Des Christen Wallfahrt nach der himmlischen Heimat - Friedrich Wilhelm Krummacher - E-Book

Des Christen Wallfahrt nach der himmlischen Heimat E-Book

Friedrich Wilhelm Krummacher

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Beschreibung

Friedrich Wilhelm Krummacher war ein 1868 in Potsdam verstorbener Geistlicher. Sein Vater, Friedrich Adolph Krummacher, war ein bedeutender deutscher Theologe und Schriftsteller. Friedrich Wilhelm war, obwohl Pfarrer der reformierten Kirche , ein eifriger Verfechter des älteren Luthertums und erregte durch seine Verurteilung der Rationalisten großes Aufsehen. Er kam 1843 nach New York, lehnte eine theologische Professur in Mercersburg, Pennsylvania, ab, kehrte dann nach Deutschland zurück und ließ sich 1847 in Berlin nieder. Um Krummacher's Kanzel sammelte sich bald eine überaus große Gemeinde. Selbst zu den Wochengottesdiensten strömten die Leute zusammen. Nach der biblischen Anschauung , dass wir Gäste und Pilger auf Erden und auf der Wallfahrt zur himmlischen Heimat begriffen sind, ein Gedanke , der in Bunyans Pilgerreise so wunderbar verkörpert wird, gibt uns der geistvolle Verfasser hier eine Lebensgeschichte des Glaubens vom leisen Erwachen der Sehnsucht und des heilbedürftigen Verlangens bis zum seligen Ziele des äußeren und inneren Schauens . Die in drei Bänden jeweils gesammelten fünfzehn Predigten zeichnen sich durch die dem Verfasser eigentümliche Innigkeit und Lebendigkeit aus und sind in ihrer erhabenen und doch allgemein verständlichen Sprache Muster wahrhaft edler Popularität. Dies ist Band 2, "Der Reise Fortgang."

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Des Christen Wallfahrt nach der Heimat

 

FRIEDRICH WILHELM KRUMMACHER

 

 

 

 

 

 

 

Des Christen Wallfahrt nach der Heimat, F. W. Krummacher

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849663575

 

Der Originaltext dieses Werkes entstammt dem Online-Repositorium www.glaubensstimme.de, die diesen und weitere gemeinfreie Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Wir danken den Machern für diese Arbeit und die Erlaubnis, diese Texte frei zu nutzen. Diese Ausgabe folgt den Originaltexten und der jeweils bei Erscheinen gültigen Rechtschreibung und wurde nicht überarbeitet.

 

Cover Design: 27310 Oudenaarde Sint-Walburgakerk 82 von Paul M.R. Maeyaert - 2011 - PMR Maeyaert, Belgium - CC BY-SA.

https://www.europeana.eu/item/2058612/PMRMaeyaert_26e5a0b367ed2a0f0538537312dbf536e67cf268

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

 

INHALT:

Die Lebensaufgabe des Gottespilgers.1

Die Kehrseite der Lebensaufgabe  des Gottespilgers.7

Ein Strick auf dem Wege. 15

Die kleine Gefährtenschaft24

Ein neuer Kampf und Sieg.33

Die dunkle Grube.40

Die Abwehr.49

Neuer Ausgang.57

Ein Rückfall.64

Blinder Schrecken.72

Ein erneutes Vorwärts!80

Ein Wanderlied.90

Geistliche Räuber.99

Pilgersruhe. 107

Zerronnene Ideale.116

 

Die Lebensaufgabe des Gottespilgers.

 

2 Cor. 7, 1.

Dieweil wir nun solche Verheißungen haben, Geliebte, so lasset uns von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes uns reinigen, und vollbringen die Heiligung in der Furcht Gottes.

 

Der Aufbruch zur Reise nach der Himmelsheimath ist geschehen. Nachdem unser Pilger vom Schlafe der fleischlichen Sicherheit erwacht ist, und, alle Widerstände siegreich überwindend, mit ganzem Vertrauen sich Christo als seinem einzigen Retter und Seligmacher zugeschworen hat, befindet er sich auf dem rechten und graden Wege nach der Gottesstadt. Wie geht's nun weiter? Was liegt ihm fürder ob? Was steht auf der neuen Lebensstraße ihm bevor? Dies die Fragen, mit denen wir uns jetzt zu beschäftigen haben. Vom Fortgange seiner Wallfahrt haben wir nunmehr zu handeln. Da fragt sich's denn zuvörderst, was der Christ, nachdem er zum Glauben durchgedrungen, als die Hauptaufgabe seines Lebens in's Auge zu fassen habe; und auf diese Frage wird uns in den eben vernommenen apostolischen Worten eine klare und bündige Antwort. Wohlan, vernehmen wir zuerst, worin diese Aufgabe besteht, und dann, in welcher Weise sie gelöst wird. Der Herr eröffne uns über Beides das rechte Verständniß!

