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Kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Hinter den Kulissen der europäischen Großmächte wird längst gekämpft, der Krieg der Geheimdienste hat begonnen. Der 23-jährige Oberleutnant Wedigo von Wedel aus dem 1. Garderegiment in Potsdam wird nach Berlin abkommandiert. Die Abteilung III b, die Geheimdienstabteilung des Deutschen Generalstabs, hat ihn angefordert, um feindliche Agenten aufzuspüren. Von Wedel stürzt sich in die glitzernde Halbwelt des künstlerischen Berlins, wo neben zwielichtigen Gestalten eine verführerische Gräfin auf ihn wartet.
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Seitenzahl: 387
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Heiger Ostertag
Potsdamer Affäre
Kriminalroman
Personen und Handlung sind, soweit sie nicht historisch sind,
frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Imagno / Getty Images
ISBN 978-3-8392-4212-4
Für meine Eva
Die Fahnen wehten im kalten Wind des Petersburger Januars, unter ihnen marschierte eine schier unüberschaubare Zahl von Menschen. Eine riesige Menge, Hunderttausend seien es, sagten die Genossen. Auf die Zahl aber kam es nicht an, sondern wofür sie kämpften. Schaut nur, Genossen, schaut, wie von allen Seiten die Menschen kommen. Denn es muss ein Ende gesetzt werden. Der Mensch muss leben können, muss frei sein von Angst vor Verfolgung, und das Volk muss eine Stimme bekommen. Sie marschierten und marschierten; Arbeiter und Studenten, Männer und Frauen. Gleich waren sie am Ziel. Da stockt der Zug vor ihnen: Soldaten sperren die Straße! »Lasst uns durch, Kameraden, auch ihr seid Genossen!« Plötzlich krachen Schüsse, Frauen schreien voller Angst. Zu ihrer Linken fällt Paul, eine Kugel hat ihn getroffen, sein halber Schädel fehlt. Ein einziger Schrei: Paul! Überall Blut. Überall Schreie, Menschen rennen und fliehen in Panik. Auch sie flieht – dann packen eiserne Fäuste ihre Arme und schleppen sie in Fesseln fort. Endlose Tage und Nächte folgen, Verhöre über Verhöre, Gewalt und dunkle Stille, neue Gewalt und tiefe Angst. Niemand ist da, der ihr hilft, sie ist allein, so völlig allein. Schließlich bricht sie zusammen und gesteht. Alles, alles. Der Mann vor ihr grinst breit und macht ihr ein Angebot. Sie will nicht, doch er hat einen schrecklichen Trumpf, den er jetzt ausspielt. Sie kann nicht mehr, alles ist gleichgültig und sie nimmt an. Zeit vergeht, Tage, Wochen und Jahre. Eines Morgens öffnet sie die Augen, sie spielt ihr Spiel, lächelt und scheint eng mit den Häschern verbunden …
Berlin schlief oder war kurz vor dem Erwachen. Nur die Nachtbars führten ihr eigenes, dämmriges Halbweltleben. Die meisten Gebäude der Stadt lagen im Finstern, so auch die zahlreichen Häuser und Bauten im Regierungsviertel der Reichshauptstadt. Doch in einem Zimmer des Kriegsministeriums in der Wilhelmstraße brannte in diesen frühen Morgenstunden ein einsames Licht.
Ein älterer Offizier, seinem Dienstgrad nach ein Oberst, saß über einen Stapel Akten gebeugt am Schreibtisch seines Büros. Die Tischlampe warf gelbliches Licht auf die Papiere, ab und zu blätterte der Lesende eine der Seiten um. Während er las, wurde im Erdgeschoss das Fenster eines Wirtschaftsraumes aufgestoßen und eine schwarz gekleidete Gestalt, deren Gesicht durch eine Maske verdeckt war, zwängte sich, ohne dass ein Laut zu hören war, durch die schmale Öffnung ins Innere.
Der Oberst legte die Akte zur Seite und griff zu einer zweiten, die er aufschlug. Unten im Haus erreichte der Eindringling das Treppenhaus und stieg auf dicken Gummisohlen nahezu lautlos nach oben. Während die Gestalt hinaufschlich, überschlugen sich ihre Gedanken. Bilder stiegen auf und verschwanden. Bilder der Wut und des Zorns. Im Wachlokal am Haupteingang des Ministeriums erhob sich gähnend ein Soldat; es war Zeit für einen Rundgang. Auf der Straße rumpelte in der Ferne ein Milchwagen. Der Oberst machte sich eine Notiz in ein schwarzes Büchlein, zog die Schublade des Schreibtisches auf und legte die gelesenen Akten zurück. Gleichzeitig entnahm er einen weiteren Ordner. Der Einbrecher hatte jetzt das Stockwerk erreicht, in dem das Zimmer des Obersts lag. Er hielt kurz inne, atmete tief ein und aus. Der Hass musste abkühlen, musste in die kühle Tat münden. Unten nahm der Wachsoldat seine Blendlampe und machte sich auf den vorgeschriebenen Kontrollgang; es war 4.45 Uhr. Im zweiten Stock schlich die Gestalt leise durch den lichtlosen Korridor, bis sie das Büro des Obersts erreichte. Der Unbekannte hob den Kopf und lauschte ins Dunkle, zwang sich zur völligen Ruhe. Dann griff seine Hand zur Türklinke und drückte diese vorsichtig nieder. Der Offizier an seinem Schreibtisch war derart auf sein Tun konzentriert, dass er nicht merkte, wie die Tür des Zimmers sich öffnete und jemand ohne einen Laut hineinschlüpfte. Erst als ein Luftzug die Papiere bewegte, blickte er von seiner Akte auf.
»Wer sind Sie, was wollen Sie hier?«, stieß er überrascht hervor und wollte aufstehen. Statt einer Antwort zog die dunkle Gestalt einen Revolver hervor, zielte auf den Sitzenden und schoss. Auf der Stirn des Obersts bildete sich ein Wundmal. Er sackte ohne ein Wort in sich zusammen. Blut floss in schweren Tropfen aus der Wunde auf die Schreibfläche und formte eine dunkle Pfütze. Der Eindringling steckte seine Waffe ein und trat zum Platz des Toten, den er rüde zur Seite schob. Mit schnellem Griff klappte er die Akte, in der der Ermordete gerade gelesen hatte, zu und steckte diese und das Notizbuch des Mannes in eine Tasche, die ihm um die Schulter hing. Dann bückte sich der Dunkle und öffnete die Schubladen des Schreibtischs, die er eilig durchsuchte. Er nahm weitere Akten an sich – und hielt plötzlich inne, um zu lauschen. Vom Gang her waren schwere Schritte zu hören. Der Fremde löschte die Lampe und trat an die Wand neben die Tür. Wenige Augenblicke später wurde diese geöffnet und der Strahl einer Blendlaterne leuchtete ins Zimmer.
»Herr Oberst? Ist etwas passiert?«, fragte eine junge Stimme.
Der Mann mit der Lampe, der Wachsoldat, trat ins Zimmer. Ein fürchterlicher Schlag auf seinen Kopf ließ ihn taumeln und ein zweiter ihn in die Knie brechen. Der dunkle Mann packte den Soldaten an den Schultern und schleifte ihn hinein ins Zimmer, wo er ihn am Schreibtisch ablegte. Dann verließ er den Raum, zog die Tür des Büros zu und verschloss sie mit Hilfe eines Drahtes. Es war geschafft! Wenige Minuten später stand der Unbekannte auf der Wilhelmstraße, in der Ferne schlug eine Kirchturmuhr fünf lange Schläge. Im Osten dämmerte grau der Morgen, die Stadt erwachte.
Ein unbestimmtes Geräusch drang an sein Ohr.
