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Ein Parfüm ist wie ein Versprechen ...
Elena Rossini hat ein besonderes Talent für Düfte, denn sie stammt aus einer Familie begnadeter Parfümeurinnen. Lange hat sie sich dagegen gesträubt, die Tradition fortzusetzen. Doch als Elenas Leben plötzlich zerbricht, beschließt sie kurzerhand, sich ihrem Schicksal zu stellen: Sie will herausfinden, was sich hinter dem »perfekten Parfüm« verbirgt, das eine ihrer Ahninnen entdeckt haben soll. Die Suche danach führt Elena in die Toskana und die Provence, in die Vergangenheit ihrer Familie, vor allem aber zu sich selbst – und zur Liebe ...
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Seitenzahl: 572
Cristina Caboni
Roman
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Die italienische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Il sentiero dei profumi« bei Garzanti Libri, Milano.
1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juli 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © der Originalausgabe 2014 by Garzanti Libri S.r.l., Milano/Gruppo editoriale Mauri Spagnol Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenRedaktion: Angela TroniES · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15722-7www.blanvalet.de
Sag mir Frau wo du dein Geheimnis birgstFrau schweres Wasser durchsichtiges Volumenumso geheimnisvoller je mehr du dich entkleidestwelches ist die Kraft deiner wehrlosen Herrlichkeitdeiner blendenden Rüstung aus Schönheit …
Tomás Segovia
Für alle Frauen meines Lebens:meine Mutter, meine Schwestern, meine Töchter, meine Freundinnen.Dieses Buch ist für Euch.
Das Glück ist nichts anderes als der Duft unserer Seele.
Coco Chanel
Prolog
Rosenholz. Süß, fruchtig, mit leichten Gewürznoten. Der Duft des Vertrauens, der Ruhe und der Gelassenheit. Beschwört den süßen Schmerz der Sehnsucht und der Hoffnung herauf.
»Schließ die Augen, meine Kleine.«
»So, nonna?«
»Ja, Elena. Genau so. Und tu, was ich dir beigebracht habe.«
Beide Hände auf den Marmortisch gestützt, sitzt das Mädchen im Halbdunkel und kneift die Augen fest zusammen. Ihre zarten Finger gleiten über die Tischplatte und umklammern die abgeschrägte Kante. Doch es sind nicht die Essenzen in den Flakons an der gegenüberliegenden Wand, die sie am intensivsten wahrnimmt. Es ist die spürbare Ungeduld ihrer Großmutter. Und ihre eigene Angst.
»Also?«
»Ich versuch’s doch gerade.«
Ungeduldig presst die alte Frau die Lippen aufeinander. Ihr Zorn riecht beißend und erinnert an den Geruch eines Holzfeuers. Elena weiß, dass sie noch ein bisschen aushalten muss. Nur noch ein kleines bisschen.
»Streng dich an, du musst dich konzentrieren. Und Augen zu, habe ich gesagt!«
Die angedeutete Ohrfeige streift ihr Haar, mehr nicht. Nur vorgetäuscht, eine Lüge, wie alles andere auch. Wie die Lügen ihrer Großmutter. Wie ihre eigenen Lügen.
»Sag schon, was ist das?«
Die alte Frau will nicht mehr länger warten und wedelt mit einer gefüllten Phiole unter Elenas Nase herum. Sie erwartet keine banale Antwort, nichts, was auf der Hand liegt. Sie will mehr. Etwas, das ihre Enkelin ihr partout nicht geben will.
»Rosmarin, Thymian, Verbene.«
Noch ein Klaps.
Mit Mühe hält Elena die Tränen zurück, die ihr in der Kehle brennen. Aber sie gibt nicht auf und beginnt eine Melodie zu summen, um sich Mut zu machen.
»Nein, nein, nein! So wird das nichts mit dem Perfekten Parfüm. Du musst tiefer eintauchen, such, such … Es ist ein Teil von dir, du musst spüren, was es dir sagen will, du musst es verstehen, du musst es lieben. Versuch’s noch mal, aber dieses Mal konzentrierst du dich richtig!«
Doch Elenas Liebe zum Parfüm ist passé. Sie will die Wiesen am Flussufer vor der Stadt, zu denen sie ihre Mutter schon als kleines Kind mitgenommen hatte, nicht mehr sehen. Sie will das sanfte Rascheln des Grases und das Rauschen des Wassers nicht mehr hören. Sie will die starrenden Blicke der im Schilf verborgenen Frösche nicht mehr auf sich spüren.
Noch einmal kneift sie die Augen zusammen und presst die Zähne aufeinander, fest entschlossen, sich dem Duft zu verschließen. Da zuckt ein heller Funke durch das fast undurchdringliche Dunkel.
»Der Rosmarin ist weiß.«
Die Großmutter reißt die Augen auf. »Ja«, flüstert sie, während Hoffnung in ihrem Blick aufleuchtet. »Warum? Erzähl mir davon.«
Elena öffnet die Lippen. Sie wehrt sich jetzt nicht mehr, die Gefühle nehmen von ihr Besitz, erfassen ihren Geist und ihre Seele.
Der Rosmarin hat jetzt eine Farbe. Sie spürt ihn auf der Zunge, er kriecht ihr unter die Haut und lässt sie erzittern. Das Weiß verwandelt sich erst in Rot und dann in Violett.
Erschrocken kneift sie für einen Moment die Augen zusammen.
»Nein! Ich will nicht! Ich will nicht!«
Die Großmutter sieht sie weglaufen. Ihr Gesicht ist vor Empörung rot angelaufen, sie wirkt wie versteinert, dann schüttelt sie den Kopf und lässt sich auf einen Hocker sinken. Nach einem tiefen Seufzer steht sie wieder auf und öffnet die Fensterläden.
Das matte Abendlicht strömt in das Labor, das bereits seit mehr als drei Jahrhunderten im Besitz der Familie Rossini ist.
Lucia geht zu dem massiven Holzschrank hinüber, der die ganze Wand einnimmt, wobei sie das steife Bein nachzieht. Sie holt den Schlüssel aus der Schürzentasche und steckt ihn ins Schloss. Während sie die mittlere Tür öffnet, mischt sich ein leichter Wildkräuterduft unter den Vanillegeruch, der in der Luft liegt, kurze Zeit später gesellt sich noch ein frisches Zitrusaroma dazu. Liebevoll streicht die alte Dame über die Rücken der Bücher, die aufgereiht vor ihr stehen. Mit Bedacht wählt sie eines davon aus, presst es einen Augenblick an ihre Brust und setzt sich dann an den blank gescheuerten Holztisch. Vorsichtig schlägt sie das Buch auf. Ihr Zeigefinger fährt über die im Laufe der Zeit vergilbten Seiten, wie schon unzählige Mal zuvor auf der Suche nach dem Perfekten Parfüm.
Auch dieses Mal scheint Lucia nach etwas Bestimmtem Ausschau zu halten. Doch in diesem in gestochener Handschrift verfassten Text gibt es nichts, das ihr dabei helfen kann, ihrer Enkelin zu erklären, dass das Parfüm nichts ist, was man sich aussucht.
Das Parfüm ist ein Weg. Wer ihn geht, findet seine Seele.
1.
Eichenmoos. Intensiv, durchdringend, ursprünglich. Der Duft der Beständigkeit und der Kraft. Vertreibt die Enttäuschung, die die Seele überflutet, wenn einem bewusst wird, dass man sich der Illusion von Sicherheit hingegeben hat. Dämpft die Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, aber nicht gewesen ist.
Vom Arno stieg ein muffiger Geruch auf. Er erinnerte an verschimmeltes Mehl und verursachte ihr einen leichten Ekel, genau wie die Enttäuschung, die sie überkam.
Elena Rossini wich zurück, die Arme fest vor der Brust verschränkt.
Der Strom vor ihr floss langsam und träge dahin, fast ausgetrocknet von einem nicht enden wollenden Sommer, in dem es kaum geregnet hatte.
»Nicht mal Sterne am Himmel«, murmelte sie, nachdem sie eine ganze Weile nach oben gestarrt hatte.
Hin und wieder erhellte ein schmaler Lichtstrahl die milde Septembernacht und ließ die verchromten Oberflächen der Vorhängeschlösser glänzen, die verliebte Paare an der Brücke befestigt hatten. Dicht an dicht hingen sie am Eisengitter des Geländers, wie die Gedanken, die sich in Elenas Gehirn drängten.