Die Aufgabe, mit der der Christ als solcher während seines Lebens auf Erden sich zu befassen habe, ist schon vielfachen und mitunter recht groben Mißverständnissen unterworfen gewesen, und ist es hin und wieder auch gegenwärtig noch. Die Antinomisten oder Gesetzesverächter halten dafür, daß, wer um Christi willen von Gott gerecht gesprochen worden, dem Gesetz nicht mehr verpflichtet sei, sondern hinfort mit freiem Gewissen seinem Fleische die Zügel schießen lassen und ohne Gefahr der Sünde dienen dürfe. Der Apostel Judas bezeichnet diese Menschen als solche, welche „die Gnade auf Muthwillen ziehn“, und Paulus sagt von ihnen Rom. 3, ihre Verdammniß sei ganz recht. Den Gegensatz zu denselben, aber in gleich falscher und verkehrter Richtung, bilden die Anachoreten, die Weltflüchtigen, die des Christen Beruf darin setzen, daß er die Welt verlasse, sich mönchisch abschließe, und in einsamen Büßungen, Selbstpeinigungen und Gebetsdiensten seine Tage verbringe. Diese selbsterwählte Geistlichkeit, hinter welcher doch nichts Anderes, als Hochmuth und Selbstgerechtigkeit verborgen stecken, wird namentlich im Colosserbriefe gegeißelt, und der Apostel erklärt in seinem ersten Sendschreiben an den Timotheus gradezu diejenigen für Verkündiger von „Teufels lehren“, die da verbieten ehelich zu werden, und es als etwas Verdienstliches anpreisen, diese und jene Speise nicht anzurühren, welche doch Gott geschaffen habe, oder anderer äußerlicher und natürlicher Dinge sich zu enthalten, die doch durch Gottes Wort und Gebet geheiligt würden. Mystisch gerichtete Secten haben geglaubt, dem Christen liege nach seiner Bekehrung nichts weiter ob, als daß er sich in seine Gefühlswelt zurückziehe, und im Genusse dessen schwelge, was ihm an Gnaden und Hoffnungen in Christo zu Theil geworden. Diesen Quietisten oder gefühlsseligen Freunden der Ruhe begegnet die ganze Schrift mit dem Zuruf: „Was stehet ihr hier müßig am Markte? Gehet auch ihr in den Weinberg, und wirket, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann.“ Die Gegenfüßler dieser Träumer, aber wiederum schwer Verirrte, find die Werkheiligen, die den Lebensberuf der Gläubigen ganz in einer frommen Vielgeschäftigkeit aufgehn lassen, und von andern Obliegenheiten für dieselben nicht wissen, als daß sie Mission treiben, innere und äußere, Armen- und Krankenpflege üben, an dieser und jener Vereinsthätigkeit sich betheiligen, und in welchen, an sich allerdings vortrefflichen und nicht zu versäumenden, Verrichtungen sonst sich bewegen. Diesen gilt das Wort an Martha: „Du hast viel Sorge und Mühe! Eins ist noch; Maria hat das gute Theil erwählt!“

 

1.

 

