Deutsches Reich 2014 - Heiger Ostertag - E-Book

Deutsches Reich 2014 E-Book

Heiger Ostertag

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Beschreibung

Deutschland im Jahre 2014. Das Land ist im Taumel der Hundertjahrfeier zum Beginn des Großen Krieges 1914 – 1918, aus dem das Deutsche Reich siegreich als europäische Supermacht hervorging. Die folgende Friedenszeit unter Kaiserin Marie-Auguste führte zu ungeahntem Wohlstand und zur demokratischen Erneuerung von Staat und Monarchie. Mitten im Feiern stellt ein brutaler Terroranschlag alles Erreichte in Frage. Volk und Regierung sind wie gelähmt, da nutzt eine Clique nationalistischer Militärs die Gunst der Stunde und ergreift die Macht. Doch es regt sich Widerstand … Deutsches Reich 2014 ist ein Historienthriller der Sonderklasse!

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Deutsches Reich 2014 eine historische Fiktion

Heiger Ostertag

Umwelthinweis:

Dieses Buch wurde auf chlor- und

säurefreiem Papier gedruckt

1. Auflage 2011

SüdWestBuch, SWB-Verlag, Stuttgart

Lektorat und Korrektorat: Cornelia Jung, Saarbrücken

Titelbild: © sinicak

2011 Benutzung unter Lizenz von Shutterstock.de

Titelgestaltung: Heinz Kasper, Frontera

Satz: Heinz Kasper, www.printundweb.com

Druck und Verarbeitung: E. Kurz + Co., Druck und

Medientechnik GmbH, Stuttgart www.e-kurz.de

Printed in Germany

ISBN: 978-3-938719-32-9

www.swb-verlag.de

Für Sophia Magdalena

Danksagung

Mein Dank gilt meinem Doktorvater Professor Hans Fenske für seine wertvollen inhaltlichen Hinweise und seine freundliche Beurteilung. Ich danke der Kollegin Inge Plieninger für ihre Vorablesung und kritische Rückmeldung. Besonders danke ich Hans Vastag für seine freundschaftliche Unterstützung und die besondere Mit- und Zuarbeit im Anhangsbereich. Einen herzlichen Dank auch an Frau Cornelia Jung.

Inhalt

Flottentag

Donauwellen

Ostseewasser

Preußisches Marineblau

Am Grunde der Moldau

Zum deutschen Rhein

Elbe, Havel, Spree

Von der Maas bis an die Memel

Anlagen

1. Ländergeschichte 2014 (unter Mitarbeit von Hans Vastag)

2. Die Kaiser des Deutschen Reiches

3. Die Kanzler des Reiches nach dem Großen Krieg (Koalitionspartner)

4. Namen wichtiger Personen und Handlungsträger

5. Chronologie

6. Neue Sprache/Abkürzungen

7. Material zu Tannenberg

8. Kartenmaterial

Der Roman Deutsches Reich 2014 zeigt eine fiktive Zukunft, die auf einer ebenso fiktiven Vergangenheit beruht. Er ist daher im besten Sinne eine neohistorische Utopie. Die angeführten geschichtlichen Varianten waren und sind durchaus denkbar. Ob die veränderten Parameter zu dem dargestellten Ergebnis geführt hätten, ist eine packende Fragestellung, deren Beantwortung dem Leser überlassen wird. Sämtliche Persönlichkeiten, die im Roman genannt werden, gab es in der Vergangenheit, könnte es gegeben haben oder in der Gegenwart geben. Oder es wird sie geben oder aber, sie sind nie gewesen und dürften, besonders in den genannten Zusammenhängen, nie existiert haben. Namentliche Ähnlichkeiten sind somit Zufall oder historisch-politisch belegbare Absicht. Letztlich ist aber alles, was dargestellt wird, im Bereich des Möglichen und Denkbaren, mithin utopisch und real zugleich. Ich hoffe jedenfalls, der Inhalt des Romans regt zur historischen Nachdenklichkeit an und wird von den Richtigen richtig verstanden werden.

Heiger Ostertag

Flottentag

Da tauchen sie am Horizont auf, die größten Schiffe der Reichsmarine, die Flugzeugträger Kaiser Wilhelm III. und Kaiserin Marie Auguste. Im raschen Tempo ihrer 70 Knoten nähern sie sich der Hafenbucht. Silberne Gischt spritzt auf, ein Ruck geht durch die Schiffsleiber. Der Oberkommandierende der deutschen Ostseeflotte, Admiral Paul Zenker, Urenkel des legendären Führers des Schlachtkreuzers von der Tann, gibt den Befehl zum Maschinenstopp. Majestätisch und erhaben gleiten nun die beiden riesigen Kolosse lautlos auf den Kieler Hafen zu. Wie gewaltige, dunkle Eisberge rauschen sie durch das aufspritzende Wasser der Ostsee. Hell leuchten Hunderte von glitzernden Spiegelflächen auf den Steuer- und Backbordquerseiten sowie auf den Heckflächen. Eine Vielzahl von kleineren Segel- und Solarbooten begleitet die gigantischen Schiffe bei ihrer Einfahrt und Dutzende von Feuerschiffen spritzen zur Begrüßung Wasserfontänen in die Höhe. Mit ihrem Einlauf, erstmalig seit fünfzig Jahren gemeinsam mit dem schweren Schlachtkreuzer der Royal Navy, Glorious II, beginnt die diesjährige Kieler Woche …

Auf der breiten Bildleinwand war die Einfahrt der zwei Großsolarschiffe und des Kreuzers der Navy in die Kieler Buch zu sehen. Langsam glitten sie näher, lautlos und gewaltig, eindrucksvoll in ihrer riesigen Größe. Da, auf einmal schienen die Konturen der Kaiser Wilhelm III. und der Glorious II miteinander zu verschmelzen. Beide Schiffe bildeten ein dunkles Knäuel und dann stieg ein greller, gelber Feuerpilz senkrecht in die Luft und ein entsetzliches Krachen und Dröhnen füllte den Raum.

Robert von Warthenberg starrte entsetzt auf die Leinwand. Das Geschehen schien sich zu überschlagen. Rötlicher Qualm breitete sich im Bild aus und hüllte die Stelle ein, wo die Schiffskörper eben noch gewesen waren. Sirenen heulten. Menschen schrien und die Stimme des Sprechers überschlug sich. Schließlich wurde das Bild dunkel und die Schrift „Störung“ erschien.

Von Warthenberg blieb einen Augenblick regungslos sitzen, dann löste er sich aus der Starre, erhob sich und schaltete den Apparat aus. Er und Millionen anderer Zuschauer waren Augenzeugen einer Katastrophe geworden. Ein Zusammenstoß zwei der größten Schlachtschiffe der Welt! Und das vor laufender Kamera. Ein Ereignis, wie der Absturz des Luftschiffes Hindenburg im Jahre 1937.

Der legendäre Einlauf der Großkampfschiffe in die Kieler Bucht, die jährliche Auftaktveranstaltung des Flottenvereins, hatte in einem schrecklichen Desaster, in einem grauenhaften Unglück geendet. Wie konnte das geschehen? Was war passiert? Fragen schossen Robert durch den Kopf. Hatte die hochkomplizierte Solarsteuerungstechnik versagt? Oder lag menschliches Versagen vor, waren dem Kapitän und seinen Steueroffizieren auf der Kommandobrücke ein oder mehrere Fehler unterlaufen? Oder – nicht auszudenken, was das bedeuten mochte – handelte es sich um einen Sabotageakt? Warum wurde die Direktsendung derart abrupt abgebrochen? Was war wirklich in Kiel geschehen?

Robert von Warthenbergs Interesse war vielfältiger Natur und mehr als private Neugier und Sensationslust. Als gebürtiger Hamburger interessierte er sich seit frühester Jugend für Seefahrt und Schiffstechnik. Er hatte Maschinenbau in Bremen studiert und über den Einsatz von Solarantrieben bei Überseeschiffen promoviert. Überraschenderweise war Dr. Robert von Warthenberg nach seinem Studium nicht zur Marine, sondern zur Reichsluftwaffe gegangen. Dort, im dritten Luftfliegergeschwader Immelmann, erweiterte er seine maritimen Kenntnisse um die der Aeronautik. Nach der vierjährigen Militärzeit hatte von Warthenberg ein weiteres Studium aufgenommen. Diesmal belegte er die Fächer Neuere Deutsch-Europäische Geschichte sowie Neuere Militärgeschichte. Parallel stand er dem Reichskriegsministerium für Sonderaufgaben zur Verfügung, ganz im Sinne der Familientradition derer von Warthenberg. Derzeit arbeitete er an einer Untersuchung des geheimen Militärreichsnachrichtenwesens. In Wien, wo von Warthenberg sich gerade befand, hatte er wegen seiner Arbeit das dortige Archiv und das Heeresgeschichtsmuseum besucht. In der Öffentlichkeit und in der Regenbogenpresse war der hochgewachsene Enddreißiger als Autor kunstsinniger Artikel, Globetrotter und veritabler Salonlöwe bekannt. Von seinen nachrichtendienstlichen Aktivitäten wusste selbst im Familienkreis niemand etwas.

Die nächste Stunde verbrachte von Warthenberg damit, im Netz nach weiteren Informationen über die tragischen Ereignisse zu suchen. In seine Arbeit hinein schrillte der Fernsprecher. Von Warthenberg nahm den Hörer ab und meldete sich.

„Warthenberg …“

„Reichskriegsministerium, General von Lübben. Haben Sie mitbekommen, was passiert ist?“

„Jawohl, Herr General.“

„Gut, ich brauche Ihnen nicht zu erklären, dass die Schiffskatastrophe eine Angelegenheit ist, die das ganze Reich betrifft. Die Veranstaltung in Kiel steht im Brennpunkt der Öffentlichkeit und der Medien. Schließlich gehören über 80 der 385 Millionen Einwohner des Deutsch-Europäischen Reiches dem europäischen Flottenverein an. Und diese Öffentlichkeit will informiert werden. Was genau in Kiel passiert ist, lässt sich zurzeit nicht sagen. Aber ich glaube nicht an einen Unfall. Ich befürchte, es handelt sich um einen Anschlag!“

„Sie halten die Katastrophe für einen Anschlag? Das wäre ein unglaubliches Geschehen! Sind Sie wirklich sicher, Herr General?“, fragte von Warthenberg entsetzt.