Sie fuhr mit dem Zeigefinger über eines der Schlösser, mit dem die Verliebten ihre Liebe besiegelten und sie vor den Tücken des Alltags zu bewahren versuchten.
Matteo hatte ein besonders robustes Exemplar ausgesucht, vor ihren Augen den Bügel zugedrückt und dann den Schlüssel in den Fluss geworfen. Elena konnte sich noch genau an den Geschmack des Kusses erinnern, den er ihr damals gegeben hatte, kurz bevor er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm leben wollte.
Sie zuckte zusammen.
Jetzt war er ihr Ex-Verlobter … ihr Ex-Partner, ihr Ex in so vielem.
Sie schlang die Arme noch fester um ihren Körper, um den Schauder zu vertreiben, und ging los. Bevor sie sich endgültig auf den Weg zur Piazzale Michelangelo machte, warf sie einen letzten Blick auf die lange Reihe der Symbole der ewigen Treue. Schon bald würde hier ein neues Schloss hängen, darauf könnte sie wetten. Ein nagelneues vergoldetes, wenn sie ihren Ex-Verlobten richtig einschätzte.
Matteo und Alessia … So hieß die neue Köchin, jene Frau, die ihren Platz eingenommen hatte. Jene Frau, die Elena in einem Anflug von Naivität für ihre Freundin gehalten hatte. Für einen kurzen Augenblick sah sie die beiden wieder vor sich, wie sie sich übereinander beugten und sich das anvertrauten, was anscheinend sonst niemand auf der Welt verstand.
Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Sie hätte es erkennen müssen. Aber Matteo war wie immer gewesen, sein Verhalten ihr gegenüber hatte sich nicht verändert. Gerade das machte sie so wütend. Es war fürchterlich ungerecht. Er hatte ihr keine Chance gegeben.
Sie ging jetzt schneller, als wollte sie das Bild hinter sich lassen, das sie vor Augen hatte. Aber auch das war sinnlos, denn die Szene ließ sie nicht los, wie ein Standbild in einem Film.
Elena hatte damals das kleine Restaurant betreten, in dem Matteo Geschäftsführer war. Üblicherweise war er zu dieser Zeit in der Küche, um die Speisekarte durchzusprechen. Dieses Mal war es jedoch anders: Elenas Blick fiel auf zwei nackte, im Fitnessstudio gestählte Pobacken. Durch den Schock wie gelähmt, starrte sie die beiden im ersten Moment einfach nur an, dann gaben ihre Knie nach, und sie musste sich am Türpfosten festhalten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Matteo und Alessia sprangen blitzartig auf und versuchten ihre Blöße zu bedecken, so gut es eben ging.
Starre Blicke. Totenstille. Nur der keuchende Atem der beiden Ertappten war zu hören.
Elena war unfähig zu sprechen, sie zeigte nur stumm auf den Deckel, den Matteo immer noch schützend vor sich hielt.
Erschrocken wich er einen Schritt zurück.
Aber Elena blieb reglos stehen und versuchte zu verstehen, was sie da gerade erlebte. Nach und nach gelang es ihr schließlich, ihr Gedankenchaos zu ordnen.
»Was zum Teufel habt ihr da gemacht?«, brüllte sie.
Später hatte sie sich für diese dämliche Frage geschämt, eigentlich hätte sie sehr viel mehr sagen und vor allem etwas ganz anderes tun wollen. Es war völlig klar, was die beiden da auf dem Küchentisch getrieben hatten. Das hätte selbst eine Blinde bemerkt, und sie konnte sehr gut sehen. Und noch besser riechen.
Der anfangs bestürzt wirkende Matteo wurde aggressiv. Er ließ den Deckel fallen und zog sich rasch die Hose hoch.
Wenn ihr nicht jeder Sinn für Humor abhandengekommen wäre, hätte Elena über die groteske Szene lauthals gelacht. Stattdessen blieb sie mit geballten Fäusten und wild klopfendem Herzen stehen; zutiefst verletzt und empört wartete sie darauf, dass Matteo etwas sagte.
Doch er machte sich nicht einmal die Mühe, etwas abzustreiten. Weder ein »Es ist nicht so, wie es aussieht, mein Schatz« noch ein »Ich kann dir das alles erklären«.
»Was machst du hier? Wieso bist du nicht in Mailand?«, fauchte er sie stattdessen an.
Auf einmal war sie völlig durcheinander. Sollte sie sich etwa rechtfertigen? Sie hatte sich nicht gut gefühlt und war deshalb früher zurückgefahren. Aber sie hatte ihm nicht Bescheid gesagt.
Sie war bis ins Mark erschüttert, sie wollte erwidern: »Wie konntest du mir das nur antun?«
Noch eine falsche Frage.
Schweigen, Verwirrung, Ohnmacht und schließlich Wut. Worte waren noch nie ihre Stärke gewesen, und in diesem Moment war sie völlig neben der Spur. Deshalb löste sie ihren Blick von ihm und starrte Alessia an, als ob sie von ihr eine Erklärung erwartete für etwas, das offensichtlich war. Sie hätte die andere ohrfeigen, sie windelweich schlagen sollen. Hatte sie denn nicht kapiert, was sie da gerade getan hatte?
Matteo war seit mehr als zwei Jahren ihr Verlobter, und eines Tages wollten sie heiraten. Zwar hatte er ihr bisher keinen offiziellen Antrag gemacht, aber wohnten sie nicht zusammen? Hatte sie nicht einen großen Teil ihrer Ersparnisse in dieses Restaurant gesteckt?
Ihre Träume, ihre Pläne – geplatzt … Alles vorbei!
»Jetzt reg dich nicht so auf, das bringt doch nichts. Solche Sachen passieren eben.«
Solche Sachen passieren eben?
In diesem Moment erreichte ihre Empörung den Höhepunkt, und anstatt von seinem Verrat völlig am Boden zerstört zu sein, spürte sie eine unbezähmbare Wut in sich, die sich ihren Weg bahnte. Eine gusseiserne Pfanne flog auf das Paar zu, das sich gerade noch hinter dem Tisch in Sicherheit bringen konnte. Das metallene Scheppern auf den Bodenfliesen bildete den Schlussakkord des Ganzen.
Daraufhin hatte Elena sich umgedreht und alles hinter sich gelassen, was sie noch vor wenigen Augenblicken für ihre Zukunft gehalten hatte.
Ein Lachen in der Nähe riss sie aus ihren Gedanken und machte einer bittersüßen Erkenntnis Platz, eine vage Erinnerung, die ihr einen Hauch von Genugtuung verschaffte.
Ihrer Großmutter hatte Matteo Ferrari nie gefallen.
Sie hingegen hatte ihn vergöttert. Sie hatte alles für ihn getan, hatte ihn unterstützt, ihm gedient … Ja, das war es. Sie hatte ihm gedient, so wie es eine gute Partnerin ihrer Meinung nach tun sollte. Nichts sollte ihre Beziehung gefährden, so hatte sie es jedenfalls beschlossen. Oberflächlichkeiten, lose Bindungen ohne Perspektive waren nichts für sie, so etwas hatte sie noch nie interessiert. Matteo war genau der Mann, den sie brauchte. Er wollte eine Familie, er liebte Kinder über alles. Beides war für sie besonders wichtig und daher der entscheidende Grund, weswegen sie ihn schlussendlich ausgewählt, die Schattenseiten ihrer Beziehung akzeptiert und sich nie beschwert hatte.
Trotzdem hatte er sie betrogen.
Das war das Schlimmste. Sie hatte sich wirklich bemüht, hatte alles aufs Spiel gesetzt, so viel investiert. Und das Ergebnis? Mehr als enttäuschend.
Eine Katastrophe.
In dieser Nacht waren viele Menschen unterwegs. Die Altstadt von Florenz ging erst in den frühen Morgenstunden schlafen. Auf den Plätzen tummelten sich Künstler, Studenten und Touristen, die im Schein der Straßenlaternen miteinander plauderten oder sich in der einen oder anderen dunkleren Ecke näherkamen.