Was ist's denn, das uns vor allem Andern obliegt, nachdem wir uns an Christum gläubig hingegeben? Allerdings ist's Arbeit, aber, merket wohl! Arbeit an uns selbst. Was damit gemeint sei, werdet ihr Alle wohl im Allgemeinen ahnen; denn Tausenden unsrer Zeitgenossen, Männern und Frauen, ist es ja zu einer Leidenschaft geworden, an sich zu arbeiten um irgend ein wohlgefälliges Kunstwerk aus sich selbst herauszubilden. Man arbeitet durch Lectüre oder durch Theilnahme an öffentlichen Vorträgen an seinem Geiste; aber dieses Bemühen, den von der Gemeinschaft mit Gott entfremdeten und der Erleuchtung von Oben ermangelnden Geist zu bilden, d. h. ihn mit Kenntnissen zu bereichern, und zu feinen Gedanken und Urtheilen zu schärfen, ist die Arbeit nicht, von welcher wir hier reden. Nicht intellectuell blos, sondern auch moralisch oder sittlich arbeitet man an sich, indem man, um sich bürgerlich und gesellschaftlich zu empfehlen, von groben, anstößigen Auswüchsen und Fehlern sich zu reinigen strebt, und eines untadeligen Verhaltens vor den Leuten sich befleißigt. Aber was wir im Auge haben, wird ja auch etwas Besseres und Gründlicheres noch sein, als solch ein bloßes Zurücktreiben des Aussatzes von der Oberfläche unter die Haut, oder als ein Wegrasieren des Unkrauts von der Aussenseite des Lebens, während die Wurzeln in der Tiefe des Herzens stecken bleiben. Viele, namentlich in den sogenannten gebildeten Ständen, legen es bei ihrer Arbeit an sich selbst nur auf eine ästhetische Selbstvervollkommnung an, und Schöngeisterei, einnehmendes Vorkommen, und glänzende Unterhaltungsbegabung sind neben feinen und anmuthigen Formen der äußeren Haltung und Bewegung diejenigen Dinge, die sie vor allen andern anstreben. Aber die sogenannten „schönen Seelen“ und gefälligen Erscheinungen sind Spreu auf der Wurfschaufel Gottes, und Staub in der Wage des Heiligthums. Die Aufgabe, von der wir reden, besteht nicht darin, daß man den selbstsüchtigen und dem Weltdienst ergebenen alten Menschen nur übertünche und nach außen hin herausputze, sondern darin besteht sie, daß man denselben, nachdem man bei der Bekehrung den Stab über ihn gebrochen, wirklich dem Tode übergebe, und dem neuen Menschen, dem nach Gott geschaffenen, zu einer immer freieren, völligeren und lebenskräftigeren Entfaltung verhelfe.

Es gilt, nach des Apostels Ausdruck: „sich reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes.“ Leider! aber lassen's an dieser Arbeit an sich selbst nur zu viele der Gläubigen unsrer Tage allzu sehr fehlen. Wohl arbeiten sie an Anderen in allerlei Werken und Diensten der christlichen Liebe; nur nicht an sich. Was Wunder, daß sie, wie wir sie selber unablässig klagen hören, so wenig Frucht von ihrer Liebesarbeit sehen? Wenn diejenigen, um deren Bekehrung sie sich bemühen, allaugenblicklich wahrnehmen müssen, wie sie, ihre Bekehrer, unter dem Aushängeschilde der Demuth doch selbst von dem gewöhnlichsten Hochmuth noch nicht frei zu werden wußten, oder wie sie, die Prediger und Predigerinnen himmlischer Gesinnung, wo es gilt, diesen Himmelssinn zu bethätigen, selbst noch als Solche sich erfinden lassen, die den Eitelkeiten und Füttern der Welt ergeben sind; oder wie sie gar noch dem gemeinsten Geize fröhnen, während ihr Mund vom Preise der himmlischen Güter überströmt, oder bei dem Vorgeben, die Vertreter der Liebe und Sanftmuth zu sein, schon durch die geringsten Anlässe und Reizungen sich außer Stand gesetzt sehen, des eigenen Zorns, ja Hasses Herr und Meister zu werden: ich sage, wenn sie solche Widersprüche gewahren, die Kinder der Welt, wie mögen sie das Evangelium lieb gewinnen, für welches sie gewonnen werden sollen? Und solche leidige Contraste begegnen uns, ich sage es mit tiefem Schmerze, auch noch unter uns, Geliebte, und haben Anlaß gegeben, daß man nicht allein von einem „Hofchristenthum“, von einer „vornehmen Gläubigkeit“, von einem „conventionellen Frommsein“ und dergleichen redet, sondern das lebendige Christenthum überhaupt gleich mit mißtrauischen Augen ansieht, als ob es überall nur Frömmelei, Schein und bloße Gebärde wäre.