„Ich sagte, ich befürchte, es handele sich um einen Anschlag. Sicher bin ich nicht, und es besteht natürlich die Chance, dass ich mich irre. Doch ganz gleich, was passiert ist, das Kriegsministerium muss sofort auf die Ereignisse reagieren. Ich bin vom Minister beauftragt, ein Untersuchungsteam zu bilden. Und, Warthenberg, ich will Sie in der Gruppe! Kommen Sie umgehend zurück nach Berlin. Der nächste Zeppelin startet morgen früh um 8:30 Uhr.“

An seinem letzten Abend in Wien besuchte Robert von Warthenberg mit einem Wiener Kollegen im Burgtheater die Neuinszenierung eines Stückes von Bernd Thomas aus dem Jahre 1975. Das Burgtheater am Dr.-Karl-Lueger-Ring war das alte österreichische Staatstheater. Es galt als eine der bedeutendsten Bühnen Europas. Das ursprüngliche Gebäude brannte 1945 aus und wurde nach einer völligen Restaurierung 1955 wiedereröffnet. Robert war bislang nicht in der „Burg“ gewesen. Das Bauwerk und sein ganzes Ambiente faszinierten ihn, insbesondere die Deckengemälde in den beiden Stiegenhäusern, die Gustav Klimt gemeinsam mit seinem Bruder Ernst Klimt und Franz Matsch geschaffen hatte. Auf dem heutigen Programm stand „Die Jäger“, ein Schauspiel in der Tradition der modernen Inszenierungen, die mit Gerhard Klingenberg begonnen hatten und vom aktuellen Direktor Matthias Hartmann fortgeführt wurden. Die Hauptfigur der „Jäger“ war ein General, der durch einen Staatsstreich die Macht im Land ergreift und in Zukunftsplänen schwelgt. Hart will er durchgreifen und den Staat von Grund auf verändern. Doch er weiß nicht, dass auch sein Sturz schon beschlossen ist. Robert folgte nur kurz den verworrenen Abläufen und akrobatischen Dialogen auf der Bühne. Das Geschehen langweilte ihn. Was vor vierzig Jahren provoziert haben mochte, wirkte auf den heutigen Betrachter mehr oder minder altbacken. Seine Gedanken wanderten wieder zur Kieler Katastrophe, die er mit Millionen anderer Menschen am Bildschirm hautnah miterlebt hatte. Was hatte den Zusammenstoß nur verursacht? Ein schreckliches Geschehen voller Schmerz und Tod – die Wirklichkeit überbot die Fiktion der Kunst allemal. Vorn auf der Bühne berauschte sich der General an der Todesverfallenheit der Welt. Mehr und mehr wurde das Stück zu einer Elegie auf das Sterben. Alles, was in dieser Welt geschehe, gab der Held des Dramas kund, sei Verzögerung auf den Tod hin und unaufhaltsames Dahinsterben. Roberts Bedarf an Morbidität war gedeckt. In der Pause verabschiedete er sich von dem Kollegen, verließ das Theater und lief „heim“ ins Hotel Sacher in der Kärtner Straße.

Heute, am 28. Juni 2014, kehrte von Warthenberg an Bord eines Zeppelins der Hindenburgklasse von seinem abgebrochenen Wienbesuch befehlsgemäß in die Unions- und Reichshauptstadt Berlin zurück. Er saß am Fenster der Kabine und genoss den Flug. Als Major der Reserve war von Warthenberg auch korrespondierendes Mitglied in der Richthofen-Zeppelin-Gesellschaft. Während seiner aktiven Militärzeit hatte er neben dem Pilotenschein für Jagdflugzeuge, dem PfJ, zusätzlich einen Ballonflugschein zweiter Klasse erworben.

Unten entschwand Wien seinen Blicken. Eigentlich hatte er noch eine Woche bleiben und vor allem seine junge Base Alwina von Morus treffen wollen. Die Familie von Morus war der österreichische Zweig der von Warthenbergs und dort in nahezu allen wichtigen Regierungsfeldern sowie in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst präsent. Alwina, eine dunkelblonde Schönheit von Mitte zwanzig, war seit ihrer Jugend eine begeisterte Kunstsammlerin. Sie hatte Robert von Warthenberg eingeladen, ihre neuesten Akquisitionen der österreichischen Naiven aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts zu bewundern. Robert hatte zugesagt. Ein Abend mit Alwina war stets ein besonderes Erlebnis. Die Base kannte im Wiener Kunstbereich Gott und die Welt. Und sie selbst war in den letzten Jahren zu einer durchaus anziehenden jungen Frau geworden. Leider hatte er sie gestern nicht mehr erreicht. Für die nächsten Tage war Robert noch mit seinem Vetter Friedrich von Morus zu einem Jagdausflug ins Ungarische hinein verabredet gewesen. Friedrich besaß eine ausgedehnte Jagd in der Gegend von Deutsch Jula. Aus diesem Besuch wurde jetzt ebenfalls nichts.

Robert von Warthenberg schaute weiter aus dem Kabinenfenster. Unten zeigten sich die Spielzeugsilhouetten von Kirchen und Häusern. Grüne Wälder, reife Felder, die braunen Hügel der Mittelgebirge und weite, graue Stadtlandschaften. Schließlich das blausilberne Band der Seenkette um Berlin. Die Kabine glitt nach unten. Langsam drehte der Zeppelin zum Landeanflug ein.

General von Lübbens Anruf hatte sehr dringend geklungen. Bei dem Verdacht, den der General formuliert hatte, war das verständlich. Mittlerweile nahmen die Nachricht über das Unglück und Spekulationen zu den Ursachen in der Presse und den übrigen Medien breitesten Raum ein. Die Katastrophe selbst war umfassend gewesen: Der schwere Schlachtkreuzer Glorious II war völlig ausgebrannt. Das Solarkampfschiff Kaiser Wilhelm III. lag manövrierunfähig quer in der Hafeneinfahrt. Über 450 Menschen waren im Flammeninferno ums Leben gekommen, darunter auch ein Großteil der Seeoffiziere. Unter den Toten war Admiral Paul Zenker. Ein wirklich schwerer Schlag für die Reichsmarine. Sonstige Fakten über das Geschehen schienen nicht vorzuliegen. Die Medien verloren sich in vielfältigen, unbelegten Spekulationen. General von Lübben musste Genaueres über die Kollision wissen, um von Sabotage sprechen zu können …

Robert von Warthenberg wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Die Stewardess überreichte ihm ein Kabel. General von Lübben teilte mit, für 15 Uhr sei eine Sitzung in der Wilhelmstraße angesetzt. Eine Sitzung, an der, wie er schrieb, spezielle Gäste teilnehmen würden. Wer diese sein sollten, verriet das Kabel des Generals nicht.

Der Zeppelin landete exakt um zwölf Uhr Ortszeit. Die Ausstiegstreppen rollten an die Kabinentüren. Robert von Warthenberg verließ das Luftschiff. Ein Elektrobus brachte die Luftreisenden über das Flugfeld zur großen Passagierhalle. Während von Warthenberg im Ruhebereich auf das Gepäck wartete, betrachtete er die Landkarte, die eine Wand des Raumes völlig bedeckte. Die wichtigsten Flugfelder des Reiches und der Union waren durch farbige Lichter markiert. Im Zentrum die drei Flughäfen der Reichshauptstadt Berlin: Tempelhof, Schönefeld und Straußberg. Dann die Hauptflugfelder der Reichsländer und Reichsprovinzen. Hamburg, München, Frankfurt, Köln, Stuttgart, Leipzig, Straßburg, Danzig, Luxemburg, Posen und Königsberg im Kernreich. Antwerpen, Amsterdam, Wien, Prag, Brüssel und Zürich in den neuen Reichsländern. Im Konföderationsgebiet Paris, Reval und Mailand sowie Marseille. Dazu unzählige kleinere Lichter, die weitere Flughäfen anzeigten. In kräftigem Magentarot war das Territorium des Kernreichs mit den Außenregionen und Reichsländern, Holland, Belgien, das Großherzogtum, Böhmen-Mähren und Helvetien gezeichnet. Etwas heller der Gau Baltikum, die Lombardei, Großungarn und Altösterreich sowie die Grafschaft Tirol. In Altrot das Protektorat Serbien. Ganz hell der neue Osten, das Reichsland Ukraine. In leuchtendem Rot Großfrankreich mit der Sapaudia sowie dem Königreich Nizza-Savoyen.

Dem Beitritt Frankreichs als gleichberechtigtes Konföderationsmitglied im Jahre 1953 durch den so genannten Élysée-Vertrag war ein langer historischer Prozess vorhergegangen. Jahrhundertelang hatten Deutschland und Frankreich in Krieg und Streit miteinander gelegen. Im Dreißigjährigen Krieg, in den verschiedenen Erbfolgekriegen, im Siebenjährigen Krieg, in den Napoleonischen Kriegen sowie im Reichseinigungskrieg 1870/71. Und zuletzt in dem schrecklichen Ringen um die Vorherrschaft in Europa im Großen Krieg in den Jahren 1914 bis 1918. Millionen von Toten hatte der Krieg gekostet, das Reich war an die Grenzen seiner Kraft geführt worden. Der Stellungskrieg im Westen, die ungeheuren Materialschlachten, die Hungerblockade hatten den Durchhaltewillen des Volkes beinahe gebrochen. Sein Großvater hatte ihm als Kind von den Kämpfen erzählt. Wie das Artilleriedauerfeuer Stunde um Stunde wütete, ganze Bataillone fraß und Mensch und Material gleichsam zermalmte.