Elena ließ ihren Erinnerungen freien Lauf und tauchte in die vertrauten Gerüche des Viertels Santa Croce ein. Sie kannte selbst die kleinsten Unebenheiten der engen Gassen, jeden einzelnen im Laufe der Jahrhunderte ausgetretenen Pflasterstein. Die Umrisse der Häuser zeichneten sich vor ihren müden Augen ab. Die Leuchtreklamen der Geschäfte strahlten im Dunkel der Nacht. Nichts schien sich verändert zu haben. Sie war verblüfft über das Glücksgefühl, das sie beim Anblick der vertrauten Umgebung empfand, denn damit hatte sie nicht gerechnet.
Ein Jahr, überlegte sie, sogar mehr als ein Jahr war sie nicht im Haus ihrer Großmutter gewesen. Das Viertel war für lange Zeit ihre Welt gewesen. Sie hatte die katholische Mädchenschule in der Via Della Colonna besucht und danach das Gymnasium, das nur wenige Schritte vom Haus der Rossinis entfernt lag. Durch die Fenster hatte sie die anderen Kinder spielen sehen.
Keines von ihnen wusste etwas über Parfüm. Sie hatten weder je einen Destillierkolben gesehen noch konnten sie sich vorstellen, dass Fett Gerüche absorbiert.
Für sie hatten Begriffe wie Essenzen, egal ob natürliche oder künstliche, reine oder gemischte, keinerlei Bedeutung.
Dafür hatten sie alle einen Vater und eine Mutter.
Anfangs hatte sie die anderen Kinder ignoriert. Später dann war sie neidisch auf ihre geordnete Welt und hatte sich gewünscht, ein Teil davon sein zu können. Elena wollte sein wie sie.
Die Eltern ihrer Schulkameradinnen waren immer sehr nett zu ihr gewesen, hatten ihr Geschenke gemacht und sie eingeladen. Elena war bei allen Festen und Geburtstagen dabei, aber das Lächeln der anderen hatte nie die Augen erreicht. Sie hatte gespürt, dass es nur über sie hinweghuschte, wie eine Pflicht, die es zu erledigen galt. Abgehakt und im nächsten Moment vergessen.
Schließlich hatte sie es begriffen.
Ein bitteres Gefühl der Scham überkam sie, obwohl es ihre Freundinnen damals nicht zu kümmern schien, dass sie in einem merkwürdigen Haus lebte und immer nur ihre Großmutter zu den Schulaufführungen oder Lehrersprechstunden kam. Es gab auch andere Kinder ohne Eltern … Der springende Punkt war, dass sie eine Mutter hatte.
Hastig schob sie die Erinnerungen beiseite. Sie hatte schon seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Sich jetzt dafür bemitleiden – das fehlte gerade noch!
Rasch schluckte sie die Bitterkeit herunter und beschleunigte ihre Schritte. Sie war fast da.
Die steinernen Fassaden der mehrgeschossigen Häuser schienen sie willkommen zu heißen, sie zu trösten. Die laue Luft hatte sich abgekühlt, während vom Straßenpflaster ein beißender Geruch nach Feuchtigkeit und Moder aufstieg. Elena atmete ihn tief ein und wartete auf den Moment, in dem er sich mit dem Geruch des Flusses vermengen würde.
Der Geruch der Vergangenheit, der Geruch dessen, was verloren war.
Vor einer massiven Holztür blieb sie stehen, steckte einen alten Schlüssel ins Schloss und drückte die Klinke herunter. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss sie die Augen und fühlte sich sofort besser.
Sie war zurück.
Obwohl es das einzig Vernünftige war, spürte sie das dumpfe Gefühl des Scheiterns. Sie war eines Tages mit dem festen Vorsatz von hier weggegangen, ihr Leben umzukrempeln, und nun stand sie doch wieder in diesem Haus, das sie damals voller Hoffnung hinter sich gelassen hatte.
Sie eilte die Treppenstufen hoch, ohne die beiden düsteren Flure zu beachten, die zum Labor und zum Laden von Lucia Rossini führten. Sie ging schnurstracks ins Bad, und nach einer kurzen Dusche wechselte sie die Laken und schlüpfte ins Bett.
Lavendel, Bergamotte, Salbei. Die Düfte erfüllten das Haus, so durchdringend wie die Einsamkeit, die ihr das Herz zusammenzog. Unmittelbar bevor sie in den Schlaf sank, hatte sie das Gefühl, als würde ihr jemand zärtlich über die Haare streichen.
Am nächsten Morgen erwachte Elena wie immer sehr zeitig. Einen Augenblick lag sie unbeweglich im Bett, die Augen an die Decke gerichtet, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie hatte die Fensterläden offen gelassen, deshalb war es so hell. Die Sonnenstrahlen fielen auf den Boden und auf das Bett. Der Geruch des Hauses durchdrang allmählich die Benommenheit, die sie immer noch umgab.
Sie stand auf, was sollte sie auch anderes tun? Dann ging sie nach unten und setzte sich auf den Platz, auf dem sie immer gesessen hatte, schon als kleines Kind. Nach einer Weile betrachtete sie den blanken Holztisch genauer, und ihr fiel auf, wie groß er war. Unbehaglich rutschte sie auf dem Stuhl herum. Dann kam die Stille. Eine düstere, erdrückende Stille.
»Ich könnte den Fernseher anmachen«, murmelte sie.
Aber ihre Großmutter hatte keinen, sie hatte die Glotzerei immer gehasst. Um ehrlich zu sein, war auch sie kein großer Fan davon. Sie zog es vor zu lesen.
Ihre Bücher waren aber alle noch bei Matteo.
Ein höllischer Schmerz explodierte in ihrer Brust. Matteo.
Was sollte sie bloß tun, jetzt da sich alles in Luft aufgelöst hatte, alle ihre Träume, alle ihre Pläne?
Verloren blickte sie sich um.
Alles in dem Haus war ihr vertraut. Wie sie diese altmodischen, seltsamen Dinge liebte. Die an der Wand hängenden Teller, die glasierten Terracottadosen, in denen ihre Großmutter die Pasta aufbewahrte, die Möbel, die sie auf Hochglanz hatte polieren müssen, auch wenn sie sich noch so sehr gewehrt hatte.
Umgeben von all diesen vertrauten Gegenständen hätte sie sich weniger einsam fühlen sollen. Aber so war es nicht. Sie fühlte sich leer, total leer und verloren.
Sie erhob sich und ging mit hängendem Kopf in ihr Zimmer hinauf. Sie würde Monie anrufen und ihr alles erzählen. Von Matteo, diesem Mistkerl, und von Alessia. Wirklich ein schönes Paar. Sie schluckte einen Fluch hinunter, aber da sie allein war und sich ohnehin niemand aufregen würde, schickte sie noch ein paar Beschimpfungen hinterher. Sie benutzte sämtliche Schimpfwörter, die sie kannte. Erst ganz leise, dann kam sie immer mehr in Fahrt, und am Ende brüllte sie. So lange, bis sie sich lächerlich vorkam und verstummte. Sie setzte sich aufs Bett und wählte Monies Nummer, während sie sich mit der anderen Hand wütend über das Gesicht wischte. Sie durfte nicht weinen, Monie würde es sofort merken. Monie mag keine Heulsusen, ermahnte sie sich. Sie atmete ein paar Mal tief durch und zählte die Klingelzeichen.
Wie lange hatte sie nicht mehr mit Monique gesprochen? Einen Monat, vielleicht zwei? Gewiss, sie war voll und ganz mit dem Restaurant und Matteos Wünschen beschäftigt gewesen.
»Oui?«
»Monie, bist du’s?«
»Elena? Wie geht’s dir, mein Schatz? Weißt du, dass ich gerade an dich gedacht habe? Geht’s dir gut?«
Statt zu antworten, umklammerte Elena das Handy und brach in Tränen aus.
2.
Myrte. Immergrün, faszinierend, magisch. Duftintensiv und aromatisch. Beruhigt den Geist, vertreibt die Wut, den Groll. Der Duft der Ruhe, die Essenz der Seele.