Nun sollen wir aber nicht blos der Menschen halber, damit dieselben hochhalten lernen vom Evangelium, und den Vater im Himmel preisen, wenn sie das Acht unsers göttlichen Wandels leuchten sehen, sondern vor allem und zuerst um Gottes willen die Arbeit an uns selbst zur Hauptaufgabe unsres ganzen Lebens machen. Gott sieht allerdings bei der Bekehrung eines Menschen die Person nicht an. Der versunkenste Sünder ist Ihm willkommen, wenn er, an seine Brust schlagend, seinem Gnadenthrone naht. Ja, über den verlorensten der Söhne ist, wenn er Buße thut, Freude im Himmel. Nachdem aber Gott den Sünder begnadigt hat, macht Er auch Ansprüche an ihn, und das um so mehr, da Er ihm alle die Gaben und Kräfte des Geistes zu Gebote stellt, vermittelst deren er diesen Ansprüchen gerecht werden kann. Gott will geehrt sein durch diejenigen, die seinen Namen bekennen. In ihrer ganzen Erscheinung soll sich's thatsächlich beurkunden, daß es mit der in Christo zu Stande gebrachten Erlösung zuletzt nur auf die Wiederherstellung des Menschen zur göttlichen Ebenbildlichkeit, oder auf seine sittliche Verklärung und Vollendung, und nicht blos auf seine Beseligung abgesehen sei. „Was nimmst du meinen Bund in deinen Mund, der du doch Zucht hassest, und wirfst meine Worte hinter dich?“ ruft der Herr im 50. Psalme denjenigen zu, welche versäumen, mit der Heiligung ihres Sinnes und Lebens Ernst zu machen. Gott will, daß ein jeder Christ in seinem Maaße seine, des Ewigen, Tugenden wiederstrahle, und als ein lebendiges Kunstwerk Ihn, den Meister, lobe. Es sagt darum der Apostel: „In der Furcht Gottes“, d. h. in anbetender Hingebung an Gottes Willen, „laßt uns die Heiligung vollbringen und von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes uns reinigen.“ Die „Befleckung des Fleisches“ begreift all' das ungöttliche Wesen in sich, welches im Boden der Sinnlichkeit wurzelt: als die Unkeuschheit, die Begierde nach physischem Wohlleben, die Trägheit, so wie die Leidenschaften des Zorns, der Rachsucht, der Bitterkeit, und was deß mehr ist. Bei der „Befleckung des Geistes“ haben wir vorzugsweise an die Eigenliebe, den Hochmuth, die Ehrsucht, den Geiz, und dann an alle Unwahrheit und Unlauterkeit zu denken. Dieser Sündenbrut in uns den Krieg zu erklären, und wider sie anzukämpfen, bis sie ausgerottet sei, und ihr göttliches Gegentheil in uns zur Herrschaft gelange: das ist die Arbeit an uns selbst, die jeder andern vorgehen muß; und in dieser fortdauernden Arbeit des sich Vergestaltens in das heilige Bild Jesu Christi, des Schönsten der Menschenkinder, besteht die Lebensaufgabe des gläubigen Christen nach seiner Bekehrung. Er soll „etwas werden zu Lobe der herrlichen Gnade“, deren er theilhaftig ward.

 

2.

 

Wie aber wird diese Aufgabe der Selbstheiligung gelöst? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es nur weniger Worte. Was zuvörderst noth thut, ist eine fortgehende Prüfung unsrer selbst. Der Spiegel, in dem wir uns zu beschauen haben, ist die Erscheinung des Herrn vom Himmel, wie sie uns die Evangelien vor Augen malen. Stellen wir uns täglich vor Ihn hin und vergegenwärtigen wir uns, wie Er leibte und lebte, gesinnt war und sich verhielt. Sehen wir, wie Er nichts suchte in der Welt, als seines Vaters Ehre und unser Heil, und alle seine Tage lediglich im Dienste der reinsten selbstverleugnungsvollsten Liebe verbrachte. Schauen wir dies an, und das Licht der Heiligkeit, das von Ihm ausstrahlt, wird uns auch die tiefsten und verborgensten Schäden beleuchten, mit denen wir noch behaftet sind. Schlagen wir dann auch nicht ohne Weiteres in den Wind, was die Welt von uns urtheilt. Irgend ein Wahres ist meist daran, wenn sie uns hochmüthig schilt, oder geizig, oder menschengefällig, oder uns nachsagt, daß wir noch nach eitler Ehre lüstern, oder genußsüchtig, oder unwahr und unzuverlässig seien. Beherzigen wir's, gehen wir in uns, und forschen, ob sich's wirklich so verhalte. Und haben wir vertraute Freunde in dem Herrn, bitten wir sie, daß auch sie uns sagen, was sie etwa an uns wahrgenommen, das mit dem Christenthume nicht im Einklang stehe. Auf solchem Wege werden wir schon dahinter kommen, was von dem alten Sauerteige noch in uns übrig sei, und wodurch unser Leben Gott dem Herrn und seinem heiligen Evangelium bisher mehr noch zur Schmach als zur Verherrlichung gereichte. Geschieht es dann, daß wir schaamroth das Antlitz senken und traurig mit dem Zöllner an, unsre Brust schlagen müssen, o, Heil uns! Die Buße ist der Wendepunkt vom Bösen zum Guten, und der Durchbruch des neuen Menschen zum Siege. Nur nicht verzagt jetzt, sondern zum Gnadenthrone mit dem beklommenen Herzen, zur Beichte vor Gott, und zum Geschrei um Barmherzigkeit, und um Vergebung! Und der Gott, „bei welchem viel Vergebung ist“, und der da „weiß, was für Gebilde wir sind“, wird uns seine Gnade nicht vorenthalten. Sind wir aber der Vergebung wieder gewiß geworden, dann mit erneuertem und verdoppeltem Ernste den sittlichen Auswüchsen, die uns noch anhaften, den Tod geschworen; zugleich, auf daß die Ausrottung dieser Schäden uns gelinge, die göttlichen Verheißungen angefaßt, die uns gegeben sind, und alle Hülfsquellen des Himmels uns geöffnet zeigen; und nun in felsenfestem Vertrauen auf sie angehalten im Gebet und Wappnung, Stärkung und Kräftigung aus der Höh. Was gilt's, wir bringen so den alten Menschen, den Gott widerstrebenden, weltlich und fleischlich gesinnten, unter unsre Füße, schaffen dem neuen, gottgeweihten zu immer freierer und kräftigerer Bethätigung Raum, und rücken mit der Lösung der Lebensaufgabe, die uns und allen Gottespilgern gestellt ist, immer fröhlicher vorwärts.