Anfang 1917 sah es dann fast so aus, als ob die USA sich in das Ringen einschalten würden und dadurch der Krieg verloren gehen könnte. Schon anlässlich der Lusitania-Affäre war mit dem Kriegseintritt der Amerikaner gerechnet worden. 1915 wurde das britische Passagierschiff RMS Lusitania vor der Südküste Irlands von einem deutschen U-Boot versenkt. Dieser Zwischenfall kostete fast 1200 Menschen das Leben – darunter 128 US-Amerikaner. Zwar war die Lusitania weder bewaffnet noch dem direkten Befehl der britischen Admiralität unterstellt gewesen, doch die Führung der Royal Navy nutzte das Schiff zur Beschaffung von kriegswichtigen Gütern. Die Lusitania transportierte auf allen Überfahrten in östlicher Richtung Munition und andere, eindeutig gegen die Blockaderegeln verstoßende Güter. Diese Transporte unterlagen strenger Geheimhaltung, faktisch wurde das Schiff zum „Blockadebrecher“ und war seit der deutschen Erklärung der britischen Gewässer zum Kriegsgebiet am 4. Februar 1915 legitimes Ziel für einen Angriff durch deutsche Seestreitkräfte. Bei der letzten Fahrt befanden sich 8 200 Frachtkisten mit Kriegsmunition verschiedener Art an Bord; die Kisten waren aus Geheimhaltungsgründen als Jagdgewehrmunition deklariert. Dann kam es zur Versenkung des Schiffes. Im Hinblick auf die nachgewiesene Munitionsladung äußerte sich der amtierende Außenminister William Jennings Bryan gegenüber Präsident Wilson, dass es das Recht der Deutschen sei, Konterbanden zu bekämpfen und es nicht angehen könne, Passagiere, Frauen und Kinder als Schutzschilde zu missbrauchen. Ähnlich reagierte auch die amerikanische Bevölkerung, die trotz der Tragödie keinen Anlass zu einer Verstrickung in den europäischen Krieg sah. Als sich jedoch die Verluste häuften und weitere Amerikaner umkamen, drohte die Stimmung erneut zu kippen. Ultimativ wurde das Reich aufgefordert, den U-Boot-Krieg zu beenden. Notgedrungen ging die Marineleitung darauf ein, zur Freude der Briten, die ungehindert ihren Nachschub heranschafften. Schließlich wurde die Blockade, trotz amerikanischer Drohungen, wieder aufgenommen und eine Kriegserklärung der Vereinigten Staaten schien unmittelbar bevorzustehen. Da nahmen im Februar 1917 die schon länger schwelenden Spannungen der USA mit Mexiko rapide zu. Der mexikanische Präsident Venustiano Carranza ging aktiv gegen amerikanische Investoren vor, drohte offen mit Enteignungen und mit einer Invasion der ehemaligen mexikanischen Gebiete Kalifornien und New Mexico. Präsident Wilson antwortete mit einem Truppenaufmarsch am Rio Grande, der Südgrenze der Vereinigten Staaten. Ein gleichzeitiges Engagement in Europa lehnte er bis zur Beendigung der Mexikokrise ab. Im März 1917 entdeckte ein findiges Reporterduo der Washington Post, dass der Erste Lord der Admiralität im britischen Marineministerium, Winston Churchill, den Zwischenfall mit der Lusitania bewusst arrangiert hatte. Die Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten war hell empört, dass amerikanische Bürger sozusagen als Köder gedient hatten und die Stimmung wandelte sich erneut zugunsten Deutschlands.

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit“, äußerte Hiram Johnson, damals Senator für den US-Bundesstaat Kalifornien. Damit war die Lage im Westen deutlich besser geworden. Im Südosten sah es allerdings bedenklich aus. Dem Reich war es nicht gelungen, den Gegner von der Balkanhalbinsel zu vertreiben. Die Schwäche des Osmanischen Reiches band starke Kräfte im Nahen Osten. Andererseits hatten Engländer und Griechen nicht die Kraft, die bulgarische Front zu durchstoßen. Im Osten leitete das Jahr 1917 die Wende des Krieges ein. Die beiden russischen Revolutionen im Februar und Oktober 1917 führten zum Zusammenbruch Russlands und zum Siegfrieden von Brest-Litowsk im März 1918. Die Ukraine und Finnland wurden unabhängig und feste Bündnispartner des Reichs. So gestärkt, begann General von Ludendorff am 21. März an der Westfront mit der Operation Michael eine Serie von fünf deutschen Offensiven, die so genannte Kaiserschlacht. Auf eine 70 Kilometer breite Front zwischen Arras und Anizy konzentrierte sich der Angriff. An der bis Juli dauernden Schlacht waren drei Armeen mit insgesamt 76 Divisionen beteiligt. Auch von diesem Geschehen hatte Warthenbergs Großvater Robert erzählt:

„Das Pfeifen der Maschinengewehre zischte um uns“, berichtete Karl-Friedrich von Warthenberg, „im kühnen Stoß preschten wir vorwärts. Ganze feindliche Bataillone streckten die Waffen. Wir kämpfen, wir fallen, wir siegen!“

Churchill plante zur Entlastung einen Großbomberangriff mit Gasbomben auf Berlin und befahl den Einsatz neuer Truppen aus den Dominien. Da brach mitten in der Offensive die indische Revolte unter Arabinda Ghosh in Delhi los. Parallel erhob sich in Dublin und Belfast der zweite irische Volksaufstand. Die Briten zogen unverzüglich ihre Truppen aus der Westfront ab, mit katastrophalen Folgen für ihren französischen Alliierten: Vier Jahre lang hatten die Franzosen tapfer die Front gehalten. Mit dem Taxi hatte in der Marneschlacht Marschall Petain die Soldaten in den Kampf geworfen und den deutschen Vormarsch zum Stehen gebracht. Schreckliche Jahre folgten, der Höhepunkt war das blutige Ringen um die Festung Verdun. Auf beiden Seiten wankte die Front, fiel aber nicht. Der jetzt erfolgte Rückzug der Briten während der deutschen Offensive wurde als Dolchstoß empfunden. Ein Stoß mitten ins Herz des einfachen Poilus – ein zweites Alesia. Bis zum Herbst versuchte die französische Armee noch, den Krieg allein weiter zu führen. Der österreichische Durchbruch in Norditalien in der 13. Isonzoschlacht ließ Italien kapitulieren. Die deutsche Landung in Südfrankreich und der Hundert-Zeppelinangriff auf Paris brachen den letzten Widerstand. Mitte Oktober 1918 standen die ersten Einheiten der 7. und 18. Armee der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz direkt an der Stadtgrenze von Paris. Die 2. Armee unter dem General der Kavallerie von Marwitz und die 17. Armee unter Otto von Below überrannten Albert und Amiens und stießen bis zur Kanalküste vor. Durch die Sichelschnittoffensive wurde jeglicher Nachschub abgeschnitten und die französische Armee endgültig geschlagen. In Paris brach ein Aufstand aus, Frankreich war am Ende. Georges Benjamin Clemenceau, der das Amt des französischen Ministerpräsidenten im November 1917 während erster Meutereien im Heer und Streiks unter den Rüstungsarbeitern übernommen hatte, bat um einen sofortigen Waffenstillstand. Dieser wurde am 11. November 1918 im Wald von Compiègne in der Picardie unterzeichnet. Die deutsche Seite war klug genug, trotz des französischen Zusammenbruchs, auf einen Verständigungsfrieden zu setzen. Im Frieden von Luxemburg einigten sich der Reichskanzler Prinz Max von Baden und sein späterer Nachfolger Friedrich Ebert mit dem neuen Staatspräsidenten Aristide Briand sogar auf eine Revision der Westgrenze zugunsten Frankreichs. Lothringen wurde zurückgegeben und Frankreich erhielt außerdem Teile Belgiens und die französischsprachige Westschweiz. Das 1867 selbstständig gewordene Luxemburg kehrte dafür ins Reich zurück. Ebenfalls hinzu kamen das flämische Belgien und, nach einer Volksabstimmung, die Deutsch-Schweiz. Der Friede von Luxemburg wäre in dieser Form kaum möglich gewesen, wenn Kaiser Wilhelm II. nicht überraschend einen Thronverzicht zugunsten seines sechsten, erst 27-jährigen Sohnes Prinz Joachim Franz Humbert von Preußen verkündet hätte. Der Prinz war bis zum Krieg öffentlich kaum in Erscheinung getreten. Er hatte die für Kaisersöhne übliche Militärlaufbahn eingeschlagen und war zu Kriegsbeginn mit seiner Einheit zur Verteidigung Ostpreußens abkommandiert worden. In der Schlacht an den Masurischen Seen wurde er im Spätsommer des ersten Kriegsjahres schwer verwundet. Diese Tatsache und der Einfluss seiner Frau Prinzessin Marie Auguste von Anhalt, die er im März 1916 heiratete, führten zu einer radikalen Wandlung des Hohenzollernprinzen. Mit dem heimlichen Einverständnis seines Vaters, der sich durch die oberste Heeresleitung um Macht und Einfluss gebracht sah, unterstützte Prinz Joachim den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Dieser gründete einen interfraktionellen Ausschuss, der eine Friedensresolution des Reichstags vorbereitete. Kanzler Bethmann Hollweg bekam vom Kaiser die Erlaubnis, ihr zustimmen zu dürfen. Die Führer der obersten Heeresleitung Hindenburg und Ludendorff sahen jedoch ihre Kriegspolitik durchkreuzt und setzten bei Wilhelm II. ultimativ die Entlassung seines Reichskanzlers durch. Auf Drängen der OHL wurde Georg Michaelis neuer Reichskanzler. Dieser agierte in ihrem Sinne und verweigerte die Umsetzung der Friedensresolution. Der Kaiser war verärgert, und als der Kanzler auch die Reichstagsmehrheit vor den Kopf stieß, löste Georg Graf von Hertling Michaelis im Amt ab. Die Regierung Hertling stellte einen wichtigen Schritt zur Parlamentarisierung des Reiches dar, da der neue Kanzler sein Regierungsprogramm vorab mit den Mehrheitsparteien des Reichstages abstimmen musste. Mit dem Linksliberalen von Payer als Vizekanzler und dem Nationalliberalen Robert Friedberg als stellvertretendem preußischen Ministerpräsidenten wurden zwei erfahrene Parlamentarier als Verbindungsleute zu den Parteien in die Regierungsverantwortung aufgenommen. Im September 1918 allerdings verlor Hertling das Vertrauen der SPD; sie wollte nur unter einem Politikwechsel in die Regierung eintreten. Auch die Regierungen von Bayern und Baden meinten, dass Hertling nicht der geeignete Mann für eine konsequente Friedenspolitik war. Unter dem Eindruck des bevorstehenden Sieges war der Kaiser im Oktober 1918 bereit, einer neuen Politik auf der Basis einer breiten parlamentarischen Mehrheit eine Chance zu geben. Er entließ Hertling und Prinz Max von Baden folgte. Auch die beiden höchsten Militärs, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und der Erste Generalquartiermeister Erich von Ludendorff wurden entlassen – und der Kaiser trat zurück! Müde und gezeichnet von den Anstrengungen der letzten Jahre, den Kriegsschrecken und den Auseinandersetzungen mit der OHL, zog sich der 59-jährige Kaiser ins holländische Doorn zurück, wo er 1941 verstarb. Was Wilhelm II. letztlich bewog, die Thronfolgefrage auf diese überraschende Weise zu lösen, hatten die Historiker trotz aller Recherchen und Spekulationen – angeblich existierte ein geheimes, nicht veröffentlichtes Testament – bislang nicht völlig klären können. Nach neuesten Quellen hatte der Monarch wohl eine Familienkonferenz der Hohenzollern einberufen, um die Thronfolgefrage zu klären. Insbesondere Kronprinz Wilhelm und der Prinz Eitel Friedrich sprachen sich vehement gegen die Bevorzugung ihres jüngsten Bruders aus. Der Kaiser dagegen setzte ganz auf seinen jüngsten Sohn, da dieser sich am eindeutigsten für die parlamentarische Monarchie aussprach und beste Kontakte, sowohl zur sozialdemokratischen Parteispitze als auch zum Zentrum und den Liberalen besaß. Als Prinz Joachim als Kaiser zwei Jahre später verstarb, versuchte der frühere Kronprinz Wilhelm erneut, die Thronfolge für sich zu reklamieren. Warum sollte eine anhaltinische Prinzessin und nicht ein Hohenzoller an die Spitze des Reiches treten? Doch der Kronprinz unterschätzte die Macht und die Kraft des Parlaments und die persönlichen Fähigkeiten der Kaiserin Marie Auguste. Sein Versuch, die Regentin auszuschalten, scheiterte kläglich, genau wie spätere Putsche der Rechten in den Zwanziger- und Dreißigerjahren.