»Das Parfüm ist Gefühl pur, sozusagen eine Vision, die du in Wohlgeruch umsetzen musst.«
»Ja, Großmutter.«
»Das und nichts anderes tun wir. Es ist unsere Aufgabe, mein Kind, unsere Pflicht, unser Privileg …«
Elena senkt den Blick. Lucias Worte schweben durch die Luft wie der zarte Duft von Jasmin, dessen Blüten vor dem Entfalten der Knospen ganz und gar unschuldig wirken, um dann, kaum aufgeblüht, einen durchdringenden, fast hypnotischen Geruch zu verströmen. Sie will der alten Frau nicht zuhören, will sich nicht in den Träumen verlieren, die diese Worte in ihr wecken, will den Verlockungen nicht folgen. Ihr Herz beginnt heftig zu klopfen, dann dringen die Farben in sie ein, verwandeln sich in Düfte und werden schließlich zu einem Himmel voller Sterne.
Es ist ganz einfach, sich in diesen Träumen zu verlieren, so verlockend schön, wie sie sind. Sie zaubern ihr ein Lächeln auf die Lippen, machen sie glücklich. Jetzt gibt es keine Realität mehr, keine Pflichten. Nichts ist mehr wichtig … nur die Farben und der Duft.
»Der Duft ist die Sprache, über die wir kommunizieren können, mein Kind. Der Duft ist die Wahrheit, Elena, vergiss das nicht. Die einzige, die wirklich zählt. Den Duft belügt man nicht, denn er ist unsere Seele, das, was wir wirklich sind.«
Ein summendes Geräusch riss Elena aus dem Schlaf; ruckartig setzte sie sich im Bett auf. Sie war noch ganz benommen. Die letzten Fetzen des Traums verflüchtigten sich. Mit beiden Händen fuhr sie sich über das Gesicht, während sie sich ihrer Umgebung bewusst wurde. Die unerbittliche Last der Erinnerungen schien sie zu erdrücken.
Einen Moment lang konnte sie sich noch einmal von der Realität lösen, und es gab keinen Raum, keine Zeit mehr. Dann drang das Summen des Handys an ihr Ohr. Als sie aus dem Bett sprang, stolperte sie über die Bettdecke, die sich um ihre Beine gewickelt hatte. Sie kniete auf dem Dielenboden und wühlte aufgeregt in ihrer Tasche.
»Wo bist du, verdammt noch mal, wo versteckst du dich?«, murmelte sie, während sie den Inhalt der Tasche auf dem Boden verstreute.
Schließlich bekam sie das Handy zu fassen und klappte es auf. Als sie den Namen auf dem Display las, schloss sie die Augen und presste die Lippen auf das Gehäuse, ehe sie das Gespräch annahm.
»Monie«, sagte sie mit verschlafener Stimme.
»Elena, was treibst du? Ich bin seit fast eine Stunde hier! Ich kann einfach nicht glauben, dass du unsere Verabredung vergessen hast.«
»Entschuldige … du hast recht. Ist gerade keine leichte Zeit für mich.« Sie hielt kurz inne und seufzte: »Hör mal, können wir das Treffen verschieben? Ich möchte heute nicht aus dem Haus.«
»Melde dich am besten gleich beim Priester wegen eines Termins für dein Begräbnis. Ich hätte große Lust, meine Mutter anzurufen und ihr alles zu erzählen.«
»Das kannst du nicht machen! Du hast es mir versprochen, erinnerst du dich?«
»Nein, ich erinnere mich nicht. Das muss die Luft hier in Florenz sein, die offenbar auch daran schuld ist, dass du unsere Verabredung vergessen hast.«
Elena schüttelte den Kopf. »Monie, das geht vorbei, ich brauche einfach Zeit.«
»Papperlapapp! Ich lasse es nicht zu, dass du in Selbstmitleid zerfließt. Das macht die Situation nicht besser, kein bisschen. Ausgehen wäre jetzt sicher genau das Richtige für dich.«
Stille.
Elena versuchte es erneut. »Ein andermal vielleicht, ja?«
»Nein, nicht ein andermal«, gab Monique zurück. »Heute Abend fliege ich zurück nach Paris, das weißt du genau. Ich brauche dich jetzt, Elena. Du hast mir versprochen, mich zu begleiten. Es wird dir guttun, mal vor die Tür zu kommen. Jedenfalls hörst du dann hoffentlich auf, dich wie ein Gespenst auf der Suche nach seiner Gruft durch die Gegend zu schleppen. Du treibst mich noch in den Wahnsinn! Also, wo steckst du?«
»Im Haus meiner Großmutter.«
»Parfait! Bis zur Stazione Leopolda sind es knapp zwanzig Minuten. Ich warte vor dem Eingang auf dich«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, und legte auf.
Elena starrte auf das Telefon und drehte sich dann zum Fenster, durch das ein Sonnenstrahl ins Zimmer fiel, der in tausend sprühende Funken zu zerstieben schien.
Vielleicht hatte Monie recht, vielleicht war es an der Zeit, ins Leben zurückzukehren. Ausgehen war dazu genauso gut wie alles andere, außerdem würde es ohnehin nichts ändern, sich zu Hause einzuigeln.
Nicht, dass sie ihn zurückhaben wollte, Gott bewahre. Eine Beziehung wiederzubeleben, die nur existiert hatte, weil sie es so gewollt hatte, wie ihr jetzt klar geworden war – nein, wirklich nicht … Bis ins Mark getroffen hatte sie allerdings die Tatsache, von jetzt auf gleich ohne Zukunftsaussichten dazustehen. Sie musste wieder bei null anfangen. Kein Plan, keine Aufgabe, keine Perspektive.
Als hätte man ihr alles genommen, jedes einzelne Teilchen ihres Lebensmosaiks. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie es jetzt weitergehen sollte.
In diesen Tagen hatte sich ihr Leben komplett verändert. Aber wenn sie etwas mit Sicherheit wusste, dann Folgendes: Die Geschichte mit Matteo war ein für alle Mal vorbei. Schluss, Aus, Ende.
Ja, entschied sie, sich mit Monique zu treffen, war nicht die schlechteste Idee. »Du hast schon Schlimmeres erlebt, Elena«, murmelte sie, stand auf und ging ins Bad.
Eine halbe Stunde später betrat sie den Vorplatz des ehemaligen Florentiner Bahnhofs, in dem die Duftmesse Pitti Fragranze stattfand, Dreh- und Angelpunkt der internationalen Parfümszene. Schon lange hatte sie das Königreich der Düfte nicht mehr betreten. Monique kam ihr entgegen, hauchte ihr drei Küsse auf die Wange und zog sie dann in das Gebäude. Sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid, das sie mit roten Lackstiefeletten kombiniert hatte. Monique war eine hochgewachsene, gertenschlanke Frau, eine exotische Schönheit mit karamellfarbener Haut und schwarzer Lockenmähne, deren selbstbewusster, geschmeidiger Gang ihre Vergangenheit als Model erahnen ließ. Diese Frau als bemerkenswert zu bezeichnen war eine glatte Untertreibung.
Während sie neben Monique herging, blickte Elena an sich herunter: Flipflops, Jeansrock und eine Bluse mit rosa Blümchen. Traurig schüttelte sie den Kopf.
»Ich habe die Eintrittskarten schon gekauft. Hier, nimm«, sagte Monique und hielt ihr einen Anstecker entgegen.
»Narcissus?«, fragte Elena und betrachtete das Namensschild.
»Oui. Ab sofort bist du meine … wie nennt man das? Genau, Assistentin.«
Aber sicher, nichts leichter als das. Niemand hätte sie mit einer der renommiertesten Pariser Parfümerien in Verbindung gebracht, so wie sie gekleidet war. Monique arbeitete inzwischen einige Jahre dort und liebte ihren Beruf. Es sei die eleganteste Boutique in ganz Paris, sagte sie immer.
Genau, elegant. Das war keine Umgebung, in der sich Elena wohlfühlen würde. Ihr Stil war schlicht und hatte so gar nichts Extravagantes. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren hatte sie noch immer etwas Mädchenhaftes: grazile Figur, lange goldblonde Haare und große grüne Augen, die ihr blasses Gesicht dominierten. Das Auffälligste aber war ihr Mund, der vielleicht ein wenig zu breit geraten war, aber sobald sie sich zu einem Lächeln hinreißen ließ, erstrahlte ihr Gesicht, und sie verwandelte sich in eine hinreißende Schönheit.