»Hrr Obltnant!«
Wedigo stieß einen Knurrlaut aus, drehte sich um und versuchte, weiterzuschlafen. Beinahe gelang es ihm, da hörte er erneut er das penetrante Geräusch; nein, das war kein Geräusch, jemand rief ihn.
»Herr Oberleutnant, aufgewacht!«
Oberleutnant Wedigo von Wedel öffnete langsam die Augen. Wer weckte ihn zu dieser nachtschlafenden Zeit? Er gähnte. Wieder tönte die lästige Stimme.
»Herr Oberleutnant, bitte, Sie müssen aufstehen! Sie sollen in einer halben Stunde beim Kommandeur sein.«
Meine Güte, ein Termin bei Oberst von Friedeburg. In einer halben Stunde! Und Kuhn, sein Bursche, weckte ihn erst jetzt. So ein Rindvieh!
Wedigo fuhr auf und griff sich stöhnend an seinen Kopf. Ein stechender Schmerz fuhr durch die Schläfen – der schlechte Schampus von letzter Nacht, klebrig und süß, ein billiges Zeug, das einen fertigmachte. Der verdammte Suff, der Suff und das Jeu … Dabei hatte der Abend so harmlos angefangen. Oberleutnant von Helldorf von der 6. Kompanie hatte den Sieg seines Favoriten beim Rennen des Motorradclubs Berlin mit einem traditionellen Liebesmahl im Kasino gefeiert. Beim Essen war es nicht geblieben, dabei blieb es nie. Erst der Wein, dann Bier und Schnaps beim Spiel. Später der Vorschlag Leutnants von Natzmer, zur ›Konditorei Kessler‹ zu fahren, wo im Hinterzimmer … Nein, er sollte so etwas lassen. Dummes Gerede und alberne Scherze und man fühlte sich am nächsten Morgen absolut übel. Eigentlich war das vergeudete Zeit gewesen, wie so vieles, was man tat.
Wedigo schüttelte die unbequemen Gedanken ab und stand auf. Er trat zum Waschtisch und tauchte den Kopf in die Schüssel mit kaltem Wasser. Das Stechen wurde stärker, dann schwand es und machte einem Pochen Platz. Kuhn schüttete das Wasser aus dem Fenster und goss aus einem Krug frisches nach.
»Der Befehl, Herr Oberleutnant, kam erst heute früh. Daher konnte ich Herrn Oberleutnant auch nicht früher wecken«, entschuldigte sich Kuhn.
»Halten Sie das Maul, Kuhn, und palavern Sie nicht!«, blaffte Wedigo ihn an. Wenn er eines nicht leiden konnte, dann waren es Entschuldigungen. Er tauchte nochmals unter, prustete, seifte Hals und Oberkörper ab und setzte sich schließlich auf einen Stuhl. Der Bursche legte ihm ein weißes Tuch um und rasierte darauf seinen Herren mit jener Geschmeidigkeit und Akkuratesse des gelernten Friseurs.
Für den Morgenkaffee und ein Frühstück war keine Zeit. Wedigo von Wedel schlüpfte in seine blaue Uniform und überprüfte den Sitz vor dem großen Spiegel in der Diele. Das Glas zeigte ihm einen hoch gewachsenen Mann von dreiundzwanzig Jahren, dessen dunkelblondes Haar militärisch kurz und in der Mitte gescheitelt war. Aus dem scharf geschnittenen Gesicht blickten dem Betrachter zwei graublaue, heute leicht müde wirkende Augen entgegen. Der Mode entsprechend trug der junge Offizier einen sauber gestutzten Schnurrbart und das obligate Einglas, wobei er auf dieses meist gern verzichtete. Gut, er konnte sich einigermaßen sehen lassen. Er strich sich übers Haar, griff zum Wandkalender und riss das tägliche Blatt ab: Heute war Montag, der 7. April 1913. Dann schloss Wedigo den obersten Knopf seiner Uniformjacke, schnallte seinen Degen um und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg von seiner Wohnung in der Siefertstraße hinüber zu der nahe gelegenen Kaserne des 1. Garde-Regiments zu Fuß Potsdam in der Priesterstraße. Draußen schlug ihm kühle Luft entgegen und er wurde endgültig munter. Punkt acht Uhr meldete ihn die Ordonanz beim Kommandeur des Regiments Oberst Friedrich von Friedeburg.
Friedeburg war von hagerer, streng aussehender Erscheinung, ein Mann, dessen scharfe Augen das jeweilige Gegenüber zu durchdringen schienen. Ein wenig ähnelte er im Auftreten und Erscheinen dem Kaiser, wie dieser sich häufig bei Paraden und Manövern des Regiments gezeigt hatte. Mit seinen siebenundvierzig Jahren war er im besten Alter und im Kameradenkreisen munkelte man, ›der Alte‹ würde noch Karriere machen. Den Oberleutnant ließ das Ganze kalt, was interessierte ihn der Alte. Er war jung und hatte andere Dinge im Kopf. Und es gab in seiner Familie genügend Karrieristen, ob das sein Onkel Ernst oder Großonkel Karl von Wedel oder andere Mitglieder des alten pommerschen Geschlechts waren. Ihn langweilte das ständige Gerede vom Aufstieg und von der Karriere; was Wedigo wirklich fesselte, waren das Reiten und vor allem die neue Luftfahrtechnik. Im letzten Jahr hatte er auf dem Tempelhofer Feld an einem Flug des neuen Flugzeugtyps Fokker A-1912, der ›Spinne‹, teilgenommen. Eine gute Viertelstunde hatte der Flug nur gedauert, doch was für ein Erlebnis war das Ganze gewesen. Über die Stadt zu gleiten und die Welt von oben zu betrachten, eine famose Angelegenheit. Wie fern alles aussah, wie nichtig und klein, all die Spielzeughäuser und die menschlichen Zwerge. Seitdem begeisterte sich Wedigo für die Fliegerei, und er hoffte, den Tag zu erleben, an dem ein mutiger Mann sich gleichsam als Ikarus mit eigenen Flügeln in die Lüfte erheben würde.
Warum ihn der Alte heute Morgen zu sich beorderte, war von Wedel unklar. Einen Anschiss erwartete der Offizier eigentlich nicht, obwohl man das nie wissen konnte. Trotz gewisser abendlicher Festivitäten war seine Kompanieführung tadellos und seine Spielschulden hielten sich in Grenzen. Weibergeschichten hatte er jedenfalls keine. Er galt als guter Tänzer und besuchte natürlich die Bälle und Tanzvergnügen der Garnison, doch die jungen Fräulein, mit denen er dort walzte, fand der Oberleutnant ausgesprochen fad. Bis auf die Affäre mit einem Fräulein vom Varieté, die er als Fähnrich angehimmelt und der er vergeblich Blumen geschickt hatte, war er ohne größere Erfahrungen. Die Kameraden fuhren ab und zu mit der Eisenbahn nach Berlin und mit der Droschke ins bekannte Scheunenviertel, um sich mit den Damen zu amüsieren. Viele Offiziere seines Alters waren bereits einer Braut oder Verlobten versprochen und wollten sich vor der obligaten Heirat austoben. Wedigo hielt davon nichts, das Ganze war ihm zu billig und er für derartige Besuche zu moralisch. Über die gute Partie wurde im Kasino allerdings viel gesprochen. Um ein Fräulein von Stand oder eine Bürgertochter aus wohlhabender Familie hatte sich Wedigo bisher jedoch nicht ernsthaft bemüht und auf die Fragen der Kameraden nach ›seiner Braut‹ zuckte er nur mit den Achseln. Die Richtige würde schon noch kommen.