Jedenfalls wurde im Herbst 1918 endlich der Weg für eine parlamentarische Monarchie frei, eine Chance, auf die die politischen Eliten nach der Osterbotschaft Wilhelms II. von 1917 sehnsüchtig gewartet hatten.

Der neue Kaiser Prinz Joachim, jetzt Wilhelm III., führte, beraten durch seine Frau, eine fundamentale Reform der Reichsverfassung durch. Er beauftragte den Liberalen Hugo Preuss, eine neue, bürgerlich-liberale Verfassung im Geiste der Paulskirche von 1848/1849 zu erarbeiten. Als Erstes schaffte der junge Kaiser das preußische Dreiklassenwahlrecht ab. Mit Hilfe der neuen Verfassung verwandelte er das Reich in eine parlamentarische Monarchie mit einem gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen. Die ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen im Januar 1919 führten zu einer Zweidrittelmehrheit von SPD, Zentrum und Deutschdemokraten, die so genannte Neue-Kaiser-Koalition. Kanzler dieser Koalition wurde der Sozialdemokrat Friedrich Ebert. Gemeinsam mit Max von Baden beendete er erfolgreich die Luxemburger Verhandlungen …

Robert von Warthenberg schreckte aus seinen Gedanken auf. Die Koffer waren da und er konnte endlich aufbrechen. Außerhalb des Flughafens winkte er einem der lautlos rollenden, gelben Solartaxen.

„Hotel Adlon!“

Der Wagen glitt davon, fuhr durch die Vororte und erreichte in einer guten halben Stunde das neue Zentrum Berlins am Pariser Platz. Dr. Robert von Warthenberg stieg aus und betrat, gefolgt von einem Kofferträger, das Hotel.

Vauxhall Cross, London, 28. Juni 2014

Die Herren, die sich zur allmorgendlichen Besprechung trafen, gehörten, Habitus und Kleidung nach, der oberen Schicht der englischen Gesellschaft an. Und nicht nur das, sie gehörten sichtlich zu den tragenden Pfeilern dieser Gesellschaft, wenn auch in einer Art und Weise, die einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt war. Es handelte sich im Einzelnen um den Direktor des MI5, des sogenannten britischen Security Service oder auch Inlandsgeheimdienstes, Sir Jonathan Evans sowie seinen Stellvertreter Sir Christopher Curwen. Beide agile Mittfünfziger, die von ihrer ganzen Person und Erscheinung einfach „very british“ wirkten. Ebenfalls anwesend waren der Leiter des MI6, Sir Harald Oldfield, und sein Vize Alexander Sinclair. Oldfield unterschied sich von den anderen durch sein vollständig ergrautes Haar. Alexander Sinclair trug einen Kneifer. Ansonsten sah man den Anwesenden den Besuch von Oxford und Eton an. Die vier Herren blätterten schweigend in Papieren, die vor ihnen lagen. Sie schienen auf jemanden zu warten. Schließlich blickte Sir Evans auf seine Uhr und schüttelte unwillig den Kopf. Dass man ihn warten ließ! Da öffnete sich die Tür und Sir George Gideon Oliver Osborne, ein jugendlich wirkender Mann von Mitte vierzig, trat ein. Osborne war der älteste Sohn von Sir Peter Osborne. Er studierte zunächst Neuere Geschichte in Oxford. Während der BSE-Krise Mitte der neunziger Jahre arbeitete Osborne als Berater des britischen Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung. Im Juni 2001 wurde er als jüngster Abgeordneter der Konservativen in das britische Unterhaus gewählt. Bei den Wahlen zum Unterhaus im Jahre 2005 und 2010 wurde Osborne mit jeweils über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt. In der neuen Regierung der Torys und der Liberalen sollte ihm ursprünglich das Ressort Finanzen übertragen werden. Doch nach dem unrühmlichen Facebook-Skandal des früheren MI6 Leiters Sir Robert John Sawers übernahm Osborne dessen Amt und die Leitung des MI5. Binnen zweier Jahre reformierte er beide Dienste und strukturierte sie völlig um. Im Ergebnis blieben MI5 und MI6 in ihren jeweiligen Arbeitsfeldern autonom, wurden aber organisatorisch zusammengefasst und einer strafferen Gesamtführung unterworfen. Leiter und Generaldirektor des neuen Dienstes MI7 wurde Sir Osborne selbst. Der Generaldirektor begrüßte die Anwesenden.

„Meine Herren. Ich brauche nicht extra erwähnen, dass unsere heutige Zusammenkunft höchster Geheimhaltung unterliegt. Die Angelegenheit, um die es geht, ist äußerst brisant und erfordert absolute Loyalität.“

„Geht es um die Kieler Geschichte?“, fragte Sir Curwen.

„Die Katastrophe der Glorious II ist Anlass, aber nicht der primäre Gegenstand unseres Treffens“, antwortete Sir Osborne. „Ich darf Sie bitten, sich in dieser Hinsicht etwas zu gedulden. Auf das Kieler Geschehen werde ich später eingehen.“

Die Herren nickten und murmelten zustimmend.

„Gut, ich komme zur Sache. Wie Sie alle wissen, hat sich unser Empire in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Indien, Ostasien und die afrikanischen Kolonien gingen nach den japanischen Kriegen verloren. Kanada und Australien sind nach der Niederlage gegen Argentinien im Falklandkrieg 1982 dem Mutterland England nur noch lose verbunden. Das Einzige, was Großbritannien noch zusammenhält, ist unser Königshaus. Heute kann man mit Fug und Recht sagen, die Idee unserer Nation ist eng mit den Royals verbunden.“

Osborne legte eine kurze Pause ein.

„Leider aber wird derzeit die Notwendigkeit unserer Monarchie in der Öffentlichkeit mehr und mehr in Frage gestellt. Ungeniert diskutieren die Medien über den Hof und sein Budget. Selbst die Times kritisierte kürzlich eine Rede unseres jungen Königs William. Dagegen, meine Herren, gilt es etwas zu unternehmen.“

„Nun ja, George“, meinte Sir Evans, „Einiges scheint wirklich berechtigt zu sein. Seit der Diana-Affäre geht es mit den Royals stetig bergab.“

„Was heißt bergab?“, meinte Sir Oldfield. „Lady Di ist nicht mehr im Rennen. Ihr Pariser Augustabenteuer ist weder ihr noch Herrn Fayed gut bekommen. Tunnel sind eben gefährlich …“

„Das hätte man auch besser arrangieren können. Etwas durchdachter und geschickter“, entgegnete Sir Evans. „Die Prinzessin auf der Flucht vor Paparazzis. Ein bis oben hin mit Tabletten und Alkohol gefüllter Fahrer, der mit 196 Stundenkilometern gegen einen Betonpfeiler kracht. Sehr unwahrscheinlich, das Ganze!“

„Es musste gehandelt werden“, warf Alexander Sinclair ein. „Und zwar rasch! Man stelle sich vor. Eine englische Prinzessin, die einen bekennenden Moslem heiratet, so dass der englische Thronfolger und heutige König einen muslimischen Stiefvater bekommen hätte. Unmöglich!“

„Ihr wart also beteiligt?“, fragte Sir Curwen neugierig. „Dearlove hat doch vor fünf Jahren bei der gerichtlichen Untersuchung des Todes der Prinzessin in London ausgesagt, die Behauptung Mohammed al Fayeds, sein Sohn Dodi und Diana seien auf Betreiben des Königshauses von MI6-Agenten durch einen inszenierten Autounfall umgebracht worden, sei absurd.“

„Ich habe nicht gesagt, wir hätten gehandelt, sondern dass gehandelt werden musste“, berichtigte Sinclair.

„Halt, meine Herren“, unterbrach Sir Osborne den Schlagabtausch. „Es geht nicht um diese alte Geschichte, so viel Ungeklärtes sich hinter dem Unfall vom 31. August 1997 auch verbergen mag. Nein, meine Herren. Das, womit wir uns zu beschäftigen haben, ist viel brisanter.“

Er verteilte an jeden der Anwesenden einen dünnen Ordner mit Papieren. Sir Oldfield öffnete ihn und blickte Sir Osborne fragend an.

„Ein Stammbaum und Portraits Queen Victorias. Was sollen wir damit anfangen?“

„Schauen Sie genauer hin, dann werden Sie verstehen“, antwortete Sir Osborne gelassen.

Berlin, Fürst-von-Hindenburgstraße Nr. 2 am Landwehrkanal.