Um ihr Aussehen hatte sie sich noch nie besonders gekümmert, sie mochte es gern bequem und war überzeugt, unter den gegebenen Umständen einen vertretbaren Kompromiss gefunden zu haben.
Hier und jetzt fühlte sie sich allerdings fehl am Platz.
Was Ausstrahlung und Eleganz anging, hätten Monique und sie nicht gegensätzlicher sein können. Als ginge sie das Ganze gar nichts an, führte die Französin sie von Stand zu Stand, um ihr mal dies und mal das zu zeigen. Dabei stellte sie unaufhörlich Fragen und hörte aufmerksam Elenas Antworten zu.
Elena war neugierig geworden und bemerkte zu ihrer Erleichterung, dass auch einige andere Besucher eher leger gekleidet waren. Das machte ihr Mut. Sie straffte die Schultern und hob den Kopf. Schließlich zählte das Auftreten, oder?
Im zentralen Ausstellungsraum blieb Monique stehen, schloss die Augen und atmete tief ein.
»Dieses Parfüm hat eine Seele, Elena. Und ich will es haben. Riechst du das?«, fragte sie.
Natürlich roch sie es. Alle rochen es. Sie badeten förmlich darin und folgten seiner Spur, ein jeder eingehüllt in sein persönliches Empfinden. Destillierte Gefühle, ein Konzentrat aus Handlungen und Gedanken. Gerüche beschworen die Vergangenheit herauf, waren nahezu immun gegen den unabwendbaren Lauf der Zeit.
Während Monique von einem Stand zum anderen schlenderte, die mit durchsichtigen Glaswänden abgetrennt waren, trottete Elena in Gedanken versunken hinter ihr her. Die vielfältigen Düfte, durchdringend und intensiv, hatten sie längst in ihren Bann gezogen. Gegen ihren Willen ließ sie sich von den Parfüms einhüllen, begann die Kompositionen in ihre Bestandteile zu zerlegen und versuchte die Inhaltsstoffe zu identifizieren. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie das zuletzt getan hatte; für lange Zeit hatte sie alles vermieden, was Teil ihrer Vergangenheit gewesen war. Im Geist filterte sie die Essenzen heraus, zog gedanklich die olfaktorische Pyramide heran, wertete sie aus und verwarf die ersten Eindrücke, um sofort weiterzuforschen. Dann ertappte sie sich bei einem Lächeln.
Monique blieb vor einem Rosenbouquet stehen, und auch Elena trat näher heran. Die Blüten zogen sie magisch an, jede einzelne war in Farbe, Struktur und Schattierung einzigartig.
Da war sie, die Quelle ihrer Qual und ihrer Freude: die Provence-Rose aus Grasse. Dank des Berufs ihrer Mutter Susanna war sie als Kind in der ganzen Welt herumgekommen. Aber die kleine französische Stadt war eine wichtige Etappe in ihrem ruhelosen Leben, denn dorthin kehrten sie immer wieder zurück. Grasse war die Hauptstadt der Essenzen, die Metropole der Parfümerie.
Elena war in dieser traditionsreichen Stadt aufgewachsen, zwischen Laboratorien, in denen die natürlichen Essenzen zur Parfümherstellung destilliert wurden, meist kleine Werkstätten, die bereits vor Jahrhunderten gegründet worden waren, aber auch moderne Fabriken, für die Susanna Rossini oft tätig war. Die Größe der Betriebe war jedoch nicht entscheidend. Die Straßen der Stadt waren erfüllt von vielfältigen Düften, mal zart, mal durchdringend, je nachdem was gerade produziert wurde. Grasse war seit jeher der Inbegriff von Qualität, Prestige und Kontinuität. Jedes Jahr im Frühling verwandelte sich die Stadt. Ein Rausch von Farben und Düften. Jeder Duft hatte seine besondere Bedeutung und jeder einzelne hatte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt.
Das Sinnbild für all das waren für Elena die Rosen.
Sanft strich sie über die Blütenblätter einer gerade entfalteten Knospe.
Es fühlte sich genauso an, wie sie es in Erinnerung hatte, die seidigen Blütenblätter und der zarte, alles einhüllende Duft.
»Einfach wunderschön.« In Moniques Stimme lag ein Hauch von Ehrerbietung.
Elena sah sich urplötzlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Sie war noch ein kleines Kind, und vor ihr erstreckten sich die ausgedehnten Rosenfelder, die Grasse einrahmten. Überall das leuchtende Grün der Blätter, dazwischen Knospen und Blüten in allen erdenklichen Farbtönen: von Elfenbeinfarben über Blass- und Dunkelrosa bis hin zu kräftigem Lila. Die Blüten verströmten derart intensive Aromen, dass sie inmitten einer Duftwolke stand.
Ihre Mutter hatte ihre Hand losgelassen und war alleine in das Rosenfeld gegangen. Etwa in der Mitte blieb sie stehen, die Finger zwischen den Blütenblättern, den Blick in die Ferne gerichtet, genau wie ihr leichtes Lächeln. Ein Mann ging auf sie zu, und nachdem sie sich einen Moment lang angeblickt hatten, strich er ihr übers Gesicht. Susanna schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Als sie sich schließlich wieder umdrehte und ihr ein Zeichen gab, näher zu kommen, war das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes verschwunden und einer Grimasse gewichen. Verängstigt lief Elena davon.
Das war ihre erste Begegnung mit Maurice Vidal gewesen, jenem Mann, der ihr Stiefvater werden sollte.
»Im September ist der Duft anders, intensiver. Er trägt dann den Geruch von Sonne und Meer in sich.«
»Die Sonne? Wie riecht die Sonne, Elena?«
Sie schloss einen Moment die Augen, um die richtigen Worte zu finden. »Grenzenlos, warm und weich. Wie ein Nest, ein gemütliches Plätzchen. Intensiv, trotzdem lässt sie den anderen genug Raum. Die Sonne ist die ständige Begleiterin der Düfte. Nimm nur mal den Jasmin. Im Morgengrauen ist sein Aroma am intensivsten, ganz anders als der zarte Hauch zur Mittagszeit, und am Abend, wenn die Sonne nur noch eine ferne Erinnerung ist, entfaltet die Blüte ihre wahre Seele. Du kannst sie unmöglich verwechseln.«
Monique runzelte die Stirn und betrachtete sie neugierig. »Eine ungewöhnliche Definition … Ich habe dich schon sehr lange nicht mehr so über Düfte sprechen hören.«
In Elena machte sich Unruhe breit, mit einem Mal fühlte sie sich verletzlich. Ihre Fantasie hatte die Oberhand über ihre Vernunft gewonnen. Sie hatte sich von Erinnerungen und Gefühlen mitreißen lassen. Es war eine Sache, in Gedanken mit dem Parfüm zu spielen, aber eine andere, sich von ihm beherrschen zu lassen. Das durfte sie nicht vergessen, sie musste auf der Hut sein.
»Lass uns weitergehen, komm«, drängte sie und ging rasch auf die weit geöffnete Glastür zu.
Ein wie aus dem Nichts auftauchendes Schwindelgefühl zwang sie zum Stehenbleiben. Was war nur mit ihr los? Lag es an den berauschenden Düften?
Es war ihr immer gelungen, sich nicht davon dominieren zu lassen … Sie hatte schnell gelernt, sie zu ignorieren, indem sie sie an den Rand ihrer Gedanken verbannte. Schon mit zwölf war sie in der Lage gewesen zu entscheiden, wann und wie viel Raum sie ihnen geben wollte. Sie hatte die Düfte erst geliebt, dann gefürchtet und schließlich beherrscht.
Aber an diesem Morgen war es anders. Sie rissen Elena mit sich, zwangen sie, sich zu erinnern, Dinge wahrzunehmen, die sie nicht sehen wollte. Sie erfüllten sie mit Gefühlen, verwandelten sich in verführerische Worte, die ihr ihre wahre Natur offenbarten, Vorstellungen, die sie nicht übernehmen wollte. Es war wie in ihrer Kindheit, als die Düfte in sie hineingekrochen waren und sie geglaubt hatte, sie seien ihre Freunde.
»Alles in Ordnung, Elena? Du siehst gar nicht gut aus, man könnte es glatt mit der Angst bekommen. Du wirst doch nicht etwa immer noch an Matteo denken?« Monique packte sie am Ärmel.