»Herr Oberleutnant, der Kommandeur lässt bitten!«, meldete die Ordonanz. Der Offizier fuhr aus seinen Gedanken auf und trat ins Allerheiligste des Regiments, in das Kommandantenzimmer. Der Raum war fast zur Hälfte von einem großen Schreibtisch ausgefüllt, hinter dem an der Wand die Regimentsfahne mit dem gekrönten Adler hing. Die Traditionslinie des Regiments ließ sich bis 1675 zurückführen, nach der verheerenden Niederlage von 1806 war es jedoch neu aufgestellt worden. Unter der Fahne prangte der Wahlspruch ›Semper Talis‹ – stets gleich.
Von Wedel grüßte pflichtgemäß, Friedeburg winkte ab und wies ihn mit der Hand auf die Sesselgruppe, die links unter dem Fenster stand.
»Nehmen Sie Platz, Herr Oberleutnant, ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe am Freitag einen Anruf aus dem Kriegsministerium von Oberst Schëuch erhalten. Der Oberst, ein alter Kamerad aus der Kadettenzeit, ersuchte mich, ihm einen zuverlässigen Offizier abzustellen, der technisch interessiert ist und sich vor allem mit der Frage der militärischen Nutzung von Flugmaschinen beschäftigt. Sie sind im letzten Jahr mit einer Fokker mitgeflogen, sind also der richtige Mann. Daher habe ich Sie dem Kameraden Schëuch vorgeschlagen. Um was es genau geht, weiß ich nicht, die im Ministerium halten sich bedeckt. Scheint eine Geheimsache zu sein, angeblich hat auch Oberst von Barfus damit zu tun. Sie melden sich jedenfalls heute um elf in der Wilhelmstraße. Betrachten Sie sich bis auf Weiteres als abkommandiert. Haben Sie noch Fragen?«
»Jawohl, Herr Oberst. Wer übernimmt meine Kompanie?«
»Oberleutnant Graf von Finckenstein wird für die Zeit von der Kriegsakademie freigestellt, um Sie zu vertreten. Weitere Fragen?«
»Nein, Herr Oberst!«
Wedigo erhob sich und salutierte, dann verließ er das Kommandantenzimmer. Merkwürdig, dachte er, was für ein seltsamer Auftrag. So ganz war ihm nicht deutlich geworden, warum Oberst Schëuch einen Offizier des Regiments und ausgerechnet ihn angefordert hatte. Der Mitflug in einer Fokker konnte doch nicht die Basis für ein Kommando im Ministerium sein. Er war gespannt, was ihn erwartete. Die Uhr im Vorzimmer zeigte zehn Minuten nach acht, um elf sollte er sich auf seiner neuen Dienststelle melden. Er hatte also gerade noch Zeit, seinem Kompaniefeldwebel, dem Spieß, einige Instruktionen zu geben und einen Kaffee zu trinken. Das tat er und danach ging es ihm deutlich besser.
Um neun Uhr fuhr der Oberleutnant vom Potsdamer Bahnhof aus mit der neuen Wannseebahn nach Berlin. Während der Fahrt blätterte er in der Vossischen Zeitung und in der Berliner Morgenpost, die ihm sein Bursche zum Zug gebracht hatte. Die üblichen Neuigkeiten. Noch immer schlug die vor einigen Tagen erfolgte Notlandung des Luftschiffes Z IV auf einem französischen Truppenübungsplatz im lothringischen Lunéville hohe Wellen. Die französische Regierung sprach von Spionage und drohte mit Konsequenzen. Daneben prangte ein Bild der Suffragette Emmeline Pankhurst, die ein Londoner Gericht wegen Anstiftung zu einem Bombenattentat auf das Landhaus des Schatzkanzlers David Lloyd George zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Auf dem Balkan verschärften sich die Spannungen, da die serbische Regierung es ablehnte, die von ihr besetzten Teile Albaniens zu räumen. Und heute ging es im Reichstag um die geplante Heeresverstärkung, wogegen die Sozialdemokraten sicher hetzen würden. Noch ein Blick in einen Artikel, in dem spekuliert wurde, ob die für den 24. Mai geplante Hochzeit der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit Ernst August von Hannover nicht platzen könne.
Dann war Berlin erreicht, der Oberleutnant stieg aus seinem Abteil Erster Klasse und suchte sich eine Droschke. Um fünf vor elf trat Wedigo durch das mit Soldatenfiguren geschmückte breite Einfahrtstor der Wilhelmstraße 86–87. Vor ihm lag das Gebäude des Kriegsministeriums mit den gequaderten Untergeschossen und dem über einem Fries aus Laubwerk und Helmen folgenden oberen Stockwerk. Wedigo von Wedel ließ sich den Weg zur Abteilung von Oberst Schëuch beschreiben, wobei der Oberleutnant sich wunderte, dass dieser im Zentral-Departement residierte, da trat ein Hauptmann auf ihn zu.
»Delvendahl«, stellte er sich vor. »Folgen Sie mir, Herr Oberleutnant!« Er führte den verwunderten Wedigo durch die nach billigem Wachs riechenden Gänge und über mehrere Treppen hin zu einem schmucklosen Raum im obersten Stockwerk, in dem um einen mit Papieren bedeckten Tisch drei ihm unbekannte Stabsoffiziere saßen. Der Hauptmann meldete: »Oberleutnant von Wedel vom 1. Garde-Regiment«, und verließ das Zimmer. Wedigo salutierte, worauf einer der Offiziere mit der Hand auf einen freien Sessel wies.
»Setzen Sie sich, Herr Oberleutnant. Wir haben Sie erwartet. Ich darf Ihnen die Runde vorstellen. Links von mir sitzt Oberstleutnant Gundelach, Leiter der Abteilung 6, der Ingenieur- und Pionierabteilung. Neben ihm aus der Abteilung 7, der Verkehrsabteilung, sehen Sie Major Kopsch, und ich bin Major Nicolai. Ein Mitglied unserer Runde fehlt, aber ich denke, Kamerad Heye wird gleich zu uns stoßen, wir können bereits beginnen.«
Wedigo musterte unauffällig die Runde. Der Major war ein Mann mit klaren strengen Gesichtszügen und hoher Stirn; der obligatorische dunkle Schnurrbart war kurz geschnitten genau wie das an den Schläfen lichter werdende Haar. Der Chef der Abteilung 6, Gundelach, dagegen wirkte mit seinem etwas rundlichen Gesicht freundlich, ja fast zivil und eher wie ein Techniker als wie ein Stabsoffizier. Der dritte im Bunde, Major Kopsch, dagegen saß kerzengerade im Sessel und sein glattes Äußeres und die scharfen, stechenden Augen machten auf Wedigo einen sehr abweisenden Eindruck.
»Sie wissen, warum Sie hierher kommandiert wurden?«, fragte ihn Oberstleutnant Gundelach.
»Oberst von Friedeburg teilte mir mit, es sei ein Offizier, der sich für technische Entwicklungen und für die Luftfahrt interessiert, angefordert worden.«
»Nun«, nahm Major Nicolai, der offenbar als Sprecher fungierte, jetzt wieder das Wort an sich. »Das stimmt und stimmt nicht. Die Dinge haben sich seit letzter Woche verändert. Ich werde Ihnen das gleich verdeutlichen. Doch zunächst wird Ihnen Kamerad Kopsch erläutern, mit was sich seine Abteilung aktuell beschäftigt.« Nicolai nickte Kopsch zu, der in knappem, militärischem Ton referierte.