Die Hindenburgstraße Nr. 2 war Sitz des Generalstabs der deutschen Armee und seiner Stabsabteilungen. General Achim von Lübben, der Chef des geheimen Sicherheitsstabes, blätterte in den Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen. Es handelte sich um rund zwei Dutzend Hefter in einheitlichem Behördengrau. Personalakten, wie man anhand der Registraturnummern unschwer erkennen konnte. Der General schloss eine Akte und schob sie achtlos zur Seite. Genauso erging es der nächsten. Die folgenden Papiere betrachtete von Lübben etwas länger und legte diese dann sorgsam auf seine rechte Seite. Nach einer guten Stunde hatte er seine Wahl getroffen, fünf Akten waren übrig geblieben. Auf der ersten stand: RM P 1220180-S-10111 Kapitänleutnant Hagen von Scholz. Der Kaleu war als Hagen Scholz 1998 in die Reichsmarine eingetreten. Nach dem obligaten Dienst auf dem Segelschulschiff Gorch Fock war er an der Marineschule Mürwik weiter ausgebildet worden. Es folgte ein Schiffsingenieurstudium an der Reichsmilitärhochschule Hamburg. Von Scholz hatte ferner eine Kampfschwimmerausbildung absolviert und verschiedene Marineflugscheine erworben. Bei mehreren Marinespezialunternehmen in der deutschen Südsee bei Samoa und Tonga sowie im Indischen Ozean zeichnete er sich in der Folgezeit durch Planungsfähigkeit und Tapferkeit aus. Für seinen erfolgreichen und mutigen Einsatz gegen eine Piratenformation vor Somalia war Scholz geadelt worden. Die zweite Akte stammte aus dem Reichsinnenministerium und trug den Namen Dr. Roswitha von Peters. Frau von Peters war eine Urenkelin des umstrittenen Afrikaforschers Carl Peters, mit dessen Biografie sie sich in einer viel beachteten Arbeit kritisch auseinander gesetzt hatte. Sie galt als hochintelligent und war mehrfach an der Koordination von nachrichtlichdienstlichen Einsätzen erfolgreich beteiligt gewesen. Darüber hinaus hatte sie perfekt Kiswahili gelernt, war eine profunde Kennerin Schwarzafrikas und der bestehenden wie ehemaligen deutschen Kolonien sowie erfolgreiche Sportschützin und Olympiateilnehmerin. Letztere Qualitäten mochten bei der Aufgabe, für die von Lübben sie einplante, kaum eine Rolle spielen – aber man konnte nie wissen. Der nächste Kandidat entstammte der Forschungsabteilung des Reichsmarineministeriums. Professor Dr. Hans-Peter Schwarze war die Koryphäe für Marinetechnik und Informatik. In Hamburg leitete er das Zentrum für Meeres-, Schiffsbau- und Informationstechnik (ZMSI). Mit Arbeiten wie Die neue Marine und ihre technischen Grundlagen und Epochenwechsel in der elektronischen Kommunikation hatte Schwarze entscheidende Impulse zum gegenwärtigen technologischen Qualitätsstand der Reichsmarine gegeben. Seit einigen Jahren wurde er als Nobelpreiskandidat gehandelt. Trotz seines Alters von Fünfundsechzig war Schwarze in der Forschung nach wie vor präsent und darüber hinaus politisch vielfältig interessiert und engagiert. Ähnlich engagiert war die zweite Frau, die von Lübben ausgewählt hatte. Allerdings hatte er bei Frau Professor Dr. Johanna Türmer von der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität länger überlegen müssen. Frau Türmer war politisch eindeutig positioniert. Schon in ihrer Studentenzeit hatte sie sich für die Neue Linke engagiert. Die Medien hatten ihr, halb spöttisch, halb anerkennend, den Spitznamen „Heilige Johanna von Kreuzberg“ verliehen. Die attraktive Vierzigerin lehrte Vergleichende Psychologie und Neo-Psychoanalyse. Ihr Werk Das ruhelose Ich galt als das maßgebliche Standardwerk in der Nachfolge C.G. Jungs, Sigmund Freuds und Wilhelm Reichs. Der General fand es anregend und hilfreich, wenn jemand qualifiziert querzudenken vermochte. Außerdem brauchte er im Hinblick auf die zu lösenden Aufgaben in der Gruppe unbedingt einen Psychologen beziehungsweise eine Psychologin. Die Professorin war zudem eine begeisterte Seglerin und das gab schließlich den Ausschlag. Sein letzter Kandidat war der Major der Reserve, Dr. Robert von Warthenberg, 37 Jahre alt. Von Warthenberg war wie Scholz Schiffsbauingenieur. Seinen Militärdienst absolvierte er bei der Luftwaffe. Später hatte der Major Neuere Deutsche Geschichte und Militärgeschichte studiert. Den Akten nach beherrschte von Warthenberg neben Deutsch vier weitere Sprachen fließend: Französisch, Russisch, Spanisch und Englisch. Vor Jahren hatte er zudem als Teilnehmer eines Luftwaffenkommandos in der Ukraine höchsten Einsatz bei der Bekämpfung von Bandenaktivitäten gezeigt. Dass von Warthenberg sich noch für Kunst und Literatur interessierte und sich als Leichtathlet sportlich betätigte, waren weitere Pluspunkte, die für ihn sprachen.

Gut, die Auswahl war abgeschlossen. Mit von Warthenberg hatte er bereits telefoniert, die anderen waren per Mail informiert und geladen worden. Jetzt musste General von Lübben seine Gruppe nur noch dem Reichskanzleramt präsentieren.

Berlin 28. Juni, Hotel Adlon Kempinski, mittags

Robert von Warthenberg lag in der breiten Marmorbadewanne seiner Suite und entspannte sich im warmen Wasser von den Strapazen der Reise. Immer, wenn er nach Berlin kam, gönnte er sich ein oder zwei Tage im Adlon, bevor er zu seinem Vetter Ernst in den Grunewald zog. Das Adlon Kempinski verkörperte für ihn den Glanz und die Strahlkraft des neuen Berlin. Den Gast empfing eine Welt voll einzigartiger Eleganz und einladender Schönheit. Exquisite Designs, Materialien und Farben erzeugten ein extravagantes, glamouröses Ambiente. Ab und zu musste Warthenberg in Luxus schwelgen. Zudem stand das Hotel für die Geschichte Berlins. Die Historie des Adlon selbst begann bereits vor seinem Gründer und Eigentümer Lorenz Adlon. 1738 entstand das Quarré, der spätere Pariser Platz. Die erste nachweisbare Bebauung des Hotelgrundstücks ging sogar auf das Jahr 1734 zurück. Eine Frau Hoffmeister von Kamekin stellte damals beim König den Antrag, das Haus des Kammerherrn von Wilchpitz abreißen zu lassen, um sich dort niederzulassen. Ihr Nachfahre, Graf Alexander Friedrich, vermietete das Haus an die Englische Gesandtschaft, die dort ihren Sitz hatte. Die Söhne des Grafen ließen 1828/29 das Palais von Karl Friedrich Schinkel, dem Meister der deutschen Klassik, umbauen. Das Palais Redern wurde bereits damals zu einem Mittelpunkt des geselligen Lebens der Stadt. 1883 starb Graf Redern. Das Gebäude verkam zusehends und wurde 1905 an Lorenz Adlon verkauft. Gegen den Plan des Käufers, dort, anstelle des Palais Redern, ein Luxushotel zu errichten, gab es öffentlichen Protest. Doch Lorenz Adlon gelang es, trotz dieser widrigen Umstände, auf dem Grundstück des Palais´ ein Hotel zu errichten, das es mit den ersten Adressen in Paris und London aufnehmen konnte. Entscheidend war, dass sich der Kaiser persönlich dafür einsetzte. Wilhelm II. mochte das Berliner Schloss der Hohenzollern nicht, da es unbequem und schwer zu heizen war und ihm zu wenig Raum bot. Durch das dortige steife Hofzeremoniell sah Wilhelm sich zusätzlich im Privatleben eingeschränkt. Neuen Freiraum erhoffte sich der Kaiser von dem geplanten Hotel. Von 1905 bis 1907 bauten die Architekten Carl Gause und Robert Leibniz das Adlon. Das mondäne Hotel öffnete am 24. Oktober 1907 seine Pforten. Es kostete Lorenz Adlon die damals unvorstellbare Summe von rund 17 Millionen Goldmark – in heutigem Geldwert umgerechnet rund 400 Millionen Euro, mehr als der Neubau des Adlon in den 1980er Jahren verschlang.

Allein schon auf Grund seiner Lage Unter den Linden am Pariser Platz mit freier Sicht auf das Brandenburger Tor war das Adlon eine der ersten Adressen in Europa. In der frühen Kaiserzeit verkauften vornehme Adlige ihre Winterpalais in Berlin, um während der Ballsaison in den Suiten des Adlon zu residieren. Ganze Berliner Ministerien zogen den opulenten Kaisersaal des Hotels ihren eigenen Festsälen vor. Zur auserlesenen internationalen Klientel des Hotel Adlon gehörten Staatsmänner, Diplomaten, Wirtschaftsmagnaten und Künstler. Unter den vielen illustren Gästen des Hotel Adlon waren Kaiser Wilhelm II., Wilhelm III. und die erste Kaiserin Marie Auguste sowie der heute herrschende Kaiser Franz Wilhelm von Preußen. Die Reichskanzler Fürst Bülow, Franz von Papen, Ludwig von Erhard und Georg von Kiesinger. Natürlich auch John D. Rockefeller, Henry Ford, Präsident Franklin D. Roosevelt, der französische Staatspräsident Aristide Briand und einer seiner Nachfolger, Charles de Gaulle, der englische Premierminister Maurice Harold Macmillan, First Earl of Stockton und der 2009 verstorbene amerikanische Präsident Edward Moore Kennedy. Im Adlon fanden glanzvolle Bankette und wichtige Konferenzen statt. Die berühmte Potsdamer Konferenz, die 1945 die englisch-japanischen Kriege beendete, feierte ihren Abschluss im Adlon. Der deutsche Herbst 1977 fand hier seinen traurigen Höhepunkt mit der Ermordung von Generalreichsstaatsanwalt Winfried Bulack, dem Dresdner-Bank-Chef Jörg Blonto und dem Reichsarbeitgeberpräsident Hans-Joachim Schladerer durch ein Bombenattentat während des Reichspresseballs. Der dadurch entstandene Brand kostete vierzig Menschen das Leben und zerstörte das Gebäude bis auf die Grundmauern. Das Hotel wurde abgerissen, der Neubau dauerte fast acht Jahre. Erst im August 1985 wurde das Hotel als Adlon Kempinski Berlin wiedereröffnet.

Robert von Warthenberg stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich an. Das Telefon läutete, von Warthenberg nahm den Hörer ab und meldete sich.