Elena versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie ließ den Blick durch die Halle schweifen, fixierte die hohen Steinwände und blieb schließlich an den eisernen Querträgern hängen, die in regelmäßigen Abständen daraus hervorragten. Alt und modern. Eine Verbindung, die häufig zu extrem erschien, hier aber faszinierend und authentisch wirkte.
»Hör auf, die Wände anzustarren, ich lasse nicht locker, bis du mir geantwortet hast.«
Elena blickte ihre Freundin an, schüttelte den Kopf und lächelte, wobei sie sich mit den Fingern übers Gesicht fuhr. »Hat dir noch nie jemand gesagt, dass du Ähnlichkeit mit einer Dogge hast?«
Monique zuckte mit den Schultern. »Oui.« Sie pochte mit der Spitze des Zeigefingers auf die Unterlippe. »Das nennt man Charakter, chérie. Und jetzt erklär mir bitte, was heute mit dir los ist. Du bist noch seltsamer als sonst.«
Elenas Seufzer schien die Spannung zwischen ihnen zu lösen.
»Es sind die Parfüms … ich ertrage sie heute einfach nicht.«
Monique war erst verblüfft, dann brach sie in Gelächter aus. »Machst du Witze?«
Aber Elena lächelte nicht mehr, und auf einmal wirkten ihre Augen müde und glänzten vor Tränen.
»Hör zu«, sagte Monique, nachdem sie tief durchgeatmet hatte, »ich brauche dein Fachwissen. Ich brauche eine Nase oder etwas, das so nahe wie möglich an eine Nase herankommt. Kurz: deine Hilfe. Wenn ich nicht mit einer revolutionären neuen Duftnote nach Paris zurückkomme, wird Jacques … Die Dinge zwischen uns sind nicht mehr so, wie sie mal waren, Elena. Ich möchte ihn überraschen, ich möchte, dass er mich respektiert.
»Ich bin keine Nase!«, wehrte Elena ab und versuchte, die aufsteigende Übelkeit unter Kontrolle zu halten.
Ihre Freundin presste die Lippen aufeinander. »Nein, du bist viel mehr. Du erkennst ein Parfüm nicht nur, du siehst durch es hindurch. Es hat keine Geheimnisse vor dir.«
»Du glaubst im Ernst, das sei ein Vorteil?«, fragte sie bitter.
Die Worte kamen ihr über die Lippen, ohne dass sie es verhindern konnte, doch für diplomatische Umschreibungen war es ohnehin zu spät. Nase hin oder her, Elena wollte nicht, dass ihr Geruchssinn ihr Leben bestimmte. Er hatte ihr schon die Kindheit genommen, und sie hatte entschieden, dass das ein für alle Mal genug war.
Vernunft, darauf kam es an. Erst denken, dann handeln.
Aus Moniques Augen sprach eine gewisse Verärgerung, aber auch Nachsicht. »Oh ja, wahrscheinlich sogar dann, wenn du Schafe hüten würdest. Du würdest garantiert den Wolf wittern. Aber ganz sicher ja, weil du eine Parfümeurin bist, und zwar eine verflucht gute. Du kennst die Welt der Parfüms gut genug, um für mich einen einzigartigen Duft zu entdecken, eine Komposition, die meinen Chef eine Weile zum Nachdenken zwingt und ihm eine Perspektive aufzeigt. Eine Kreation, mit der wir unsere Produktpalette erweitern können. Das ist kein Witz. Ich brauche dich wirklich. Bitte hilf mir.«
Elena blickte sich um. Hinter ihr blies ein leichter Wind den Geruch von Florenz durch die offene Tür herein. Es roch nach Dachziegeln, die in der Sonne trockneten, nach Träumen, Tradition, heimlicher Liebe und Hoffnung.
Sie schlug die Augen nieder, atmete tief ein und lächelte.
Sie hatte sich noch nie gegen Monique durchsetzen können.
Ihre Freundin hatte schon immer das Sagen gehabt, seit ihrem allerersten Zusammentreffen damals in Frankreich. Sie waren noch klein gewesen und um die Wette gerannt, durch die Kanäle gewatet und schließlich Hals über Kopf ins tiefe Wasser gepurzelt.
So hatten sie sich kennengelernt, zwischen den wilden Pfefferminzbüschen, dort wo die Landarbeiter die Blütenblätter ernteten. Seitdem waren sie einander verbunden geblieben.
Monique hatte Elena mit zu sich nach Hause genommen. Ihre Mutter Jasmine, die aus Ägypten stammte, hatte erst geschimpft, sie dann abgetrocknet, umarmt, eine Tasse Ingwertee und einen Teller Kekse vor sie hingestellt und ihnen erklärt, wie gefährlich die Kanäle sein konnten. Hier hatte Elena gelernt, was Heimat, was eine richtige Familie bedeutete. Hier erfuhr sie mütterliche Wärme, Fürsorge und Güte, alles Eigenschaften, über die Jasmine im Überfluss verfügte. Monique war wie eine Schwester, bei ihr fühlte sie sich zu Hause.
»Du hilfst mir also?«
»Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht ganz, was ich für dich tun kann. Du weißt alles über Parfümherstellung und hast selbst schon einzigartige Düfte kreiert.«
Monique verzog die Lippen. »Jetzt hör mir mal gut zu, Elena, wir wissen beide, dass meine Parfüms eher schlicht und für den Massengeschmack geeignet sind. Das Beste ist gerade mal guter Durchschnitt. Du dagegen bist genial und beharrlich, wie ein Maler, der ein Bild mit Worten malen will. Am Ende fliegen alle Worte davon, und auf den ersten Blick sieht es aus, als würdest du wieder vor der weißen Leinwand sitzen. Aber wer die Geduld hatte, dir zuzuhören, dem wird dieses Bild für immer in Erinnerung bleiben. Das gilt auch für mich. Niemand, den ich kenne, verfügt über dein Können und deinen Erfindungsreichtum.«
»Sicher doch, natürlich! Ein Genie, das es noch nicht einmal geschafft hat, genügend Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen …«
»Komm mir ja nicht mit der alten Geschichte vom Laden deiner Großmutter«, unterbrach Monique sie. »Du hast die Parfümerie geschlossen, weil du die sturste Person bist, die ich kenne. Und was den Laden angeht: Wenn du statt der antiquierten Geschäftsstrategie deiner Großmutter deinem Instinkt gefolgt wärst, wäre die Sache anders ausgegangen, und das weißt du auch. Wir haben doch schon darüber gesprochen. Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie du auf Matteo hören konntest, diesen einfältigen Schwätzer! Der kann dir höchstens beibringen, wie man einen Tisch deckt.« Sie schnaubte und blickte sich nervös und angespannt um. Kurz darauf suchte sie wieder den Blick der Freundin. »Fakt ist doch: In Geschäftsdingen hast du nie eine eigene Entscheidung getroffen, du hast einfach alles hingenommen. Du weißt, dass ich kein Blatt vor den Mund nehme, Elena. Du bist eine Nase, da gibt es keine Diskussion. Die Parfüms, die du für mich und meine Mutter kreiert hast, waren wirklich einzigartig. Und sie sind es noch. Genau das wollen die Leute: Einzigartigkeit.«
»Du hast genauso viel Wissen wie ich«, versuchte Elena sich zu wehren, »wir haben beide die gleiche Ausbildung, das gleiche Rüstzeug.« Sie ging auf ein Metallregal zu, in dem Flakons in verschiedenen Größen aufgereiht waren. Unter dem kalten Licht, das sich an den Strukturlinien brach, wirkte das geschliffene Glas fast lebendig.
»Stimmt, aber im Gegensatz zu dir bin ich nicht in einem Labor aufgewachsen. Ich komme auch nicht aus einer Parfümeur-Dynastie. Das ist ein Riesenunterschied.«
Das war es in der Tat.
Monique war in ganz normalen Verhältnissen aufgewachsen, mit einem richtigen Zuhause, mit Eltern, die für sie da waren, einem Bruder, zwei Schwestern und Freunden, mit einer ordentlichen Schule und schlussendlich mit einem Beruf, der ihr Freude bereitete. Sie hatte unter mehreren Angeboten auswählen können.