»Die A7 beschäftigt sich, im engen Verbund mit der Abteilung 6, mit der Entwicklung und Erprobung von kriegstauglichen Flugzeugen. Insbesondere arbeiten unsere Techniker an der Steig- und Kurvenfähigkeit der Maschinen und an deren Bewaffnung, und das mit wachsendem Erfolg! Derzeit hat das Deutsche Reich, in Zusammenarbeit mit den Firmen Fokker und Junker, in diesem Bereich einen gewissen Vorsprung vor den konkurrierenden Mächten Frankreich, England und Russland erlangt.«
»Unser neu konzipierter Doppeldecker mit seinem 110 PS 9-Zylinder-Umlaufmotor ist einfach einmalig«, unterbrach Oberstleutnant Gundelach den Major begeistert, beendete aber auf einen Wink Nicolais hin sofort seine Darlegung der technischen Aspekte und erklärte, dass allenfalls die Amerikaner im Ernstfall den deutschen Flugzeugen Probleme machen könnten.
»Doch die USA und ihre Technik sind weit weg und die Amerikaner sind dem Reich freundschaftlich verbunden«, schloss der Major mit Seitenblick auf Gundelach den Vortrag.
»Eine Bedrohung anderer Natur ist weitaus gefährlicher«, übernahm wieder Nicolai. »Sie erinnern sich gewiss an den Fall des Spions Lux, der als Hauptmann in deutschen Dienst eine Vielzahl von geheimen militärischen Nachrichten an Frankreich weitergab. Nach seiner Festnahme gelang ihm die Flucht aus der Festungshaft und er wurde später vom französischen Kriegsminister persönlich geehrt. Aufgrund dieses Geschehens und anderer Ereignisse haben wir im Reich unsere Abwehr umstrukturiert und ganze Abteilungen neu aufgestellt. Dies auch im Hinblick auf unsere neue Flugzeugtechnik, die gegnerische Agenten anlockt wie Motten das Licht.«
»Ich verstehe noch immer nicht ganz, Herr Major, warum ich hier bin«, meldete sich nun Wedigo zu Wort. Welche Rolle er spielen sollte, war ihm nach wie vor nicht klar. »Soll ich in der Luftfahrtabteilung zum Einsatz kommen? Aber ich bin kein Ingenieur oder Pionier und leider auch kein Flieger. Oder hat Oberst Schëuch gedacht, dass ich Spione fangen soll?«
Nicolai blickte auf die Uhr, schüttelte dann den Kopf. »Dazu sollte Ihnen Oberstleutnant Heye Auskunft geben, doch ich fürchte, er ist aufgehalten worden. Nun, wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will …« Nicolai erhob sich und ging zur Tür.
»Auf was warten Sie, Herr Oberleutnant? Kommen Sie mit, wir statten der Abteilung III b einen Besuch ab. Meine Herren!«
Nicolai grüßte und verließ den Raum, Wedigo folgte rasch. Wieder liefen sie durch lange Flure, auf denen geschäftiges Treiben herrschte. Soldaten der verschiedensten Waffengattungen und Regimenter sowie unterschiedlichen Ranges kreuzten mit Akten unterm Arm ihren Weg. Ein Major der Gardekürassiere, ein Leutnant eines Infanterieregiments. Zwei Husarenrittmeister, ein Kapitän, dazwischen Gefreite aus einem Feldartillerieregiment, sogar ein Major eines Seebataillons. Nicolai hielt den Offizier an. »Paul, was machst du hier in Berlin? Ich dachte, du bist Kommandeur in Wilhelmshaven?«
»Du glaubst es kaum, Walter«, antwortete der Angesprochene. »Ich soll nach Afrika gehen. Entweder zur Schutztruppe nach Duala in Kamerun oder nach Daressalam, in Deutsch-Ostafrika.«
»Dann viel Glück mit den Askaris«, wünschte Nicolai. Sie gingen weiter.
»Das war Paul von Lettow-Vorbeck«, erklärte der Major dem Oberleutnant. »Ich habe ihn vor rund zehn Jahren an der Kriegsakademie kennengelernt. Ein brillanter Taktiker und Stratege, der sicher noch General werden wird.«
Die Gänge leerten sich, sie kamen offenbar in einen weniger frequentierten Teil des Gebäudes. Nicolai trat in einen Seitengang und klopfte an eine mit Leder verkleidete Tür. Von drinnen kam keine Reaktion, auch nicht als der Stabsoffizier ein zweites Mal klopfte.
»Seltsam, es ist erst halb zwölf«, sagte Nicolai mit einem Blick auf seine Uhr. »Heye wird doch noch nicht im Kasino sein?«
Er probierte die Türklinke, das Zimmer war verschlossen.
»Dann gehen wir zunächst einmal in mein Büro«, erklärte der Major. »Oberstleutnant Heye war übrigens einige Jahre in Afrika und bei der Niederschlagung des Hereroaufstands dabei.«
Sie wollten sich gerade auf den Weg machen, als ein Offizier um die Ecke bog, den Nicolai sogleich begrüßte. »Herr Oberstleutnant, das ist Oberleutnant von Wedel vom 1. Garde-Regiment zu Fuß. Oberst Schëuch hat ihn angefordert, aber ohne zu informieren, worum es geht.«
»Weiß schon, weiß schon«, gab Heye zurück. Er war ein älterer Offizier mit einem großen, eisgrauen Schnurrbart und einer fülligen Gestalt. »War den ganzen Morgen unterwegs und hatte noch keine Zeit, in mein Büro zu gehen. Also, kommen Sie, meine Herren.«
Der Oberstleutnant nahm einen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Ein merkwürdiger Geruch wehte ihnen entgegen. Heye trat ins das Büro – und blieb stocksteif stehen.
Major Nicolai, der ihm direkt gefolgt war, stieß einen Ruf der Bestürzung aus, dann zog er Wedigo ins Zimmer und verschloss die Tür. Der Oberleutnant starrte auf das schreckliche Bild, das sich seinen Augen bot.
Vor ihnen auf dem Boden lag in einer bereits getrockneten Blutlache ein Infanterist, offenbar ein Wachsoldat. Der Mann war tot, offensichtlich gestorben an Schlägen auf den Schädel, denn dieser wies eine schreckliche, mit Blut verkrustete Wunde auf. Neben ihm sah Wedigo eine Blendlaterne liegen, der Obergefreite musste auf einem Kontrollgang gewesen sein. Er hatte wohl einen Eindringling überrascht und seine Wachsamkeit mit dem Leben bezahlt. Doch der Mann war nicht der einzige Tote im Raum. Halb über die Platte des großen Schreibtisches auf der linken Seite des Zimmers lag der Leichnam eines älteren Mannes in der Uniform eines Obersts.
Gut eine Minute starrten Nicolai und Heye auf die toten Soldaten, dann lösten sie sich aus ihrer Erschütterung und fanden zurück zur militärischen Ordnung. Major Nicolai trat langsam zum Oberst, beugte sich über den Körper und begann den Leichnam genauer zu untersuchen.
»Ein Kopfschuss, mitten in die Stirn, er dürfte sofort tot gewesen sein.« Ein Zittern in seiner Stimme zeigte seine Betroffenheit.
»Das ist Oberst Karl Brose, der bis vor drei Jahren die Abteilung III b geleitet hat«, fügte er erklärend hinzu.
Von Wedel warf einen scheuen Blick auf die Leiche. Der Tote trug wie Oberstleutnant Heye einen eisgrauen Schnurrbart und war von ebenso fülliger Gestalt.
Während sich Nicolai im Raum umschaute, prüfte Heye den Inhalt der Schubladen seines Schreibtisches.
»Das meiste ist noch da, nur die Akten XV-1 und XVI-2 sowie XVII-8 fehlen, soweit ich sehe«, sagte er zu dem Major.
»Feindliche Agenten«, murmelte Nicolai.