Säumen wir denn nicht, geliebte Brüder, entschlossen der edelsten aller Arbeiten uns zu unterziehen! Mit welcher Lust und Begeisterung geht ein Bildhauer an sein Werk, obwohl es nur eine unbelebte, vergängliche Figur ist, die er aus seinem Marmorblock heraushaut. Wir sind berufen, durch Gottes Gnade in uns selbst ein lebendiges Abbild und zwar desjenigen darzustellen, auf den einst die Stimme Gottes herabfiel: „Dieser ist's, an welchem ich Wohlgefallen habe!“ O schönes Menschenbild, das würdig erfunden ward, den Himmel einzunehmen, und um deßwillen einst die Erde zur paradiesischen Herrlichkeit sich erneuern muß! Und es wurde uns die Aussicht eröffnet, wie die Kraft dazu erworben, dieses heilige Bild wenigstens den Grundzügen nach schon hienieden in uns zur Ausprägung zu bringen, ob es auch zu seiner Vollendung erst jenseits gelangen wird. Schauet doch, wie aus einem Johannes, Petrus und Paulus euch dies Bild entgegenstrahlt! Auch diese bekennen, wie weit sie auch in der Heiligung vorgeschritten sind: „Wir sind noch nicht was wir sein werden!“ Aber wären wir nur schon wie sie! Die Möglichkeit, dahin zu gelangen, ist vorhanden. D'rum ihnen nach mit unserm Streben, Kämpfen, Ringen! Ihnen nach in der Wachsamkeit über uns selbst, in der Ergreifung der göttlichen Gnadenmittel, und im Gebet! Unzweifelhaft geschieht alsdann je mehr und mehr, was unser apostolisches Texteswort aussagt: „Wir werden uns reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes, und vollbringen die Heiligung in der Furcht Gottes“ und es wird wahr an uns, was uns der Apostel an einer andern Stelle zuruft: „Nehmet immerdar zu in dem Werke des Herrn, sintemal ihr wißt, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.“. Ja, arbeiten wir an uns, und machen wir alle des betenden Sängers Worte zu den unsern:

Nimm in deine Werkstatt mich,

Bildner aus der Höhe,

Daß durch deine Kraft auch ich

Aus dem Tod' erstehe!

Wenn ich dann erstanden bin,

Halt' mich in der Pflege,

Und gib mir in That und Sinn

Göttliches Gepräge!

Wie die Sonn' im Thaue mild

Auf Gefild' und Höhen,

So will Gott in mir sein Bild

Wiederstrahlen sehen.

Hehres Ziel! Ach, wie so fern

Seh' ich's vor mir ragen!

Hilf mir, o du Geist des Herrn,

Siegreich es erjagen! - Amen.

 

 

Die Kehrseite der Lebensaufgabe des Gottespilgers.

 

Luc. 15, 1 - 10.

Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn höreten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichniß und sprach: Welcher Mensch ist unter euch der hundert Schafe hat, und so er der eins verlieret, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er es finde? Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn, und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über Einen Sünder, der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Oder, welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der Einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über Einen Sünder, der Buße thut.