In gewissem Sinne hatte auch Elena gewählt, wenn auch den bequemeren Weg, nämlich den des Gehorsams. Sie hatte alles getan, was ihre Großmutter von ihr verlangt hatte, jedenfalls soweit sie es tolerieren konnte. Sie hatte die Parfümherstellung von der Pike auf gelernt und sich diesem Handwerk mit Hingabe gewidmet. Doch insgeheim hatte sie immer einen Groll dagegen gehegt.
Diesen verborgenen Hass hatte sie auf eine Weise kultiviert, wie man es sonst nur mit großen Enttäuschungen tat. Mit Hingabe. Mit dem Ergebnis, dass sie dem Parfüm die Schuld an all ihren Problemen gab.
»Weißt du, was die letzten Worte meiner Großmutter waren?« Elena wartete einen Moment, aber das Schweigen ihrer Freundin machte ihr Mut. »›Folge dem Weg des Parfüms, verleugne deine Gabe nicht.‹«
»Am Ende ist es Lucia alles andere als gut gegangen«, entgegnete Monique.
Elenas Mundwinkel hoben sich zu einem leichten Lächeln. »So zerstörerisch ihre Krankheit auch war, geistig war sie bis zum letzten Moment völlig klar. Du darfst nicht einmal daran denken, dass sie etwas gesagt oder getan hätte, was nicht in ihrem Sinne gewesen wäre. Ihre Leidenschaft für ihren Beruf grenzte an Besessenheit. Darin war sie nicht anders als all die anderen Frauen in meiner Familie, meine Mutter eingeschlossen. Für sie war die Welt des Parfüms schon immer wichtiger als alles andere.« Sie hielt inne, suchte nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie. »Ich habe den Laden geschlossen, weil ich ein normales Leben führen wollte, eines mit regelmäßigen Arbeitszeiten, einem Mann, den ich liebe und der mich liebt, und Kindern.«
»Das eine hätte das andere nicht ausgeschlossen. Du hättest die Dinge in diese Richtung steuern können, n’est-ce pas?«
Nein!
Das Wort explodierte tief in ihrem Inneren. Das Parfüm ließ keine Kompromisse zu, vielmehr ging es um alles oder nichts. Wie war es möglich, dass nicht einmal Monique das zu begreifen vermochte?
Elena hasste es. Sie hasste es, weil sie nicht aufhören konnte, es zu lieben.
Und dann hatte sie sich entschieden.
Das Parfüm war nicht mit dem Leben vereinbar, das sie mit Matteo hatte führen wollen. Darum hatte sie den Laden geschlossen. Das Parfüm würde sie am Ende verhexen, genau wie alle anderen Frauen in ihrer Familie, denen es alle Zukunftspläne verbaut hatte.
Die Angst vor einem solchen Schicksal hatte Elena dazu gebracht, sich ein für alle Mal davon abzuwenden.
»Ich wollte nichts riskieren.«
Nein, sie wollte nichts riskieren. Nichts aufs Spiel setzen. Nicht einmal darüber nachdenken.
»Für mich sieht es nicht so aus, als hätte es dich glücklich gemacht, auf das zu verzichten, was dich ausmacht.«
Elena erblasste. »Was mich ausmacht?« Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, du irrst dich«, fügte sie leise hinzu.
»Denk doch mal darüber nach, Elena. Nachdem du das Geschäft geschlossen und dich mit Matteo zusammengetan hattest, warst du mit dieser Entscheidung wirklich glücklich? Du hast deine Gabe, einen elementaren Teil von dir verleugnet, um eine fixe Idee zu verfolgen, von der du dachtest, sie könnte dich glücklich machen. Du bist von einem Extrem ins andere gefallen. War das wirklich das Leben, das du führen wolltest?«
Nein, natürlich nicht. Aber es war immer noch besser, als tatenlos zuzusehen, oder? »Ich habe es versucht. Ich habe daran geglaubt und es ehrlich versucht!«, presste sie trotzig heraus.
Monique sah sie lächelnd an und erwiderte: »Danach habe ich dich nicht gefragt. Aber das ist jetzt nicht wichtig, lassen wir das unschöne Thema und konzentrieren wir uns auf das, was wirklich zählt. Du wirst mir doch helfen, das Parfüm zu finden, oder?«
»Ja, sicher …«, Elena nickte mechanisch. Aber Moniques Worte hallten noch in ihr nach.
Hatte sie wirklich auf das verzichtet, was sie ausmachte?
3.
Benzoe. Wie der Benzoebaum selbst vermittelt auch das daraus gewonnene Harz Ruhe und Seelenfrieden. Die dickflüssige, durchdringend riechende Substanz vertreibt Ängste und Sorgen. Sie ist nicht nur hilfreich bei der Entfaltung spiritueller Energien, sondern auch für die Einstimmung auf eine Meditation geeignet.
Elenas erste Erinnerung an die Côte d’Azur war die gleißend helle Sonne, die zweite die unendliche Weite der Lavendelfelder. Grün, blau, rosa, lila und weiß, ein Meer von Farben … Eine weitere das Dämmerlicht der Werkstatt, in der ihre Mutter Susanna tief über die mit Glasfläschchen und Aluminiumbehältern beladenen Tische gebeugt ihrer Arbeit nachging.
Den Großteil des Jahres verbrachte Susanna in ihrem Haus in der Provence, wo sie auch die erste große Liebe ihres Lebens kennengelernt hatte: Maurice Vidal.
Inmitten von Blumenfeldern hatte Elena gelernt, wie man Parfüm herstellt. Welche Kräuter man dafür sammelt, welche besonders gut zum Destillieren geeignet sind und aus welchen man die essence concrète extrahiert, die dann zur essence absolue verarbeitet wird, dem reinen Blütenöl. Jeder einzelne Schritt des komplizierten Verfahrens hatte sich in gestochen scharfen Bildern in ihr Kindergehirn eingebrannt. In der Einsamkeit war das Parfüm zu einer Sprache geworden, über die sie mit ihrer schweigsamen Mutter kommunizieren konnte, die sie zwar überallhin mitnahm, aber kaum mit ihr redete. Elena gefiel es, die in allen Farben schimmernden Essenzen zu betrachten. Manche Behälter waren so klein wir ihre Hand, andere wiederum so groß, dass Maurice ihnen beim Transportieren helfen musste.
Der Franzose war groß und stark. Ihm gehörten die Felder und die Werkstatt, und er betete Susanna Rossini an. Er liebte sie zumindest so sehr, wie er ihre Tochter hasste.
Elena wusste genau, warum Maurice sie keines Blickes würdigte. Sie war die Tochter eines anderen.
Was das genau bedeutete, verstand sie nicht, aber ihr war klar, dass es etwas Schlechtes sein musste. Deshalb hatte ihre Mutter also immer geweint.
Als sie eines Nachmittags nach Hause gekommen war, um sich rasch etwas zu essen zu holen, stritten ihre Mutter und Maurice. Das kam öfter vor, deshalb achtete sie anfangs nicht weiter darauf. Sie nahm sich einen Keks und wollte gerade wieder nach draußen zum Spielen gehen, da ging sie noch mal zurück, um auch für Monique einen zu holen.
»Sie ist genau wie ihr Vater, oder? Gib’s zu! Sie ähnelt dir kein bisschen. Ich kann sie nicht mal richtig ansehen. Wie kannst du von mir verlangen, dass sie bei mir aufwächst? Bei uns?«
Elena blieb stehen. Ihr Magen verkrampfte sich. Es war der Tonfall des Mannes, der sie innehalten ließ. Maurice hatte ganz leise gesprochen, als ob das, was da er sagte, ein Geheimnis sei. Aber sie hatte ihn trotzdem verstanden.
Sie war erneut umgekehrt. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, Maurice saß mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl, die Hände in den Haaren vergraben.
»Ich habe einen Fehler gemacht, aber daran kann ich jetzt nichts mehr ändern. Als ich mit ihr zurückgekommen bin, hast du selbst gesagt, dass die Vergangenheit für dich keine Rolle spielt und du gemeinsam mit mir neu anfangen willst. Bitte versuch es zu verstehen. Elena ist auch mein Kind.«
Ja, sie war ihr Kind. Es hatte seltsam geklungen, als ihre Mutter es aussprach. Warum weinte sie? Elena gefiel dieser Satz gar nicht. Er brannte ihr in der Kehle und in den Augen.