»Das Deuxième Bureau oder die Sûreté«, knurrte Heye. »Oder die Briten mit ihrem verdammten Secret Intelligence Service.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach der Major. »Vernon Kell hat genug mit unserem Marinenachrichtendienst zu tun, die Briten kommen nicht in unsere Abteilung.«
Oberleutnant von Wedel horchte auf. ›Unsere Abteilung‹, hatte der Major gesagt. War er bei der Auslandsaufklärung gelandet? Auf jeden Fall waren hier zwei Morde geschehen. Einer an dem armen Wachmann und der andere an einem Oberst. Brose hatte ihn der Major genannt, Karl Brose. Ein eigenartiger Beginn seiner Tätigkeit im Ministerium.
»Tja, mein Bester«, wandte sich der Major jetzt an ihn. »Ihr erster Tag in der Abteilung führt Sie gleich mitten in unser Aufgabengebiet, die Abwehr der feindlichen Spionage und Sabotage und die Aufklärung. Ich gehe davon aus, dass Sie bei der Garde noch nie mit Mord zu tun hatten, außer dass Sie darüber in Zeitungen gelesen haben.«
Der Oberleutnant nickte. Vor einem Monat hatte eine Frau ihren Geliebten auf der Lichtensteinbrücke im Tiergarten erschossen. Und natürlich kannte er den Fall des Brandstifters und Mörders August Sternickel, der nach Jahren endlich gefasst worden war. Aber sonst …
»Habe mich nie mit Mord befasst, Herr Major«, erwiderte er.
»Das dachte ich mir«, sagte Nicolai. »Ich werde Sie daher in die Arbeit einweisen. Es sei denn, Kamerad Oberleutnant, Sie kneifen. Aber Kneifen gibt es im Dienst nicht.«
Oberstleutnant Heye, der die ganze Zeit wie unbeteiligt daneben gestanden hatte, räusperte sich vernehmlich. »Sind Sie mit Ihrer Rede fertig, Major? Kann so ein Gepredige nicht leiden. Werde jetzt ins Kasino gehen, komme in zwei Stunden zurück. Bis dahin ist alles tadellos. Kein Blut, keine Leichen! Und natürlich höchste Geheimhaltung, das bleibt intern, kein Wort nach draußen, schon gar nicht an die Presse!«
»Jawohl, Herr Oberstleutnant«, bestätigte Nicolai, wobei er lässig mit einem Finger grüßte. Heye brummte etwas, das von Wedel nicht verstand, und verließ den Raum. Kaum war der Ältere gegangen, begann der Major Geschäftigkeit an den Tag zu legen. Er beauftragte den Oberleutnant, die Wache durch einen Gefreiten informieren zu lassen. Dann sollten sie zu einem Büro am anderen Ende des Ganges gehen und dem dort sitzenden Feldwebel Schneidmann befehlen, dass dieser mit Nicolais Feldtasche hierher kommen solle.
»Der Kerl soll sich sputen!«, rief ihm der Major nach, als Wedigo aus dem Zimmer eilte. »Und wenn Sie einen Stabsarzt sehen, bringen Sie ihn ebenfalls mit. Immerhin haben wir hier zwei Tote!«
Wedigo eilte davon, um die Aufträge auszuführen. Irgendetwas Merkwürdiges schien hier vor sich zu gehen, und er war gespannt, was hinter dem Ganzen wohl stecken mochte.
Zehn Minuten später war die Untersuchung in vollem Gange. Vor der Tür stand ein Doppelposten, drinnen untersuchten Stabsarzt Dr. Neumann und ein Sanitätsgefreiter die beiden Toten, während Major Nicolai und der Oberleutnant mit dem wachhabenden Offizier sowie mit Feldwebel Schneidmann aufmerksam das Tun verfolgten. Der Arzt hatte die Untersuchung des Obersten beendet und kniete neben dem Wachsoldaten.
»Sehen Sie, meine Herren«, er fasste den Arm des Leichnams. »Die Totenstarre, die rigor mortis, ist bereits voll ausgeprägt. Die Livores, die Totenflecken, sind noch teilweise wegdrückbar. Beide Männer sind nach meiner Einschätzung vor sechs bis acht Stunden getötet worden. Das heißt«, der Stabsarzt zog eine silberne Taschenuhr hervor, »jetzt ist es kurz vor zwölf, zwischen vier Uhr und sechs Uhr morgens.«
»Das passt zu dem, was mir heute Morgen bei Wachantritt gemeldet worden ist«, erklärte der Wachoffizier. »Der Obergefreite Becker ist von seiner Runde, die er um drei viertel fünf begonnen hat, nicht zurückgekehrt. Der Wachhabende meinte allerdings, Becker sei ein unsicherer Kantonist, ein bekennender Sozialdemokrat, und habe sich einfach früher nach Hause abgesetzt. Die Landgendarmerie wurde bereits verständigt.«
»Offenbar eine Fehleinschätzung«, bemerkte Nicolai trocken. »Gut«, wandte er sich an den Wachoffizier. »Sie können die Toten abtransportieren lassen. Herr Stabsarzt, ich darf Sie um einen Bericht bitten.«
Dr. Neumann und der Sanitätsgefreite verließen den Raum und die Wache legte die Ermordeten auf Tragen und brachte sie fort. Wedel, der alles genau verfolgte, starrte ihnen nach. Die Fingerkuppen des Obersts waren blau verfärbt. Der Stabsarzt hatte die Verfärbung nicht angesprochen, ob Nicolai sie bemerkt hatte? Jetzt trat auch der Wachoffizier ab, und Feldwebel Schneidmann schloss auf ein Zeichen des Majors die Tür.
»So, Herr Oberleutnant, passen Sie genau auf, wie wir vorgehen. Wir haben unsere Methoden. Schneidmann, die Tasche!«
Der Feldwebel, ein Mann von großer, kräftiger Gestalt, reichte Nicolai eine Militärfeldtasche, die dieser öffnete. Er entnahm ihr eine Lupe und eine Büchse mit Puder sowie einen Quastenpinsel.
Dann beugte er sich über den Schreibtisch und streute vorsichtig das Puder über der Tischplatte aus. Wedel trat neugierig näher. Der Major ergriff die Lupe, beugte sich über das Puder, pustete und betrachtete das Resultat. »Kommen Sie, Herr Oberleutnant, nehmen Sie die Lupe und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Von Wedel neigte sich über den Tisch und schaute angestrengt auf die Schreibplatte. Das verbliebene Puder zeigte merkwürdig geformte Rillen und Kreise. »Das sind Fingerabdrücke«, sagte er überrascht.
»Genau, das sind womöglich die Fingerabdrücke des Mörders. Ich nutze ein Verfahren, das der Brite Francis Galton seit den 1880er-Jahren entwickelt hat. Er ging davon aus, dass jeder Mensch individuelle, unverwechselbare Fingerabdrücke hat, anhand derer er eindeutig identifiziert werden kann.«
»Davon habe ich, ehrlich gesagt, noch nie gehört, Herr Major«, bekannte von Wedel. »Aber woher wissen Sie, dass die Abdrücke nicht zum toten Oberst oder zu Oberstleutnant Heye gehören? Immerhin ist das sein Büro.«
»Ein guter Einwand, Oberleutnant. Unsere ganze Abteilung hat aus diesen Gründen ihre Abdrücke bereits abgenommen und fotografiert, auch die von Oberstleutnant Heye. Und während Sie unterwegs waren und Hilfe holten, habe ich das Verfahren bei Oberst Brose angewendet. Sehen Sie!«
Nicolai zeigte auf ein Blatt, das auf dem Schreibtisch lag und eine Reihe von zehn blauen Abdrücken aufwies.
»Daher die verfärbten Fingerkuppen an den Händen Oberst Broses«, rief Wedigo.