„General von Lübben. Endlich erreiche ich Sie, Warthenberg. Sie wissen, dass wir gleich eine Sitzung haben.“

„Aber doch erst um drei. Jetzt ist es …“, von Warthenberg blickte auf die Uhr. „kurz nach halb zwei.“

„Ich rufe nicht an, um Sie nach der Uhrzeit zu fragen“, unterbrach ihn General von Lübben. „Ich teile Ihnen nur mit, dass wir uns bereits um 14 Uhr treffen. Und zwar im neuen Reichskanzleramt, nicht in der Wilhelmstraße. Reichskanzlerin von der Heyden und der IRND-Chef Ernst von Uhrlau werden persönlich der Sitzung beiwohnen.“

„Die Reichskanzlerin?“, fragte von Warthenberg überrascht. „Und der Nachrichtendienstchef. Was haben die mit einer Angelegenheit der Marine zu tun?“

„Das werden Sie vor Ort erfahren“, antwortete General von Lübben. „Ich erwarte Sie pünktlich!“

Er legte auf.

Robert von Warthenberg betrachtete verblüfft den Hörer. Ein Treffen im Reichskanzleramt, die Angelegenheit schien höchste Bedeutung zu haben. Offenbar hatte der General Recht mit seiner Vermutung, es läge ein Anschlag vor. Und das Treffen sollte schon um 14 Uhr sein, er würde sich beeilen müssen. Robert wandte sich dem Kleiderschrank zu, in dem das Hauspersonal inzwischen den Inhalt seiner Koffer eingeräumt hatte. Die Anwesenheit der Kanzlerin erforderte die Wahl eines anderen Anzugs als bei Teilnahme an einer Sitzung unter Militärs. Frau von der Heyden, die erste Reichskanzlerin, stammte aus einer alten westpreußischen Adelsfamilie, die ihren Stammbaum bis auf die Ritter des deutschen Ordens zurückführte. Eine Herkunft linker Hand, aber eine über 800 Jahre zurückreichende Ahnenreihe. Die Kanzlerin war in der weiten Welt des deutschen Ostens und seiner großen Güter aufgewachsen. Sie liebte Pferde sowie das Golfspielen und bevorzugte bei ihrer Kleiderwahl kräftige Farbkombinationen. Zumindest in der Farbgebung seiner Krawatte wollte Warthenberg ihren Vorlieben Rechnung tragen. Einige Herren der Reichsregierung waren in dieser Hinsicht durchaus Vorbilder. So der amtierende Reichskriegsminister Theodor Freiherr von und zu Kaltenbach, der in Modefragen als Koryphäe galt. Was allerdings nur ungenügend die Schwächen seiner Planung und Führung im aktuellen ostafrikanischen Konflikt bemäntelte.

Von Warthenberg studierte seine Krawatten. Zum dunkelgrauen Anzug und hellblauen Hemd passten viele Farben, zum Beispiel dunkelblau oder weinrot, auch pink oder orange. Robert von Warthenberg trat vor den Spiegel und hielt die orangefarbene vor das Hemd. Eine gut abgestimmte Farbkombination. Er band die Krawatte um, nahm seine Mappe mit Schreibunterlagen und verließ seine Suite.

Den knappen Kilometer vom Adlon zum Reichskanzleramt bewältigte Robert von Warthenberg in wenigen Minuten. Jetzt stand er vor dem imposanten Bau. Das Gebäude hatte eine weitgehend verglaste Außenfläche und zahlreiche Stilelemente der Postmoderne. Großflächig benutzte Farben zeigten eigene, genau festgelegte Symbolwirkungen. Auf dem Ehrenhof, der vom Leitungsbau und den zwei Bürotrakten gebildet wird, standen die rostbraune Skulptur Berlin des baskischen Künstlers Eduardo Chillida sowie vier Säulen jeweils mit Baumbepflanzung, Fahnenmasten und vor dem Haupteingang ein überspannendes Zeltdach. Draußen warteten neben den Gardesoldaten des Ersten Kaiserlichen Garderegiments fünf dunkelgrau gekleidete Angehörige der internen Sicherheitswache. An einer gelben Linie blieb von Warthenberg stehen. Einer der Wächter trat mit der Maschinenpistole im Anschlag auf ihn zu. Zwei andere sicherten den Mann direkt, die übrigen beobachteten aufmerksam das Vorfeld.

Robert nannte seinen Namen: „Dr. von Warthenberg. Ich werde erwartet.“

Er reichte dem Mann seinen Pass.

Der Sicherheitswächter kontrollierte Warthenbergs Papiere und verglich sorgfältig die Angaben mit den Eintragungen einer Namensliste. Dann nickte er. Von Warthenberg konnte nun die erste und zweite Sicherheitsschleuse passieren. Dann führte ihn ein anderer Mann zum eigentlichen Eingangsbereich. Er trat durch die große Glastür ins Kanzleramt. Der innere Eingangsbereich zeigte die durch den Maler Markus Lüpertz gestalteten sechs Farbräume, deren Farben bestimmte klassische Tugenden symbolisieren sollen: Blau und Umbra für Weisheit, Kraft und Stärke. Rot für Tapferkeit, dazu Ocker-Gold und Grün-Weiß als Symbole von Gerechtigkeit und Klugheit. Der Sicherheitsmann übergab von Warthenberg einem weiteren Mann, an dessen Anzugrevers die drei goldene Buchstaben RKA zu sehen waren: die Abzeichen des Reichskriminalamtes. Der RKA-Beamte fuhr mit von Warthenberg in den vierten Stock zur Geheim-Etage mit dem Planungszentrum, dem Archiv und dem abhörsicheren Raum für den Krisenstab. Er öffnete einen Raum und ließ von Warthenberg eintreten.

Wien, 28. Juni 2014, mittags

Ein heißer, sommerlicher Tag. Alwina von Morus saß in ihrem kühlen Arbeitszimmer und studierte die Unterlagen ihrer jüngst erworbenen Bilder österreichischer Naiver der 20er und 30er Jahre. Im Hintergrund lief im Fernsehen eine Sendung zum aktuellen Gedenktag. Alwina hob den Kopf und schaute zum Plasmabildschirm.

„Heute vor 100 Jahren, am 28. Juni 1914“, leitete eine Ansagerin die Sendung ein, „begab sich der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von einem Treffen mit Kaiser Wilhelm II. auf dem Landsitz Schloss Konopischt in Beneschau nach Sarajevo, um dem Abschluss der Manöver des k. u. k. XV. und XVI. Korps in Bosnien beizuwohnen. Der Besuch geschah auf Bitte des k. u. k. Statthalters von Bosnien-Herzegowina, Feldzeugmeister Oskar Potiorek.“

Bilder der beteiligten Personen und der Region erläuterten das Geschehen.

„Der 28. Juni, der Veitstag, war ein besonderer Tag. Vor 525 Jahren hatte sich die Schlacht auf dem Amselfeld ereignet, der Kampf der Serben gegen die Osmanen – ein symbolträchtiges Datum für den serbischen Staat. Der Besuch des Thronfolgers war keineswegs als Provokation gedacht: der Frühsommer war eine übliche Jahreszeit für Manöver. Der Besuch eines solchen Manövers bot sich an, da der Thronfolger seit 1909 als Generalinspektor anstelle Kaiser Franz Joseph I. derartige Truppenbesuche vornahm. Vor dem Besuch Franz Ferdinands in Bosnien waren verschiedene Warnungen ausgesprochen worden. Doch war keine so konkret, dass der Erzherzog den Besuch hätte absagen wollen. ‚In Lebensgefahr sind wir immer’, sagte er. ‚Man muss nur auf Gott vertrauen.’“

Auf dem Bildschirm wurde eine Karte Sarajevos eingeblendet und die folgende Route des Erzherzogs durch Leuchtspuren aufgezeigt.

„Franz Ferdinand und seine Gemahlin“, ging der Bericht weiter, „fuhren in einer Kolonne von sechs Automobilen entlang des Miljacka-Flusses zum Rathaus von Sarajevo. Im ersten Fahrzeug saßen der Bürgermeister und der Polizeichef. Im zweiten befanden sich der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin, die Herzogin Sophie von Hohenberg, ihnen gegenüber Landeschef Potiorek. Im dritten Fahrzeug folgten Sophies Kammerfrau, Alexander Graf von Boos zu Waldeck und der Flügeladjutant des Landeschefs, Oberstleutnant Merizzi, der den Wagen fuhr. Im vierten und fünften Fahrzeug waren weitere Mitglieder der erzherzoglichen Gefolgschaft. Ein weiterer, leerer Wagen wurde als Reserve mitgeführt. Gegen zehn Uhr fuhr die Kolonne an dem Serben Mehmedbašic vorbei, einem der Mitglieder der Verschwörerbande Schwarze Hand, der eine Bombe werfen sollte. Aber der Serbe handelte nicht. Später erklärte der Mann, er habe die Anweisung bekommen, die Bombe nur zu werfen, wenn er den Wagen des Thronfolgers erkennen würde. Als Mehmedbašic nicht handelte, löste der zweite Attentäter Cabrinovic die Sicherung seiner Bombe und warf diese anschließend in Richtung des Wagens. Der Fahrer bemerkte das dunkle Objekt und gab unverzüglich Gas. Instinktiv hob Franz Ferdinand den Arm, um seine Frau zu schützen. Die Bombe prallte von Ferdinands Arm ab, fiel nach hinten und explodierte kurz vor dem dritten Automobil. Oberstleutnant Merizzi und Graf Boos-Waldeck wurden verletzt sowie ein halbes Dutzend Schaulustiger.

Der Oberstleutnant war zum Glück nur leicht verwundet und wurde sofort in das Garnisonsspital gebracht. Erzherzog Franz Ferdinand befahl, die Fahrt fortzusetzen. Auf dem Weg zum Rathaus fuhr die Kolonne, wie später festgestellt wurde, an weiteren Attentätern vorbei, die aber nichts unternahmen. Nach dem Besuch im Rathaus verfügte der Erzherzog eine Änderung der Route. Er wollte nicht, wie geplant, direkt zum Museum fahren, sondern erst den verletzten Merizzi im Lazarett besuchen.