 

Dies, Geliebte, das Evangelium des heutigen Sonntags. Es kommt uns wie gerufen, indem es sich auf's Trefflichste in die Reihenfolge unsrer Wallfahrtsbetrachtungen einfügt. Die Gleichnisse, welche der Herr in diesem Evangelium den über seine Herablassung zu Zöllnern und Sündern murrenden Pharisäern und Schriftgelehrten vorhält, sind euch nach Inhalt und Sinn zur Genüge bekannt. Ihr wißt, daß Er die Bilder des dem entlaufenen Schäflein nacheilenden Hirten, sowie der dem verlorenen Groschen nachspürenden emsigen Hausfrau vor Allem und zunächst auf sich selbst gedeutet wissen will. Es sollen aber auch nach der hier hervorgehobenen Seite hin seine Gläubigen insgesammt, und nicht blos die ordentlich berufenen Lehrer der Kirche, seinem Vorbilde nachfolgen und in seine Fußtapfen treten. Aus diesem Gesichtspunkte gedenke ich diesmal das Evangelium mit euch zu betrachten. - Als wir bei unserm letzten Zusammensein von der Hauptaufgabe miteinander handelten, deren Lösung dem gläubigen Christen während seiner Erdenwallfahrt obliege, und dieselbe darin fanden, daß er an sich selber arbeite, und seine persönliche Heiligung zu vollenden trachte, konnte es den Anschein gewinnen, als unterschätzten wir seine Arbeit nach Außen hin, und an Andern. Was wir aber sagen wollten, war nur dies, daß die Arbeit des Christen an sich selbst, d. i. an der fortschreitenden Verähnlichung seines Sinnes und Wandels mit dem Wandel und Sinne Christi, jeder andern vorgehe, und daß, wo sie versäumt, oder lässig betrieben werde, die Arbeit an Andern eine erfolglose und vergebliche sei. Vereinsmänner und Vereinsfrauen, die, während sie mit großem Eifer den sogenannten „Werken der innern Mission“ obliegen, doch bei jedem Anlaß sich als Solche erfinden lassen, die selbst noch unter der Herrschaft des Geizes nach eitler Ehre, des Selbstgerechtigkeitsdünkels, des Weltsinns, des Neides, der Klatschsucht, oder welcher schlimmen Untugenden sonst noch stehen, mögen sich nicht darob verwundern, daß sie so wenig Früchte von ihrer Arbeit sehen. Der Widerspruch, in welchem ihr Sein und Leben mit ihrem Bekenntniß und frommen Gebühren erscheint, ist wohl geeignet, das Evangelium zu verdächtigen, aber nicht zu empfehlen. Darum zuerst und vor Allem Arbeit an uns selbst; aber dann allerdings auch Arbeit an Andern. Christus will, und Er hat, wieder Apostel Epheser C. 4. bezeugt, auch Veranstaltung dazu getroffen, daß alle „Heiligen“, d. i. Alle, die des Geistes Christi theilhaftig geworden sind, zugerichtet werden zum Werke des Amts, (nach dem Grundtext: der Diakonie,) auf daß der Leib Christi erbauet werde.“ Ja, die Mitwirkung an der Rettung und Heiligung Anderer bildet die Kehrseite der Hauptaufgabe des Christen auf seinem Lebenswege, Auf sie laßt uns heute unsre Blicke richten. Wir sehen zuerst, wie diese Retterwirksamkeit geübt wird; und dann, wie sie so herrlich sich belohnt.

Trage unsre Betrachtung unter Gottes Segen etwas dazu bei, daß wir selbst je mehr und mehr zu Engeln des Friedens für unsre Brüder herangebildet werden!

 

1.

 