»Ah, das haben Sie bemerkt?«, meinte der Major überrascht. »Sie scheinen ein gewisses kriminalistisches Talent zu besitzen, erfreulich. Schneidmann vergleicht die Abdrücke des Obersts mit denen auf dem Schreibtisch, während wir uns im Zimmer umschauen. Das habe ich zwar schon vorhin erledigt, als der Tatort noch frisch war, aber es ist immer hilfreich, den Tatort ein weiteres Mal – auch zu zweit – zu überprüfen. Also dann, Herr Oberleutnant, legen Sie los!«
Eine Prüfung! Jetzt hieß es, sich zu bewähren. Wedigo ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. In der Mitte vor dem Fenster war der Schreibtisch platziert, rechts an der Wand standen zwei Rollaktenschränke. Auf der anderen Seite befand sich ein Stuhl und die Wand schmückte ein Bild des Kaisers bei einem Manöver. In der Ecke stand der Ofen, an diesem warmen Tag allerdings unbeheizt. Ein insgesamt karger, kahler, sehr funktionaler Raum, ohne erkennbare Besonderheiten.
»Wonach suchen wir, Herr Major?«
»Das ist eine gute Frage, die Kernfrage überhaupt. Sie kennen Edmond Locard?«
»Nein, Herr Major, der Mann ist Franzose?«
»Ja, und merken Sie sich, Oberleutnant. Auch vom Gegner kann man lernen. Locard ist Mediziner und Jurist und forscht seit Jahren auf dem Gebiet. Im letzten Jahr hat er in Lyon ein Polizeilabor eingerichtet, um auf diese Weise Verbrechern wissenschaftlich auf die Spur zu kommen und sie zu entlarven. Locard schrieb kürzlich, dass kein Täter eine Tat begehen oder einen Tatort verlassen kann, ohne eine Vielzahl von Spuren zu hinterlassen. Überall, wo ein Täter etwas berührt oder wohin er geht, gibt es Finger- und Fußabdrücke und andere Spuren wie Haare, Kleidungsfasern, Kratzer, Blut und mehr. Das sind stumme Zeugen gegen ihn und physikalische Beweise, die nie vergessen.«
Die Betrachtungsweise war für den Oberleutnant etwas völlig Neues und er merkte, wie ihn das aktuelle Tun mehr und mehr faszinierte. »Gut, dann suche ich nach solchen Spuren«, sagte Wedigo und begann im Raum umherzugehen. Wo fing er am besten an? Schließlich bückte er sich, um einen Blick unter den Schreibtisch zu werfen. Nicolai nickte beifällig und inspizierte die Aktenschränke an der Wand.
Unter dem Schreibtisch lag Staub, die Seitenteile selbst reichten bis auf den Boden. Na, dem Putzer würde er Beine machen, dachte der Oberleutnant, da sah er ein kleines Stück Stoff, das golden glänzte. Wedigo ergriff es vorsichtig mit zwei Fingern und erhob sich. Er legte es auf den Schreibtisch und bat Schneidmann um die Lupe. Eindeutig, die Vergrößerung bewies es, der Stofffund gehörte zu einer Gardelitze, der Stickerei am Uniformkragen, das gemeinsame Kennzeichen der preußischen Garde. Gold war die Farbe der Offizierslitzen der Garde-Regimenter zu Fuß Nr. 2–4! Der Major trat neben ihn und betrachtete den Fund mit einem Lächeln.
»Gratuliere, Herr Oberleutnant! Sie haben sozusagen Ihre Feuertaufe bestanden und mich in meinem Entscheid bestätigt, einen Herrn der Garde angefordert zu haben. Kommen Sie jetzt mit in mein Büro, wir sprechen dort weiter. Da Kamerad Heye offenbar nicht dazukommt, werde ich Sie einweisen. Schneidmann«, wandte er sich an den Feldwebel, der noch immer die Abdrücke prüfte. »Machen Sie in Ihrem Büro weiter und melden Sie mir dann Ihr Ergebnis. Sorgen Sie dafür, dass hier umgehend aufgeräumt und gereinigt wird. In einer drei viertel Stunde kommt Oberstleutnant Heye zurück und Sie wissen, was blüht, wenn er auch nur das kleinste Staubkorn findet – das gilt entsprechend für die Flächen unterm Schreibtisch und auf den Aktenschränken!«
Major Nicolais Büro lag merkwürdigerweise in einem anderen Stockwerk als das von Heye und bestand im Eigentlichen aus zwei Räumen sowie einem Aktenarchiv und einer Art Waffenkammer, wie Wedigo erstaunt feststellte. In den Räumen roch es stark nach Waffenöl, alten Papieren und, überraschend, nach Chemikalien. Das größere Zimmer wurde wie das Büro von Oberstleutnant Heye von einem breiten Schreibtisch dominiert, auf dem ein Fernsprechapparat stand. An den Wänden hingen Karten, neben einem Plan vom Raum Berlin und einer großen militärischen Reichskarte, die alle Garnisonen zeigte, primär fünfzigtausender Blätter von Russland, Frankreich, der k.u.k. Monarchie und eine riesige Afrikakarte, in der die deutschen Kolonien hervorgehoben waren. Das Ganze machte den Eindruck, als ob Nicolai und nicht Oberstleutnant Heye der eigentliche Leiter der Abteilung war. Wedigo schaute sich neugierig um. Auf den an der Seite stehenden, halbhohen Schränken lagen allerlei technische Geräte und Werkzeuge, darunter, zur Überraschung des Offiziers, eine Filmkamera.
»Das ist eine AGFA Spezialversion der Rollfilm-Kastenkamera Kodak Nr. 2«, sagte der Major, der Wedigos Blick bemerkt hatte. »Mit den Blenden 4, 8, 11, 16 und 22. Daneben sehen Sie eine Buch- sowie eine Opernglaskamera. Sie werden gleich erfahren, für was wir die Kameras brauchen. Der Raum hier ist mein Arbeitszimmer. Ihr Zimmer wäre das vordere, das Sie sich nach Notwendigkeit einrichten können; es ist aber erst übermorgen frei. Im Archiv nebenan stehen die Akten der letzten Jahre sowie etliche Fach- und Nachschlagewerke sowie Lexika. Dazu besitzt die Abteilung eine eigene Waffenkammer. Dort finden Sie mehrere Karabiner 88, zwei 71er Gewehre, einige Borchardt-Luger-Pistolen P 08, drei Brownings Model 1900, natürlich auch zwei Mauser C96 sowie eine Mauser C96 im Kaliber 9 mm und zur Erprobung ein Dutzend Stielhandgranaten. Dazu ein MG 08, ebenfalls in der Erprobungsleichtversion; alles inklusive passender Munition.«
»Damit lässt sich ein kleiner Krieg führen«, meinte Wedigo.
»Sicher, und wir führen kleine Kriege«, entgegnete der Major. »Der Feind schläft nicht und hat heute Nacht sogar in unserem eigenen Haus zugeschlagen. Setzen Sie sich, dann zeige ich Ihnen etwas, was Ihnen erklärt, warum wir Sie angefordert haben.«
Der Oberleutnant nahm auf einem mit einem Lederpolster überzogenen Stuhl Platz. Nicolai zog eine Schublade auf und einen Umschlag hervor, den er Wedigo zuschob. Dieser öffnete ihn und starrte überrascht auf ein blasses und verwischtes, in Farbtönen gehaltenes Foto, welches einen Gardeoffizier zeigte, der dem Betrachter den Rücken zuwandte.