Ungünstigerweise lag das Lazarett am anderen Ende der Stadt. Franz Ferdinand überlegte, in Sorge um seine Gattin, ob es angesichts des Bombenanschlags vernünftig sei, dorthin zu fahren. Er entschloss sich dann doch zur Fahrt. Entgegen den Anweisungen bog die Wagenkolonne auf Höhe der über die Miljacka führenden Lateinerbrücke in die ursprünglich angesetzte Route ein. Als der Fahrer dies bemerkte, wollte er zurücksetzen, um zurück auf den Kai zu gelangen. Der letzte der Verschwörer, der Serbe Princip, sah zu seiner großen Überraschung, wie das Fahrzeug vor ihm anhielt. Er ergriff die mörderische Gelegenheit, zog seine Pistole und schoss aus wenigen Metern Entfernung zwei Mal auf das sich langsam bewegende Ziel.“

Die Bilder des Attentäters, seiner Opfer und vom Ort des Geschehens erschienen und ein kurzer, den Ablauf nachstellender Film.

„Franz Ferdinand wurde in die Halsschlagader getroffen, Sophie von Hohenberg in den Unterleib. Während der Mörder sofort von Gendarmen verhaftet, mit Säbeln geschlagen und abgeführt wurde, drehte der Fahrer um und fuhr schnell zu Potioreks Residenz, dem Konak. Sophie verblutete noch während der Fahrt und der Thronfolger erlag kurz darauf im Konak seinen Verletzungen.

Die sich später zeigenden Folgen des Attentats von Sarajevo waren fürs Erste nicht zu erwarten. Ein Krieg schien zunächst eine unwahrscheinliche Option. Anschläge auf Staatsoberhäupter und andere hochstehende Persönlichkeiten waren in der damaligen Zeit leider nichts Außergewöhnliches. 1878 missglückte ein Anschlag auf Kaiser Wilhelm I. 1894 wurde der französische Präsident Carnot ermordet, 1897 der spanische Premierminister, 1898 Elisabeth von Österreich, 1900 Umberto I. von Italien und 1901 der amerikanische Präsident William McKinley. Doch all diese Attentate lösten keine Kriege aus. Der Anschlag von Sarajevo wurde daher nicht unmittelbar zum Auslöser weiterer Schritte Wiens. Österreich-Ungarn war nicht von vornherein zum Krieg gegen Serbien entschlossen. Zwar hatten Persönlichkeiten wie Franz Conrad von Hötzendorf bereits vor Jahren ein militärisches Vorgehen gegen Serbien vorgeschlagen. Dem stand jedoch zunächst die ‚Friedenspartei’ entgegen, welche freilich mit dem Tod des Thronfolgers Franz Ferdinands einen ihrer wichtigsten Fürsprecher verloren hatte. Nach einigem Zögern und Konsultationen in Berlin, entschied schließlich die Hofburg, im Rahmen eines regional begrenzten Militärschlages gegen Serbien vorzugehen.

Der serbischen Regierung war diese Haltung des Wiener Hofes zu einem Vorgehen gegen ihr Land bekannt und sie war sich der möglichen Folgen bewusst. Sie bedauerte offiziell den Vorfall, bestritt aber eine Verbindung mit dem Attentat und wies darauf hin, dass alle Täter aus dem annektierten Bosnien stammten und formell Österreicher seien. Außerdem gäbe es keine Beweise, die auf ein offizielles serbisches Engagement hindeuteten. Dagegen wurde vom österreichischen Geheimdienst die serbische Organisation Narodna Odbrana als Anstifter des Attentates ermittelt. Deutlich war auch, dass die serbische Presse mit ihren österreichkritischen Artikeln für die aufgeheizte politische Stimmung mit verantwortlich gewesen war und durch diese den Mord an dem Thronfolger stark begünstigt hatte. Dennoch war man in Wien noch unentschlossen und schob die Entscheidung dem Deutschen Reich zu. Die eigentliche Entscheidung für den Schlag gegen Serbien fiel deshalb nicht in Wien, sondern am 5. Juli 1914 in Berlin. Am 6. Juli 1914 sicherte das Reich per Telegramm Österreich-Ungarn seine volle Unterstützung beim Vorgehen gegen Serbien zu. Auch Bulgarien, Rumänien und die Türkei versicherten, sich auf die Seite des Dreibundes zu stellen, wenn sich Österreich-Ungarn entschließen sollte, Serbien eine Lektion zu erteilen …“

Alwina von Morus hatte genug von dem Bericht und schaltete den Apparat aus. Obwohl sie über acht Ecken mit der Gräfin von Waldburg zu Wolfegg und Waldsee, der späteren Ehefrau von Maximilian, des erstgeborenen Sohnes des Thronfolgers, verwandt war, interessierte sie das Geschehen vom Juli 1914 wenig. Das waren Ereignisse, die fast hundert Jahre her waren. Serbien hatte den Krieg verloren und wurde 1919 zunächst österreichisches, dann reichsdeutsches Protektorat. Auch das alte Österreich-Ungarn gab es längst nicht mehr. Die k. u. k. Doppelmonarchie oder Donaumonarchie hatte sich infolge innerer Probleme und wegen der Weltwirtschaftskrise der frühen 20er Jahre aufgelöst. Deutsch-Österreich und Böhmen–Mähren waren dem Reich beigetreten. Die übrigen Reichsteile folgten später. Kriegspläne wurden in Wien schon lange nicht mehr geschmiedet. Für diese Dinge interessierten sich nur noch Historiker und Militärs- Männer wie ihr entfernter Vetter Robert von Warthenberg. Allerdings war Robert auch für Anderes offen. Privat beschäftigte er sich intensiv mit der zeitgenössischen Kunst und der postmodernen Literatur. Ab und zu schrieb er betrachtende Essays zum Kunstgeschehen in angesehenen, überregionalen Zeitungen wie der ZEIT und dem Wiener Kunstspiegel. Schade, dass er so eilig nach Berlin musste. Ob das im Zusammenhang mit der Kieler Katastrophe stand? Aber dann wäre Robert doch nach Kiel geflogen. Ob Kiel oder Berlin, Robert war nicht hier. Dabei hatte sich Alwina so auf den Abend mit Robert gefreut. Robert wollte mit Alwina im Steirereck im Stadtpark speisen. Confierten Hecht mit Walnuss, dazu einen 2006 Morillon Graf. Später wären sie bestimmt zu ihr gegangen und sie hätte ihm ihre neusten Bilder gezeigt und dann. Roberts Gesicht stieg vor ihr auf. Die dunklen Augen, die hohe Stirn, das hellbraune, immer leicht verwirrte Haar … Alwina schüttelte den Kopf – Tagträume. Sie stand auf und ging hinauf in die Galerie, wo ihre Neuerwerbungen hingen.

Berlin, Reichskanzleramt, 28. Juni 2014

In dem Raum, in den Robert von Warthenberg eintrat, saßen bereits mehrere Personen. Ein leicht ergrauter, drahtiger Mann um die fünfzig erhob sich und kam auf ihn zu, General Achim von Lübben.

„Da sind Sie ja, mein lieber Warthenberg. Schön, dass Sie es rechtzeitig geschafft haben. Nehmen Sie Platz, ich stelle Sie erst einmal unserem Kreis vor.“

Er führte ihn zu einem freien Stuhl und beide setzten sich. General von Lübben wandte sich an die übrigen Teilnehmer.

„Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen meinen jungen Kameraden, den Major der Reserve, Dr. Robert von Warthenberg, vorstellen. Meine Abteilung konnte bei verschiedenen Gelegenheiten auf Herrn Dr. von Warthenbergs effektiven Rat und auf sein hilfreiches Tun zurückgreifen. Er wird uns auch bei unserer aktuellen Angelegenheit ein wertvoller Mitarbeiter sein.“

Während von Lübben sprach, musterte Robert von Warthenberg die Anwesenden. Außer General von Lübben und ihm waren fünf Personen im Raum. Schräg gegenüber saß eine dunkelhaarige Dame mit großer Hornbrille, die er auf Mitte dreißig schätzte. Dem Schild nach, das sie auf ihrer Brust trug, handelte es sich um Dr. Roswitha von Peters. Von Peters, Robert erinnerte sich, den Namen bereits gelesen zu haben. Frau von Peters war Urenkelin des umstrittenen Afrikaforschers und Kolonialisten Carl Peters. Soviel er wusste, gehörte sie dem Reichsinnenministerium an. Den neben ihr platzierten Herrn kannte von Warthenberg persönlich. Professor Dr. Hans-Peter Schwarze war die Koryphäe für Marinetechnik und Informatik. Warthenberg hatte während seines Studiums mehrere Vorlesungen von Schwarze besucht. Der Professor putzte nervös die Brillengläser und wirkte bedrückt. Sicher eine Folge der Katastrophe. Neben ihm saß die zweite Frau in der Runde, Frau Professor Dr. Johanna Türmer von der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität. Von Warthenberg war die Professorin wegen ihrer politischen Aktivitäten durch Funk und Presse gut bekannt. Frau Türmer galt als engagierte Vertreterin der Neuen Linken. Warum sie zu ihrer Runde gehörte, wurde Robert auf den ersten Blick nicht deutlich. Rechts neben der Professorin erkannte er Kapitänleutnant Hagen von Scholz, einen Marineoffizier, mit dem er schon öfter zusammengearbeitet hatte und mit dem von Warthenberg eine lockere Freundschaft verband. Seine Funktion im Zusammenhang mit den Kieler Ereignissen musste nicht erklärt werden. Jedenfalls eine interessante Gruppe, zu der man ihn hinzugezogen hatte. Der fünfte in der Runde, der Chef des internen Reichsnachrichtendienstes Ernst von Uhrlau ergriff das Wort:

„Meine Damen und Herren. Da wir jetzt vollständig sind, will ich Sie, bevor gleich die Kanzlerin zu uns stoßen wird, mit dem Hintergrund unseres Treffens bekannt machen. Heute ist der 28. Juni 2014. Vor 100 Jahren ereignete sich das Attentat von Sarajevo. Ein Ereignis, das zum Weltkrieg führte, und nach dessen siegreichem Ausgang unser Land die ihm gebührende Weltstellung erringen konnte. Und dies nicht allein aufgrund seiner militärischen Stärke, sondern vor allem wegen der Qualität unserer naturwissenschaftlichen Forschung und Bildung sowie der Fähigkeit, politisch geschickt zu agieren und aus ehemaligen Feinden Bündnispartner und Freunde werden zu lassen. Besonders das Ende der ‚Erbfeindschaft’ mit Frankreich seit den ausgehenden 20er Jahren führte zur aktuellen europäischen Mächtekonstellation. In den sechzig segensreichen Jahren der Regentschaft der ersten deutschen Kaiserin Marie Auguste wurde das demokratisch reformierte, wirtschaftlich unabhängige und sozial ausgeglichene Reich zum friedlichen Zentrum Europas. Doch es gibt offenbar Mächte, die uns diesen Erfolg neiden. Sie wissen alle, was sich gestern ereignet hat. Die Medien sind voller Berichte über die Kieler Katastrophe und Spekulationen über ihre Ursachen. An einigen Orten kam es bereits zu spontanen Kundgebungen, obgleich die Öffentlichkeit bislang von einem Unfall spricht. Die Reichsregierung aber hat leider Anlass zu glauben, dass dahinter Schlimmeres steckt, Sabotage oder gar ein gezielter Terroranschlag.“

Ein bestürztes Raunen ging durch den Raum. General von Lübben schien seinen Verdacht den anderen Teilnehmern bislang verschwiegen zu haben.