Der Pilger, den wir im Geiste begleiten, hat Christum ergriffen, nachdem er von Ihm ergriffen ward, und ist sich in Ihm der Gnade Gottes und seiner zukünftigen Erlösung selig bewußt geworden. Wie er nun aber um sich schaut, sieht er sich von einer Welt umgeben, die seinen Glauben so wenig theilt, daß sie denselben vielmehr nur anficht und befehdet. Ja, vielleicht erlebt er gar das Bittere, daß seine eigenen Hausgenossen seine Feinde werden, und ihn einen „Schwärmer“ schelten, und daß Freunde, die ihm bisher die vertrautesten waren, sich ihm entfremden, wo nicht gar mit Haß und Hohn ihm begegnen. - Das thut weh! Der Vereinsamte und Verarmte sucht nach Gleichgesinnten, denen er sein bedrücktes Herz ausschütten könne. Er findet wohl auch solche da und dort, und athmet wieder etwas freier in ihrer Gemeinschaft. Aber ihm zeuget der Geist, es sei der Wille Gottes nicht, daß er sich mit seinen Brüdern abschließe und isoliere. - Er soll, nachdem ihm das neue Leben aufgegangen, nun selbst ein Licht der Welt, ein Salz der Erde werden. Er findet aber nicht blos in diesem „Soll“, sondern viel mehr noch in seiner mitleidigen Liebe den Sporn und den Beruf, so viel an ihm ist, auch Denen zurechtzuhelfen, die noch blind und heilsvergessen in der Irre gehen. Aber wie ist dies anzufangen? - Diese Frage verdient um so mehr eine ernste Erwägung, je häufiger namentlich Neulinge im Glaubensleben bei ihren Bekehrungsversuchen sich arge Mißgriffe zu Schulden kommen lassen. Gewiß verfehlen sie z. B. ihr Ziel, wenn sie Alle, bei denen sie den specifisch christlichen Glauben noch vermissen, ohne Weiteres zu den Feinden des Christenthums zählen, und ihnen als solchen auch entgegen treten.