»Sie staunen über die Farbe? Feldwebel Schneidmann, mein eigentlicher Fotospezialist, hat auf das Verfahren Adolf Miethes zurückgegriffen und diese Aufnahme mit einer Wechselschlittenkamera geschossen. Sie müssen wissen, seit einiger Zeit haben die Abteilungen 6 und 7 den Eindruck, dass sich Unbefugte Zugang zu Akten verschaffen. Insbesondere unsere flugtechnischen Entwicklungen wecken das Interesse ausländischer Agenten und ihrer hiesigen Helfer. Ich will Sie damit verschonen, was wir bislang alles unternommen haben, um diesem gegnerischen Spionagering auf die Spur zu kommen. Es handelt sich jedenfalls eindeutig um Profis, Spitzenleute, die mit allen Wassern gewaschen sind. Aber selbst diese hätten keinen Zugang zum Kriegsministerium, wenn sie nicht mit jemandem aus dem Hause zusammenarbeiteten.«
»Wollen Sie damit sagen, Herr Major, im preußischen Kriegsministerium gäbe es einen Verräter?«, fragte Wedigo entsetzt.
»Genau das will ich sagen, Herr Oberleutnant. Und es ist kein Unteroffizier oder Gefreiter; nein, es muss sich um einen Stabsoffizier oder einen noch höheren Dienstgrad handeln. Wir haben das überprüft, es wurden Nachrichten ausgestreut, die besagten, dass sich bestimmte Unterlagen im Büro Oberstleutnant Gundelachs befänden, und zwar handle es sich dabei um höchst geheime Konstruktionsunterlagen zu einem neuen Flugzeugmotor. Wir legten also diesen Köder aus, und Schneidmann installierte in Gundelachs Büro eine Blitzfalle. Der Feind reagierte wie erhofft und versuchte, sich die Dokumente zu beschaffen oder zu kopieren. Das Resultat halten Sie in Ihrer Hand, eine Fotografie des gegnerischen Agenten, als er das Zimmer betrat. Leider ist das Gesicht nicht zu erkennen. Der Eindringling trug jedenfalls Gardeuniform und ist, wenn ich Ihren Fund am Tatort richtig deute, Offizier eines der Garde-Regimenter zu Fuß Nr. 2–4.«
»Eine Uniform kann jeder tragen, Herr Major, denken Sie an den Überfall auf das Rathaus der Stadt Cöpenick«, wandte Wedigo ein. »Und die Spur kann absichtlich gelegt worden sein.«
»Das habe ich wohl berücksichtigt, aber die Frage bleibt, wenn es sich um eine Täuschung handelt, warum trug der Mörder Gardeuniform? Was wollte er damit bezwecken? Ich halte den Täter für äußerst raffiniert und kaltblütig und damit für extrem gefährlich. Die Fotofalle kam donnerstagnachts zum Einsatz. Der Gegner muss den Blitz bemerkt haben, trotzdem kehrte er drei Tage später zurück und ermordete Oberst Brose.«
»Warum zerstörte er nicht die Kamera?«
»Dazu hatte der Mann keine Zeit, denn mit Auslösung der Kamera wurde gleichzeitig ein Alarmsignal bei einem Wachtrupp ausgelöst, den ich im gleichen Stockwerk postiert hatte. Trotzdem konnte der Eindringling entkommen, unglaublich!«
»Halten Sie den Mord für eine geplante Tat, Herr Major? Kann es nicht sein, dass der Unbekannte zufällig auf den Oberst stieß? Er konnte doch nicht ahnen, dass Brose um diese Uhrzeit sich im Büro von Oberstleutnant Heye aufhalten würde. Vielleicht wurde der Täter von Brose überrascht oder er verwechselte ihn mit Oberstleutnant Heye.«
»Das wäre denkbar«, überlegte Nicolai.
»Was sind das für Akten, die geraubt wurden?«
»Sie haben gehört, was Kamerad Heye sagte. Es handelt sich um Akten der Signatur XV-1, XVI-2 sowie XVII-8. Diese sind durchaus wichtig, unterliegen jedoch nur einer geringen Geheimhaltungsstufe. Für einen Nichteingeweihten dürfte es unmöglich sein, ihren wirklichen Gehalt zu verstehen und auszuwerten.«
»Der Oberst aber hätte es gekonnt?«
»Das ist genau der Punkt, den es zu klären gilt«, meinte Nicolai vorsichtig. »Wir haben in der Tat zu fragen, was Oberst Brose mit den Akten wollte und warum er in Heyes Büro war. Was suchte er dort? Wenn die Tat geplant war, woher wusste der Mörder von seiner Anwesenheit oder bestand vielleicht sogar ein Kontakt zwischen Täter und Opfer?«
»Glauben Sie, Herr Major, dass der Oberst das Leck war, das Sie suchen?«, wagte Wedigo zu fragen.
»Oberst Brose hat die Abteilung zehn Jahre geleitet, ich kannte ihn gut, er war bestimmt kein Verräter. Dennoch bleibt die Frage, was er mitten in der Nacht in seinem alten Büro wollte. Sie sehen, Herr Oberleutnant, es gibt einiges zu klären und zu tun.«
Es klopfte an der Tür und auf Nicolais »Herein« trat Feldwebel Schneidmann ins Zimmer.
»Herr Major«, meldete Schneidmann. »Ich habe die daktyloskopische Arbeit abgeschlossen. Die sichergestellten Abdrücke gehören weder den beiden Toten noch stimmen sie mit den katalogisierten unserer Abteilung überein. Aber ich bin in anderer Hinsicht fündig geworden. Die Daumenabdrücke entsprechen denen, die ich vor zwei Jahren in Wien sichern konnte.«
»Natürlich in Wien!«, rief der Major. »Das war zu Beginn meiner Zeit in der Abteilung III b«, erklärte Nicolai dem Oberleutnant. »Ich begleitete Oberstleutnant Heye zu einem Treffen mit Oberst Urbanski von Ostrymiecz, dem Chef des Wiener Evidenzbüros. Das Evidenzbüro ist die Stabstelle des k.u.k. Militärgeheimdienstes, sozusagen die österreichische Variante unserer Abteilung. Wir waren in der Artilleriekaserne des Feldkanonenregiments Nr. 9 in der Wiener Neustadt untergebracht. Gleich am zweiten Tag entdeckte ich, dass sich jemand an unserem Gepäck zu schaffen gemacht hatte. Wir haben da unsere eigenen Methoden. Es fehlte nichts, aber offenbar war der Unbekannte sehr an unseren Strukturplänen interessiert gewesen. Wir operierten damals erstmalig mit der Daktyloskopie und Schneidmann sicherte entsprechende Spuren.«
»Es sind dieselben, Herr Major«, berichtete der Feldwebel weiter, »die auch in der Wohnung Gustav Wölkerlings gefunden wurden.«
»Das ist wirklich eine interessante Entdeckung, Schneidmann. Eine Verbindung zum Fall Wölkerling.« Nicolai schüttelte den Kopf. »Das überrascht mich. Gibt es weitere Spuren oder Hinweise?«
»Nein, Herr Major, bislang noch nicht!«
»Gut, dann nehmen Sie sich einen Trupp und fahren zur Wohnung von Oberst Brose am Kurfürstendamm. Schauen Sie sich dort gründlich um und sichern Sie eventuelle Fremdspuren. Alle Akten und sonstige Papiere bringen Sie hierher. Alles klar?«
»Jawohl, Herr Major!« Der Feldwebel salutierte und verließ den Raum.
Einen Augenblick blieb Nicolai nachdenklich sitzen. Dann ging er in das Archivzimmer und kehrte kurz danach mit einer grünen und einer blauen Akte zurück. Der Major setzte sich, blätterte ein wenig in den Akten und schob diese dem Oberleutnant zu.
