge aufgeschoben …« Sie hielt inne. »Nach dem Studium fand ich eine Stelle in einer Bibliothek. Na ja, dann kam die Heirat, ich war viel unterwegs, genau wie mein Mann, und so hatten wir zu wenig gemeinsame Zeit, dachten wir zumindest.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen, deshalb wechselte sie das Thema. »Das Buch ist sehr alt, oder?«
Der Buchhändler hob den Kopf. »Ja, frühes 19. Jahrhundert. Die Bindung löst sich auf, und ich muss es restaurieren lassen, bevor ich es verkaufe.«
»Darf ich?«, fragte Sofia und streckte die Hand aus.
»Selbstverständlich«, erwiderte er nach kurzem Zögern, als ob er erst darüber nachdenken müsste. »Es ist von Christian Philipp Fohr. Der erste Band seines Werkes Das Lob der Perfektion. Es trägt den Titel Über die Natur, Band zwei heißt Über den Menschen und Band drei Über die Gedanken. Eine Trilogie, wie wir heute sagen. Es ist eine Erstausgabe.«
Er hielt ihr das Buch hin.
Seltsam, dass er gerade Über die Natur las, dachte Sofia. Sie schätzte Christian Fohr sehr, war eher zufällig auf den Autor gestoßen, als sie ihre Abschlussarbeit über die Romantiker geschrieben hatte. Seine Gabe, Gefühle auf Papier zu bannen, hatte sie fasziniert. Die Art, wie er sein Herz, seine Seele in Prosa fasste. Jedes Wort atmete Authentizität. Beim Lesen hatte sie immer den Eindruck gehabt, er sei bei ihr, würde ihr zulächeln und ihre Gedanken mit seiner Idee einer idealen und romantisierten Welt leiten.
»Sie kennen Fohr? Sprechen Sie Deutsch?«, erkundigte sich der Alte gleichermaßen überrascht wie begeistert.
»Ja, mein Großvater stammt aus Deutschland, ist allerdings früh nach Rom gekommen, zum Studium, um genau zu sein, und hat mir als Kind Deutsch beigebracht.« Sie drehte das Buch um und betrachtete die Prägungen auf dem Rücken, ihr Herz klopfte bis zum Hals. »Nicht so berühmt wie Goethe, aber genauso bedeutend, finden Sie nicht? Das realistische Abbild einer Epoche und der brennende Wunsch, wie sie idealerweise sein sollte. Eine Utopie, der Traum eines Menschen, der an den Widersprüchen einer Gesellschaft im Wandel zerbricht.«
Ihre Stimme klang sachlich nüchtern, wenngleich Sofia innerlich zitterte. Sie spürte die Seelenverwandtschaft, die Wesensähnlichkeit zwischen ihr und diesem Mann. Christian Fohr hatte die Gabe, sich seinem Leser vorbehaltlos hinzugeben, seine Seele zu entblößen. Er hatte sich dem Risiko ausgesetzt, von der unbarmherzigen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verurteilt und verspottet zu werden.
Eine Weile war es still, dann fügte Sofia hinzu: »Sie meinten, das Buch müsse vor dem Verkauf restauriert werden … Sagen Sie mir, was Sie dafür haben wollen, und ich nehme es, wie es ist.«
»Es ist in einem schlechten Zustand.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, das bringe ich in Ordnung.« Sie schaute sich den Einband genauer an. Ein Kunstwerk, der Buchbinder musste ein echter Künstler gewesen sein. »Wie viel kostet es? Ich nehme an, es ist eines der teuersten im Katalog, nennen Sie mir trotzdem den Preis«, drängte sie.
