Deutsche Demokratische Rechnung - Dietmar Dath - E-Book

Deutsche Demokratische Rechnung E-Book

Dietmar Dath

4,6

Beschreibung

Veras Vater wird beerdigt. Einsam war es um den Mann geworden, der einst der Neuen Ökonomischen Politik Walter Ulbrichts das wissenschaftliche Zahlenwerk gab. Seine Tochter verbindet wenig mit ihrem Vater und dem Land, in dem sie geboren wurde. Bis sie im Kreise der politischen Aktivisten den Journalisten Frigyes kennenlernt. Für Vera öffnet sich eine Verbindung zur Welt ihres Vaters. Langsam tastet sich die junge Frau an ihr Vermächtnis heran. Frigyes jedoch kann am Erbe der DDR nichts Gutes finden und nennt Veras Versuche traurig und grotesk. Dietmar Daths Geschichte über die Positionierung heutiger Politaktivisten und Linker schlägt einen ungewöhnlichen Bogen in die Historie der beiden deutschen Staaten. Sie buchstabiert aber auch die Ökonomie der täglichen Verzweiflung und Depravation, aus der Auflehnung entstehen kann und muss.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-359-50042-1

ISBN Print 978-3-359-02471-2

© 2015 Eulenspiegel Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines ­Motivs von picture alliance / G. Büttner

Die Bücher des Eulenspiegel Verlages erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Was das nicht schriftlich niedergelegteWissen betrifft, das sich verstreut unter Menschen verschiedener Berufe findet,bin ich überzeugt, dass es nach Menge und Bedeutung allesübertrifft, was in Büchern geschrieben steht, und dass der besteTeil unseres Schatzes noch nicht registriert ist.

Gottfried Wilhelm Leibniz, 1690

Wir sind für freie Wirtschaft, nämlich frei vondenen, die aus ihr ein Instrument ausschließlich persönlicher Bereicherung machenund dem Volke die Krisen bescheren, den Staat aber dieKosten für die sozialen Opfer ihrer Freiheit des Profitemachens tragenlassen. Wir sind für die Befreiung der Wirtschaft von denen,die jederzeit auch bereit sind, wenn ihre Profite sinken, einenKrieg zu entfesseln, damit ihre Profite wieder steigen.

Walter Ulbricht, 1947

Eins: Tote ergeben sich nicht

Beerdigungen sind selten lustig, aber Vera findet, ihr Vater übertreibe es.

Niemand ist gekommen. Niemand, das sind zusammen sie selbst und ihr dritter ehemaliger Verlobter, der gute Gerd.

Ihr Vater hat diesen Gerd verachtet. Er nannte ihn mit der bitteren Vorliebe für verletzende Sprache, die ihn zuletzt fast ganz aufgefressen hat, immer nur den »Trottel« – in ärgerer Laune auch den »Scheißphilosophen«.

Vera denkt: Ich sitze hier bei deiner Beerdigung, Papa, in dieser zugigen, gnomischen Berliner Kapelle, auf diesem mickrigsten und ungepflegtesten aller Berliner Friedhöfe. Du wolltest das so. Wir machen das so. Was hast du jetzt davon?

Ich war für dich die »freche Ziege«, menschlich im Grunde ein Nichts, und meine Hand hält zum Trost der von dir so getaufte Trottel, noch eine Null. Zwei Nullen zusammen auf einer nichtigen Veranstaltung, einer Nullveranstaltung für einen, den man, wie er zornig immer wieder sagte, längst gelöscht hat.

Man muss das ausmultiplizieren, wie du es mir beigebracht hast, Papa: »Denk daran, Vera, Punkt vor Strich, und vergiss nicht das Distributivgesetz.« Gut, also die Klammer um die Trauergäste aufgelöst und die Veranstaltung als Null gezählt, als die Funktion dieser Gäste, und Null mal Null plus Null mal Null gibt Null: Niemand ist gekommen, nichts findet statt.

Hier steht ein Pfarrer vor uns, denn am Ende warst du angeblich wieder evangelisch.

Als ich ein Kind war, sagtest du nie »Pfarrer« oder »Pastor«. So einer war für dich immer nur ein »Lügner«, »Lügenbold« oder »Märchenonkel.«

Solche Lügner, hast du immer gesagt, »haben mitgeholfen, das Land kaputtzumachen. Aber ich bin ihnen nicht mal böse. Sie mussten ihre Lügen glauben, es war ihr Beruf. Böse bin ich den andern, die diese Lügen nicht glauben mussten, sondern glauben wollten. Den Frommen, den Predigern der Demokratie ohne jede Macht für die Arbeit. Den Leuten, die so denken wie dein Philosoph: Irgendwie antiautoritär, egal, wer gerade die Autorität ist, irgendwie links und irgendwie lieb und Kraut und Rüben.«

Das klang zum Ende hin oft verwaschen, zerfahren.

Und jetzt? Hörst du ihn, Papa, wie er dich lobt, der Lügner?

Vera hat eine sehr kleine Anzeige im »Neuen Deutschland« aufgegeben. Sie wusste, dass sich die Alten hier nicht zeigen würden – falls es überhaupt jemand gelesen hat, der begreift, wer da jetzt tot ist, denkt sie, dann waren das Leute, die ihn vergessen wollen, oder Leute, die selbst zu kaputt sind, sich an einen Ort wie diesen zu begeben, zumal die Angst berechtigt wäre, man behielte sie gleich da.

Außerdem war die Anzeige erst gestern im Blatt, im Grunde keine ernst gemeinte Einladung zur Beisetzung. Ihr Vater hätte das lustig gefunden. Stumm steht er jetzt da als Häuflein Asche in einem Topf, während der bestellte Lügner sagt: »Zahlen waren seine Leidenschaft. Wo andere Menschen sich nichts denken, dachte er bei Zahlen stets an lebendige Ideen. Er sah in die Welt der Zahlen hinein, wie einer die Natur betrachtet, der Tiere oder Pflanzen liebt.«

So ein Unsinn, denkt Vera. Sie ist froh, dass das heilige Gerede, das sie aus dem Erbe ihres Vaters bezahlen wird, so deprimierend falsch ist. Denn die Verkehrtheit des Geredes lenkt sie vom Toten ab und seinem traurigen Leben. Dächte sie jetzt daran, so müsste sie womöglich wieder weinen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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