»Die Angelegenheit wird immer komplizierter. Im Fall Wölkerling steckte Oberst Batjuschin vom russischen Nachrichtendienst Raswedka und die zaristische Staatspolizei Ochrana hinter dem Geschehen. Wenn das die gleichen Abdrücke sind, liegt eine Verbindung zu Batjuschin oder zu seinem Nachfolger Oberst Martschenko auf der Hand. Aber ich könnte mich auch irren, manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich geben Ihnen am besten die Akten mit, es handelt sich um Abschriften, da der eine Fall vorm Reichsmilitärgericht anhängig ist und sich dort die Originale befinden. Studieren Sie die Unterlagen, der grüne Ordner betrifft Wölkerling, der blaue beinhaltet Materialien zu Oberst Batjuschin und zu Oberst Martschenko. Beide gehören, wie ich weiß, ohne Beweise dafür zu haben, der Raswedka und der Ochrana an. Aber verschaffen Sie sich ein eigenes Bild. Sie sind mit der Materie nicht vertraut und unvoreingenommen. Setzen Sie die Mosaikteile neu zusammen; ich erwarte morgen früh Ihren Bericht. Ich habe Ihnen ein Zimmer im Hotel Adlon buchen lassen. Ihr Zimmer hier ist ja noch besetzt. Im Adlon können Sie in Ruhe arbeiten. Nehmen Sie sich eine Mappe für die Akten. Es ist nicht nötig, durch Berlin zu laufen und dabei Akten aus dem Kriegsministerium in der Hand zu tragen. Noch Fragen?«
»Keine Fragen, Herr Major!«
»Gut, dann sehe ich Sie morgen früh um neun hier im Büro! Ach, ehe ich es vergesse. Haben Sie einen Revolver dabei?«
»Nein, Herr Major.«
»Dann warten Sie einen Augenblick!« Nicolai erhob sich, ging ins Waffenzimmer und kehrte kurz darauf mit einem Browning zurück. »Nehmen Sie den Browning und führen Sie diesen unbedingt im und außerhalb des Dienstes mit sich! Unsere Arbeit ist, wie Sie heute gesehen haben, nicht ohne Gefahren.«
Wedigo von Wedel ergriff die beiden Akten sowie den Browning und stand auf. Er nahm eine der schwarzen Mappen vom Regal und steckte die Akten sowie die Waffe hinein. Dann salutierte er und verließ das Büro des Majors.
Auf dem Gang hielt der Oberleutnant inne und holte tief Luft. Ihm schwirrte der Kopf von der Fülle der Informationen und Ereignisse, die ihm der heutige Tag gebracht hatte. Dabei war es gerade erst Nachmittag, Wedigo schaute auf seine Uhr, kurz nach vier. Vier Uhr und er hatte, bis auf eine Tasse Kaffee, heute noch nichts zu sich genommen. Er beschloss, zunächst zum Adlon zu gehen und dort zu Mittag zu essen. Dabei konnte er in Ruhe über alles nachdenken. Das Hotel war Wedigo gut bekannt, sein Großonkel Karl Leo Julius Fürst von Wedel, der Reichsstatthalter von Elsass-Lothringen, hatte im Adlon mehrfach zu Familienfesten geladen.
Das Gebäude des Hotels Adlon war erst vor ein paar Jahren erbaut worden. Der Bau hatte dem Bauherrn und Hotelier Lorenz Adlon die unvorstellbare Summe von siebzehn Millionen Goldmark gekostet. Dafür bekamen die Gäste jede Menge Luxus. Fließend warmes Wasser und Elektrizität gehörten zum Standard der Zimmer. Ein Café und ein Restaurant, die Lounge und eine riesige Lobby, ein Rauchersalon für die Herren, ein Damenzimmer und ein Musiksalon sowie eine Bibliothek und ein Wintergarten, in dem die Gäste ihren Kaffee oder Tee zu sich nahmen, standen rund um die Uhr zur Verfügung. Alle Räume und Säle waren in Neobarock oder im Stil von Louis XVI. gehalten und luxuriös mit Möbeln der Firma Bembé eingerichtet. Im Ganzen gesehen ein höchst angenehmer Arbeitsplatz, dachte Wedigo. Allerdings hatte der junge Offizier das Gefühl, dass Major Nicolai mit seiner Unterbringung mehr bezweckte, als ihm eine ruhige Arbeitsmöglichkeit zu vermitteln.
Das Hotel war nicht weit vom Ministerium entfernt. Eine halbe Stunde später saß Wedigo von Wedel im Goethegarten des Hotels. Der Pagodenbrunnen mit seinen Elefanten rauschte und Wedigo verspeiste mit gutem Appetit Seezunge Adlon, in Weißwein und Champignonessenz pochierte Seezungenfilets, die mit einer leichten Sauce Choron überzogen waren und mit Scampi, Trüffelscheiben sowie Champignonköpfe und Gemüse serviert wurden. Dazu trank er einen leichten Rheinwein und anschließend im Rauchersalon einen Mokka, wozu er eine Brasil rauchte. An den Luxus konnte er sich gewöhnen. Wedigo lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück und blies einen Rauchring in die Luft. Seinen Burschen hatte er über das Regimentstelefon angewiesen, ihm noch heute Abend eine zweite Uniform und Wäsche ins Hotel zu bringen. Ein angenehmer Dienst; gleich würde er sich frisch machen und sich in Zivil umziehen. Der Portier hatte ihm bereits einen passenden Anzug aufs Zimmer bringen lassen. Anschließend wollte er sich an die Akten machen und deren geheimnisvollen Inhalt studieren. Und dann – nun möglicherweise ging Wedigo, wenn er schon einmal in Berlin war, ein wenig auf Bummel ins Metropoltheater zur Massary oder in den Wintergarten ins Varieté, wo er noch nie gewesen war. Besser ins Metropol, die Sopranistin Fritzi Massary war wirklich einen Besuch wert, ganz Berlin schwärmte von der schönen Jüdin – und erst recht die Kameraden im Kasino.
Wedigo drückte die Zigarre aus und erhob sich, um in sein Zimmer zu gehen. Er trat ins Foyer und stieß beinahe mit einer eleganten Dame zusammen, die gerade mit einem Hündchen an der Leine aus dem Damenzimmer trat.
»Vorsicht, Vorsicht, Herr Oberleutnant! Ihr Herren von der Garde seid immer so stürmisch«, tadelte sie ihn. »Beinahe hätten Sie meine Rosa zertreten!«
Die Dame, eine große und schlanke Erscheinung, ähnelte ein wenig der Massary, mit der Wedigo sich in Gedanken beschäftigt hatte; nur dass sie deutlich größer und blond war. Wedigo nahm die Hacken zusammen und entschuldigte sich mit einer Verbeugung und einem kurzem »Pardon!«, was ihm von der Blonden einen undefinierbaren Blick eintrug.
»Es ist ja nichts passiert«, sagte sie lächelnd mit einem besonderen Sprachakzent, den Wedigo nicht zuordnen konnte. »Und ich kann unserer Garde einfach nicht böse sein. Also Ade, Herr Oberleutnant, vielleicht sieht man sich wieder. Ich würde mich freuen.« Die blonde Dame nickte und verließ wiegenden Schrittes das Hotel. Wedigo von Wedel blickte ihr verwirrt nach. War das eben eine Einladung gewesen?
»Eine imposante Erscheinung, die polnische Gräfin Walewska. Finden Sie nicht auch, Herr Kamerad?«
Unbemerkt von Wedigo war ein Ulanenrittmeister zu ihm getreten, der zum 1. Garde-Ulanen-Regiment gehörte, welches ebenfalls in Potsdam in der Kaserne in der Brandenburger Vorstadt stationiert war.
»Gestatten, Rittmeister von Lützow«, stellte sich der Ulan vor.
»Wedigo von Wedel«, erwiderte der Oberleutnant. »Eine in der Tat ansehnliche Frau«, nahm er die Frage auf. »Eine wahre Schönheit.«