Sie haben vollkommen Recht, wenn sie von der Voraussetzung ausgehn, daß außer der Gemeinschaft Christi kein Heil sei, und wenn sie diejenigen als in dringendster Gefahr schwebend ansehn, die in ihrer Blindheit noch auf ihre eigene Gerechtigkeit vertrauen. Wenn sie sie aber von vorneherein als Leute behandeln, in denen auch nicht eine Spur von einem religiösen Sinne und einer Richtung auf's Göttliche vorhanden sei, so begehen sie einen Mißgriff. Einen solchen begehen sie nicht minder, wenn sie für die dem Evangelium noch Entfremdeten etwas Anderes nicht haben, als Bußpredigten, womit sie dieselben überfallen und bestürmen. Gleicherweise werden sie ihr Ziel verfehlen, wenn sie ihnen, unter Androhung der ewigen Verdammniß für den Fall der Nichtannahme, das Evangelium verkündigen, nicht als das, was es ist: als eine fröhliche, selige und anlockende Botschaft; sondern als ein neues Gesetz, was es nimmermehr sein will; und vollends verfehlen sie's unausbleiblich, wenn sie das Bekehrungswerk mit fleischlicher Leidenschaft als eine Parteisache betreiben, und nicht als ein Werk zarter, heiliger und weisheitsvoller Liebe. Ja, laßt mich's wiederholen: die Hauptbekehrungskraft liegt in der geistdurchwirkten persönlichen Erscheinung des gläubigen Christen. Wenn er das Leben des Glaubens nicht nur anpreist, sondern auch als Träger desselben sich darstellt und es allewege gleichsam athmet; wenn in seinem ganzen Wesen und Verhalten sein christlicher Charakter sich lebendig ausprägt, und ihn als einen Mann aus einem Guß erscheinen läßt; wenn Alles, was immer er vornimmt oder redet, die göttliche Harmonie seines Innern wiederspiegelt, und den ungetrübten Reflex seiner geheiligten, himmlischen Gesinnung bildet: o, dann ist's in der That nicht noch, daß er, um Andere für das Evangelium zu gewinnen, viele Worte und große Anstrengungen mache. Ist er Hausvater, so darf er um das Heil seiner Hausgenossen nicht allzu besorgt mehr sein. Auch ohne, daß er förmliche und regelmäßige Haus-Andachten hält, wird schon der geheiligte Luftkreis, der sich um ihn bildet, und in dem die Seinen athmen, diese unvermerkt erziehen und dem Herrn in die Arme führen. Ist er Lehrer, nie wird sich in den Herzen seiner Schüler der gesegnete Einfluß ganz verwischen, den, abgesehen von seinen Lehren, seine Persönlichkeit als solche auf sie ausgeübt. Ist er ein Handwerksmeister, der Geist, der ihn regiert und von ihm ausgeht, wird ohne alle Mühe seinen Gesellen die Schranken der Zucht und Ordnung setzen, innerhalb deren sie sich zu bewegen haben, und ein Wort der Mahnung oder Strafe aus seinem Munde wird tiefer einschlagen und nachhaltiger wirken, als tausend christliche Worte eines Andern, im Blick auf den es in irgend welcher Beziehung heißen müßte: „Nach seinen Worten thut, aber nicht nach seinen Werken!“ Ist er Officier, - o, ein General Ziethen hat auf die religiöse Gesinnung und sittliche Haltung eines großen Theils der Armee des siebenjährigen Krieges, vermöge seiner zwar wortkargen, aber kernigten Frömmigkeit, und, wo die Gelegenheit es gebot, durch sein bündiges, aber energisches Glaubensbekenntniß gesegneter und nachhaltiger eingewirkt, als mancher Feldprediger mit allen seinen Predigten; und von dem vor Kurzem im fernen Indien auf dem Felde der Ehre gestorbenen englischen General Havelock wird uns berichtet, daß er, ebenfalls ohne viel von seinem Glauben zu reden, und ohne mit seiner Umgebung förmliche Betstunden abzuhalten, durch das harmonische Ganze seiner acht christlichen Haltung einen nicht geringen Theil des ihm untergebenen Officiercorps zum Glauben geneigt gemacht, und zum Gebete mit sich fortgerissen habe. Rein, mit frommen Zusprüchen, Ermahnungen und Bekenntnissen allein wird so wenig noch etwas ausgerichtet, wie mit gesetzlichen Vorschriften und Anleitungen zu gottesdienstlichen Uebungen und Formen. Bekehrer und Bekehrerinnen, die Andern predigen, während sie die Arbeit an sich selbst hintansetzen, und in ihrem eigenen Herzens und Lebensgarten das Unkraut des Hochmuths, der Schmähsucht, des Jähzorns, und welcher Untugenden sonst noch frei und ungehindert um sich wuchern lassen, schaden, - ich wiederhole es, - der guten Sache des Evangeliums ungleich mehr, als sie ihr Vorschub leisten. Der große Regent, der hier unter mir schläft, würde wahrscheinlich eine ganz andere Stellung zum Christenthum eingenommen haben, als in welche er hineingerathen war, hätte ihm dasselbe nicht blos äußerlich aufgedrungen werden sollen, und wäre die, übrigens höchst achtungswerthe, Persönlichkeit seines königlichen Vaters ein durchlauchtigeres Gefäß des evangelischen Geistes gewesen, als sie es war. Denn ihr wißt, wie von diesem Herrn nicht Wasser des Lebens nur, sondern gar häufig auch donnernde Katarakte zornmüthigen Ungestüms, fleischlichen Eifers und anderer Aufwallungen auszugehen pflegten, in denen sich von Liebe, Demuth und innerem Frieden nicht eben viel entdecken ließ. Er war mehr ein Mann vom Sinai, als vom Berge Tabor; aber immer noch ein bessrer Evangelist, als so Manche, die heut zu Tage für Mitarbeiter am Reiche Gottes angesehn sein wollen. Freilich werden's nun aber diejenigen, die das Werk ihrer persönlichen Heiligung mit allem Ernst betreiben, auch am Wort nicht fehlen lassen; denn wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Und da sie allerdings berufen sind, ein Jeder in seinem Kreise, auch Andere zur Fahne der allein seligmachenden Wahrheit zu werben, so thun sie gar wohl daran, daß sie eine immer gründlichere Bekanntschaft mit dem Worte des lebendigen Gottes anstreben, mit alle dem sich rüsten, was sie in den Stand setzt, die Zweifel zu brechen, von denen die heutige Welt beherrscht wird, und die Gabe eines liebreichen, klaren und eindringlich überzeugenden Zuspruchs sich anzueignen suchen. Es ist wahr, Manche sind hiezu weniger angelegt, oder auch in ihren Verhältnissen minder dazu gestellt. Aber es haben auch diese neben ihrem christlichen Wandel auch noch sonst ihr geistlich Netzlein empfangen, das sie gelegentlich in ihre Umgebung auswerfen mögen: das einfache Zeugniß von ihrem persönlichen Glauben, die demüthige und vertrauliche Mittheilung ihrer geistlichen Lebenserfahrungen, und vornehmlich das Gebet in der Verborgenheit des Kämmerleins. O wie so manche gläubige Mutter hat schon gleich der Monica, der Mutter des Kirchen-Vaters Augustin, ihre verlorenen Söhne aus dem Verderben heraus gebetet! Wie oft berichtet uns die Missionsgeschichte, daß gemißhandelte Sclaven durch ihre anhaltende Fürbitte für ihre tyrannischen Herren, diese aus Löwen und Tigern zu sanften Lämmern umgewandelt haben! Solchen Gebeten neigt der Herr sein Ohr; und nichts übt selbst auf die halsstarrigsten Seelen einen so mächtigen und zermalmenden Einfluß, wie die Entdeckung, daß irgendwo die Liebe, - ach, häufig unter vielen Thränen, - für sie bete, und mit Gott um ihre Rettung ringe. -

 

2.