»Das ist es nicht«, der Buchhändler seufzte, »sehen Sie nicht, wie erbärmlich es aussieht?«
»Das macht nichts, ich mag es, wie es ist. Es hat gelebt und trägt die Spuren seiner Vergangenheit.«
Was sie ihm jedoch nicht verriet, war die Tatsache, dass dieses Buch sie merkwürdig, ganz unerklärlich berührte. Sie hatte das Gefühl, es sei im richtigen Moment zu ihr gekommen, und das mochte sie keinem Außenstehenden anvertrauen. Um die Bindung würde sie sich selbst kümmern. Es war zwar ziemlich lange her, seit sie das letzte Mal ein Buch restauriert hatte, aber die handwerklichen Fähigkeiten besaß sie. Alte Einbände hatten sie schon als Kind fasziniert, die Prägungen, die Verzierungen, die Stoffe, das Leder, das Holz und das Metall.
Nach langem Hin und Her hatte ihr Großvater sie irgendwann für einen Buchbindekurs angemeldet, auf den viele weitere folgten. Und auch während ihrer Anstellung in der Bibliothek hatte sie mit Leidenschaft beschädigte Bucheinbände restauriert.
Es war ihre Pflicht, Fohrs Buch neu zu binden. So sah sie das, denn eine innere Stimme schien sie dazu zu drängen.
»Ich kann dafür kein Geld nehmen, das wäre unredlich. Ich schenke es Ihnen, unter einer Bedingung.«
»Welcher?«
»Sie kommen wieder und zeigen mir Ihr Werk. Versprochen?«
Wunderbar! Das war mehr, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte. Spontan beugte sie sich nach vorne und umarmte den alten Mann.
»Entschuldigen Sie … danke.«
»Das rührt mich, Signorina. Ich erinnere mich nicht, dass jemand vor Freude geweint hat, als ich ihm ein Buch geschenkt habe.«
Dabei war es nicht die Freude, die Sofia die Tränen in die Augen trieb, oder genauer gesagt, nicht allein. Es war zugleich das Gefühl, den ersten Schritt auf dem Weg zurück zu sich selbst gemacht zu haben.
»Kann ich außerdem das Buch von Toni Morrison haben?«
Nachdem sie es bezahlt hatte, verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, nach getaner Arbeit wiederzukommen.
Er nickte. »Ich erwarte Sie.«
3
»Man neigt dazu, nur das zu lieben, was man nicht besitzt.«
Marcel Proust, Die Gefangene
Die Villa Borghese war ein Kleinod, nicht allein das Gebäude selbst, sondern auch die ausgedehnte Parkanlage. Sofia ging hier jeden Morgen joggen, und jedes Mal glaubte sie, etwas Neues zu entdecken, einen unbekannten Weg, eine andere Stimmung. Das wechselnde Licht auf den Rasenflächen, den Mauern, den Säulen und den Statuen, die mächtigen Bäume, deren Kronen sich auf der Wasseroberfläche des Sees spiegelten, die Menschen, denen sie begegnete und die sie anlächelten oder mit ihr ein paar Worte wechselten.
Aber an diesem Morgen war sie mit den Gedanken ganz woanders. Sie lehnte mit dem Rücken gegen einen Baumstamm, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und schaute in die Ferne, dachte an das Buch und an das, was sie darin entdeckt hatte: handschriftliche Notizen, verschnörkelt, in einer schönen Schrift. Auf Deutsch. Es waren zumeist Kommentare zu einzelnen Passagen, die sich mit dem Thema Freiheit und Gleichheit beschäftigten, das in Fohrs Werk im Zentrum stand.
»Sofia? Bist du es wirklich?«
Gedankenverloren hob sie den Kopf.
»Ilaria, was für eine Überraschung. Wie geht es dir?« Sie richtete sich auf und ließ sich von ihrer besten Freundin aus Unitagen in den Arm nehmen.
»Gut, und dir? Das ist ja eine Ewigkeit her! Vier, fünf Jahre? Tut mir leid, dass ich nicht zu deiner Hochzeit kommen konnte.«
Sofia war überrascht und erfreut zugleich. »Es hieß, du seist im Ausland, ich habe dich angerufen …«
»Ich weiß, damals war alles ziemlich kompliziert, ich war schwanger.« Ilaria lächelte. »Inzwischen habe ich einen Sohn, Alessandro. Schau mal«, sie zog ihr Handy heraus, »das ist er.«
Ein blonder Junge mit verschmitztem Lächeln winkte in die Kamera.