„Ganz sicher sind wir nicht“, sprach von Uhrlau weiter. „Sollte sich jedoch die Annahme bestätigen, zeigt dies, dass die Ruhe im Reich trügerisch war und ist. Leider gibt es dafür Indizien. Auch anderswo im Reich, der Öffentlichkeit meist nicht bekannt, haben sich in den letzten Wochen und Monaten Dinge ereignet, die für sich allein betrachtet keine größere Bedeutung zu haben schienen. Unter dem Aspekt des gestrigen Geschehens müssen wir die Ereignisse allerdings umbewerten. Der soziale und politische Friede im Reich ist unter Umständen in Gefahr. Die Reichsregierung hat sich daher entschlossen, eine Sondergruppe unter der Führung des Chefs des geheimen Sicherheitsstabes, General von Lübben, einzurichten. Sie alle sind auf Ihrem jeweiligen Fachgebiet hochgradige Spezialisten. Aber wir brauchen mehr als Ihre Spezialkenntnisse, denn die geplante Gruppe soll eine gänzlich neue Qualität besitzen. Über die konkreten Belange, die Ihnen zukommenden Kompetenzen, die Absichten und die Ziele wird Sie die Reichskanzlerin persönlich in Kenntnis setzen.“

Wie auf ein Stichwort hin öffnete sich die Tür und Reichskanzlerin Andrea von der Heyden und Reichskriegsminister Theodor Freiherr von und zu Kaltenbach betraten den Raum. Die Anwesenden erhoben sich. Die Kanzlerin trug einen dunklen Hosenanzug mit Perlmuttknöpfen. In der Hand hielt sie eine dünne Mappe. Von der Heyden legte die Mappe auf den Tisch und begrüßte jeden Einzelnen persönlich, während der Reichskriegsminister lediglich nickte. Dann setzten sich die Reichskanzlerin und ihr Minister.

„Meine Damen und Herren“, nahm die Kanzlerin das Wort. „Ich begrüße Sie im Reichskanzleramt. Sie werden sich fragen, warum Sie in dieser Konstellation hierher eingeladen wurden und um was es wirklich geht. Anlass ist das gestrige Geschehen in Kiel. Für die Presse und die Medien handelt es sich bei der Kollision der beiden Schiffe um ein Unglück von schrecklichem Ausmaß. Für die Reichsmarine ist ein solcher Unfall wahrhaftig eine Tragödie, aber keine politische Katastrophe. Natürlich muss ein solches Ereignis umfassend und kompetent aufgeklärt werden. Sollte allerdings ein terroristischer Hintergrund vorliegen, müssten gänzlich andere Maßnahmen ergriffen werden. Ihre Gruppe soll daher unter der Leitung General von Lübbens die erste Aufklärung übernehmen. Entsprechendes Hilfspersonal steht Ihnen dabei zur Seite. Offiziell untersuchen Sie einen Schiffsunfall, Ihr eigentliches Tun erfolgt in verdeckter Form. Sie werden sich fragen: Warum dieser Geheimhaltungsaufwand? Warum gehen wir nicht ganz offen von einem Terroranschlag aus? Nun, das Ganze ist leider komplexer, als Sie es womöglich ahnen.“

Die Reichskanzlerin wandte sich Herrn von Uhrlau zu.

„Herr von Uhrlau, wenn Sie so freundlich sind, den Film einzuspielen.“

Der IRND-Mann nahm eine Tastatur in die Hand und betätigte einige Knöpfe. Der Raum verdunkelte sich und an der Wand gegenüber startete eine Filmsequenz. In den nächsten sieben Minuten rollte ein Film von geradezu verstörender Bilderdichte und Intensität ab. Es begann mit Auszügen aus dem Großen Krieg. Das Grauen von Verdun, berstende Kessel in der Seeschlacht im Skagerrak. Es folgten Häuserkämpfe im Ruhrgebiet während der Putschversuche der radikalen Linken und Rechten zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 20er und 30er Jahren. Bilder der verlustreichen Auseinandersetzungen der Schutztruppe der deutschen Siedler gegen die Engländer in Südwestafrika der 40er Jahre parallel zum Britisch-Japanischen Krieg. Der Durchbruch der Zeppelin- und Solartechnologie und in seiner Folge das zweite Wirtschaftswunder, kontrastiert durch Zeppelinabstürze und Bilder von scheinbar arbeitslosen Massen. Filmfolgen aus dem Russisch-Ukrainisch-Polnischen Krieg von 1969 mit der schrecklichen Winterschlacht von Wolgograd, als die vorstoßenden polnisch-ukrainischen Verbände, geführt von dem deutschstämmigen Feldmarschall Paulus und mit deutschen Leopardpanzern ausgerüstet, drei sowjetische Armeen vernichtend schlugen, und in dessen Folge das östliche Sowjetsystem zusammenbrach. Tote über Tote. Krawallszenen aus den Studentenunruhen in Deutschland, die gegen die indirekte Beteiligung an diesen Kämpfen und dem parallel geführten amerikanisch-chinesischen Krieg um Vietnam protestierten. Der pompöse Thronwechsel des Jahres 1980, als die 82-jährige Kaiserin Marie Auguste nach 60 Jahren Herrschaft zugunsten ihres Enkels Franz Wilhelm von Preußen zurücktrat. Dazwischen die ärmlichen Landschaften der, nach dem endgültigen Zerfall des russischen Rumpfimperiums beigetretenen, neuen Ostgebiete im Baltikum und der Ukraine. Die Bilder jubelnder Einwohner der ehemaligen deutschen Kolonie Südafrika, die unter dem Namen Vereinigte Staaten von Südafrika 1995 in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Ein Abriss der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre in rund 420 Sekunden. Ein Film voller Blut und Gewalt, voller Angst und Schrecken. Selbst die friedlichen Passagen wirkten in sich dunkel und finster und seltsam verschoben. Am Ende in blutroter Schrift der Satz: Kiel ist nur der Anfang!

Als die Vorführung endete und das Licht wieder anging, saßen alle wie erschlagen da.

„Sie sind überrascht und schockiert, meine Damen und Herren“, nahm an dieser Stelle der Reichskriegminister das Wort. „Sie sind Kenner unseres Staates und seiner Geschichte und fragen sich, wie es kommt, dass ein kleiner Film von wenigen Minuten ein derart anderes – und ich muss sagen – extrem negatives Bild unseres Landes und seiner Historie erzeugen kann. Das Reichskriegsministerium bekam den Streifen gestern, unmittelbar nach der Katastrophe, zugesandt. Die Fachleute glaubten zunächst, es handle sich bei diesem Produkt um einen Film von vielen, mit denen seit einigen Monaten aus dem Untergrund heraus in einschlägigen Netzforen versucht wird, im Reichs- und Konföderationsgebiet gezielt Negativstimmungen entstehen zu lassen. Die rote Schrift zeigte sich erst bei der dritten Betrachtung. Mittlerweile geht der Reichsmilitärnachrichtendienst von einer Art Bekennerfilm aus. Wobei, das will ich Ihnen nicht verhehlen, die vorliegenden Tatsachen meiner Meinung nach nicht genügen, um zwingend von einem Terrorakt auszugehen.“

Der Reichskriegsminister endete und die Kanzlerin übernahm das Wort.

„Ich danke dem Reichskriegsminister für seine Ausführungen, die ich allerdings nur bedingt teile. Im Gegensatz zu Herrn von Kaltenbach bin ich überzeugt, dass es sich bei der Schiffskatastrophe in Kiel um einen realen Terroranschlag handelt. Doch ich will offen zu Ihnen sein, meine Damen und Herren. Wir haben uns im Ministerkabinett in den letzten zwölf Stunden ausgiebig mit der Frage ‚Terroranschlag oder Unfall beschäftigt und sind zu keinem gemeinsamen Standpunkt gelangt. Ihr Auftrag lautet daher primär, meiner Regierung in dieser Hinsicht die notwendige Klarheit zu verschaffen.“

Frau Professor Türmer meldete sich zu Wort.

„Sie entschuldigen, Frau Reichskanzlerin, ich verstehe den Auftrag nicht ganz. Sie sagten, wir sollen die Kieler Katastrophe untersuchen und herausfinden, ob es sich wirklich um einen Anschlag handelt. Das habe ich verstanden. Doch wer sollte einen solchen Anschlag durchgeführt oder ein Interesse daran haben, dem Reich zu schaden? Der Darstellung des Herrn Ministers entnehme ich, dass es angeblich Untergrundaktivitäten gibt. Soll unsere Gruppe den dargestellten geheimnisvollen Untergrundaktivitäten nachgehen? Zum ersten Mal höre ich, dass es in unserem Land Untergrundgruppen gibt. Ich denke, den Übrigen hier geht es ebenso. Befürchten Sie innere Unruhen oder eine größere Störung des sozialen Friedens? Wir haben seit den 70er Jahren keine nennenswerte Arbeitslosigkeit mehr. Die Zeiten der Studentenunruhen und der RAF-Aktivitäten sind ebenfalls längst vorbei! Die politische Linke, zu der ich mich auch zähle, kritisiert vieles zu Recht. Vor allem die Verteilung der Einkommen und der Vermögen wäre aus meiner Sicht zu prüfen und zu verändern. Aber von einem Aufstand oder einer Neuauflage der russischen Oktoberrevolution sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.“

Die Kanzlerin, die geduldig zugehört hatte, nickte.