Maurice schlug die Hände vors Gesicht und sprang auf. »Dein Kind! Von dir und von wem? Wer ist der Vater?«
»Niemand, das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Er weiß nicht einmal, dass er ein Kind hat.«
Er schüttelte den Kopf. »Das halte ich nicht aus, Susanna. Ich weiß, was ich dir versprochen habe, aber ich ertrage es nicht.«
In diesem Augenblick bemerkte er sie. »Was machst du hier?«, schrie er sie an.
Elena antwortete nicht, sondern wich zurück und rannte davon. Als sie wieder bei Monique war, weinte sie nur ein bisschen. Dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Monie konnte es nicht ausstehen, wenn Mädchen weinten. Weinen nutzte gar nichts. Ihre Freundin wiederholte diesen Satz immer wieder und sie hatte recht. Die Trauer blieb, sie steckte in ihrer Kehle, schmerzhaft wie eine offene Wunde. Trotzdem erzählte sie ihr alles, denn Monique hörte ihr zu und verstand sie.
Während sie mit Monique sprach, wurde ihr klar, dass Maurice Unrecht hatte. Sie hatte noch nie einen Vater gehabt. Vielleicht sollte sie ihm das sagen, dann war vielleicht alles wieder gut.
Aber so sehr sie es in den folgenden Tagen auch versuchte, der strenge Blick des Mannes machte ihr Angst. Die Wörter wollten einfach nicht fließen, blieben im Mund stecken, klebten auf der Zunge fest. Deshalb kam ihr schließlich die Idee mit dem Bild.
Sie brauchte das ganze Blatt, denn Maurice war ein Riese, aber am Ende gelang es ihr, auch ihn auf dem Bild unterzubringen. Darauf waren sie alle drei zusammen. Susanna hielt sie an der Hand, daneben stand er und kein anderer Papa.
Bevor sie ihm das Bild schenkte, zeigte sie es ihrer Mutter.
»Es ist wunderschön, mein Schatz«, sagte sie.
Susanna mochte ihre Bilder, auch wenn sie immer zu wenig Zeit hatte, sie genau zu betrachten. Bei diesem Bild war es anders, denn Elena bestand darauf. Die Details waren äußerst wichtig – das sagte ihre Lehrerin jedenfalls immer. Sie hatte Susanna gut getroffen mit ihren langen schwarzen Haaren, die ihr bis auf die Schultern fielen. Sie selbst stand zwischen ihr und Maurice … und sie hielt beide an der Hand. Sie trug ein Kleid in ihrer Lieblingsfarbe Rosa.
Es gab keinen anderen Papa. Maurice konnte gerne ihr Papa werden, wenn er wollte. Und was die Ähnlichkeit betraf, hatte er sich bestimmt getäuscht. Jasmine hatte ihr mehrfach versichert, dass sie ihrer Mutter später einmal sehr ähnlich sehen würde. Jasmine wusste in solchen Sachen Bescheid, immerhin hatte sie mehrere Kinder.
Eines Tages, als Maurice besonders schlecht gelaunt war, entschloss sich Elena, ihm das Bild zu schenken, um ihn glücklich zu machen. Sie ignorierte seinen düsteren Gesichtsausdruck, nahm all ihren Mut zusammen und drückte ihm das Bild in die Hand. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte nichts dazu. Dann starrte er sie mit verzerrter Miene an.
Instinktiv wich Elena zurück, die Hände schweißnass, die Finger in den Stoff ihres Kleides gekrallt.
Maurice wandte sich Susanna zu, die gerade das Abendessen vorbereitete, und wedelte mit dem Bild. »Glaubst du, dass so was hier die Dinge zwischen uns klären kann?«, fragte er leise, fast im Flüsterton. »Eine glückliche kleine Familie, du, ich und die Tochter von … von diesem Typen? Benutzt du jetzt schon das Kind, um mich zu überzeugen?«
Susanna blickte auf das Bild, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Es ist doch nur ein Bild, lass es gut sein«, antwortete sie kaum hörbar.
»Du weißt genau, wie ich darüber denke!«, brüllte er und zerknüllte das Blatt mit seinen großen Händen. »Warum zum Teufel willst du das nicht verstehen?«, tobte er weiter und warf das Papierknäuel in eine Ecke.
Elenas Schluchzen zerriss die angespannte Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
Als ob ihm erst in diesem Augenblick die Tragweite seines Handelns bewusst geworden wäre, starrte Maurice das kleine Mädchen an, dann hob er das zerknüllte Bild langsam vom Boden auf und strich es glatt. »Bitte«, sagte er und hielt es ihr hin.
Aber sie schüttelte den Kopf. Daraufhin legte Maurice das Bild auf den Tisch, richtete sich auf und brach in schallendes Gelächter aus.
Wenn sie sich anstrengte und stark konzentrierte, konnte Elena noch immer, selbst nach so vielen Jahren, den gepressten, rauen Klang seines Lachens hören.
Susanna hatte sie daraufhin zu Monique zum Spielen geschickt. Während sie fluchtartig aus dem Haus stürmte, konnte Elena den sich anbahnenden Streit förmlich spüren. Jasmine trocknete ihre Tränen und tröstete sie damit, dass Maurice einfach nicht verstanden hatte, was sie mit dem Bild ausdrücken wollte. Erwachsene waren häufig so, sie verstanden nichts und hatten viel zu viel Angst. Später nahm sie das Mädchen an der Hand und brachte es nach Hause zurück.
Maurice war verschwunden, und Susanna hatte rote geschwollene Augen. Jasmine kochte Tee und blieb bis spät in die Nacht bei ihnen. Am nächsten Morgen packte Susanna ihre Sachen und sie reisten ab. Den ganzen Frühling verbrachten sie woanders, danach fuhren sie zurück.
Sie fuhren jedes Mal zurück, und Maurice war immer da. Damals hatte Elena das erste Mal wahrgenommen, wie Hass riecht. Kalt, wie eine sternlose Nacht nach einem Regenguss. Wie eine Nacht, in der der Wind heult.
Dieser Geruch machte ihr Angst.
Einige Monate später war Elena acht Jahre alt geworden. Im Herbst waren sie erneut abgereist, doch diesmal war sie in Florenz bei ihrer Großmutter geblieben.
»Die hier gefallen mir«, sagte Elena und unterbrach den Strom der Erinnerungen.
Die Kristallflakons funkelten in dem grellen Scheinwerferlicht. Ihr kantiger Schliff hatte etwas ganz Besonderes.
»Nein, viel zu akkurat. Jacques möchte etwas Harmonischeres.«
Nach einer Weile schüttelte Elena den Kopf. »Harmonie ist subjektiv und setzt keine Trends. Wenn du innovativ sein willst, dann musst du Grenzen überschreiten. Du musst etwas wagen.«
Ihre Freundin wirkte nachdenklich, als sie fragte: »Welche würdest du auswählen?«
»Ich?«
»Ja, du! Wir könnten uns trennen, und jede entscheidet für sich, was hältst du davon? Dann hätte Jacques zwei Parfüms zur Auswahl. So etwas liebt er. Oui, genau so machen wir es. Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier, und dann lade ich dich zum Mittagessen ein. Heute ist Sonntagsbrunch im Four Seasons, ein Erlebnis der ganz besonderen Art. Ich habe Jacques’ Kreditkarte dabei, wir schwelgen im Luxus, und du lässt mir zuliebe die Trauer aus deinen Gesichtszügen verschwinden. Nun mach schon! Dein Lover ist weg, na und? Hast du eine Ahnung, wie viele Männer dir liebend gerne die Sterne vom Himmel holen würden, wenn du sie nur lassen würdest?«, sagte Monique mit erhobenem Zeigefinger. »Unzählige, chérie, die Kerle würden Schlange stehen.«
»Aber sicher doch.«
Elena seufzte. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt und hatte nicht einmal genügend Energie, um sich über ihre Freundin aufzuregen. Warum auch? Taktgefühl war noch nie Monies Stärke gewesen, das wusste sie nur zu gut. Schon als Kind hatte sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg gehalten und sich keine Gedanken über die Konsequenzen gemacht.
ENDE DER LESEPROBE