»Wie süß! Ich wusste gar nicht, dass du eine feste Beziehung hattest …«
Ilaria zuckte mit den Schultern: »Was heißt fest, es gibt eben immer Dinge, die uns verbinden, und andere, die uns voneinander entfernen. Damals warst du so auf Alberto fixiert, da haben wir uns aus den Augen verloren …«
Sofia sah ihre Freundin prüfend an, sie war noch immer wie früher, die gleichen freundlichen braunen Augen, die roten Haare und die unzähligen Sommersprossen. Dennoch hatte sie den Eindruck, dass in ihren Worten ein leiser Vorwurf lag.
»Du hast recht. Erzähl mir von dir, lebst du in Rom?«
»Ja, gleich um die Ecke. Ich arbeite in der Personalabteilung einer großen amerikanischen Firma. Und du? Hast du Kinder?«
Sofia schüttelte den Kopf. »Bislang nicht.«
Anfangs hatten sie daran gedacht, doch Alberto fand damals, sie sollten noch warten. Jetzt war sie diejenige, die nicht mehr wollte. Sie gingen zu einem kleinen Kiosk, vor dem ein paar Tische standen.
»Setzen wir uns«, schlug Ilaria vor. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Lieber einen Tee.«
Sie bestellten und musterten sich eine Weile, bevor sie weitersprachen. Früher hatten sie das oft so gemacht, um zu sehen, ob sie sich selbst ohne Worte verstanden.
»Stimmt etwas nicht?«, brach Ilaria das Schweigen.
Sofia legte ihre Hand auf die der Freundin. »Du hast mir gefehlt.«
Das war die Wahrheit, und es war dumm gewesen, auf all das zu verzichten, was ihr am Herzen lag. Sogar auf ihre Jugend. Was hatte sie nicht alles verpasst in diesen Jahren, in denen man Experimente machen, sich Hals über Kopf ins Abenteuer stürzen sollte? Lediglich Erfahrungen zählten, lautete ein Grundprinzip ihrer Eltern. Und jetzt, wo die Realität sie einzuholen begann, erkannte Sofia, dass sie recht hatten.
»Lass uns von schönen Dingen sprechen, erzähl mir von den anderen, von Davide, Luigi, Serena. Habt ihr nach wie vor Kontakt?«
»Na klar.«
Ilaria berichtete von ihren gemeinsamen Freunden und deren Lebenswegen. Luigi hatte ein Buch geschrieben, und Serena war wie immer mit irgendeinem abgefahrenen Projekt beschäftigt. Sofia amüsierte sich über Ilarias Geschichten, fühlte sich seltsam befreit, was ihr seit Langem nicht mehr passiert war. Dann sprachen sie von ihren Träumen. Anfangs versuchte Sofia ihre Ehe dabei auszuklammern, bis ihr bewusst wurde, dass ihre Freundin etwas mehr Offenheit verdiente.
»Gestern hat mir ein Buchhändler eine Erstausgabe von Christian Fohrs Über die Natur geschenkt. Ein Exemplar mit einer besonderen Bindung.«
»Unglaublich! Du warst schon immer unser Glückskind!«
»Wie bitte?«
»Aufsehen erregen, im Mittelpunkt stehen, bewundert werden. Du scheinst Dinge zu registrieren, die andere gar nicht bemerken, als ob du als Einzige den Schlüssel dazu hättest. Du warst immer bei allen beliebt, hast etwas an dir, das andere Menschen anzieht.« Ilaria fixierte sie. »Und diese Magie ist unverändert da. Du hast dich nicht verändert.«
Sofia fühlte sich trotz der Komplimente unbehaglich. Sie schüttelte den Kopf und sah sich um.